Hasso Grabner
Makedonisches Duell
Abenteuerroman
ISBN 978-3-96521-432-3 (E-Book)
Umschlaggestaltung: Ernst Franta
Das Buch erschien 1973 im Verlag Das Neue Berlin
2021 EDITION digital
Pekrul & Sohn GbR
Godern
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Planmäßig hätte der D-Zug Larissa dreizehn Uhr eins verlassen müssen. Jetzt war es schon fast eine Stunde später, und noch immer stand er auf dem Bahnsteig. Die Reisenden wurden erregt. Der Zug war voll besetzt mit Kaufleuten, die zur Messe nach Thessaloniki fahren wollten. Kaufleute haben es zu allen Zeiten eilig, Verabredungen mit Geschäftsfreunden harren ihrer, und der Zug von Athen in die griechische Messemetropole verdiente den Namen D-Zug mit seinen rund zwölf Stunden Fahrzeit ohnehin nicht recht. Nun war auch noch dieser ärgerliche Aufenthalt dazugekommen, für den sich kein Grund erkennen ließ. Die Unruhe in den Abteilen schien sich auf den Bahnsteig übertragen zu haben. Jedenfalls eilten dort auffällig viele Männer hin und her, und die ohnehin nicht geringe Zahl von Polizisten vermehrte sich ständig.
Am Fenster eines Abteils zweiter Klasse stand ein Mann, der im Gegensatz zu seinen Mitreisenden ruhig blieb und von der allgemeinen Aufregung nicht angesteckt wurde. Allerdings täuschte der äußere Anschein. Der Mann war zwar nicht verärgert, aber besorgt. Nicht neugierig, sondern mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtete er das Treiben auf dem Bahnsteig. Er hielt den Bahnsteigeingang fest im Auge, und so entging ihm nicht, dass nach langer Wartezeit zwei Männer dort erschienen, die einige Worte mit dem Bahnhofsvorsteher wechselten, der daraufhin eilig das Zeichen zur Abfahrt gab. Die Reisenden, die sich auf dem Perron die Füße vertreten hatten, stürzten in die Abteile. Die beiden Neuankömmlinge tasteten mit prüfenden Blicken die ganze Wagenschlange ab und stiegen als letzte ein.
Der Mann am Abteilfenster setzte sich. Sorgenvolle Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Es wäre zwar ungewöhnlich gewesen, dass die Politische Polizei der Obristen den fahrplanmäßigen D-Zug in einer solchen Hauptreisezeit nahezu eine Stunde aufhielt, aber unmöglich war in diesem Regime nichts. Mit rasch sich steigernder Geschwindigkeit, als wolle er den Zeitverlust aufholen, jagte der Zug das Tempetal hinab. Um diese Jahreszeit ist der unerhörte Reiz dieses Tores zur thessalischen Ebene schon ein wenig verblasst. Die weißen und rosa Schaumkronen auf dem Meer der Oleanderbüsche sind vor dem heißen Sommer dahingegangen, und die Generalversammlung der Nachtigallen, die im Frühjahr die lauen Nächte mit pausenlosem Konzert erfüllen, hat sich aufgelöst. Dennoch ist das Tal noch immer von berückender Schönheit. Von den Hängen der Gebirge stürzen zahllose kleine Wasserfälle herab, und das Grün, dessen das sommerliche Griechenland ringsum so sehr ermangelt, scheint hier unvergänglich zu sein. Über allem thront im Nordwesten der heilige Berg, der Göttersitz, von dem aus die Olympier in besseren Zeiten übers Land geschaut haben mögen. Als habe er ein Gegenstück nötig, um seine majestätische Schönheit so recht zu offenbaren, steigt südöstlich des Tales der Ossa in den ewig blauen Himmel. Wenig später lächelt die Ägäis zu den Abteilfenstern herein, im Osten begrenzt von den Steilhängen der Halbinsel Chalkidike.
Die Eisenbahnschienen schlängeln sich nun an der azurnen Küste dahin. Im Abteil sagte einer: „Jetzt sind wir erst in Katerini, mehr als fünf Minuten haben die noch nicht aufgeholt.“ Der Mann trat auf den Gang, wohl um sich rasch noch einmal den olympischen Wind um die Nase wehen zu lassen, er kam jedoch sehr schnell zurück und berichtete: „Weiter vorn kontrollieren sie die Papiere.“
Der stille Reisende beteiligte sich nicht am aufgeregten Geschwätz seiner Abteilgenossen. Ihnen wiederum fiel nicht auf, dass eine leichte Blässe sein bronzenes Gesicht überzog. Er kramte in seiner Tasche, holte ein kleines Papier heraus, las es mit angestrengter Aufmerksamkeit viele Male, zerriss es dann in kleinste Schnipsel, öffnete das Wagenfenster und ließ sie wie eine Handvoll Blütenblätter im Winde verwehen. Der Mann war von halsaufsteigender Angst erfüllt. Die Junta hatte alle Pässe umgetauscht, missliebige Personen erhielten keinen neuen. Die Aktion war fast abgeschlossen, und wer noch einen alten Pass besaß, wurde besonders unter die Lupe genommen. Die Partei war mit dem illegalen Umtausch für ihre Mitarbeiter nicht nachgekommen. So trug der Mann noch einen alten Ausweis in der Tasche.
Die Kontrolle schien zügig voranzugehen, jedenfalls näherte sich der damit verbundene Lärm schnell dem Abteil. Dies betrachtete der Mann zunächst als ein günstiges Zeichen. Es schien nicht mit besonderer Sorgfalt kontrolliert zu werden.
Als die Abteiltür mit heftigem Ruck aufgezogen wurde, wusste der Mann sofort, dass es besser gewesen wäre, diesen Augenblick nicht abzuwarten. Es wäre möglich gewesen, auf den Gang hinauszutreten, die Tür zu öffnen und hinauszuspringen. Das hätte bei der Hundertkilometergeschwindigkeit und bei den schroffen Felsen links und rechts der Bahngleise zwar den sicheren Tod bedeutet, aber was jetzt kam, war nicht besser.
