Das verborgene Zimmer im Hotel Normandie

Mia Löw

Das verborgene Zimmer
im Hotel Normandie

Roman

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Mia Löw

Von Mia Löw sind bereits folgende Titel erschienen:

Das Haus der verlorenen Wünsche

Das Haus des vergessenen Glücks

Das Haus der geheimen Träume

Das Geheimnis der Villa di Rossi

Das bretonische Haus der Lügen

 

Mia Löw hat Jura und Germanistik studiert und als Anwältin und Regieassistentin am Theater gearbeitet. Heute schreibt sie erfolgreiche Neuseelandsagas, Familiengeheimnis- und Liebesromane. Sie lebt mit ihrer Familie und Hund in Hamburg.

Prolog

Caen,
August 1944

Die staubige Landstraße vor der zerstörten Stadt war auf beiden Seiten von Zuschauern gesäumt. Dass die Kanadier ihre Gefangenen an diesem Tag durch die Trümmer der einst stolzen Stadt führen würden, hatte sich in Windeseile herumgesprochen und die Menschen auf die Straße getrieben. In der Menge herrschte eine aufgeheizte Stimmung. Als die besiegten Soldaten sich näherten, die Hände über den gesenkten Köpfen verschränkt, mit blassen Gesichtern, aufgerissenen Lippen und in schmutzigen Uniformen, wurden erst einzelne Beschimpfungen laut, die schließlich in einen gellenden Sprechchor mündeten.

Die junge Frau mit dem schwarzen lockigen Haar und den ungewöhnlich hellen blauen Augen wollte sich abwenden, um diesem Spektakel zu entfliehen, aber plötzlich spürte sie, dass sich die Hand ihres Begleiters wie eine eiserne Kralle um ihr Handgelenk legte. Sie suchte seinen Blick, aber er wich dem ihren aus und sah stur auf die Straße. Als die ersten Männer auf ihrer Höhe ankamen und zum Greifen nahe waren, spuckte er in hohem Bogen vor ihnen aus, bevor er in den Chor der anderen einstimmte. Boches! Meurtriers!, waren noch die harmlosesten Rufe, die nun immer lauter wurden. Noch einmal versuchte sie, zu entkommen, aber der Griff um ihr Gelenk wurde nur noch fester. Sie flehte den Mann an ihrer Seite leise an, ihr diesen Anblick zu ersparen, aber er schnauzte zurück, sie solle sich die Schweine ruhig ansehen. Besonders das eine.

Sie verstand nicht, was er mit dieser Drohung bezweckte. Der Eine war doch längst in Gefangenschaft auf der anderen Seite des Ozeans oder, schlimmer noch, tot.

Warum fiel sie nicht in den Chor ihrer Landsleute ein? Die Männer dort hatten es doch verdient. Sie hatten großes Unheil nicht nur über die Normandie gebracht, sondern über ganz Frankreich. Sie sollte sie mit derselben Inbrunst hassen, wie es ihre Familie tat, ihre Nachbarn, ihre Freunde, die sich am Bild des Jammers, das die ehemaligen Herrenmenschen nun abgaben, erfreuten. Beschimpft, bespuckt und von einigen Männern in der vorderen Reihe der schaulustigen Sieger mit Stöcken geschlagen. Sie musste plötzlich an ihre einst beste Freundin denken, die keiner zwang, sich das Elend der Besiegten anzusehen. Aber was war das für ein Leben? Sie musste sich wie ein Tier verstecken in der Hoffnung, dass man sie niemals für das bestrafen würde, was sie getan hatte. Gejagt von ihrem eigenen Bruder, der ihr bittere Rache geschworen hatte. Ob ihre Brüder auch so fanatisch gewesen wären, wenn sie noch erfahren hätten, was für Folgen ihre Liebe zu einem Boche hatte?

Es war ja nicht so, dass die junge Frau, die sich wider Willen in der sich an der Schmach der Besiegten ergötzenden Menge am Straßenrand befand, diese Männer weniger verachtete, als der Rest ihrer Landsleute es tat. Aber sie wusste aus eigener Erfahrung, dass sie nicht alle gleich waren. Dass sie nicht alle blind ihrem Führer gefolgt waren, sondern dass es Zweifler unter ihnen gab. Zweifler wie den Einen. Den Einen, der zutiefst verabscheute, was ihn im Namen des Vaterlandes in ein fremdes Land getrieben hatte, um Menschen zu unterjochen und zu töten.

