Kristin Harmel
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch
von Veronika Dünninger
Knaur eBooks
Kristin Harmel arbeitet als Autorin und Journalistin. Mit ihrem Debüt Solange am Himmel Sterne stehen landete sie einen weltweiten Bestseller.
Sie lebt mit ihrem Mann in Orlando, Florida.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Book of Lost Names« bei Gallery Books, New York.
© 2020 by Kristin Harmel Lietz
© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Catherine Beck
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung eines Entwurfs von JACKET DESIGN BY Chelsea Mcguckin
Coverabbildung: Collage aus mehreren Motiven von Drunaa / Trevillion Images, Ildiko Neer / Trevillion Images, und Shutterstock.com
ISBN 978-3-426-45789-4
Für meine Swan-Valley-Schwestern – Wendy, Allison, Alyson, Emily und Linda –, die, wie nur Schriftsteller*innen und Leser*innen es können, verstehen, dass Bücher das Schicksal prägen.
Und für Bibliothekar*innen und Buchhändler*innen überall, die dafür sorgen, dass diese Bücher mit der Macht, Leben zu verändern, ihren Weg in die Hände der Menschen finden, die sie am meisten brauchen.
Mai 2005
Es ist ein Samstagmorgen, mitten in meiner Schicht in der öffentlichen Bibliothek in Winter Park, als ich es sehe.
Das Buch, auf dem mein Blick zuletzt vor über sechs Jahrzehnten ruhte.
Das Buch, von dem ich dachte, es sei für immer verschwunden.
Das Buch, das mir alles bedeutete.
Es starrt mich von einer Fotografie in der New York Times an, die irgendjemand aufgeschlagen auf dem Rückgabetresen liegen gelassen hat. Die Welt verstummt, während ich nach der Zeitung greife, und meine Hand zittert fast ebenso sehr wie damals, als ich das Buch selbst das letzte Mal in Händen hielt. »Das kann nicht sein«, flüstere ich.
Ich starre auf das Foto. Ein Mann in den Siebzigern sieht zu mir zurück, sein schlohweißes Haar schütter und flaumig, die Augen froschartig hinter einer dicken Brille.
»Sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bemüht sich ein deutscher Bibliothekar, geraubte Bücher mit ihren rechtmäßigen Besitzern wiederzuvereinen«, schreit die Schlagzeile, und ich will dem Mann auf dem Bild zurufen, dass ich die rechtmäßige Besitzerin des Buchs bin, das er in Händen hält – dieses ausgeblichenen, ledergebundenen Bands mit der abblätternden unteren rechten Ecke und dem vergoldeten Rücken, auf dem verblasst Epitres et Evangiles prangt. Es gehört mir – und Rémy, einem Mann, der vor langer Zeit gestorben ist. Dem Mann, an den nicht mehr zu denken ich mir nach dem Krieg geschworen habe.
Aber diese Woche war er dennoch in meinen Gedanken, trotz all meiner Bemühungen. Morgen, am achten Mai, wird die Welt den sechzigsten Jahrestag des Siegs in Europa feiern. Bei all den jungen Nachrichtensprechern, die feierlich vom Krieg reden, als könnten sie ihn auch nur annähernd verstehen, ist es unmöglich, nicht an Rémy zu denken … nicht an die Zeit zu denken, die wir damals zusammen verbrachten, oder nicht an die Leute, die wir retteten, und die Art, wie das alles geendet hat. Auch wenn mein Sohn mir sagt, dass ich mich glücklich schätzen kann, in meinem hohen Alter einen solch wachen Geist zu haben, ist das, wie bei den meisten Glücksfällen, ein zweifelhafter Segen.
An den meisten Tagen sehne ich mich einfach nur nach Vergessen.
Ich blinzele die ungebetenen Gedanken an Rémy weg und widme meine Aufmerksamkeit wieder dem Artikel. Der Mann auf dem Foto ist, wie es scheint, Otto Kühn: ein Bibliothekar der Zentral- und Landesbibliothek in Berlin, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, von den Nazis geraubte Bücher zurückzugeben. Offenbar gibt es allein in der Sammlung seiner Bibliothek über eine Million solcher Bände, aber das, was er auf dem Foto in Händen hält – mein Buch –, ist das eine, das ihn, wie er sagt, nachts wachhält.
»Dieser religiöse Text«, hat Kühn dem Reporter erzählt, »ist mein Lieblingsbuch unter den zahlreichen Geheimnissen, die in unseren Regalen schlummern. 1732 in Paris erschienen, ist es ein sehr seltenes Buch, aber das ist nicht, was es so außergewöhnlich macht. Es ist einzigartig, weil wir darin ein faszinierendes Rätsel finden: eine Art Code. Wem hat es gehört? Was hat der Code zu bedeuten? Wie kamen die Deutschen während des Kriegs in seinen Besitz? Das sind die Fragen, die mich verfolgen.«
Ich spüre Tränen in meinen Augen, Tränen, die dort nichts verloren haben. Ich wische sie fort, wütend auf mich selbst, dass ich nach all den Jahren noch immer so emotional bin. »Wie schön muss es sein«, flüstere ich Kühns Bild zu, »von Fragen verfolgt zu werden statt von Geistern.«
»Ähm, Mrs Abrams? Reden Sie mit dieser Zeitung?«
Die Stimme von Jenny Fish, der stellvertretenden Bibliotheksleiterin, reißt mich aus dem Nebel meiner Erinnerung. Sie ist die Sorte Frau, die sich über alles beklagt – und die es offenbar genießt, bei jeder Gelegenheit anzudeuten, dass ich mit meinen sechsundachtzig Jahren vielleicht darüber nachdenken sollte, bald in den Ruhestand zu gehen. Immer beäugt sie mich misstrauisch, als könne sie einfach nicht glauben, dass ich in meinem Alter noch immer hier sein will.