Die Männer im Türrahmen stellten unverkennbar den Typ professioneller Menschenjäger dar. Hinter ihren massigen Figuren standen gleichgültige Uniformierte, bereit, jeden befohlenen Dienst zu tun. Einer der Kriminalbeamten hatte eine Fotografie in der Hand, die er noch einmal mit kurzem Blick erfasste, bevor seine Augen das Abteil abtasteten. Prüfend schaute er in jedes Gesicht, das ging sehr schnell, aber für den, der darauf wartete, von diesem eiskalten Blick erfasst zu werden, war es eine Ewigkeit.
Plötzlich kam so etwas wie Leben, ein böses, gefährliches Leben, in die Augen des einen Kriminalbeamten. Er stieß seinen Kollegen mit dem Ellenbogen in die Seite und deutete mit einer kurzen Kopfbewegung auf den stillen Reisenden. Die beiden Männer traten einen Schritt vor.
„Ihren Pass, bitte.“
Die Prüfung dauerte nur wenige Augenblicke. Dann hielt der Kriminalbeamte dem Mann die Fotografie vors Gesicht und fragte: „Kennen Sie den?“
Der Mann kannte das Bild. Es stellte ihn dar, ein hässliches Bild, aufgenommen im Averoff-Gefängnis in Athen. Das Bild in seinem Pass war wesentlich vorteilhafter, dennoch konnte niemand die Identität übersehen.
„Kommen Sie mit“, sagte der Beamte mit kühler Ruhe.
Als der Mann sein Köfferchen aus dem Netz nehmen wollte, sagte der zweite: „Bitte bemühen Sie sich nicht“ und griff schnell danach. Der Mann wurde zwischen den beiden Dicken an die Abteiltür geschoben, wo ihn kräftige Polizistenfäuste packten, im Nu schnappte eine Handschelle um sein Gelenk.
In Katerini verließ die Gruppe den Zug. Die Männer gingen zu einem schwarzen Buick, der sie sofort in rascher Fahrt zum Flughafen brachte.
Einige Tage später bestieg in Athen auf dem Larissa-Bahnhof ein Mann den Express nach Thessaloniki-Istanbul. Er hatte sich keine Fahrkarte kaufen müssen, die war ihm von der Dienstreiseabteilung der Athener Kriminalpolizei besorgt worden. Der Verkehr nach der Messestadt war bereits abgeflaut, der Mann fand schnell einen bequemen Platz und begann ein dünnes Aktenstück zu studieren. Hinter ihm lagen einige Tage intensiver Arbeit, das Ergebnis war zwischen den Papierdeckeln niedergelegt. Der Mann meinte, einen Menschen langsam zu Tode zu quälen und ihm seine Geheimnisse zu entreißen, sei im Grunde genommen eine Arbeit wie jede andere. Er selbst hatte sich dabei die Finger nie schmutzig gemacht. Dafür gab es genug niedrigbezahlte Chargen im Polizeiapparat. Ihm, einem hoch dotierten Spezialisten, der über Jahre im New Yorker Institut für Probleme des Kommunismus ausgebildet worden war, hatte es in den beiden letzten Tagen nur obgelegen, einem in Katerini gefangenen Mann die entsprechenden Fragen zu stellen. Dies hatte zunächst wie ein hoffnungsloses Unterfangen ausgesehen, aber das hatte der New Yorker Aspirant von vornherein einkalkuliert. Er und seine College friends waren genau unterwiesen worden, dass man die Folter mit größter Präzision und größtmöglicher Vorsicht in der Dosierung anwenden müsse. Die Kommunisten, so hatten ihnen ihre Lehrer erzählt, waren in solchen Situationen eher bereit zu sterben, als zu verraten, was man von ihnen wissen wollte.
Wissenschaftliche Untersuchungsmethoden sollten das verhindern und zu gleicher Zeit die Qualen ins Extreme steigern. Die vornehmste Aufgabe eines Untersuchungsspezialisten bestünde also, so die Lehrer, in der strengen Befolgung des christlichen Gebots: Du sollst nicht töten. Darin läge der Schlüssel zum Erfolg, weil es keinen Menschen gäbe, der auf die Dauer die fürchterlichsten Schmerzen auszuhalten bereit und imstande sei. Bisweilen benutzten die Gefolterten eine heimtückische Variante, um sich vor der Aussage zu drücken, sie wurden wahnsinnig, aber dieser Gefahr war durch noch feinere Dosierung der physischen und psychischen Folter zu begegnen.