Sie schloss die Augen. Nein, sie konnte und wollte sich dieses Schauspiel nicht länger mit ansehen. Inmitten der Schaulustigen, die Euphorie geradezu ausschwitzten, gab sie sich ihren Gedanken hin. In ihr kamen Zweifel auf, ob es richtig war, die Augen zu verschließen. Wäre es nicht eine Art Wiedergutmachung, wenn sie am lautesten brüllte? Wüssten die Menschen um sie herum, was sie getan hatte, sie würden sie auf der Stelle aus dieser Gemeinschaft ausstoßen. Sie befand sich in einem schier unlösbar erscheinenden Seelenkonflikt. Natürlich liebte sie ihr Land und hasste die Eindringlinge aus tiefstem Herzen dafür, dass sie Zerstörung und Verderben über diesen geliebten Flecken Erde gebracht hatten, doch schmerzhaft intensiv schlug ihr Herz auch für den Geliebten, der ihr Feind hätte sein sollen. Und für sein … Erschrocken hielt sie inne. Sie wollte sich das Unheil, das über sie hereinbrechen würde, wenn ihre Familie von dieser Schande erfuhr, gar nicht ausmalen. Ein Schmerz in der Seite riss sie aus ihren schwermütigen Überlegungen. Der Mann neben ihr hatte ihr mit dem Ellenbogen einen unsanften Stoß versetzt. Der Mann, der ihr ansonsten treu ergeben war, schien geradezu darauf versessen, dass sie sich dieses Bild einprägte. Und wenn es sein musste, sogar mit Gewalt. Also versuchte sie, die Besiegten in ihren grauen Uniformen als gesichtslose Feinde zu betrachten, die es verdient hatten, für ihre Verbrechen gedemütigt zu werden. Das gelang ihr halbwegs, bis sie, obwohl er den Kopf wie die anderen gesenkt hatte, meinte, ihren schlimmsten Feind, diese Bestie in Menschengestalt, erkannt zu haben, der nicht nur ein Gesicht, sondern einen Namen besaß. Auch dieser Mann, vor dem sie sich so gefürchtet hatte, war nur noch ein Schatten seiner selbst. »Meurtrier!«, hörte sie ihre eigene überschnappende Stimme brüllen. »Meurtrier!« Erst da erkannte sie, dass sie sich getäuscht hatte. Er sah ihm nur entfernt ähnlich. Für einen winzigen Augenblick hatte sie nicht daran gedacht, dass er es gar nicht sein konnte, weil er längst seine gerechte Strafe bekommen hatte. Er war abgestochen worden, wie es einem Schwein wie ihm gebührte.

Ihr Begleiter warf ihr einen aufmunternden Blick zu. Offenbar glaubte er, dass sein Plan, ihr die schöne Erinnerung an den Einen auszutreiben, endlich Erfolg zeigte. Sein eiserner Griff löste sich, und er fasste nach ihrer Hand. Sie tat so, als würde sie seine zärtliche Geste erwidern, während in ihrem Herzen die Abwehr gegen ihn noch genauso intensiv brannte wie zuvor. Niemals würde sie den Einen vergessen, und wenn sie hundert Jahre alt würde … Zärtlich strich sie sich mit der anderen Hand über ihren Bauch. So als wollte sie um Verzeihung bitten, dass sie sich von dem anderen, den sie nicht liebte, beschützen ließ. Sie schämte sich zugleich, weil sie zu wenig Dankbarkeit empfand. Für den Mann an ihrer Seite, der schwor, sie vor der grausamsten Rache zu bewahren, die einer Frau wie ihr nun drohen würde. Und er war kein Kerl, der leere Versprechungen machte. Zumindest dankbarer sollte sie ihm sein. Pflichtbewusst drückte sie seine Hand. Er wandte sich ihr lächelnd zu. Diese Zuwendung schien ihn glücklich zu machen. Ihr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sollte das wirklich ihre Zukunft sein? Ein Leben lang so tun, als ob? Oder würde die Zeit alle Wunden heilen, und sie würde ihn sogar lieben lernen? Er war doch kein Unmensch, sondern ein aufrechter Franzose, der sie über alles liebte. Und ein ansehnlicher Mann überdies. Aber war das wirklich Liebe, wenn man ihr abverlangte, ihre wahren Gefühle zu verleugnen, um die Frau an seiner Seite zu spielen? Er hatte so lange um sie gekämpft. Jetzt fühlte er sich am Ziel seiner Träume. Und offenbar war er sich seines Erfolgs ziemlich sicher, nahm an, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis sie diesen Boche aus ihrem Herzen verbannte. Sie durfte ihm diese Illusion nicht nehmen. Sie hatte keine andere Wahl, musste mitspielen, ob sie es wollte oder nicht. Wenn sie nur für sich selbst entscheiden müsste, wäre das etwas anderes. Dann wäre ihr gleichgültig, was für einen Preis sie für diese Liebe zu zahlen hätte, aber so?