Sie versteht nicht, was es heißt, Bücher so leidenschaftlich zu lieben, dass man ohne sie sterben würde, dass man einfach aufhören würde zu atmen, aufhören zu existieren. Ehrlich gesagt ist mir schleierhaft, warum sie überhaupt Bibliothekarin geworden ist.
»Ja, Jenny, das tue ich allerdings«, antworte ich, ohne aufzusehen.
»Na ja, vielleicht sollten Sie das besser nicht vor den Bibliotheksbesuchern tun.«
Sie sagt es ohne jede Spur von Ironie.
»Sie könnten Sie für senil halten.«
Sie hat keinen Sinn für Humor.
»Danke, Jenny. Ihr Rat ist immer so überaus nützlich.«
Sie nickt ernst. Offenbar übersteigt es auch ihr Verständnis, dass jemand, der so aussieht wie ich – klein, weißhaarig, großmütterlich –, zu Sarkasmus fähig ist.
Aber heute habe ich keine Zeit für sie. Das Einzige, woran ich denken kann, ist dieses Buch. Das Buch der verschollenen Namen. Das Buch, das so viele Geheimnisse barg und mir genommen wurde, bevor ich herausfinden konnte, ob es die eine Antwort enthielt, die ich so unbedingt brauchte.
Und jetzt, nur einen Flug weit entfernt, gibt es einen Mann, der den Schlüssel in der Hand hält, um das alles aufzuschließen.
»Aber soll ich es wirklich wagen?«, murmele ich dem Foto von Otto Kühn zu. Ich beantworte mir die Frage, bevor sich Zweifel einschleichen können. »Ich muss. Ich bin es den Kindern schuldig.«
»Mrs Abrams?«
Wieder ist es Jenny, die mich mit Nachnamen anspricht, obwohl ich ihr schon tausendmal gesagt habe, dass sie mich Eva nennen soll, genauso, wie sie die jüngeren Bibliothekare mit ihren Rufnamen anspricht. Aber ich bin für sie eben nur eine alte Dame – leider. Der Lohn dafür, dass man sich durch die Jahrzehnte gekämpft hat, ist ein allmählicher Prozess der Auslöschung.
»Ja, Jenny?« Schließlich sehe ich zu ihr hoch.
»Müssen Sie nach Hause gehen?«
Ich nehme an, sie sagt es in der Erwartung, dass ich ablehnen werde. Sie grinst leicht spöttisch, überzeugt, dass sie ihre Überlegenheit behauptet hat. »Sich vielleicht sammeln?«
Und so bereitet es mir großes Vergnügen, ihr direkt in die Augen zu sehen und lächelnd zu erwidern: »Ja, Jenny, haben Sie vielen Dank. Ich denke, genau das werde ich tun.«
Ich schnappe mir die Zeitung und gehe.
Sobald ich mein Haus – einen gemütlichen Bungalow, nur fünf Gehminuten von der Bibliothek entfernt – erreicht habe, logge ich mich in meinen Computer ein.
Ja, ich habe einen Computer. Und ja, ich weiß, wie man ihn benutzt. Mein Sohn Ben hat die schlechte Angewohnheit, Computerbegriffe in meiner Gegenwart betont langsam auszusprechen – In-ter-net und E-Mail-Fach –, als wäre das ganze Konzept der Technologie schon zu viel für mich. Ich nehme an, ich kann es ihm nicht verdenken, nicht gänzlich. Als Ben geboren wurde, lag der Krieg acht Jahre zurück, und ich hatte Frankreich – und den Menschen, der ich früher einmal gewesen war – weit hinter mir gelassen. Ben kannte mich nur als Bibliothekarin und Hausfrau, die gelegentlich über ihr Englisch stolperte.
Irgendwann im Laufe der Zeit entwickelte er die falsche Vorstellung, dass ich vollkommen schlicht sei. Was würde er wohl sagen, wenn er die Wahrheit wüsste?
Es ist meine Schuld, dass ich es ihm nie gesagt, den Irrtum nie richtiggestellt habe. Aber wenn man es sich erst einmal in einer schützenden Hülle bequem gemacht hat, ist es schwerer, als man vielleicht erwarten würde, aufzustehen und zu sagen: »Ehrlich gesagt, Leute, das bin ich.«
Vielleicht befürchtete ich auch, Frank, Bens Vater, würde mich verlassen, wenn ihm klar wurde, dass ich etwas ganz anderes war als die Frau, als die ich von ihm gesehen werden wollte. Aber dann verließ er mich trotzdem. Bauchspeicheldrüsenkrebs, schon vor einem Jahrzehnt, und auch wenn ich seine Gesellschaft vermisst habe, hatte ich doch die seltsame Erkenntnis, dass ich ihn vermutlich schon viel früher hätte entbehren können.
Ich gehe auf die Website von Delta – wohl aus reiner Gewohnheit, da Frank oft geschäftlich verreiste und Mitglied im Vielfliegerprogramm der Fluggesellschaft war. Die Preise sind exorbitant, aber ich habe genug Geld auf die hohe Kante gelegt. Es ist kurz vor Mittag, und es gibt einen Flug, der in drei Stunden geht, und einen anderen heute Abend um 21.35 Uhr, mit Umsteigen in Amsterdam, der morgen um 15.40 Uhr in Berlin landet. Ich klicke mich durch und buche Letzteren. Es hat etwas Poetisches an sich, dass ich ausgerechnet an diesem Tag in Berlin ankommen werde: auf den Tag genau sechzig Jahre, nachdem die Deutschen in genau dieser Stadt die bedingungslose Kapitulation gegenüber den Alliierten unterzeichnet haben.