Solcherart war also die Arbeit des Mannes gewesen, der jetzt im Zug nach Thessaloniki saß, und sie hatte ihm ein Erfolgserlebnis beschert. Jener zähe Kommunist hatte etwa von der dreißigsten Stunde an Stück für Stück erzählt. Er, der Instrukteur des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Griechenlands, habe sich auf einer Reise nach Thessaloniki befunden, wo eine kleine, recht aktive Gruppe dabei war, politische Gegner des Regimes um sich zu sammeln. Die Gruppe wurde von einem Mann namens Karneades geführt, einem Maler und Grafiker, sofern der Instrukteur richtig unterrichtet war. Mit diesem Karneades sollte sich der Genosse des ZK an jenem Tage, als er in Katerini aus dem Zug geholt wurde, in Thessaloniki treffen. Als Treffpunkt war ein elegantes Restaurant am Ausgang der Leoforus Vasileos Konstantinu in der Nähe des Weißen Turmes vereinbart gewesen. Ein schwieriger Ort, denn das Messegelände lag ganz in der Nähe, und man musste mit überfüllten Gaststätten rechnen. Aber gerade dieses Menschengewühl hatten die Konspiratoren für günstig befunden. Als Erkennungszeichen sollte Karneades eine mit einem Rotweinfleck gekennzeichnete, zwei Tage alte Nummer der „Morgenpost“ in der rechten Jackettasche tragen. Einen so markierten Mann wollte der ZK-Instrukteur mit den Worten ansprechen: „Der deutsche Stand ist wieder einmal exzellent.“ Darauf sollte jener Karneades entgegnen: „Ich weiß nicht, den französischen Messepavillon finde ich viel informativer, mein Herr.“
Soweit die Aussagen des Instrukteurs im Keller des Averoff-Gefängnisses, und es lag kein Grund vor, ihre Richtigkeit zu bezweifeln. Der Mann war viel zu fertig gewesen, als dass er sich noch Lügen hätte ausdenken können. Leider hatte er, wie gesagt, erst in der dreißigsten Stunde gesungen. Der Aufwand, ihn mit einem Sonderflugzeug von Katerini nach Athen zu befördern, war umsonst gewesen. Wenn er dem ersten schweren Ansturm des Verhörs erlegen wäre, hätte man noch am gleichen Abend mit dem Flugzeug die Messestadt erreichen und den Treff mit der weinbefleckten „Morgenpost“ wahrnehmen können. Jetzt, vier Tage danach, würde es viel schwerer sein, an jenen Karneades heranzukommen, von dem der Instrukteur leider nicht einmal den richtigen Namen, geschweige denn die Adresse kannte. Auch das musste ihm geglaubt werden. Es war eine alte Erfahrung, dass einer, der erst einmal angefangen hatte zu erzählen, nicht eher aufhörte, bis er das letzte bisschen Wissen von sich gegeben hatte. So hatten sie ihm denn ganz am Schluss des Verhörs den eigentlichen Grund seiner Reise herausgemartert. Die Gruppe in der Messestadt schien an die Möglichkeit zu glauben, eine illegale Zeitung ins Leben zu rufen. Der Instrukteur, in der Partei unter dem Decknamen Galinos bekannt, hatte den Auftrag, seinen Kumpanen bei der Gründung zu helfen. Zu diesem Zwecke trug er den an sich bescheidenen, für jene Kreise jedoch beachtlichen Betrag von zehntausend Drachmen bei sich. Diese Summe und noch einmal das Mehrfache steckten jetzt in der Tasche des Spezialisten zur Bekämpfung des Kommunismus. Ausgerüstet mit all dem Wissen, über das Galinos verfügt hatte, begab er sich nach Thessaloniki, in der Absicht, dort für eine Weile die Rolle des ZK-Instrukteurs zu spielen.
Karneades pflegte seinen Uso schon seit langem nicht mehr in einem der teuren Restaurants zwischen Elefteria und Elefkutyrku zu trinken. Dazu reichten die Mittel nicht. Früher hatte er als Maler und Grafiker hin und wieder einiges Geld verdient. In der letzten Zeit aber waren die Aufträge merklich zurückgegangen. Das Regime der Obristen war den schönen Künsten nicht günstig, sofern sich die Künstler nicht bereit erklärten, zu seinem Ruhm zu schaffen. Um die teure Atelierwohnung in der Nähe des Galeriusbogens aufrechterhalten zu können, hatte Daphne im Messeamt als Sekretärin zu arbeiten begonnen. Dennoch zweifelte das Ehepaar oft, ob es richtig gewesen war, diese kostspielige Wohnung zu behalten. In der Arbeitervorstadt Tumba würde es sich viel billiger leben. Auch schien ein äußerer intellektueller Anstrich für die konspirative Arbeit immer unvorteilhafter zu werden, denn die Junta hasste die Intellektuellen. Trotzdem hatten sich die beiden nicht entschließen können, ihr Domizil aufzugeben. Es lag nahe der Universität, zu deren akademischem Personal sie zahlreiche Verbindungen geknüpft hatten. Die Doktoren und Professoren, die in ihrem Haus verkehrten, wussten nicht, dass sie bei Karneades, dem Leiter der Kommunistischen Partei von Thessaloniki, zu Gast waren. Sie kannten das Ehepaar unter seinem bürgerlichen Namen Xenofon und Karina Gerecos und achteten beide als gescheite Leute und damit entschiedene Gegner des herrschenden Regimes.
Karneades war drei Tage hintereinander in das Café am Weißen Turm gegangen. Das ausgemachte Erkennungszeichen, die Morgenzeitung mit dem Rotweinfleck, hatte er nur zwei Tage mitgeführt. Das hatte ihm die schon zur zweiten Natur gewordene Vorsicht geraten. Hoffnung, dass der angekündigte Instrukteur noch kommen könnte, bestand am dritten Tage nicht mehr. Warum sollte man dann einem der zur Messezeit so zahlreichen Geheimpolizisten durch immer die gleiche Zeitung auffallen? Fraglich war allerdings, wie sich zwei wildfremde Menschen im Trubel der Gäste erkennen sollten, falls der Instrukteur doch noch kam und Karneades sich wider allen gesunden Menschenverstand auch am vierten Abend im Café des Weißen Turms aufhielt.