Noch einmal hob sie den Blick und nahm nun ungerührt die einstigen Herrenmenschen wahr, wie sie unter den Augen der ehemals von ihnen Besetzten zu armseligen Kreaturen schrumpften. Nach einer Weile traute sie sich, genauer hinzusehen. Sie erschrak beim Anblick halber Kinder. Hatte er ihr das nicht einmal anvertraut? Vorzugsweise hatte man junge Burschen und alte Männer an den Nordatlantikwall in die Normandie geschickt, weil man in Berlin an dieser Stelle nicht mit einem Angriff der Alliierten vom Meer her gerechnet hatte. Ein fataler Irrtum, wie sich herausgestellt hatte.

Ihr Blick blieb schließlich an einem hochgewachsenen Soldaten hängen, der schwerfällig ein Bein nachzog. Für einen Moment drohte ihr Herzschlag auszusetzen, denn das, was sie von seinem Gesicht erkennen konnte, erinnerte sie so sehr an ihren Geliebten. Die kräftige Nase, das markante Kinn, die Augen … Stundenlang hatte sie dieses Profil in dem geheimen Zimmer betrachtet. Immer dann, wenn er vor Erschöpfung eingeschlafen war und sie ihn erst weit nach Mitternacht durch den Hintereingang nach draußen geschickt hatte, wenn dem einsamen Radfahrer auf den Schleichpfaden von Arromanches-les-Bains nach Colleville-sur-Mer keine Menschenseele mehr begegnen würde.

Sie rieb sich die Augen. Das konnte nicht sein! Seine Beine waren gesund gewesen. Beide.

Genau in diesem Moment kam der Zug der Gefangenen zum Stehen. Es gab keinen Zweifel mehr! Er war es! Sie wollte laut seinen Namen rufen, konnte sich aber in letzter Sekunde beherrschen. Sie sah nun den Mann neben sich an, über dessen Gesicht ein triumphierendes Grinsen ging, während er ihr zuflüsterte: »Er ist den Amerikanern entkommen, bevor man ihn auf das Schiff bringen konnte. Das hat er nun davon! Er kann nur froh sein, dass unsere Männer ihn nicht in die Finger bekommen haben.«

Sie wandte sich abrupt von ihm ab und blickte erneut in die Richtung des Mannes, den man ihr mit aller Macht aus dem Herzen zu reißen versuchte. Ihr wurde schwindlig, aber sie starrte weiter dieses vertraute und doch so fremde Profil an, obwohl der Mann an ihrer Seite den Arm um ihre Schulter gelegt hatte. Das aber fühlte sich nicht wie eine liebevolle Geste an, sondern wie eine tonnenschwere Last.

