ED LACY
Die Frau,
die keiner kannte
Roman
Apex Crime, Band 211
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE FRAU, DIE KEINER KANNTE
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Im weißen Jaguar des Regisseurs Marvin Conners liegt eine tote junge Frau: durch Kohlenmonoxyd vergiftet.
Privatdetektiv Bill Wallace erkennt nicht, dass er von Anfang an alle Beweise gegen den Mörder in der Hand hat. Als er es begreift, kann er den nächsten Mord gerade noch verhindern - den Mord an sich selbst...
Ed Lacy (* 25. August 1911 als Leonard »Len« S. Zinberg in New York City; † 7. Januar 1968 in Harlem) war ein US-amerikanischer Schriftsteller, der in Deutschland vorrangig durch seine Kriminalromane und Detektivgeschichten bekannt wurde. Er nutzte zusätzlich das Pseudonym Steve April und schrieb in frühen Jahren auch unter seinem Geburtsnamen. Ed Lacy wurde mehrfach mit dem Edgar-Allan-Poe-Award ausgezeichnet.
Der Roman Die Frau, die keiner kannte erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1969.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Der Tag begann völlig verkehrt.
Carla kam auf dem Weg ins Bad durch das Wohnzimmer, und als sie mich auf der Couch schlafen sah, legte sie ihre kleine Hand auf meine Stirn. Ich schreckte hoch.
»Kein Fieber«, rief sie. »Hältst du einen ganz gewöhnlichen Schnupfen für so gefährlich, dass du nicht bei Mama schlafen kannst?«
Ich hob den Arm und streichelte ihr über den Kopf. »Ich huste nachts manchmal und wollte deine Mutter nicht aufwecken.«
»Aber ich höre dich nie husten, Daddy.«
Ich gab ihr einen Klaps auf das Hinterteil. »Es ist viel zu früh, um Fragen zu stellen. Geh ins Bad!«
Sie beugte sich vor und küsste mich. Dann lachte sie und blickte mich spöttisch an. »Was amüsiert dich so, Carla?«
»Wieso darf ich dir einen Kuss geben, wenn du erkältet bist? Siehst du, ich bin beinahe ein so guter Detektiv wie du.« Sie lachte noch einmal und hüpfte ins Bad.
Ich setzte mich auf, reckte mich vorsichtig und zählte den Puls. Mein Herz schien gleichmäßig zu schlagen. Wie hieß der Satz, der mir die ganze Nacht nicht aus dem Kopf gegangen war? Ich musste ihn irgendwo gehört oder gelesen haben. Aber was grübelte ich darüber nach! Es gab nur eins, woran ich mich erinnern musste: an das, was letzte Nacht zwischen Vilma und mir passiert oder vielmehr nicht passiert war. Carla durfte nichts davon erfahren. Kinder wissen heute schon so verdammt viel. Außerdem war es mein Einfall gewesen, hier im Wohnzimmer auf der Couch zu schlafen.
Als hätte sie meine Gedanken erraten, tauchte Vilma in der Tür zum Schlafzimmer auf. Sie trug nur ein kurzes Nachthemd, das knapp über die Hüften reichte. Gähnend und sich träge streckend, wünschte sie mir lächelnd guten Morgen - ein Bild, wie aus dem Reklamekalender eines Herrensalons.
Einen Augenblick lang betrachtete ich die kräftigen Rundungen, die festen Beine, jede vertraute Linie ihres Körpers, den ich so begehrte. Und doch hatte ich tödliche Angst, ihn zu berühren.
»Guten Morgen, Liebling«, sagte ich. Als sie sich noch einmal rechte, sah ich weg und suchte umständlich nach meinen Pantoffeln. Am liebsten hätte ich ihr zugeschrien, dass sie mich nicht länger quälen solle, dass sie Geduld haben müsse. Es waren erst vier oder fünf Monate vergangen, seit ich aus dem Krankenhaus gekommen war. Ach, Unsinn! Ich war es ja, der sie quälte.
Carla kam eilig aus dem Bad gelaufen, küsste Vilma und stürzte in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Ich drehte das Radio an und erfuhr, was ich bereits wusste - dass der Tag wieder sehr warm werden würde. In diesem Jahr war der Juni viel zu heiß.
Schließlich war ich an der Reihe, ins Bad zu gehen. Ich duschte und stellte mich auf die Waage. Wieder hatte ich nur hundertdreiundsiebzig Pfund. Einen Augenblick dachte ich: Wie schön wäre es doch, wenn ich einfach immer weiter abnehmen würde, bis ich starb!
In meinem alten Bademantel ging ich in die Küche. Vilma trug ein enges, buntbedrucktes Kleid. Sie sah zu mir auf, während sie die Magermilchdose neben meinen Kaffee stellte, und ich spürte, dass sie gereizt war. Sie wollte, dass ich mich zum Frühstück anzog. Es verschaffte mir eine Art dumpfer Befriedigung, sie zu ärgern.