„Ich versuch’s noch einmal“, sagte er jetzt zu Daphne. Die Frau seufzte und kramte aus ihrem Geldtäschchen den schmutzig-olivgrünen Fünfzigdrachmenschein hervor, den er brauchte, um wenigstens eine bescheidene Zeche begleichen zu können. Gern wäre sie mitgegangen, aber dazu wäre wenigstens der doppelte Betrag nötig gewesen. Er küsste sie auf die Stirn und sagte: „Das letzte Mal.“
Sie wussten beide, wie viel von diesem Treff abhing. Mit der Verwirklichung ihres Planes, eine illegale Zeitung herauszubringen, waren sie gut vorangekommen. Der Genosse Nikitas Zaimis, Setzer in der „Morgenpost“, hatte über Monate hinweg kleine Mengen Lettern aus dem Betrieb geschmuggelt. Damit war die größte Schwierigkeit überwunden, die dem Projekt ursprünglich entgegenstand. Durch den Dozenten Giorgios Monasteriotis war Karneades mit Stratis Andreades, dem Verwaltungsdirektor der Universität, bekannt gemacht worden, einem ungewöhnlich ruhigen Mann für Salonikier Verhältnisse, wo die schweigsamsten Griechen wohnen. Ein interessanter Kerl, hatte Monasteriotis gesagt, man munkelt, er habe dreiundvierzig, vierundvierzig eine bedeutende Rolle bei den rückwärtigen Diensten im Hauptstab der ELAS gespielt. Andreades sprach darüber nie. Befragt, woher sein Geschick rühre, alles beschaffen zu können, antwortete er: „Schließlich habe ich im Beschaffungsamt von General Metaxas gearbeitet.“
Karneades und Daphne waren und sind sich bis jetzt nicht klar, warum jener Andreades bei einem seiner Besuche wie zufällig davon gesprochen hatte, dass die hauseigene Druckerei der Universität erneuert werden solle, was eine alte Tiegelpresse überflüssig mache. Sie stünde zum Verkauf. Wenige Tage später hatte Karneades, ebenfalls wie zufällig, das Geschäft vermittelt. Andreades hatte auf jede Gegenfrage verzichtet, eine Fantasiedruckerei als Käufer akzeptiert und einen lächerlich niedrigen Preis gemacht. Seitdem stand die Maschine in einem der alten Häuser unterhalb der Burg, und der Setzer Zaimis war mit seinem Freund und Genossen, dem Drucker Sophokles Markis, bereit, die erste Nummer der neuen Zeitung herzustellen. Was fehlte, war Papier. Karneades hatte lange geschwankt, ob er den Verwaltungsdirektor darum bitten sollte. Dass er für einen Buchdrucker, dessen Betrieb überhaupt nicht im Branchenadressbuch stand, eine Tiegeldruckpresse vermittelte, mochte vielleicht noch angehen, darüber hinaus aber noch Papier zu verlangen hieß, dem Mann allzu deutlich zu offenbaren, worum es bei diesem Geschäft ging. Andererseits war es unmöglich, die beträchtlichen Mengen Papier selbst zu beschaffen. Für die erste Nummer mochte das angehen, aber eine Zeitung, die einmal erschienen war, musste fortgesetzt werden. Für die Polizei war es ein leichtes, alle Papierfabrikanten der Stadt unter Kontrolle zu halten. Also musste das Papier von auswärts herangebracht werden, möglichst aus der Millionenstadt Athen, wo sich solche Geschäfte den Augen der Polizeitspitzel leichter entzogen. Zu diesem Zwecke hatte sich Karneades an das Zentralkomitee gewandt. Der Hilferuf war gehört worden, der Verbindungsmann angekündigt. Es war so klug ausgedacht, diese gefährliche Zusammenkunft in den Messetrubel zu legen, und nun schien alles zusammengebrochen zu sein, ehe es überhaupt angelaufen war.
Der Abend fängt gleich mit einem Zufall an, dachte Karneades, als er die Via Egnatia überquerte und Kostas Stavros und seiner Frau Ilva begegnete. Stavros war Mitglied der Leitung und der einzige, der wusste, dass der Genosse Karneades nicht Karneades, sondern Gerecos heißt; er kannte auch die Wohnung in der Nähe des Galeriusbogens. Am liebsten wäre Karneades ohne Gruß vorbeigegangen, Stavros als alter Illegaler hätte das verstehen müssen. Stavros aber sprach ihn an. Er brannte darauf, ihm von einem in dieser Zeit so selten gewordenen Siege zu berichten. Dem Hafenarbeiter und einigen seiner Freunde war es gelungen, einen als Gewerkschaftsfunktionär getarnten Polizeispitzel vor den Schauerleuten zu entlarven. Karneades verstand, dass Kostas die Nachricht von diesem wichtigen Erfolg nicht für sich behalten mochte. Wenn wir die Zeitung schon hätten, dachte er, könnten wir einen viel größeren Kreis über solche erfreulichen Dinge informieren. Das würde ihre Wirkung vervielfachen.
Karneades ließ seine Augen an der Frau auf und ab wandern, was heißen sollte: Ist es richtig, vor einem Dritten über solche Dinge zu reden? Auch die eigene Frau ist in unserer Lage ein Dritter. Stavros lachte leise und sagte voll Stolz: „Ilva ist in Ordnung. Du müsstest mal die Frauen in der Tabakmanufaktur fragen, auf wen sie hören.“
Immer neue Probleme, immer neue Aufgaben, dachte Karneades. An die unter doppelter und dreifacher Ausbeutung leidenden Frauen in der Tabakmanufaktur war bisher schwer heranzukommen gewesen. Nun stellte sich heraus, dass eine zuverlässige Person, eine Genossin, die Frau eines hervorragenden Arbeitergenossen, dort arbeitete. Davon hatte Stavros bisher nichts erzählt. Nun gut, auch das gehörte wohl zur Konspiration. Darüber würde man demnächst reden müssen.
Es wurde Zeit zu gehen. Karneades verabschiedete sich mit einiger Hast. Ilva Stavros sagte zu ihrem Mann: „Was ist denn das für einer? Ich verstehe dich nicht, dass du ihm das alles erzählt hast.“
„Lass gut sein“, entgegnete Kostas, „er ist schon der Richtige.“ Karneades lief gerade so eilig, dass er unter den gemächlich Dahinschlendernden nicht auffiel, die Leoforos Vasilissis Sofias hinab, dem Weißen Turm entgegen. Er hasste diesen alten Eckpfeiler der ehemaligen Stadtbefestigung, der im Volksmund „Blutturm“ hieß. Jahrhundertelang hatte das Bauwerk als Gefängnis gedient, und den Namen hatte es der schrecklichen Gräuel wegen erhalten, die in ihm verübt worden waren. Die Erinnerung an diese finstere Zeit der türkischen Unterdrückung und der griechischen Reaktion war jetzt wieder lebendig geworden. Die zahlreichen Touristen mochten das zinnengekrönte Bauwerk staunend und gruselnd bewundern, ihn, Karneades, mahnte es ständig an die barbarische Vergangenheit und die ihr so ähnliche Gegenwart.