Ein Schauder durchläuft mich, und ich weiß nicht, ob vor Angst oder Aufregung.
Ich muss packen, aber vorher werde ich Ben anrufen müssen. Er wird es nicht verstehen, aber es ist endlich Zeit für ihn zu erfahren, dass seine Mutter nicht diejenige ist, für die er sie immer gehalten hat.
Juli 1942
Der Himmel über der Sorbonne-Bibliothek im fünften Arrondissement von Paris war grau und regenverhangen, die Luft schwer und schwül. Eva Traube stand vor dem Haupteingang und verfluchte die Feuchtigkeit. Auch ohne einen Blick in einen Spiegel zu werfen, wusste sie, dass ihre dunklen, schulterlangen Haare schon jetzt doppelt so viel Fülle hatten und sie aussehen ließen wie einen Pilz. Nicht dass es etwas änderte; das Einzige, was irgendjemand bemerken würde, war der sechszackige gelbe Stern, der auf ihre linke Brust genäht war. Er tilgte alle anderen Teile von ihr, die wichtig waren – ihre Identität als Tochter, als Freundin, als Anglophile, die auf ihren Doktortitel in englischer Literatur hinarbeitete.
Für so viele Leute in Paris war sie jetzt nur noch eine Jüdin.
Sie fröstelte; eine plötzliche Kälte durchfuhr sie. Der Himmel sah Unheil verkündend aus, als wüsste er etwas, das ihr verborgen war. Die Schatten der heraufziehenden Wolken schienen die physische Verkörperung der Dunkelheit zu sein, die sich über die Stadt selbst gelegt hatte.
Courage, würde ihr Vater sagen, sein Französisch an den Rändern noch immer ungeschliffen, mit den Resten eines polnischen Akzents. Kopf hoch. Die Deutschen können uns nur schikanieren, wenn wir es ihnen gestatten.
Aber sein Optimismus war unrealistisch. Den Deutschen stand es völlig frei, Frankreichs Juden zu schikanieren, wann immer es ihnen beliebte, ganz gleich, ob Eva und ihre Eltern sich fügten oder nicht.
Sie hob den Blick zum Himmel und überlegte. Sie hatte vorgehabt, zu Fuß nach Hause zu gehen, um die Metro und die neuen Vorschriften zu meiden – Juden durften nur in dem letzten, drückend heißen, stickigen Waggon mitfahren –, aber wenn der Himmel seine Schleusen öffnete, wäre sie unter der Erde vielleicht besser aufgehoben.
»Ah, mon petit rat de bibliothèque.« Eine tiefe Stimme genau hinter ihr riss Eva aus ihren Gedanken. Sie wusste, wer es war, noch bevor sie sich umwandte, denn es gab nur einen Menschen, der meine kleine Leseratte als Kosebezeichnung für sie verwendete.
»Bonjour, Joseph«, erwiderte sie steif. Sie konnte spüren, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, und sie war unendlich verlegen. Joseph Pelletier war ein paar Jahre älter als sie und einer der wenigen anderen Studenten an der englischen Fakultät, die den gelben Stern trugen – auch wenn er, anders als sie, nur halbjüdisch und nicht praktizierend war. Er war hochgewachsen, das Haar dicht und dunkel, die Schultern breit, seine Augen ein blasses Blau. Er sah aus wie ein Filmstar – eine Einschätzung, die, wie sie wusste, viele der Mädchen an der Fakultät teilten, selbst die katholischen, deren Eltern niemals zulassen würden, dass ihren Töchtern von einem Juden der Hof gemacht wurde. Nicht dass Joseph Pelletier der Typ zu sein schien, der irgendjemandem den Hof machte. Er war eher der Typ, der einen in einer dunklen Ecke der Bibliothek verführte und dann schmachtend zurückließ.
»Du siehst furchtbar nachdenklich aus, Kleine.« Er lächelte Eva an, während er sie zur Begrüßung auf beide Wangen küsste. Seine Mutter hatte ihre Mutter schon gekannt, bevor Eva geboren war, und er hatte eine Art, ihr das Gefühl zu geben, als wäre sie noch immer das kleine Mädchen von damals, als sie ihm zum ersten Mal begegnete, obwohl sie jetzt dreiundzwanzig und er sechsundzwanzig war.
»Ich habe mich nur gefragt, ob es Regen geben wird«, erwiderte sie und wich vor ihm zurück, bevor er bemerken konnte, dass die körperliche Nähe sie erröten ließ.
»Eva.« Die Art, wie er ihren richtigen Namen aussprach, sorgte dafür, dass ihr Herz einen Takt aussetzte. Als sie es wagte, ihn wieder anzusehen, lag in seinem Blick irgendetwas Beunruhigendes. »Ich habe dich gesucht.«
»Weswegen?« Für einen Sekundenbruchteil hoffte sie, er würde sagen: Um dich zum Abendessen einzuladen. Aber das war natürlich ganz und gar lächerlich. Wohin würden sie überhaupt gehen? Für Leute, die den Stern trugen, war alles geschlossen.