Bitte, mein Herz, heb den Kopf und schau hierher, flehte es in ihrem Inneren, doch der Geliebte stierte weiter auf den Boden vor sich hin, mit teilnahmsloser, resignierter Miene, als gäbe es keine Hoffnung mehr. Aber wenn er ihre Stimme in der Menge seinen Namen rufen hörte, dann würde das Leben in ihn zurückkehren. Dessen war sie sich sicher. Sie öffnete den Mund. In dem Augenblick setzte sich der Zug der Gefangenen wieder in Bewegung. Doch nichts würde sie davon abhalten, ihm seinen Namen hinterherzurufen und dass sie ihn liebte, selbst auf die Gefahr hin, dass dies ihr Todesurteil sein würde. Sie hatte den Gedanken noch gar nicht zu Ende geführt, als ihr sämtliches Blut aus dem Kopf wich. Sie spürte noch, wie sie in sich zusammensackte und im letzten Moment aufgefangen wurde, immer noch stumm seinen Namen auf den Lippen. Die Hände, die eben noch auf ihrer Schulter gelastet hatten, hoben sie nun hoch und trugen sie fort. Sie war zu schwach, sich noch einmal umzudrehen. Obwohl es ein heißer Augusttag war und die Sonne vom Himmel brannte, schien um sie herum alles düster und kalt.

1. Teil

Barbara

1

Lüneburg,
Juni 2000

Oh Barbara, Il pleut sans cesse sur Brest, comme il pleuvait avant, mais ce n’est plus pareil et tout est abîmé, c’est une pluie de deuil terrible et désolée«

Als Barbara diese Zeilen sang, herrschte Totenstille im Publikum. Nach anderthalb Stunden, in denen sie ein kabarettistisches Feuerwerk abgebrannt hatte, gönnte sie sich diesen von Yves Montand nach einem Gedicht von Jacques Prévert gesungenen Chanson über das Grauen des Krieges. Die Konzertscheune, die an diesem Abend für einhundertfünfzig Zuschauer bestuhlt war, war zum ersten Mal seit langer Zeit nicht bis zum allerletzten Platz besetzt. Trotzdem brandete, kaum dass der letzte Ton verklungen war, begeisterter Applaus für die Kabarettistin und Sängerin auf. Wie auf den meisten der kleinen norddeutschen Kleinkunstbühnen war sie hier zu Hause. Man kannte sie und buchte sie gern, weil sie bislang für ausverkaufte Vorstellungen gesorgt hatte. Noch machte sich der Rückgang der Zuschauerzahlen nicht dramatisch bemerkbar, aber der Künstlerin entging diese Tendenz trotzdem nicht. Für sie war das durchaus ein Unterschied, ob einhundertfünfzig Karten verkauft waren oder wie an diesem Abend nur einhundertzehn. Und der schlug sich nicht nur bei der Gage nieder, die ihr später in einem Umschlag vom Veranstalter überreicht werden würde, nachdem er seinen Anteil abgezogen hatte. Nein, für sie war es ein deutliches Zeichen, dass sie aufhören sollte, wenn es am schönsten, und nicht, wenn es bereits zu spät war und nur noch fünfzig Zuschauer den Weg in die Scheune fanden. Und vor allem, bevor die Zuschauer spürten, wie dieses Leben sie zunehmend ermüdete. Jenes Leben in ständiger Bewegung, das sie einst gebraucht hatte wie die Luft zum Atmen und für das sie nun nicht mehr die Kraft aufbrachte. Jeden Abend in einem anderen Bett, einem anderen Ort, die sich aber alle auf seltsame Weise glichen. Vor allem der Ablauf. Autofahren, ankommen, auspacken, Bühne einrichten, technische Probe, dem Beginn der Veranstaltung entgegenfiebern, ein Feuerwerk abbrennen, danach meist mit dem Veranstalter zum einzigen Italiener, der extra für sie geöffnet blieb, weil ansonsten die Bürgersteige in diesem Ort bereits hochgeklappt waren. Orte, deren Fußgängerzonen sich bei Nacht zum Verwechseln ähnelten …

»Zugabe!«, forderten einige Fans, woraufhin sie sich ein wenig zierte, aber dann ihren Lieblingssong präsentierte. »Das Lied von den Erwartungen«, das sie schon seit zehn Jahren mit auf ihre Tourneen nahm. Sie machte ihrem Pianisten ein Zeichen, und schon bei den ersten Tönen juchzten einige Zuschauer, weil sie genau das Lied hören wollten. Vor allem den Refrain: Erwarte lieber nix vom Leben, dann wird es dir was Schöneres geben …