Der Messeverkehr war merklich abgeklungen, Karneades fand ohne Mühe im Restaurant einen freien Platz. Er bestellte seinen Uso mit Wasser und ließ beides zu dem anisduftenden milchweißen Getränk zusammenfließen. Dann beobachtete er aufmerksam die Gäste an den Tischen ringsum. Da saßen Dutzende von Männern, von denen jeder einzelne der ZK-Instrukteur sein konnte. Ein Gefühl der Mutlosigkeit überkam ihn. Wenn der Mann wirklich hier saß, wie sollte er ihn je herausfinden? Konnte er die „Morgenpost“ mit dem Rotweinfleck wie eine Fahne durch das Lokal tragen: Hier bin ich, Genosse? Er ging durch den lang gestreckten Raum in Richtung der Toiletten, um sich die Gäste von nahem ansehen zu können. Plötzlich bemerkte er einen Mann, der, anscheinend in spielerische Gedanken versunken, aus einer Karaffe schweren, süffigen Mavrodaphne auf eine Zeitung tropfen ließ. Beim Näherkommen sah er: Es war die „Morgenpost“. Und als er noch näher heranging, konnte er erkennen, dass es die Nummer vom vorvorigen Tage war. Wie gebannt starrte er auf den sich über das Papier hinwegsaugenden roten Fleck.
Aus früheren, besseren Tagen kannte Karneades einen Kellner des Restaurants. Er ging zum Tisch zurück, winkte dem Bacchusdiener und begann ein unverfängliches Gespräch mit ihm, in dessen Verlauf er auf den Herrn einige Tische weiter zu sprechen kam. Der Kellner lachte und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: „Der muss einen kleinen Fehler im Dachstübchen haben; vorhin fragte er mich, ob wir noch eine ‚Morgenpost‘ von vorvorgestern haben. Nun, denke ich, der Mann wird einen bestimmten Artikel suchen, ich krame die Zeitung unter den schon abgelegten hervor, bringe sie ihm, und was macht er? Schüttet sie mit Mavrodaphne voll.“
Karneades dachte eine Weile nach, dann sagte er zu dem Kellner: „Bitte, tun Sie mir einen Gefallen. Gehen Sie mit mir am Tisch dieses Mannes vorbei, tun Sie nicht verwundert und erwidern Sie nichts, wenn ich etwas sage, was Sie nicht verstehen. Sagen Sie einfach: ,Soso, bitte schön‘, und gehen Sie dann wieder Ihrer Arbeit nach.“
Der Kellner dachte: Seltsame Wünsche haben die Gäste heutzutage, aber warum nicht? Sie gingen am Tisch des Fremden vorbei.
Dort sagte Karneades: „Ich finde den französischen Stand informativer.“
Das Spiel lief mit wunderbarer Präzision ab. Der Fremde hob langsam den Kopf und rief den vorbeigehenden Männern nach: „Aber, aber, was Sie nicht sagen, der deutsche Pavillon ist wieder einmal exzellent.“
Karneades drehte sich betont langsam herum und erwiderte: „Mein Herr, es würde mich interessieren, wie Sie zu einer solchen Meinung kommen.“
Der Fremde deutete mit der Rechten auf einen leeren Stuhl. Karneades nahm Platz. „Galinos“, stellte sich der Mann vor. Es schien Karneades, als dämpfe er seine Stimme mit Vorsatz. Obwohl er schon fest überzeugt war, den lange Erwarteten vor sich zu sehen, hielt er es für besser, sich selbst unter dem Namen Apostolos Hadjikostas vorzustellen.
„Sind Sie von hier?“, fragte der Fremde.
„Und Sie?“
„Ich komme von Athen.“
Der Mann nahm noch einmal wie im Spiel die Weinkaraffe und ließ einige Tropfen auf die Zeitung fallen. „Ein hübsches Bild, wie das so verläuft. Schönes Rot, nicht wahr? Passiert ja auch nichts, es ist ja die ,Morgenpost‘ von vorgestern.“
„Sie werden wohl hier erwartet?“
Der Fremde nickte nachdenklich. „Gewiss, oder genauer: Ich bin erwartet worden, allerdings schon vor vier Tagen. Wissen Sie, manchmal gibt es gewisse Schwierigkeiten, so dass man eine Reise nicht zu dem Termin antreten kann, den man sich fest vorgenommen hatte. Pech ist das, ein scheußliches Pech, aber vielleicht renkt sich noch alles ein.“
„In welcher Branche sind Sie tätig?“
„Zeitungen.“
„Wo sind Sie abgestiegen?“
„Quartier muss ich mir noch suchen. Es braucht ja nicht gerade das ,Mediterranean‘ zu sein. Immerhin hat mir die Familie ein paar Lepta mitgegeben, so dass ich nicht im Christlichen Verein Junger Männer übernachten muss.“
Karneades war nun ganz sicher. Kein Grieche der mittleren und gehobenen Stände würde mit einem Wildfremden so freimütig darüber reden, dass er mit irdischen Gütern nicht gerade gesegnet ist. Außerdem nannten die illegalen Kommunisten in der ganzen Welt den Parteikern Familie.
Der falsche Galinos hatte diese Feinheit in New York gelernt. Aus der Miene seines Gegenübers las er, dass ihm seine Lehrer damit etwas Nützliches in die Hand gegeben hatten. „Ich glaube, wir haben uns verstanden“, sagte er zu Karneades, riss das rotweinbefleckte Stück Papier ab, zerknüllte es und legte es in den Aschenbecher. In New York hatte er auch gelernt, Leute, die bereits an der Angel saßen, nicht durch Hektik zu beunruhigen, sondern in gemessener Ruhe mit ihnen zu verkehren. Deshalb winkte er ab, als er spürte, dass Karneades von dem bisherigen Vorgeplänkel zu konkreten Themen übergehen wollte. Er meinte, dafür sei morgen noch Zeit, für heute wäre es klüger, sich zu verabschieden, man könne nie wissen, ob die immerhin doch recht eigenartige Form ihrer Bekanntschaft hier nicht unerwünschte Ohren und Augenzeugen gefunden habe. Das erschien Karneades recht einleuchtend und bestätigte ihm ein weiteres Mal, dass er den richtigen Mann getroffen hatte. Nur wer seiner Sache so sicher war, konnte ihr derartig gelassen gegenüberstehen.
Sie verabschiedeten sich mit der Übereinkunft, in der Mittagsstunde des nächsten Tages auf dem Postamt erneut zusammenzutreffen.