Er beugte sich vor. »Um dich zu warnen. Es heißt, dass sich etwas zusammenbraut. Eine Massenverhaftung, noch vor Freitag.« Sein Atem war warm an ihrem Ohr. »Sie haben bis zu zwanzigtausend im Ausland geborene Juden auf ihrer Liste.«
»Zwanzigtausend? Aber das ist unmöglich.«
»Unmöglich? Nein. Meine Freunde haben sehr zuverlässige Quellen.«
»Deine Freunde?«
Sie starrten sich an. Natürlich hatte sie von der Untergrundbewegung gehört, Leuten, die daran arbeiteten, die Nazis hier in Paris zu untergraben. War es das, was er meinte? Wer sonst würde schließlich so etwas wissen? »Aber wie kannst du dir so sicher sein, dass sie recht haben?«
»Wie kannst du dir sicher sein, dass sie nicht recht haben? Wie dem auch sei, ich denke, du und deine Eltern, ihr solltet am besten für die nächsten paar Tage untertauchen.«
»Untertauchen?« Ihr Vater war Schreibmaschinenmechaniker, ihre Mutter Teilzeitnäherin. Sie hatten kaum die Mittel, um ihre Wohnung zu bezahlen, geschweige denn einen Ort, um sich zu verstecken. »Dann sollten wir uns vielleicht im Ritz einquartieren?«
»Das ist kein Witz, Eva.«
»Ich kann die Deutschen ebenso wenig leiden wie du, Joseph, aber zwanzigtausend Leute? Nein, das glaube ich nicht.«
»Sei einfach vorsichtig, Kleine.«
In diesem Moment öffnete der Himmel seine Schleusen. Joseph wurde mit dem Regen hinweggefegt, verschwand in dem Meer sich aufspannender Schirme auf dem von Brunnen flankierten Fußweg, der von der Bibliothek wegführte.
Eva fluchte leise. Regentropfen trommelten auf den Gehsteig, machten ihn so glitschig wie Öl im Zwielicht des Spätnachmittags, und während sie von den Stufen zur Rue des Écoles eilte, war sie im Nu durchnässt. Sie versuchte, sich ihre Strickjacke über den Kopf zu ziehen, um sich vor dem Wolkenbruch zu schützen, aber das führte nur dazu, dass ihr Stern, so groß wie ihre Handfläche, jetzt vorn in der Mitte prangte.
»Dreckige Jüdin«, murmelte ein Mann im Vorbeigehen, das Gesicht von seinem Schirm verborgen.
Eva würde heute nicht die Metro nehmen. Sie holte einmal tief Luft, duckte sich hinter den aufgenähten Stern und begann, auf den Fluss, den hoch aufragenden, massiven Bau der Notre-Dame, ihr Zuhause, zuzulaufen.
»Wie war es heute in der Bibliothek?« Evas Vater saß am Kopfende des kleinen Tischs, während ihre Mutter, das Haar in ein verwaschenes Tuch gewickelt, ihre stämmige Gestalt in ein fadenscheiniges Baumwollkleid gehüllt, wässerige Kartoffelsuppe erst in seine und dann in Evas Schale füllte. Sie waren alle von dem Wolkenbruch überrascht worden, und jetzt hingen ihre Pullover zum Trocknen am offenen Fenster, die sechszackigen gelben Sterne ihnen zugewandt wie drei kleine Soldaten, alle in einer Reihe, Juif, Juif, Juif, die sie schweigend beobachteten.
»Gut.« Eva wartete, bis ihre Mutter Platz genommen hatte, und nahm dann einen kleinen Löffel von der faden Mahlzeit.
»Ich weiß nicht, warum du überhaupt darauf bestehst, noch länger dorthin zu gehen«, bemerkte Evas Mutter. Sie hielt einen Moment inne, um die Suppe zu kosten, und rümpfte die Nase. »Sie werden dir niemals gestatten, deinen Abschluss zu machen.«
»Die Dinge werden sich ändern, Mamusia. Da bin ich mir ganz sicher.«
»Deine Generation und ihr Optimismus«, seufzte Evas Mutter.
»Eva hat recht, Faiga. Die Deutschen können diese Vorschriften nicht ewig aufrechterhalten. Sie ergeben keinen Sinn.« Evas Vater lächelte ein Lächeln, von dem sie alle wussten, dass es aufgesetzt war.
»Danke, Tatuś.« Eva und ihre Eltern sprachen einander noch immer mit polnischen Kosenamen an, obwohl Eva, in Paris geboren, nie einen Fuß in das Geburtsland ihrer Eltern gesetzt hatte. »Und, wie war es heute in der Arbeit?«
Ihr Vater sah hinunter auf seine Suppe. »Monsieur Goujon weiß nicht, wie viel länger er mich noch bezahlen können wird. Vielleicht müssen wir …« Sein Blick huschte erst zu Mamusia und dann zu Eva. »Vielleicht müssen wir aus Paris weggehen. Wenn ich meine Arbeit verliere, gibt es für mich keine andere Möglichkeit, hier unseren Lebensunterhalt zu verdienen.«
Eva hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde, aber es traf sie dennoch wie ein Schlag in die Magengrube. Sie wusste, wenn sie aus Paris weggingen, würde sie niemals an die Sorbonne zurückkehren, niemals ihren Abschluss in Englisch machen, für den sie so viel gearbeitet hatte. Aber die Anstellung ihres Vaters war schon lange gefährdet, seit die Deutschen begonnen hatten, die Juden systematisch aus der Gesellschaft zu entfernen. Sein Ruf als der beste Schreibmaschinen- und Mimeografenmechaniker in Paris hatte ihn vorläufig gerettet, auch wenn er nicht mehr in irgendwelchen staatlichen Behörden arbeiten durfte. Aber Monsieur Goujon, sein alter Vorgesetzter, hatte Mitleid mit ihm gehabt und bezahlte ihn für Schwarzarbeit, die er hauptsächlich von zu Hause aus erledigte. Tatsächlich standen im Moment elf Schreibmaschinen in unterschiedlichen Stadien der Zerlegung aufgereiht im Wohnzimmer und kündigten einen langen Arbeitsabend an.