Das französische Chanson passte eigentlich gar nicht zu ihrem Programm, in dem sie neunzig Minuten lang mit spitzer Zunge über Beziehungen und insbesondere über die Männer herzog, denn sie schrieb ihre Texte in der Regel selbst. Ihr Mitbewohner Joachim ließ es sich nicht nehmen, jeden neuen Mann, den sie in der Wohngemeinschaft vorstellte, mit den Worten zu begrüßen: Sei vorsichtig. Du bist schneller Teil ihrer Bühnenshow, als du denken kannst!

Aber das war ihr Markenzeichen, dass sie ihren satirischen Abend stets mit einem ernsten französischen Chanson beendete. Lange hatte sie »Non, je ne regrette rien« von der Piaf im Programm gehabt. Nun hatte sie es zugunsten von »Barbara« aus dem Programm genommen. Damals, vor zehn Jahren, hatte ihr die Piaf aus dem Herzen gesprochen. Inzwischen korrespondierte der Text längst nicht mehr mit ihrer Gefühlslage, denn sie bereute so vieles von dem, was sie in den letzten Jahren getan oder nicht getan hatte. Viel zu viel! Die fünfzig war dabei eine magische Grenze gewesen. Vor diesem Datum hatte sie sich stark und unbesiegbar gefühlt und nie wirklich bedauert, dass sie keinen Mann an ihrer Seite hatte. Ihr Fluchtimpuls vor verpflichtenden Bindungen war stets stärker gewesen als die Sehnsucht nach Sicherheit und stabilen Verhältnissen. Sie hatte sich lebendig gefühlt, weil ihr Leben ständig in Bewegung gewesen war. Nun musste sie viel zu oft an das Bild vom ruhigen Fluss denken. Und an einen Mann, der mit ihr schwamm.

Sie verscheuchte ihre melancholischen Gedanken und konzentrierte sich nun auf das begeisterte Publikum. Begeistert – bis auf den einen Mann in der zweiten Reihe. Wenn die Beleuchtung es zuließ, konnte sie die Zuschauer in den ersten Reihen erkennen. Sie fixierte die Spaßbremse, doch die verzog auch jetzt keine Miene.

Nach ein paar Verbeugungen allein und mit ihrem Pianisten Frank verschwand Barbara hinter der Bühne in ihrer Garderobe. Da er auch zu ihren Verflossenen gehörte, machte es ihr gar nichts aus, sich in seiner Gegenwart ihr rotes glitzerndes Bühnenkleid auszuziehen und in ihre Jeans zu schlüpfen. Es schien ihn auch nicht sonderlich zu interessieren, als sie nun nur in BH und Jeans dastand und ihren Pullover suchte. Auch für ihn war es nur eine unverbindliche Affäre gewesen, wie es sie häufig unter Künstlern gab. Warum sollte man Nacht für Nacht allein in einem kalten Einzelbett liegen, wenn man eine Tür weiter die Wärme bekommen konnte, die man nach einem Auftritt so dringend brauchte. Er war für sie aber auch immer ein besserer Freund als ein Liebhaber gewesen.

Es klopfte an der Garderobentür.

»Komm rein«, rief sie, ohne hektisch den Pullover anzuziehen. Johann, der Veranstalter, gehörte zwar nicht zu ihren verflossenen Liebhabern, aber er war es gewohnt, die Künstlerinnen beim Umziehen zu sehen.

»Eine tolle Vorstellung«, schwärmte er und wedelte mit dem Umschlag.

»Leg ihn auf den Tisch. Wir zählen später nach«, scherzte sie, denn der Veranstalter war ein ganz penibler Mensch, der ihr niemals einen Pfennig zu viel oder zu wenig auszahlen würde.