Karneades ging nach Hause. Noch einmal erwachte die Vorsicht des Konspirativen in ihm. Er wählte einen Weg, der ihn fast durch die halbe Stadt führte, über breite Prachtstraßen und durch enge Gassen, bis er ganz sicher war, dass ihm niemand folgte. Erst dann wandte er seine Schritte der Wohnung zu.
Daphne war noch wach. Sie teilte das Schicksal aller Ehefrauen illegaler Kämpfer: sie fand keinen Schlaf, solange der Mann nicht wieder zu Hause war. Als sie Karneades’ strahlende Augen sah, krampfte sich ihr Herz vor Glück zusammen. Sie hatte ihn lange nicht mehr so lächeln sehen. Die Härte des Lebens begann allmählich seine innere Heiterkeit zu überwuchern, aber eben jenes gelöste Jünglingshafte war es gewesen, an das sie ihr Herz einst verloren hatte. Nun sah sie ihn für einen Augenblick wieder so und nahm ihn glücklich in die Arme.
Sie fanden wenig Zeit für die Liebe. Die konspirative Arbeit trieb sie fast jeden Tag in verschiedene Richtungen. Wenn sie zurückkamen, hatte die geistige und körperliche Anspannung sie so erschöpft, dass sie schnell in einen kurzen, oft genug traumzerquälten Schlaf sanken. Auf der anderen Seite fehlte ihnen ihre Arbeit, wenn sie mal für einen Abend zusammen zu Hause waren. Dann waren sie nervös und lauschten ständig in irgendeine Ferne, wo Böses geschah und die Gefahr umging, vielleicht nur, weil sie nicht dort waren, nicht eingreifen konnten.
Das Bedrückendste war die Niederlage selbst, die Juntaherrschaft, der sie nach dem Staatsstreich keine drei Monate gegeben hatten und die nun im dritten Jahr ihrer Macht stand. Dabei war das Volk in seiner Mehrheit gegen die Obristen. Nur die tragische Zerrissenheit in Dutzende oppositioneller Richtungen schloss jede gemeinsame Aktion aus. Dies war die schlimmste aller Sklavereien: genau zu wissen, dass man stark genug wäre, sie abzuschütteln, und doch den Weg nicht finden könne, diese Stärke ins Feld zu führen. Das fraß am Herzen, verbitterte, verdüsterte jede Seite des menschlichen Lebens, auch die persönliche.
Heute aber war ein Feiertag. Sie hatten ihn sich erobert; das gestattete ihnen, für eine Stunde alles ringsum zu vergessen und einander zu gehören.
Bericht von X 211 an Chef G.D.E.A. (Zentrale), gegebenenfalls Vorlage beim Herrn Innenminister:
Ich bin Galinos und habe Verbindung zu K. Aus Gründen der Glaubwürdigkeit habe ich mich noch nicht als G. vorgestellt. K. ging darauf ein und nannte seinerseits seinen Namen nicht. Über das „Unternehmen“ wurde bislang nicht gesprochen.
Quartier wurde mir nicht angeboten. Ich vermeide jedes Drängen, um den Eindruck absoluter Echtheit zu erwecken. K. ist ein typischer Thraker von hoher Statur mit schmalem, eindrucksvollem Kopf. Hohe Stirn, scharfgeschnittener Haaransatz, grau meliert. Schwarze, üppige, über der Nasenwurzel zusammengewachsene Augenbrauen. Augen dunkel, meistens wie nach innen gewandt, aber mit der Fähigkeit, zuweilen scharf aufzublitzen. Drei bis fünf Zentimeter größer als ich, was etwa einhundertachtundsiebzig Zentimeter ergäbe. Ausdrucksvolle, feingliedrige, nervöse Hände. Erste Bilder werden morgen vorliegen. Treffe mich vierzehn Uhr am Hauptpostamt mit ihm, werde mit Kriminaldirektor hier verabreden, dass er in einem der beiden Eckhäuser Aristoteles- und Alexanderstraße Beamte mit Telekameras postiert. Habe K. gegenüber Mangel an Mitteln vorsichtig angedeutet, hoffe zuversichtlich, in ein oder zwei Tagen Quartier angeboten zu bekommen.
Wichtig: Erbitte Anweisung an Zentralmakedonisches Polizeidirektorat, dass Erfolg durch keine voreiligen Maßnahmen gefährdet werden darf.
X 211 zog Bogen und Kopie aus der Maschine. In seinem Bericht verschwieg er die Existenz einer Kopie, und er hatte auch nicht die Absicht, seinen Vorgesetzten jemals etwas davon zu erzählen. Als er seinerzeit New York verließ, hatte ihn Professor Watson gebeten, zur ständigen Vervollkommnung der Unterrichtspraktiken des Institutes laufend Berichte zu senden. Aus rein wissenschaftlichem Interesse, versteht sich, keineswegs, um Einblick in griechische Polizei- und Staatsangelegenheiten zu erhalten. Leider verfüge das Institut nicht über ausländische Niederlassungen, weshalb die in Griechenland weilenden Herren vom CIA freundlicherweise bereit wären, die entsprechenden Berichte vertraulich nach New York weiterzuleiten. Der Herr Absolvent erhielte, selbstverständlich nur aus Gründen der systematischen Karteiführung, eine Nummer, unter der er sich in der amerikanischen Botschaft und in allen Konsulaten auf griechischem Boden melden könne. Dort bekäme er auch seine Auslagen zurückerstattet, wobei durchweg generös verfahren würde.
Gleich nach seinem Besuch in der Polizeidirektion von Zentralmakedonien wollte X 211 die konsularische Vertretung der Vereinigten Staaten aufsuchen. Er hoffte, einen für seine Angelegenheiten zuständigen Beamten anzutreffen. Diesem wollte er einen Vorschlag unterbreiten.
Thessaloniki wimmelte zur Reisezeit von amerikanischen Touristen, die die Stadt zwar nicht besichtigten, dafür aber fleißig fotografierten. Von der Akropolis bis zum Weißen Turm waren sie mit ihren Film- und Fotokameras überall anzutreffen. Wenn er mit Karneades ein wenig durch die Stadt bummelte, beispielsweise zum Vardariouplatz, so müsste es einem Mann von typisch amerikanischem Habitus leichtfallen, sie beide vor dem Reiterstandbild Konstantins I. zu fotografieren. Auf diese Weise käme das Institut in New York zu seinen Fotografien. Sicherlich würden die Herren das Honorar für diese Arbeit unter Auslagen verbuchen können.