Carla sprang mit vollem Mund vom Stuhl auf und griff nach ihrer Schulmappe. »Ach, Daddy, jetzt habe ich keine Zeit mehr, dir die Zeitung zu holen.«
»Das macht nichts. Und schling das Essen nicht so hastig hinunter.« Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. Konnte Vilma nicht aufhören, an mir herumzunörgeln? Jetzt hetzte sie auch noch das Kind gegen mich auf.
Vilma musste meine Gedanken erraten haben, denn sie deutete auf die Küchenuhr, als Carla zur Tür hinausgerannt war.
»Es ist tatsächlich schon halb neun, Bill. Gestern Abend haben wir vergessen, den Wecker aufzuziehen. Aber ich bringe dir die Zeitung, ehe ich ins Büro gehe.«
»Nein. Ich ziehe mich an.«
Vilma aß ihr Frühstück auf. Als sie zur Tür ging, zögerte sie einen Augenblick und kam dann zu mir zurück. »Vergiss nicht, um ein Uhr vor dem Paramount-Kino.«
»Glaube mir, Vilma, es hat keinen Sinn, mich zum Einkaufen zu schleppen. Was macht es, wenn die Anzüge an mir herumschlottern? Ich meine, da wir im Augenblick so wenig Geld haben, und...«
Sie bog meinen Kopf sanft zurück, bis ich zu ihr aufblickte.
»Lass es uns versuchen, Billy. Stoß mich nicht zurück. Diese Sache müssen wir gemeinsam durchstehen. Wir werden es schon schaffen.«
Vilma ist keine Schönheit, aber damals in jenem Augenblick erschien mir ihr besorgtes, gebräuntes Gesicht so hübsch, dass ich hätte heulen mögen.
»Du weißt, dass ich dich nicht aus meinem Leben ausschließe, dass ich das gar nicht könnte. Es ist... Es ist eine große Umstellung für mich, Vilma. Du musst Geduld haben.«
»Wir werden es schaffen.« Sie beugte sich vor und gab mir einen leidenschaftlichen Kuss. Ich zog sie zu mir herab, presste sie eng an mich und fühlte, wie mein Herz klopfte. Da ließ ich sie los. »Du musst dich noch einmal kämmen.«
»Das macht nichts!« Sie warf mir eine Kusshand zu. »Auf dem Weg zur U-Bahn fahre ich mir rasch mit dem Kamm durch die Haare. Vergiss nicht, um ein Uhr!«
Nach dem Frühstück spülte ich die paar Teller und Tassen ab und legte mich aufs Bett. Zwischen den Leintüchern konnte man die Wärme ihres Körpers beinahe noch spüren. Als sein Leben verdämmerte, hatte er Glück und starb friedliche Das war die Zeile, die mir immer wieder durch den Kopf ging. Zum Teufel, wo hatte ich das gelesen? Oder hatte ich den Satz in einer Reklamesendung gehört? Ich vertrödelte meine Nachmittage damit, mir im Fernsehen sentimentale Geschichten anzusehen - man konnte wohl sagen, dass ich dahindämmerte!
Der Arzt im Krankenhaus hatte es anders formuliert: »Bei einem jungen Mann wie Ihnen bedeutet ein Herzinfarkt, dass Sie über Nacht gealtert sind, sagen wir, um zehn Jahre. Das heißt in Ihrem Fall, dass Sie sich wie ein Mann von achtundvierzig zu benehmen haben. Machen Sie langsamer...«
»Machen Sie langsamen! Ich gehörte zu den lebendig Begrabenen! Es wäre für mich besser gewesen, wenn ich sofort gestorben wäre. Tyrone Power, Maxie Baer, Wayne Morris - sie alle hatten Glück gehabt; mit ihnen war es schnell vorbei gewesen. Aber ich, ich saß den lieben langen Tag in meinem verdammten Bademantel herum, als wäre er ein Totenhemd!
Ich zog eine Leinenhose und ein altes Polohemd an und wanderte langsam zum Zeitungskiosk an der Ecke.
»Wie geht es Ihnen heute, Mr. Wallace?«, fragte der einbeinige, alte Verkäufer mit der rotgeäderten Nase.
»Ganz gut. Und Ihnen?« Die Worte machten mich krank.
»Sie sehen prächtig aus. Also bei mir - ich habe da etwas gegessen, das...«
»Ich erwarte einen Anruf und muss zurück«, unterbrach ich ihn. Ich warf eine Münze auf die Theke und nahm mir die Zeitung.
Die Sonne schien warm und kräftig. Ein paar Sekunden stand ich vor dem Eingang zur Halle, schloss die Augen und hob mein Gesicht der Sonne entgegen wie ein idiotischer Sonnenanbeter. Warum holte ich mir nicht einen Stuhl und setzte mich zu den alten Rentnern hier draußen? Ich ging ins Haus.