Eva holte Luft, suchte tief in sich nach irgendeiner Hoffnung. »Vielleicht wäre es tatsächlich zum Besten, wenn wir weggehen, Tatuś.«
Er blinzelte sie an, und ihre Mutter wurde still. »Zum Besten, słoneczko?« So hatte ihr Vater sie immer genannt, Polnisch für kleine Sonne, und sie fragte sich, ob er jetzt, so wie sie es tat, die bittere Ironie darin sah. Denn was war die Sonne anderes als ein gelber Stern?
»Wisst ihr, ich bin heute Joseph Pelletier über den Weg gelaufen …«
»Oh, Joseph!«, schnitt ihre Mutter ihr das Wort ab und legte die Hände an die Wangen wie ein vernarrtes Schulmädchen. »Ein solch gut aussehender Junge. Hat er dich endlich um ein Rendezvous gebeten? Ich dachte ja immer, ihr zwei würdet letztendlich vielleicht zusammenkommen.«
»Nein, Mamusia, nichts dergleichen.« Eva wechselte einen Blick mit ihrem Vater. Eva mit einem geeigneten jungen Mann zu verkuppeln, schien ein absurd großes Ausmaß von Mamusias Gedanken zu beherrschen, als ob sie nicht mitten in einem Krieg wären. »Um genau zu sein, hat er mich gesucht, um mir etwas zu sagen. Er hat ein Gerücht gehört, demzufolge in den nächsten Tagen bis zu zwanzigtausend im Ausland geborene Juden verhaftet werden sollen.«
Evas Mutter blinzelte sie an. »Aber das ist doch lächerlich. Was in aller Welt würden sie denn mit zwanzigtausend von uns tun?«
»Genau das habe ich auch gesagt.« Eva sah zu ihrem Vater, der noch immer kein Wort gesagt hatte. »Tatuś?«
»Das hört sich auf jeden Fall beängstigend an«, meinte er nach einer langen Pause, seine Worte langsam und gemessen. »Aber Joseph scheint mir ein Typ zu sein, der zu Übertreibungen neigt.«
»Ganz sicher nicht. Er ist ein solch netter junger Mann«, entgegnete Evas Mutter prompt.
»Faiga, er hat Eva aus der Fassung gebracht, und wozu? Damit er sich in die Brust werfen und ihr zeigen kann, dass er gute Beziehungen hat? Ein anständiger Bursche sollte nicht das Bedürfnis verspüren, so was zu tun.« Tatuś wandte sich wieder an Eva. »Słoneczko, ich will nicht von der Hand weisen, was Joseph gesagt hat. Und ich stimme dir zu, dass sich tatsächlich etwas zusammenbraut. Aber ich habe in diesem Monat mindestens ein Dutzend Gerüchte gehört, und das hier ist das ungeheuerlichste. Zwanzigtausend? Das ist unmöglich.«
»Aber Tatuś, was, wenn er recht hat?«
Zur Antwort stand er vom Tisch auf und kam ein paar Sekunden später mit einem kleinen, gedruckten Pamphlet wieder. Er reichte es Eva, die es rasch überflog. Ergreift alle erforderlichen Maßnahmen, um unterzutauchen … Kämpft gegen die Polizei … Versucht zu fliehen. »Was ist das?«, hauchte sie, während sie es ihrer Mutter reichte.
»Es wurde gestern unter unserer Tür durchgeschoben«, antwortete ihr Vater.
»Aber warum hast du uns nichts davon gesagt? Das klingt doch wie eine Warnung, genau wie das, was Joseph gesagt hat.«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Das hier ist nicht das erste Mal, Eva. Die Deutschen herrschen mit Angst ebenso sehr wie mit ihren Waffen. Wenn wir uns jedes Mal wegducken, wenn eine falsche Nachricht die Runde macht, haben sie gewonnen, oder? Sie werden uns unser Gefühl von Sicherheit, unser Gefühl von Wohlbefinden genommen haben. Das lasse ich nicht zu.«
»Und überhaupt, wir haben nichts Unrechtes getan«, warf Evas Mutter ein. »Wir sind produktive Bürger.«
»Ich bin mir nicht so sicher, ob das letztendlich eine Rolle spielen wird.« Evas Vater beugte sich vor und tätschelte Evas Hand, dann berührte er die Wange seiner Ehefrau. »Aber vorläufig wird uns nichts passieren. Also lasst uns jetzt essen, bevor die Suppe kalt wird.«
Aber Eva war der Appetit bereits vergangen, und während sie die Kartoffeln in ihrer Schale herumschob, rumorte ihr Magen vor einer düsteren Ahnung, die die Worte ihres Vaters nicht vertreiben konnten.