»Trinken wir noch einen Wein zusammen? Draußen warten ein paar Leute.«

»Na klar!« Darauf würde sie niemals verzichten. Der Wein nach einem Auftritt war Gesetz, denn für sie war es der einzige Weg, wieder runterzukommen auf die Erde. Auf der Bühne hob sie ab in eine andere Welt und hatte größte Schwierigkeiten, wieder bei den normalen Menschen zu landen. Manchmal war sie nach einer Vorstellung so weggetreten, dass man mit ihr keinen vernünftigen Satz sprechen konnte, weil sie sich nicht auf ihr Gegenüber konzentrieren konnte. Frank kannte das schon und ließ sie nach dem Auftritt in Ruhe.

An diesem Abend hatte Barbaras Reise sie nicht in unerreichbare Sphären katapultiert. Sie ahnte auch, warum. Die Luft war raus, weil ihre Bühnenkarriere einem baldigen Ende entgegenging. Seit fast fünf Jahren trieb sie ständig die Frage um, wie lange sie noch da vorn als Solo-Entertainerin stehen wollte. Nicht dass sie sich für ihre Falten schämte oder den Anspruch hatte, sie müsse genauso frisch aussehen wie der Nachwuchs. Aber es strengte sie zunehmend an. Wenn sie nur an die Nummer dachte, bei der sie aufs Klavier kletterte und dort mit gespielt erotischen Verrenkungen einen Song präsentierte. Sie war keine Frau, die sich etwas versagte, weil da draußen die Meinung herrschte, das oder jenes gehöre sich in dem Alter nicht mehr, aber es gab Grenzen. Und die galten auch für das Herumrekeln auf einem Klavier. Manchmal sah sie sich wie den Hüsch, den Poeten unter den Kabarettisten, wie ihn einmal jemand genannt hatte, an einem Tisch sitzen und ihre Texte ohne Körpereinsatz vortragen, aber das würde nicht zu ihr passen, einmal ganz abgesehen davon, dass ihre Texte weniger poetisch waren.

So spielte sie schweren Herzens mit dem Gedanken, dass das nächste Programm ihr letztes werden sollte, aber das würde sie auf keinen Fall an die große Glocke hängen. Sie fand es furchtbar peinlich, eine Abschiedstournee anzukündigen, die dann die nächsten zehn Jahre andauerte. Da dieser Auftritt der letzte vor der Sommerpause war, blieb ihr genügend Zeit, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Sonst gab es auch im Sommer diverse Festivals, auf denen sie auftrat, aber dieses Jahr hatte sie sich den Juli und den August spielfrei gehalten. Bis auf einen Termin in Köln.

»Fährst du zurück?«, fragte sie Frank.

»Habe ich eine Wahl?«, gab er zurück.

Nein, die hatte er wirklich nicht. Jedenfalls nicht, wenn sie nach der Vorstellung nach Hamburg zurückfuhren. Wenn es nach Barbara gegangen wäre, hätte sie lieber im Herrenhaus des Kulturguts übernachtet, aber Frank hatte am nächsten Morgen Unterricht an der Musikschule, und sie wollte ihn nicht allein mit ihrem Wagen durch die Nacht fahren lassen. Aber auf ihren Wein wollte sie trotzdem nicht verzichten.

Es gab ein großes Hallo, als sie über die Bühnentreppe durch den Zuschauerraum nach hinten zum Künstlertisch kamen. Alle redeten wild durcheinander. Die Komplimente erreichten sie nicht, weil sie nur Augen für einen gelangweilt wirkenden Mann in ihrem Alter hatte, der sich von der Gruppe der begeisterten Zuschauer fernhielt und an der Bar stand. Das war der Kerl, der inmitten einer Gruppe vor Vergnügen kreischender Frauen gesessen und keine Miene verzogen hatte. Sie konnte nichts dagegen tun, es wurmte sie. Das war ein Phänomen, das sich Barbara nicht erklären konnte. Warum scherte sie sich um den einen Zuschauer, dem ihre Show ganz offensichtlich nicht gefallen hatte, statt sich von denen durch den Abend tragen zu lassen, die von ihrem Auftritt begeistert waren?

Statt ihm wenigstens nach dem Auftritt aus dem Weg zu gehen, steuerte sie direkt auf ihn zu, um sich dort einen Wein zu bestellen, den man ihr am Künstlertisch sicher gern geholt hätte, denn man wusste schon, dass sie ihn kalt und weiß bevorzugte.