Sie waren auch dann noch nicht eingeschlafen, als die Pulse wieder im normalen Takt schlugen. Es gab so viel zu fragen, so viel zu erzählen.
Die Eheleute hatten nach den Erfahrungen der letzten Jahre die Regeln für ihre gemeinsame politische Arbeit genau festgelegt. Aus Gründen revolutionärer Zweckmäßigkeit waren sie vom Gesetz Nummer eins aller konspirativen Arbeit abgewichen: Niemand darf mehr wissen, als er für seinen Teil unbedingt wissen muss. Sie durchbrachen dieses Gesetz nicht, weil sie verheiratet waren und sich besonders nahestanden, sondern aus der Erwägung, alle Kenntnis des Karneades müsse gleichsam als eine Kopie noch in einem zweiten Gehirn gespeichert sein. Die Gefahr gestattete keine Notizen, Briefe, Akten, Protokolle. Die Sprache war das einzige Kommunikationsmittel, das Gedächtnis das alleinige Archiv. So entschied Karneades von Fall zu Fall sorgfältig, was Daphne wissen musste, um hinreichend informiert zu sein für den Fall, dass er plötzlich einmal nicht mehr da sei. In diesem Augenblick würde Daphne sofort darüber im Klaren sein, wem sie was zu übermitteln hatte.
Damit war ihr eine hohe Verantwortung und ein beträchtliches Pensum geistiger Arbeit auferlegt, denn ihr Programm für den Fall X änderte sich gegebenenfalls von Tag zu Tag. Um ihre Einsatzfähigkeit zu sichern, durfte sie sich an der täglichen Arbeit der Gruppe nicht beteiligen. Weil Daphnes Rolle innerhalb des Systems der illegalen Arbeit geheim bleiben musste, glaubten einige ihrer alten Freunde, sie habe sich zurückgezogen. Darüber wurde nur im kleinsten Kreis geflüstert, ihr fiel es nicht auf, da die harten Bedingungen ohnehin jeden persönlichen Verkehr ausschlossen. Es gab nur zwei Mitglieder der Leitung, die über Daphnes Rolle Bescheid wussten: der Hafenarbeiter Kostas Stavros und Doktor Spiridon Tsatsos von der Universität.
Am nächsten Morgen ging Karneades aus dem Haus, noch ehe Daphne ihren Geschäftsweg antrat. Er strebte zu den Kais, in der Hoffnung, Stavros anzutreffen, was nicht allzu schwierig war trotz des Lebens und Treibens im Hafen. Der Stauer hielt sich fast immer in der Baracke auf, in der zahlreiche Männer darauf warteten, zu irgendeiner Arbeit eingeteilt zu werden. Früher hatten das von der Gewerkschaft angestellte Leute besorgt, die ihr karges Gehalt aufbesserten, indem sie von den Arbeitern entsprechende Prozente nahmen. Heute waren diese Posten fast ausschließlich von Polizeispitzeln besetzt. Stavros gehörte weder früher und schon gar nicht heute zu den Bevorzugten dieses mörderischen Systems. Wenn er überhaupt Arbeit bekam, dann nur die dreckigste oder solche, die einen Mann erforderte, dem zwei Zentner und mehr nichts ausmachten. Trotz seiner fünfundvierzig Jahre galt er als einer der Stärksten auf den Piers.
Stavros sah Karneades durch das Barackenfenster, er ging hinaus und folgte ihm unauffällig. Sie trafen sich in einer winkligen Kaffeestube am Hafentor. Bei dem Gedränge und Lärm konnte man kaum das eigene Wort verstehen. Der richtige Platz für vertrauliches Geflüster.
„Hast du alles überprüft und aufs genaueste durchdacht?“, fragte Stavros nach Karneades’ Bericht.
„Es muss stimmen, oder es wäre ein ganz irrsinniger Zufall. Das wird sich heute herausstellen.“
„Ich würde überhaupt nicht von Politik reden. Du weißt doch so viele schöne Geschichten über alle möglichen Kirchen hier, die Hagia Sophia, die Hagia Pantheleimon und dergleichen mehr. Erzähl ihm davon etwas.“
„Das hat alles seine Grenzen. Dem Mann könnten seinerseits Zweifel kommen, an den Richtigen geraten zu sein. Immerhin ist er vier Tage später als erwartet hier eingetroffen. Meine Vorstellungen von einem geradezu irrsinnigen Zufall könnten auch ihn befallen. Dann würde er sich verziehen, und wir hätten das Nachsehen.“
„Unsinn! Er kommt vom ZK, er muss sich herantasten. Wenn er der Richtige ist, wird er deine Gesprächswut dämmen und etwa sagen: ,Ist ja alles ganz schön und gut, dass wir hier die Wiege der europäischen Kultur darstellen, aber was nützt uns das? Jetzt sind die Herren in Athen durch ihren Austritt aus dem Europarat dem Hinauswurf zuvorgekommen. Eine Flucht nach vorn.' Das wird er sagen, denn davon sprechen sogar die Arbeiter auf den Kais seit drei Tagen, von nichts anderem sprechen sie. Sollte es da in Intellektuellenkreisen anders aussehen?“
„Was, meinst du, soll ich darauf antworten?“
„Nichts. Ich würde ihn provozieren. Mag er doch erläutern, was er von der Sache hält. Dann solltest du nach Möglichkeit das Gespräch beenden und einen neuen Treff vereinbaren. Ich möchte mir den Mann erst einmal ansehen. Zu diesem Zwecke bin ich heute Nachmittag pünktlich an der Post. Verstanden?“
„Ich bin hergekommen, um dich darum zu bitten.“
Karneades hatte schon acht Minuten gewartet, dabei die Regel verletzend, wonach ein illegaler Treff nach fünf Minuten Wartezeit als „geplatzt“ angesehen werden muss, da bog G. aus der Aristotelesstraße in die Alexanderstraße ein. Er trug einen sehr hellen Anzug und einen weißen Hut. Eine elegante Erscheinung. Die Straße war ziemlich menschenleer, die große Mittagspause noch nicht beendet. Der Mann trat nicht in den Schatten des Posteingangs, sondern wartete, bis Karneades zu ihm kam. Sie begrüßten sich freundlich und zögerten ein wenig, um sich darüber klar zu werden, wohin sie ihre Schritte lenken sollten. Schließlich setzten sie sich in Bewegung, Karneades überließ dem Gast die Führung.