Nachdem ich meine Tablette gegen Blutgerinnung geschluckt hatte - was für mich jeden Tag von neuem mit grauenvollen Vorstellungen verbunden war -, setzte ich mich ans Fenster und las die Zeitung. Dies war die schönste Stunde des Tages, die Wohnung war still und angenehm, und es machte auch nichts, wenn keine großen Neuigkeiten in der Zeitung standen.
Streit zwischen irgendwelchen Politikern, ein Aufstand in Asien - das alles bedeutete mir nichts. Ich hatte meinen eigenen Krieg zu führen, einen Kampf auf Leben und Tod. Wenn ich Mut hätte, würde ich einen kleinen Dauerlauf machen oder ein paar Minuten den Punchingball bearbeiten. Meine Soldatenpension und die anderen paar kleinen Versicherungen bedeuteten für Carla und Vilma sechzehntausend Dollar - wenn ich starb. Lebendig war ich keinen roten Heller wert. Zum Teufel, ich lebte eigentlich schon gar nicht mehr.
Ich schlug den Sportteil auf und las ihn Zeile für Zeile durch, wie jemand, der viel Zeit hat, und kam schließlich zum Stellenmarkt. In einigen Anzeigen wurden erwachsene oder pensionierte Männer für stundenweise Botenjobs gesucht. Das tröstete mich ein wenig: Wenn der Sommer vorbei war, würde ich versuchen, vier Stunden am Tag zu arbeiten, und Briefe, Fahrkarten, leichte Pakete austragen. Ich würde ungefähr achtzig Dollar im Monat verdienen, und wenn man mir meine Pension genehmigte, machte das zusammen hundertfünfzig Dollar. Damit konnte ich die Miete und meine Lebensversicherung bezahlen, und wenn Vilma weiter halbtags arbeitete, würden wir durchkommen. Glücklicherweise waren Anwaltssekretärinnen sehr gefragt. Vilma verdiente zwanzig Dollar am Tag.
Ich las die Zeitung zu Ende, legte mich aufs Bett und versuchte, eine Stunde zu schlafen. Der Arzt hatte gesagt, es sei egal, ob ich schliefe oder nur ausruhte: beides sei gleich gesund. Aber es stimmte nicht. Ich war nervös und hatte das Gefühl, »etwas tun« zu müssen. Schließlich stand ich auf, zählte meinen Puls und ging ins Bad. Das Bild, das mir der Spiegel zuwarf, war ein schlechter Witz: Ich hatte gerade so viel abgenommen, dass ich gesund und elastisch wirkte, meine Muskeln spannten sich straff und fest unter der Haut. Einem Todeskandidaten glich ich ganz und gar nicht.
Ich zog einen leichten, dünnen Anzug an, der mir jetzt drei Nummern zu groß war, und ein Sporthemd mit weichem Kragen. Wenn Vilma mich in diesen viel zu weiten Kleidungsstücken sah, würde sie bestimmt darauf bestehen, ein paar Sachen zu kaufen. Deshalb zog ich mich wieder aus, schlüpfte in meine einzige neue, enge Hose und ließ das Hemd darüber hängen. Nachdem ich festgestellt hatte, dass meine Tabletten in der Tasche steckten, sah ich beim Hinausgehen im Briefkasten nach, ob Post gekommen war. Dieser verdammte Amtsschimmel! Seit über einem Monat wartete ich auf Nachricht wegen der Pension, um die ich eingereicht hatte. So geht es im Leben! Den ganzen Korea-Krieg hatte ich mitgemacht, und immer war ich ein Bild der Gesundheit. Bei meinem Rang als Hauptmann hätte mich jede ordentliche Verwundung oder Krankheit für mein ganzes Leben mit einer hohen Pension entschädigt.
Es war erst elf Uhr, als ich, gemeinsam mit einer dicken, alten Frau, auf den Bus wartete. Wenn Sie eine Verabredung haben, machen Sie sich zeitig genug auf den Weg: laufen dürfen Sie nicht, hatte der Arzt gesagt. Schließlich kam der Bus, und die alte Frau schob sich keuchend die zwei hohen Stufen hinauf. Ich stellte einen Fuß auf die erste Stufe und zögerte. Der Fahrer war ein mondgesichtiger, junger Bursche mit rotem, bürstenartig geschnittenem Haar. »Beeilen Sie sich, Mann!« schimpfte er. »Steigen Sie ein! Ich verpasse das grüne Licht.«
»Kriegen Sie dafür Sonderzulage?«, fragte ich fröhlich. Meine Antwort entlockte den anderen Fahrgästen ein leichtes Gekicher. Ich stieg auf die nächste Stufe und wartete einen Augenblick, dann trat ich von der Tür weg.
Inzwischen hatte das Verkehrslicht auf Rot gewechselt. Der Fahrer blickte zu mir auf und schien etwas sagen zu wollen. Vielleicht veranlasste ihn der Anblick meiner Nase, die wie eine zerquetschte Banane aussieht, den Mund zu halten. Ich steckte das Geldstück in den Schlitz für den Fahrschein, ging vorsichtig zwischen den Sitzen hindurch, setzte mich auf einen freien Platz und lauschte auf das Schlagen meines Herzens. Es schien nicht schneller geworden zu sein.