»Sie gehen wohl auch zum Lachen in den Keller?«, fragte sie angriffslustig.

Der Mann mit dem grau melierten dunklen Haar musterte sie fragend.

Barbara machte eine wegwerfende Handbewegung. »Na, ist ja auch egal.« Sie wandte sich nun dem Mitarbeiter hinter dem Tresen zu und bestellte sich einen Wein. In diesem Moment kam Johann angerannt. »Bevor ich es vergesse. Darf ich dir einen alten Freund vorstellen?«

»Wir haben bereits Bekanntschaft gemacht«, entgegnete sie in gereiztem Ton und wollte sich schon abwenden, als eine angenehme Männerstimme hinter ihr in gebrochenem Deutsch und mit unverkennbar französischem Zungenschlag entschuldigend sagte: »Leider ist mein kleines Deutsch verloren.«

Barbara fuhr herum und sah in ein lächelndes Gesicht. Wie peinlich, dachte sie, hoffentlich hat er meinen dummen Spruch nicht verstanden. Jetzt hatte sie ihre Antwort, warum der Mann in der zweiten Reihe nicht auf ihre Bühnenshow reagiert hatte.

Johann legte seinem alten Freund die Hand auf die Schulter. »Mit siebzehn war ich einer der Ersten, die mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk vier Wochen nach Rouen gekommen sind. In Henris Familie. Im Jahr darauf kam er nach Deutschland.«

Henri lächelte immer noch und hob entschuldigend die Hände. »Aber das Deutsch ist verloren. Deshalb habe ich nur Barbara gehört. Ich liebe dieses Lied. Und eine wunderbare Stimme haben Sie!«

Sie antwortete ihm geschmeichelt in seiner Muttersprache, dass sie ihm ihr Programm gern übersetzen könne. Henri musterte sie anerkennend und bestätigte ihr ein hervorragendes Französisch. Kein Wunder, dachte sie, hatte sie doch ursprünglich einmal Französischlehrerin werden wollen, aber dann hatten sich ihre anderen Interessen durchgesetzt: Journalismus und Musik. Das hatte damals ihren Vater schwer enttäuscht, während ihre Mutter ihre Entscheidung begrüßt hatte, der von ihr regelrecht verabscheuten Sprache den Rücken zu kehren. Das war auch so eine latente Differenz in der unglücklichen Ehe ihrer Eltern gewesen. Die Abneigung ihrer Mutter gegen alles Französische. Nicht einmal französischen Wein gab es im Hause Behrend. Dabei trugen ihre Eltern Konflikte niemals lautstark aus. Im Gegenteil, ihr Vater schwieg in der Regel zu allem gleichermaßen. Doch die angespannte Stimmung lag wie schlechter Atem über allem. Man sprach nicht darüber, aber er war auf unangenehme Weise allgegenwärtig.

Barbara verriet Henri, dass sie Französisch studiert habe, und bat ihn, mit an den Tisch zu kommen. Sie bedauerte ein wenig, dass die beiden freien Plätze weit auseinanderlagen. Sie hätte gern ein bisschen mit dem Franzosen geflirtet. Auch etwas, das sie nach einem erfolgreichen Auftritt gern tat: mit attraktiven Männern flirten. Keine Frage, Henri sah blendend aus, was auch seine Nachbarin am Tisch zu merken schien, die ihn sofort in ein Gespräch verwickelt hatte.

Da neben Barbara ein Schreiber der örtlichen Zeitung saß, blieb ihr nicht viel Gelegenheit, diese entgangene Chance zu bedauern. Der Journalist hatte einige Fragen, denn er war neu in der Stadt und kannte sie noch nicht. Und wie immer, wenn sie mit einem Rezensenten ins Gespräch kam, ging es um die Frage, wie sie vom Schreiben zur Bühne gekommen war. An diesem Abend spulte Barbara ihre Antworten professionell und ein wenig uninspiriert ab, aber nur sie merkte, dass das Herzblut fehlte. Eigentlich sollte sie dem Mann offen anvertrauen, dass sie mit dem Gedanken spielte, sich von der Bühne zu verabschieden und stattdessen wieder auf die andere Seite zu wechseln. Während des Studiums hatte sie sich mit kleinen Theaterkritiken über Wasser gehalten. Aber sie wollte ihre Pläne nicht preisgeben, zumal sie noch nicht ganz ausgegoren waren. Der zweite Wein, den Frank ihr nun brachte, vertrieb die schweren Gedanken vorerst.