„Ich soll euch brüderliche Grüße überbringen. Man ist in Athen sehr froh, hier noch eine rührige Gruppe zu haben“, sagte G.
Eingedenk des Ratschlages von Stavros, nahm Karneades den Faden nicht direkt auf. Er sagte: „Thessaloniki war schon immer eine lebhafte Stadt, und das lag nicht nur an der Messe. Der Fremdenverkehr ist beachtlich. Schließlich haben wir auch etwas zu bieten. Die Fremden verstehen zwar nicht viel davon, aber es beeindruckt sie doch, dass hier die christliche Kunst von ihrer frühesten Vergangenheit an in ununterbrochener Folge bedeutende Denkmäler hinterlassen hat. Vom Altchristentum über die byzantinische Blüte bis zur nachbyzantinischen Zeit ist hier alles verewigt. Von der Antike ganz zu schweigen. Unsere Stadt trägt nicht ohne Grund den Namen der Schwester Alexanders des Großen.“
G. sah seinen Partner spöttisch an und erwiderte: „Sehr interessant, aber ich bin kein Tourist in Shorts, mit zwei Filmkameras um den Hals. Es interessiert mich noch nicht einmal, welcher Messepavillon informativer ist, der deutsche oder der französische. An dieser Frage hängen ganz andere Dinge.“ Der Mann steuert das Thema unmittelbar an, lange wird man ihn mit kunstgeschichtlichen Betrachtungen nicht hinhalten können, dachte Karneades. Er sagte: „Das ist schon möglich, dennoch sollte man, einmal in Thessaloniki, vom Reichtum dieser Stadt soviel wie möglich mitnehmen.“
„Manche nehmen mit, und manche bringen, ich halte das letztere für wichtig.“
Karneades verzichtete auf eine Antwort. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinanderher. Die Mittagshitze machte ihnen das Gehen schwer, und G. schlug vor, sich in ein Café zu setzen. Ohne zu fragen, bestellte G. zweimal Uso, zweimal starken, stark gesüßten Kaffee und zweimal Kataifi-Gebäck, Karneades schaute ihn verwundert an, sie befanden sich nicht in einem Vorstadtlokal, hier im Zentrum waren die Preise kaum erschwinglich. G. lächelte, zuckte die Schultern und sagte: „Das Geld ist sowieso gleich zu Ende, lieber einen starken als zwei schwache Kaffee.“
Karneades geriet in Verlegenheit. Der Mann fing schon wieder an, von Geld zu reden. Er sagte: „Vielleicht kann ich Ihnen helfen, den Aufenthalt in Thessaloniki billiger zu gestalten. Leider weiß ich im Augenblick nicht, wie.“
G. erwiderte: „Das ist sehr freundlich, und so war es wohl auch festgelegt. Natürlich verstehe ich, wenn es gewisse Schwierigkeiten gibt. Die berühmte Gastfreundschaft steht in unseren Tagen in drohendem Schatten.“
Karneades nickte zustimmend. Er dachte an Giorgios Monasteriotis, der Dozent war alles andere als ein Kommunist, er sah sein Heil in Andreas Papandreou, dem Sohn des verstorbenen Führers des Demokratischen Zentrums, dessen allgemein erwarteter Wahlsieg durch den Juntaputsch vereitelt worden war. Ein Linksliberaler also, dieser Giorgios Monasteriotis, und das auch nur im Verborgenen. Wenn die neuen Herren Wind davon bekämen, würden sie den Mann unverzüglich von der Hochschule entfernen, ohne Rücksicht darauf, dass sie einen der Begabtesten unter den jüngeren Ophthalmologen der Universität verlieren würden. Dabei war die bürgerliche Existenz noch das wenigste, was Monasteriotis aufs Spiel setzte.
G. schlürfte mit Genuss seinen heißen Wariklikos, setzte das Tässchen ab und sagte: „Wir sind leider die einzigen, die in unserem zeitlosen Land, Gott sei’s geklagt, keine Zeit haben. Die Dinge spitzen sich zu, die Suppe, die man in Straßburg gekocht hat, wird manchem Athener Herrn die Zunge verbrennen. Das ruft uns auf den Plan, Information ist alles, unser desorientiertes Volk kommt leicht zu falschen Schlussfolgerungen.“
Wie Stavros vorausgesagt hat: der Europarat, dachte Karneades. Er runzelte die Stirn. „Das Ganze ist auch schwer zu verstehen. Athen kann sich schließlich nicht mit seinen Freunden und Partnern überwerfen.“
„Kann nicht? Die Herren können alles, wie man sieht.“ Karneades stutzte. In der Leitung hatte man das anders gesehen. Wenn Faschisten sich Revolutionäre nennen, geht es nicht ohne Theaterdonner ab. Sollte die Parteiführung in Athen die Lage anders einschätzen? Etwa nach der Art des Ertrinkenden, der nach dem Strohhalm greift? Aber das war Unsinn. Die Partei war kein Ertrinkender. Sie hatte eine schreckliche Niederlage erlitten, aber sie ging nie unter. Er sagte: „Ich weiß nicht, gewiss, Differenzen im anderen Lager haben immer den Charakter indirekter Verbündeter, aber überschätzen soll man das nicht.“
G. dachte angestengt nach. Es gab da im theoretischen Arsenal der Kommunisten eine Lehre von direkten und indirekten Verbündeten, Karneades bezog sich darauf. Jetzt kam es darauf an, durch eine dem Sprachschatz der Leute entnommene Antwort zu beweisen, dass man den Terminus verstanden hatte. Er sagte: „Schon wahr, das entscheidende Kettenglied ist es nicht.“