Mit Ausnahme einer Taxifahrt zur Sozialbehörde für Armee-Entlassene im vergangenen Monat - wegen meiner Pension - war ich seit langer Zeit zum ersten Mal wieder in der Stadt. Die Fifth Avenue zu erleben ist immer eine großartige Sache, selbst an einem schwülen Sommertag. Ich war froh, dass Vilma auf meinem Kommen bestanden hatte.
An der 44. Straße stieg ich aus und ging in Richtung Broadway weiter, ehe mir klar wurde, dass ich durch die Straße schritt, in der mein Büro gewesen war. An dem Haus wollte ich nicht vorbeigehen. Deshalb wandte ich mich bei der Sixth Avenue zur 45. Straße.
»Bill Wallace!«, hörte ich plötzlich jemanden hinter mir rufen. »Das ist ja unglaublich. Ich komme gerade von deinem Büro, weil ich mit dir etwas besprechen wollte.«
Ich drehte mich um und blickte Shep Watt direkt ins Gesicht. Als er mir einen Schlag auf den Arm geben wollte, packte ich seine Hand und schüttelte sie. Ich hatte Shep vor Jahren kennengelernt, als ich Amateurboxer und er in meinem Box-Club Portier gewesen war. Später hatte ich dann meine eigene DetektivAgentur und gab ihm manchmal Arbeit als Nachtwächter. Shep zog sich im Winter wie im Sommer gleich an: Auch jetzt trug er wieder einen dunklen, schäbigen Zweireiher, ein weißes Hemd mit steifem Kragen und eine schwarze, fleckige Krawatte. Unter dem schwarzen Homburg, der gerade auf seinem großem Schädel saß, sah ein Kranz komischer weißer Haare hervor. Sein bleiches, wächsernes Gesicht war mit schmutzig-braunen Leberflecken gesprenkelt.
Er trat einen Schritt zurück und starrte mich über den Rand seiner goldenen Brille an, als wolle er ein Kunstwerk begutachten.
»Junge, Billy, du siehst großartig aus. Dieser wichtige Auftrag, den du übernommen hast - ist es wirklich ein so schwieriger Fall?«
»Ich habe eine Abmagerungskur gemacht und ein paar Pfund abgenommen«, antwortete ich, während wir gemeinsam stadteinwärts weitergingen. Shep war mir immer alt erschienen, aber er war früher flink und zäh gewesen. Jetzt wirkte er erschreckend mager, Gesicht und Haut waren wie ausgetrocknet. Verdammt, er musste ungefähr achtundsechzig oder siebzig sein.
»Du siehst besser aus als früher, als du noch geboxt hast!« Shep rieb sich mit der rechten Hand die leicht gebogene Nase, als wolle er sie polieren - eine nervöse Geste, die er immer gehabt hatte. »Dieser große Auftrag... Ich meine, Billy, du trainierst doch nicht etwa und willst wieder boxen?« Shep ließ seinen Mund fragend offenstehen. Er hatte ein neues Gebiss, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte.
Zum ersten Mal seit Wochen lachte ich wieder richtig. Der gute Shep hatte keine Ahnung, was für einen unfreiwilligen Witz er sich eben geleistet hatte. »In meinem Alter? Außerdem, der Boxsport ist tot.« Und ich auch, hätte ich beinahe hinzugefügt.
»Schon, aber du bist sehr groß, und der letzte Sieger im Schwergewicht war... Jedenfalls, du siehst wirklich gut aus. Hast du einen Augenblick Zeit für mich, Bill?«
»Ich bin mit Vilma verabredet.«
»Ich habe eine Neuigkeit, die dich interessieren wird. Natürlich, wenn du mit dieser neuen Sache viel Geld verdienst, reizt dich mein Vorschlag nicht. Ist es auch so eine gefährliche Angelegenheit wie die andere Geschichte damals?«
»Was soll das für ein großer Fall sein, an dem ich arbeite?«
Shep rieb sich wieder die Nase und grinste mich mit seinen falschen Zähnen schlau an. »Ich habe dir immer beteuert, dass ich einen guten Detektiv abgeben würde, Billy. In den letzten zwei Wochen bin ich fünf- oder sechsmal zu deinem Büro gegangen. Im Augenblick komme ich auch gerade von dort. Zuerst wich mir der Fahrstuhlführer aus, aber schließlich erzählte er mir, dass du die ganzen Monate über irgendwo im Westen hinter einer großen Sache her warst. Er meinte, ich sollte mir nicht länger die Hand an deiner Tür wundklopfen.«
Ich hatte Vilma gebeten, den Fahrstuhlführer diese Geschichte vorzuschwatzen. Ich wollte nicht, dass irgendjemand von meinem Herzinfarkt erfuhr. Warum, weiß ich eigentlich nicht. Man behauptete ja auch, dass die Elefanten sich absondern, um allein zu sterben. Vielleicht schämte ich mich, dass mein Herz stehengeblieben war - und fürchtete, dass einer der vielen Kerle, mit denen ich mich herumgeschlagen hatte, auftauchen könnte, um mir die Rechnung zu präsentieren.