Nachdem Mamusia zu Bett gegangen war, fand Tatuś Eva in der kleinen Bibliothek abseits des Wohnzimmers, wo sich Regale mit all den Büchern auftürmten, die sie beide so sehr schätzten. Er hatte sie die Liebe zum Lesen gelehrt, eines der größten Geschenke, die ein Elternteil einem Kind machen konnte, und ihr so die Welt eröffnet. An den meisten Abenden lasen sie und ihr Vater hier in geselligem Schweigen, aber im Moment war Eva zu abgelenkt. Stattdessen saß sie auf dem Sofa und kritzelte in einem Notizbuch vor sich hin, eine nervöse Angewohnheit, die aus ihrer Kindheit herrührte, als es sie immer beruhigt hatte, die Leute und Dinge um sie herum zu zeichnen.
»Słoneczko«, sagte er leise.
Sie sah auf, ihren Bleistift über einer detaillierten Zeichnung des schlichten Kronleuchters an der Decke in der Schwebe. »Ich dachte, du wärst im Bett, Tatuś.«
»Ich konnte nicht schlafen.« Er kam und setzte sich neben sie. »Es gibt etwas, das ich dir sagen muss. Wenn die Deutschen kommen, um deine Mutter und mich abzuholen, will ich, dass du sofort zu Monsieur Goujon gehst.«
Eva starrte ihn an. »Aber du hast doch gesagt, du glaubst Joseph nicht.«
»Das tue ich auch nicht. Aber hier passieren ständig entsetzliche Dinge. Ich wäre ein Dummkopf, so zu tun, als ob sie uns nicht auch passieren könnten. Aber du, słoneczko, du solltest in Sicherheit sein. Du bist Französin. Wenn wir abgeholt werden, musst du fliehen, bevor sich die Lage verschlimmert.«
»Tatuś …«
»Schlag dich in die freie Zone durch – und wenn möglich, weiter in die Schweiz, in Sicherheit. Warte dort, bis der Krieg zu Ende ist. Wir kommen zurück und holen dich.«
Sie war wie gelähmt vor Angst, vor Schmerz. »Warum können wir nicht alle zusammen weggehen? Jetzt?«
»Weil wir zu auffällig wären, Eva. Ich will einfach, dass du bereit für den Tag bist, an dem du vielleicht gehen musst. Du brauchst Dokumente, die dich nicht als Jüdin ausweisen. Monsieur Goujon wird dir helfen.«
Sie fühlte sich, als wäre ihr die Luft aus der Lunge geschlagen worden. »Du hast schon mit ihm gesprochen?«
»Ja, und ich habe ihn auch bezahlt, Eva. Alles, was ich an Ersparnissen hatte. Er hat mir sein Wort gegeben. Er hat Zugang zu allem, was erforderlich ist, um einen Satz falscher Papiere für dich anzufertigen. Es wird genug sein, um dich aus Paris herauszubringen.«
Sie blinzelte Tränen zurück. »Ich werde nicht ohne dich gehen, Tatuś.«
Er ergriff ihre Hände. »Aber das musst du, Eva! Versprich mir, dass du das tust, wenn es so weit kommt.«
»Aber …«
»Du musst mir dein Wort geben. Ich kann nicht überleben, wenn ich nicht glaube, dass du alles tust, was du kannst, um ebenfalls zu überleben.«
Sie sah ihm in die Augen. »Ich verspreche es. Aber Tatuś, wir haben doch immer noch Zeit, oder? Zeit, um einen anderen Plan zu fassen, damit wir zusammen in die freie Zone gehen können?«
»Natürlich, słoneczko. Natürlich.« Aber sein Blick huschte zur Seite.
Bis er wieder zu ihr zurücksah, war die Verzweiflung in seinen Augen tief und düster, und Eva wusste, dass er seinen eigenen Worten nicht glaubte.
Es war kurz nach vier Uhr morgens, zwei Nächte später, als das erste Klopfen kam. Eva hatte unruhig geschlafen und von wilden Drachen geträumt, die ein Schloss umzingelten, und während sie langsam an die Oberfläche ihres Bewusstseins taumelte, krampfte sich ihre Brust vor Angst zusammen. Joseph hatte recht. Sie sind da.
Sie konnte hören, wie ihr Vater die Wohnung durchquerte, mit langsamen, festen Schritten. »Tatuś!«, rief sie, schnappte sich ihren Morgenmantel und zwängte ihre Füße in die abgewetzten Lederstiefel, die sie seit einem Jahr neben ihrem Bett stehen hatte, für den Fall, dass sie plötzlich fliehen musste. Was noch würde sie brauchen, wenn die Deutschen gekommen waren, um sie alle abzuholen? Sollte sie eine Tasche packen? Würde Zeit dafür sein? Warum hatte sie nicht auf Joseph gehört?
»Tatuś, bitte!«, rief sie, als die Schritte ihres Vaters innehielten. Sie wollte ihm sagen, er solle warten, die Zeit anhalten, einen letzten Augenblick im Davor verweilen, aber sie konnte die Worte nicht finden, daher taumelte sie stattdessen aus ihrem Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Sie kam eben noch rechtzeitig, um zu sehen, wie er die Tür öffnete.
Sie wickelte sich fester in ihren Morgenmantel, wartete auf den gebellten Befehl der Deutschen, die auf der anderen Seite der Schwelle stehen mussten. Stattdessen hörte sie eine weibliche Stimme, und Eva konnte sehen, wie sich die Miene ihres Vaters entspannte, während er zur Seite trat. Eine Sekunde später folgte ihm Madame Fontain, ihre Nachbarin vom Ende des Flurs, mit verkniffener Miene in die Wohnung.