»Ja, ich war auswärts«, log ich. »Du kommst jetzt gerade von meinem Büro?«
Er nickte. »Ich wollte dich sprechen, und weil deine Privatnummer nicht im Telefonbuch steht, bin ich ein paarmal zu deinem Büro gegangen.«
»Steht denn mein Name immer noch an der Tür?«
Shep starrte mich über den oberen Rand seiner Brille an. »Hm, Billy, so heiß ist es heute doch nicht. Natürlich steht dein Name an der Tür. Der Fahrstuhlheini sagt, Vilma hat ihm jeden Monat, wenn sie die Miete zahlen kam, erzählt, dass du immer noch wegen dieses neuen Auftrags zu tun hast, aber bald wieder da sein würdest. Verdammt, alle die vielen Monate in einer einzigen Sache unterwegs... Du bist so mager geworden, dass ich wette, es war einiges los. Um was ging es denn, Billy, warst du wieder hinter einer Verbrecherbande her?«
Wie betäubt ging ich die Straße entlang. Die vielen Monate! Mindestens sechshundert Dollar Miete waren zum Fenster hinausgeworfen. Warum? Vilma hatte gesagt, sie habe das Büro gekündigt, meine paar Möbel verkauft und meinen Revolver und die Akten in den Banksafe gelegt. Wir hatten uns sogar wegen des Wagens gestritten und dann beschlossen, ihn zu behalten, weil wir nicht viel Geld dafür bekommen würden und Vilma an den Wochenenden ans Meer fahren wollte. Die ganze Zeit über hatte sie mich getäuscht. Sechshundert Dollar, und wir hatten so wenig Geld.
Shep zupfte mich am Ärmel. »Du hörst mir gar nicht zu! Bist du betrunken? Aber du riechst nicht nach Alkohol.«
Wir waren an der Straßenkreuzung angekommen. Ich begann, die Sixth Avenue in Richtung Broadway zu überqueren. »Ich habe es ziemlich eilig, Shep, Vilma wartet auf mich.«
»Einen Augenblick, ich muss dir noch etwas sagen«, antwortete er und kam hinter mir hergelaufen.
Mitten auf der Straße schaltete die Ampel auf Rot. Es gibt eine bestimmte Sorte von Autofahrern, die es als eine persönliche Beleidigung betrachten, wenn sie eine Sekunde grünes Licht versäumen.
»Pass auf, Billy!«, schrie Shep plötzlich und rannte in großen Sprüngen über die Straße. Ich wandte mich um und sah, wie ein alter Cadillac auf mich zu brauste. Ich konnte nicht weglaufen und stand einfach da. Ein beklemmender Druck legte sich auf mein unruhig klopfendes Herz. Hinter dem Steuer des Wagens saß ein massiger Kerl mit einer dicken Zigarre zwischen den Lippen. Obgleich der Verkehr sehr dicht war, hätte er die Fahrspur wechseln oder warten können, bis ich die Straße überquert hatte. Aber aus dem Aufblitzen seiner Augen schloss ich, dass er zu jenen Witzbolden gehörte, denen es Freude macht, wenn ein Fußgänger zur Seite springen muss.
Ich konnte nicht springen. Und mit dem Mittel gegen Blutgerinnung im Bauch bedeutete jede Wunde, dass ich mich zu Tode blutete. Im letzten Augenblick trat der Kerl mit ganzer Kraft auf die Bremse. Der schwere Cadillac kam kreischend und schleudernd weniger als zwei Schritte vor mir zum Stehen. Es roch nach verbranntem Gummi.
Einen kurzen Augenblick spürte ich nichts als Erleichterung. Andere Wagen hielten, Leute liefen zusammen. Shep stürzte über die Straße auf mich zu.
Der Fahrer steckte seinen hässlichen Schädel zum Seitenfenster hinaus. »Warum stehen Sie da wie angewachsen? Sie Dummkopf! Sind Sie farbenblind? Sehen Sie nicht, dass ich freie Fahrt habe?«
Ich vergaß alles, außer meiner Wut, und fing an, ihn zu beschimpfen. Der Mann stieg aus. Er war ein kräftiger, fetter, kleiner Bursche, fast so breit wie hoch: der Typ eines Schlägers. Ich boxte mich gern mit dieser aggressiven Sorte. Gewöhnlich können sie verteufelt viel einstecken. Ich trat auf ihn zu. Zuerst würde ich ihm einen linken Haken in den Bauch geben und dann die Zigarre den fetten Hals hinunterboxen.
Er hob die Hände, und seine Augen verengten sich - vielleicht vor Angst -, als ich auf ihn zutrat.
»Sie Esel!«, rief ich. »Sie haben verdammt genau gesehen, dass ich mitten auf der Straße war, als es Grün wurde. Wo, zum Teufel, haben Sie fahren gelernt, im Fernunterricht? Oder glauben Sie, dass ein Cadillac einen Mann aus Ihnen macht?«
»Warum keuchen Sie so? Haben Sie von Ihren großen Reden so Angst gekriegt, dass es Ihnen den Atem verschlägt?«, grunzte er mit angriffsbereiten Fäusten.
Ich hatte mein Herz völlig vergessen. Seine Frage, ob es mir den Atem verschlagen habe, ließ mich vor Furcht so steif werden, als sei ich gegen eine stählerne Wand geprallt. Ich trat einen Schritt zurück und ließ meine Hände sinken. Während ich spürte, wie mein Herz sich zusammenkrampfte, fragte ich mich dumpf, ob ich wieder einen Herzanfall bekommen würde.
»Was ist los, Muskelprotz, nur leere Sprüche?«, fragte der Mann, das Hupen der hinter ihm stehenden Wagen überschreiend. Ich konnte an seinen Augen erkennen, wie sein Selbstvertrauen zurückkehrte.
»Es tut mir leid, ich habe den Kopf verloren. Es hat keinen Sinn, wenn wir... Also, die Sache ist erledigt. Vergessen wir es«, hörte ich mich sagen. Ich war krank vor Angst, und der unterwürfige Ton in meiner Stimme machte mich noch elender.
Um die nasse Zigarre erschien ein Grinsen. »Es stimmt doch immer wieder. Ihr Muskelprotze seid nur alte Waschweiber!«
»Halten Sie Ihren verdammten Mund«, schrie Shep.
»Passen Sie auf, Alterchen, ich habe Lust, jemand zu verprügeln: Vielleicht nehme ich mir Sie vor«, drohte der Mann.
Die Furcht schüttelte mich, als ich Shep mit meiner rechten Hand zurückriss. Shep erwartete, dass ich ihn in seinem Spiel bestärkte. Was, zum Teufel, sollte ich tun, wenn dieser Kerl dem guten Shep einen Schwinger verpasste?
»Sie Dickwanst, Sie fettes Schwein!«, rief Shep und nahm seine Brille ab. Er sah vollkommen lächerlich aus.
»Aufhören, Shep!«, rief ich. Meine Stimme ging im Gedröhn der Hupen unter. Dann sah ich einen Polizisten auf uns zu laufen. Ich war in doppelter Hinsicht erleichtert: Es war ein junger Polizist, und er kannte mich nicht.
»Was tun Sie hier, meine Herrschaften? Halten Sie mitten auf der Sixth Avenue eine Versammlung ab? Wem gehört der Cadillac?«
Shep, der Zigarrenraucher und ich fingen gleichzeitig an zu reden.
Der Polizist wurde energisch. »Schon gut«, schnitt er uns die Rede ab. »Es ist ja niemand verletzt worden. Räumen Sie die Straße. Und Sie da, Sie steigen in Ihren Wagen. Der Verkehr ist bis hinunter zur 42. Straße völlig lahmgelegt.«
»Ja, Wachtmeister«, antwortete der hässliche Kerl, während er, an seiner Zigarre herumkauend, hinter das Steuer seines Cadillacs glitt. »Aber ich hätte zu gern erlebt, wie schnell dieser Schläger erledigt gewesen wäre.«
Der Funkstreifenbeamte sah mich von. Kopf bis Fuß an und winkte ab. »Hören Sie auf, er hätte Sie doch aufs Kreuz gelegt.«
»Worte haben mich bis jetzt noch nie umgeworfen«, antwortete der Dicke. Er grinste mich verächtlich an und fuhr ab.
Ich nickte dem Polizisten grüßend zu und überquerte die Straße.
Shep rieb seine Gläser blank und starrte mich an. »Ist dir nicht gut, Billy?«, fragte er an der Straßenecke.
»Warum?«, brummte ich, als wüsste ich nicht, was er meinte.
»Ich habe schon erlebt, dass du die Leute für weniger verprügelt hast, als was das dicke Fass sagte. Geredet hast du mit ihnen erst hinterher.« Sheps mageres Gesicht hatte einen erstaunten Ausdruck.
»Ich erkläre dir das ein andermal, Shep. Ich... Am... Im Augenblick kann ich mich nicht wegen irgendeiner Prügelei aufhalten.«
Shep nickte weise, als hätte ich etwas sehr Vernünftiges gesagt. »Selbstverständlich. Wann können wir über das Geschäft sprechen, das ich plane?«
»Ich habe zurzeit viel zu tun. In ein oder zwei Tagen melde ich mich bei dir.«
»Schön, schön. Ich wohne immer noch in dem gleichen Loch, obwohl meine Tochter mich drängt auszuziehen. Ein Witwer wie ich, was soll der mit einer größeren Wohnung?«
»Ich rufe dich an. Jetzt habe ich es ziemlich eilig.« Ich winkte ihm zu und ging in Richtung Broadway davon, während ich mich innerlich beschwor, nicht zu laufen, und Vilma verwünschte, weil sie mich gezwungen hatte, die Geborgenheit der Wohnung zu verlassen und in die Stadt zu kommen.,
Einen halben Block weiter begann sich der Druck in meiner Brust zu verstärken. Ich betrat ein kleines Bürogebäude und tat, als lese ich die Orientierungstafel in der Eingangshalle, während ich mich gegen die Wand lehnte und Atem holte. Die Verkrampfung löste sich, und ich zählte den Puls: Mein Herz klopfte wieder gleichmäßig.