»Tatuś?«, fragte Eva, und er wandte sich um. »Es sind nicht die Deutschen?«
»Nein, słoneczko.« Die Furchen in seinem Gesicht hatten sich noch immer nicht geglättet, und Eva wusste, dass er ebenso verängstigt gewesen war wie sie selbst. »Madame Fontains Mutter ist erkrankt. Sie hat sich gefragt, ob du oder deine Mutter auf ihre Töchter aufpassen könntet, während sie sie zu Doktor Patenaudes Wohnung bringt.«
»Simone und Colette schlafen noch, das heißt, sie dürften keine Schwierigkeiten machen«, sagte Madame Fontain, ohne Blickkontakt aufzunehmen. »Sie sind erst zwei und vier.«
»Ja, ich weiß, wie alt sie sind«, erwiderte Eva steif. Erst am Tag zuvor war Eva den beiden Mädchen zufällig im Hof begegnet. Sie hatte sich hinuntergebeugt, um Hallo zu sagen, und die Ältere, Colette, hatte begonnen, fröhlich von Schmetterlingen und Äpfeln zu plappern, als Madame Fontain aus heiterem Himmel auftauchte und beide Mädchen hastig wegzog. Während sie um die Ecke verschwanden, hörte Eva, wie sie die beiden wegen der Gefahr, mit einer Jüdin Umgang zu pflegen, schalt.
»Ich habe es bei anderen Wohnungen versucht, aber niemand sonst hat die Tür geöffnet. Bitte. Ich würde nicht fragen, wenn es nicht nötig wäre.«
»Natürlich werden wir auf Ihre Töchter aufpassen.« Evas Mutter war aus ihrem Schlafzimmer aufgetaucht, ihr Nachthemd bereits durch ein schlichtes Baumwollkleid und eine Strickjacke ersetzt. »Dafür sind Nachbarn schließlich da. Eva wird mich begleiten. Nicht wahr, Liebes?«
»Ja, Mamusia, natürlich.«
Der Vater der Mädchen war an der Front, möglicherweise tot, und sie hatten niemanden sonst.
»Eva, zieh dich an, rasch.« Evas Mutter wandte sich wieder an Madame Fontain. »Gehen Sie nur. Seien Sie unbesorgt. Ihren Mädchen wird nichts passieren.«
»Danke«, sagte Madame Fontain, aber sie wollte ihnen noch immer nicht in die Augen sehen. »Ich werde zurück sein, so rasch ich kann.« Sie drückte Mamusia einen Schlüssel in die Hand und war verschwunden, bevor sie noch ein Wort sagen konnten.
Eva schlüpfte rasch in das Kleid, das sie am Tag zuvor getragen hatte, und strich sich die Haare glatt, bevor sie sich wieder zu ihren Eltern im Wohnzimmer gesellte. »Ihr wisst aber schon, wie Madame Fontain über Juden denkt, oder?« Eva konnte sich die Frage nicht verkneifen.
»Halb Paris denkt genauso«, erwiderte ihre Mutter erschöpft. »Aber wenn wir unsere Güte verlieren, wenn wir das werden, wovor sie sich fürchten, dann haben wir sie nur in ihren Ansichten bestätigt, oder?«
»Ich weiß.« Sie küsste ihren Vater zum Abschied. »Geh wieder zu Bett, Tatuś. Mamusia und mir wird nichts passieren.«
»Mein liebes Mädchen.« Er küsste sie auf die Wange. »Pass gut auf deine Mutter auf.« Er küsste Mamusia sanft, und als sie in den Flur hinaustraten, schloss er die Tür. Sie fiel mit einem sanften Klicken hinter ihnen ins Schloss.
Zwei Stunden später, während Colette und Simone noch immer in ihren Betten schliefen und Mamusia neben ihr auf dem Sofa in Madame Fontains Wohnung leise schnarchte, war Eva eben eingenickt, als ein Hämmern im Flur sie hochfahren ließ. Das schwache Licht der frühen Morgendämmerung drang durch die Ränder der Verdunkelungsvorhänge. Vielleicht waren Madame Fontain und ihre Mutter zurückgekehrt.
Eva erhob sich vom Sofa, wobei sie achtgab, Mamusia nicht zu stören. Sie schlich zur Tür und spähte durch den Spion, erwartete, Madame Fontain mit ihren Schlüsseln hantieren zu sehen. Was sie stattdessen sah, ließ sie vor Schreck aufstöhnen und zurückweichen. Zitternd zwang sie sich, noch einmal hinzusehen.
Im Flur standen drei französische Polizisten vor Evas Wohnung, ein paar Türen weiter. Das gleiche hämmernde Geräusch, das sie geweckt hatte, ertönte wieder; es war ein uniformierter Beamter, der gegen ihre Tür schlug. Nein, Tatuś, schrie Eva innerlich. Mach nicht auf!
Aber die Tür zu ihrer Wohnung schwang dennoch auf, und da stand ihr Vater, in seinem besten Anzug, den gelben Stern akkurat an der linken Brust angebracht. Einer der französischen Polizisten, der, der ein ordentliches Bündel Papiere in den Händen hielt, sagte etwas zu ihm, aber Eva konnte es nicht genau verstehen. Sie biss sich so hart auf die Lippe, dass sie Blut schmecken konnte, und presste das Ohr an die Tür.
»Wo ist Ihre Frau?«, konnte Eva eine tiefe Stimme fragen hören.
»Meine Frau?« Tatuś klang seltsam ruhig.
»Faiga Traube, Alter achtundvierzig, geboren 1894 in Krakau, Polen.« Die Stimme des Mannes war angespannt vor Ungeduld.