Bis zu meiner Verabredung mit Vilma hatte ich noch eine Menge Zeit. Ich wollte von der Straße verschwinden und betrat deshalb die erstbeste Bar, setzte mich auf einen Barhocker und bestellte ein Bier. Ich ließ es vor mir stehen, saß nur da und dachte an nichts. Seit mein verdammtes Herz damals wieder zu schlagen begonnen hatte, kam ich mit der Welt nicht mehr zurecht. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich nur eins: mich verstecken, allein sein, in Sicherheit sein.
In der Bar war es kühl, aus einem Musikautomaten ertönte leise Musik. Als es auf der Uhr über der Theke zwei Minuten vor eins war, verließ ich Kneipe und Bier. Ich wollte eigentlich mit einem Taxi nach Hause fahren, aber dann ging ich zum Paramount-Kino. Vilma wartete auf mich. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie mir zuwinkte - als ob nichts auf dieser elenden Welt außer mir wichtig sei. Ihr Anblick verwirrte und deprimierte mich mehr denn je. Ich konnte nicht einmal böse auf sie sein.
»In Wirklichkeit habe ich dich nicht hierherbestellt, um einkaufen zu gehen, Bill«, sagte sie, während sie meine Hand drückte. »Ich muss dir etwas zeigen.«
»Wir wollen im Büro darüber reden«, sagte ich und hängte mich bei ihr ein.
Sie sah mit großen Augen zu mir auf. »Du wusstest die ganze Zeit über Bescheid? Wann hast du es entdeckt?«
»Vor ein paar Minuten. Ist das so wichtig? Wie konntest du so verschwenderisch sein, die Büromiete weiter zu zahlen? Bei dem bisschen Geld, das wir haben?«
»Ich habe es nicht verschwendet. Es geht um deine Arbeit. Du wirst wieder anfangen.«
»Rede keinen Unsinn, Vilma. Als Privatdetektiv bin ich erledigt.«
»Nein«, unterbrach sie mich mit zitternder Stimme. »Das ist das einzige, wovon du etwas verstehst, Bill. Du musst aufhören, so zu denken.«
»Wir wollen hier nicht weiter darüber reden. Warte, bis wir im Büro in unseren vier Wänden sind. Wir können jederzeit dort hingehen. Die Miete ist ja bezahlt.« Ich war zu müde, um mich zu streiten.
Die beiden Fahrstuhlführer schüttelten mir herzlich die Hand und fragten mich über den Auftrag aus, dessentwegen ich diese vielen Monate auswärts gewesen war. Das Büro hatte sich nicht verändert: klein, mit den gleichen billigen Möbeln eingerichtet. Offensichtlich hatte Vilma eine Putzfrau hergeschickt, die vor ein paar Stunden den Raum saubergemacht hatte. Und es stand ein neues, billiges, rotes Ledersofa da, das den Raum restlos vollstopfte. Sogar mein Tischkalender zeigte das richtige Datum: Vilma dachte wirklich an alles. Ich setzte mich auf meinen alten Drehstuhl hinter dem Schreibtisch. Vilma ließ sich auf dem Sofa nieder.