»Ja, natürlich. Nun, sie ist nicht hier. Sie kümmert sich um die Kinder einer kranken Freundin.«
»Wo? Wie lautet die Adresse?«
»Das weiß ich leider nicht.«
»Nun, wann wird sie zurück sein?«
»Auch da bin ich mir nicht sicher.«
Eva konnte hören, wie die Polizisten untereinander murmelten.
»Und Ihre Tochter?« Der erste Polizist sprach wieder, in einem wütenderen Ton. »Eva Traube? Alter dreiundzwanzig?«
»Sie ist bei ihrer Mutter.« Auf einmal war der Ton ihres Vaters eisig. »Aber sie ist hier in Frankreich geboren. Sie haben keinen Grund, sie zu belästigen.«
»Sie steht auf unserer Liste«, hielt der Mann dagegen.
»Ihre Liste ist falsch.«
»Wir liegen nie falsch.«
»Meinen Sie etwa, dass irgendetwas von alledem hier richtig ist?«, gab ihr Vater zurück, wobei seine Stimme schließlich laut wurde, und Eva hörte einen dumpfen Schlag und einen scharfen Atemzug. Sie riskierte noch einen Blick durch den Spion und sah, dass ihr Vater sich die Nase hielt. Einer der Polizisten hatte ihn geschlagen. Eva ballte die Fäuste, und ihre Augen brannten von Tränen, während sie das Ohr wieder an die Tür presste.
»Genug von Ihrer Dreistigkeit. Sie kommen jetzt mit uns«, sagte der Mann. »Oder, wenn es Ihnen lieber ist, können wir Sie gern auch gleich hier erschießen. Ein Jude weniger für die Züge, das ist mir einerlei.«
Eva unterdrückte ein Aufstöhnen.
»Lassen Sie mich nur rasch eine Tasche packen«, erwiderte ihr Vater.
»Oh, wir werden wiederkommen, um Ihre Wertsachen zu holen, keine Sorge.«
Als Tatuś keine Antwort gab, wagte Eva noch einmal einen Blick durch den Spion, eben noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ihr Vater ihre Wohnungstür hinter ihnen zuzog. Er sah einmal kurz über die Schulter, zur Wohnung der Fontains. Wusste er, dass sie zusah? Dass sie alles gehört hatte?
Aber es spielte keine Rolle. Tatuś war gegangen, ehe sie sichs versah, und eine Minute später schloss sich die Haustür des Gebäudes mit einem endgültigen Rums. Eva stürzte ans Fenster, schob die Verdunkelungsvorhänge zur Seite und starrte auf die Straße hinunter, die von sechs dunklen Polizeilastwagen und einem Schwarm Uniformierter verstopft war, die Männer, Frauen und Kinder – manche verwirrt, manche wütend, manche weinend – aus ihren Häusern führten. Eva erkannte die Bibrowskas – die Mutter, Ana, den Vater, Max, und die Kinder, Henri und Aline, die noch Kleinkinder waren – und die Krosbergs, das ältere Paar auf der anderen Straßenseite, das ihr immer zuwinkte, wenn sie morgens zur Universität aufbrach.
Eine Hand an den Mund gepresst, um ihre Schluchzer zu dämpfen, sah Eva zu, wie ihr Vater zu einem der Lastwagen geschubst wurde. Eine Hand kam von der Ladefläche und zog ihn hoch. Kurz bevor er verschwand, sah er an dem Gebäude hoch, und Eva presste ihre flache Hand an die kalte Scheibe. Er nickte, und Eva war sich sicher, dass er sie gesehen hatte, sicher, dass er wusste, dass ihr stiller Gruß ein Versprechen war, auf Mamusia aufzupassen, bis er wiederkam.
»Eva?« Die Stimme ihrer Mutter kam schwer und benommen aus dem verdunkelten Zimmer hinter ihr. »Was in aller Welt tust du denn da?«
Eva sah zu, wie die Fahrzeuge davonfuhren, bevor sie sich zu ihrer Mutter umwandte. »Tatuś ist gegangen«, flüsterte sie. »Die Polizei …« Sie konnte den Satz nicht zu Ende führen.
»Was?« Ihre Mutter sprang vom Sofa auf und taumelte zur Tür. »Wohin? Wir müssen ihm folgen! Warum hast du mich nicht geweckt, Eva?« Ihre Worte wurden erstickt, während sie vergeblich an den Schlössern herumkratzte. Aber ihre Hände zitterten, und Eva war rechtzeitig bei ihr, um sie aufzufangen, als sie auf dem Boden zusammenbrach und ihr Körper von Schluchzern erschüttert wurde. »Warum, Eva? Warum hast du sie nicht aufgehalten? Was hast du getan?«
Eva spürte Schuldgefühle in sich aufwallen. »Mamusia«, sagte sie sanft, während ihre Mutter in ihren Armen wimmerte. »Sie wollten auch dich abholen. Und mich.«
Mamusia schniefte. »Aber das ist unmöglich. Du bist Französin.«
»Ich bin Jüdin. Das ist alles, was sie sehen.«
In diesem Augenblick ertönte ein scharfer Schrei aus dem Schlafzimmer der Mädchen. »Maman? Wo bist du, Maman?«
Es war die ältere Tochter, Colette, ihre Stimme schrill und verängstigt.
Mamusia sah mit gequälter Miene zu Eva hoch. »Wir müssen deinem Vater folgen«, flüsterte sie. Sie packte Evas Hände, umklammerte sie wie ein Schraubstock. »Wir müssen ihn retten.«
»Das können wir nicht«, erwiderte Eva entschieden, während Colette wieder nach ihrer Mutter rief. »Jetzt müssen wir uns erst einmal überlegen, wie wir uns selbst retten können.«