»Also gut, Liebling, wir wollen uns nicht zanken«, sagte ich und grinste sie an. »Ich weiß, dass du das nur zu meinem Besten getan hast, und so weiter, und so weiter. Aber die Sache sieht für mich ziemlich einfach aus: Es gibt bestimmte Dinge, die ich heute nicht mehr tun kann, genauso wenig wie ich über das Empire State Building springen könnte. Laufen, Boxen: das gehört auch zu den Unmöglichkeiten. Ich werde arbeiten gehen. Irgendwann in nächster Zeit fange ich an, halbtags als Bote zu arbeiten. Einen Dollar die Stunde. Es sind nur leichte Pakete auszutragen. Ich werde es auf ungefähr zwanzig Stunden in der Woche bringen, und wenn meine Pension kommt...«
»Du kriegst keine Pension, Bill. Vor zwei Wochen kam der abschlägige Bescheid, weil du nicht arbeitsunfähig bist.«
»Die gemeinen Kerle! Vor zwei Wochen? Warum hast du es mir nicht erzählt?«
»Weil ich damals dachte, es sei vielleicht ein zu großer Schock für dich, zu erfahren, dass du gar kein Invalide bist. Ach, Bill! Botengänge machen ist eine Arbeit für alte Männer. Du bist noch keine Vierzig!«
»Ich habe das Herz eines alten Mannes. Ich... Fang nicht an zu weinen, Vilma. Was soll ich deiner Ansicht nach in diesem verdammten Büro tun?«
Sie zuckte die Achseln und blickte weg. Ich war überzeugt, sie würde anfangen zu weinen, aber plötzlich blickte sie mich voll an und meinte ruhig: »Du sagtest, wir sollten uns nicht zanken. Hören wir also auf, uns anzuschreien. Das ist unsere größte Schwierigkeit: Wir können unsere Probleme nicht mehr miteinander besprechen. Willst du mir ein paar Minuten zuhören, Bill?«
»Selbstverständlich.«
»Gewisse Dinge, die uns betreffen - mich betreffen verstehst du nicht. Als ich dich kennenlernte, war ich eine bescheidene kleine Sekretärin, die genau wusste, wie hässlich sie war, und sich damit abgefunden hatte, eine alte Jungfer zu werden. Ich war nicht gerade unglücklich, aber das Leben verlief schrecklich eintönig. Meine Tage und Nächte waren ausgefüllt mit Gesetzbüchern, Verträgen, Klauseln. Und dann brachst du in mein Leben ein, fast wie ein Seeräuber aus alten Zeiten. Ich muss gestehen: Zuerst amüsiertest du mich, ich blickte sogar etwas auf dich hinunter, ich hielt dich für einen... Flegel. Aber es geschah ein Wunder, und meine ganzen romantischen Schulmädchenträume wurden wahr - deine Unerschrockenheit und deine Vitalität rissen mich mit. Du warst der Traum jeder Frau von einem energischen, tatkräftigen Mann, Bill. Lache nicht! Natürlich, es war komisch und ganz bestimmt lächerlich, dass ein farbloses sechsundzwanzigjähriges Mädchen immer noch ihre Träume hätschelte. Ich hätte mich mit den Träumen zufriedengegeben, aber ich fand mehr, ich zog das große Los. Unter deiner ganzen lauten Forschheit entdeckte ich einen feinen, anständigen Mann - und es gibt davon heute bedauerlich wenig. Ach, wahrscheinlich klingt es abgedroschen, aber ich wurde plötzlich eine Frau, im wahrsten Sinn des Wortes. Kannst du dir vorstellen, was es für mich bedeutete, wenn ein muskulöser, großer Draufgänger zu mir sagte, ich sei in der Liebe eine sehr begabte Anfängerin? Plötzlich gehörte ich zu einer aufregenden, neuen Welt. Manchmal konnte ich es nicht glauben - Wenn ich meine Finger über deinen Körper gleiten ließ, den ich für den stärksten auf der Welt - meiner Welt - hielt, und wusste, dass du nur mich haben wolltest. Das alles... Ich kann meine Gefühle nicht einmal in richtige Worte fassen.
Ich... Also: Als du ganz allein die Verbrecherbande auffliegen ließest, als ich erfuhr, was du getan hattest, war ich zuerst krank vor Angst - Angst, dass du dich verletzt hättest. Aber gleichzeitig spürte ich diesen kindischen Stolz, dass mein Mann das getan hatte - ja, dass er so roh und verwegen und mutig war. Ich weiß, es klingt verrückt, aber so stand es damals um mich. Und das war nur die süße Verpackung, die den soliden Inhalt umgab: Ich hatte ein Heim, ich hatte Carla, ich hatte einen Mann. Es konnte keine glücklichere Frau geben als mich.«
»Aber ein Gerinnsel blockierte eine Ader, und die Seifenblase zerplatzte«, unterbrach ich sie, weil es mich ärgerte, dass sie ständig in der Vergangenheit sprach.
Vilma sprang auf. »Die Seifenblase ist nicht zerplatzt, du Dickschädel! Ich bin kein Dummkopf, keine Träumerin, die ihr ganzes Leben lang nur Sonnenschein erwartet. Als du den Herzinfarkt hattest, habe ich den ganzen Tag gebetet: Lass ihn nicht sterben, lass ihn am Leben, und alles andere findet sich. Es war das erstemal, seit ich erwachsen bin, dass ich betete - darum gebetet habe, dass mein Leben nicht seinen Sinn verliert. Dann unterhielt ich mich oft und lange mit Doktor Kennedy. Du würdest körperlich nie mehr der gleiche sein, erklärte er mir, nicht hundert Prozent der gleiche, meinte er natürlich, aber es bedeute nicht, dass dein - unser - Leben vorbei sei. Verstehst du nicht, Bill, du bist so großartig, dass ich mich mit zehn Prozent dessen, was du warst, zufriedengegeben hätte. Aber Doktor Kennedy sagte, dass du - nun, dass man es nicht auf einen bestimmten Prozentsatz festlegen könne... Als er also sagte, du würdest zu zwei Dritteln wieder der Mann sein, der du warst, da...«
»Er täuschte dich, Liebling.«
Vilma schüttelte traurig den Kopf. »Er sagte auch, dass du vielleicht so reagieren könntest, deshalb...«
»Wie reagieren?«