Nachdem ihr Pianist sie mehrfach zum Aufbruch gedrängt hatte, begab sie sich schließlich zur Garderobe. Auf dem Weg dorthin traf sie Henri, der stehen blieb und ihr gestand, dass er gern noch ein wenig mit ihr geplaudert hätte. Es bedurfte keiner großen Anstrengungen seinerseits, sie doch noch zum Bleiben zu überreden. Nicht ganz ohne Hintergedanken, schlug sie Frank daraufhin vor, doch allein nach Hamburg zu fahren. Höchstwahrscheinlich übernachtete der attraktive Franzose auch im Gutshaus. Und man konnte ja nie wissen, wie sich der Abend noch entwickelte. Auch das war so eine Begleiterscheinung des Künstlerlebens von Barbara. Manchmal bot sich einfach ganz spontan die Gelegenheit, eine aufregende Nacht mit einem Mann zu verbringen. Und so intensiv, wie Henri sie gerade musterte, versprach diese Begegnung einiges. Frank war nicht gerade begeistert, aber er versprach, zumindest ihre Kostüme mit zurück zu nehmen und Barbara am nächsten Tag vom Bahnhof abzuholen.

Sie hatte sich gerade mit Henri an einen eigenen Tisch gesetzt und erfahren, dass er für eine lokale Zeitung in Rouen, die »Paris-Normandie«, arbeitete, als Johann mit ernster Miene auf ihren Tisch zutrat.

»Was gibt es?«, fragte sie.

»Ein Anruf für dich«, entgegnete er. Barbara warf einen erstaunten Blick auf ihre Armbanduhr. Es war mittlerweile kurz nach elf. Wer konnte so spät noch etwas von ihr wollen? »Bin gleich zurück«, versprach sie dem Franzosen und folgte Johann in das Büro hinter der Bar, wo sich das Telefon befand. Ihr war etwas unwohl, als die den Hörer zur Hand nahm. »Barbara Behrend«, sagte sie.

Die Antwort war ein lautes Schluchzen. Sie hätte es unter Tausenden erkannt. Es war ihre Tochter. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und ihr wurde übel.

»Paula, mein Schatz, was ist passiert?«

»Der Opa«, schluchzte ihre Tochter. »Du musst sofort kommen. Er stirbt, und er will dir offenbar noch was Wichtiges sagen, aber Oma hat mich auf mein Zimmer geschickt!«

»Um Gottes willen. Hol einen Krankenwagen, einen Notarzt!« Babaras Stimme überschlug sich vor Aufregung.

»Wie lange brauchst du, Mama?«

»Wenn Frank noch da ist, bin ich in fünfzig Minuten bei euch.« Ohne weitere Worte legte Barbara auf und fragte Johann, der neben ihr stand, nach Frank.

»Ich glaube, er ist gerade eben zum Parkplatz gegangen«, erwiderte er.

»Grüß alle. Ich muss sofort los!«, keuchte sie und rannte nach draußen ins Dunkle. Frank hatte gerade den Wagen angelassen, als sie auf den Beifahrersitz ihres Wagens sprang.

»Fahr los! Zum Haus meiner Eltern. Mein Vater …« Weiter kam sie nicht, denn nun folgte der Schock, der ihr die Stimme verschlug. Meine Handtasche, dachte sie, als sie bereits auf der Autobahn waren, aber umkehren kam nicht in Frage. Zur Not musste sie ihre Sachen am nächsten Morgen abholen, denn sie hatte so eine Ahnung, dass jede Sekunde zählte.

»Ich habe meine Handtasche in der Garderobe vergessen«, murmelte sie.

»Kein Problem, ich fahre noch mal zurück, sobald ich dich abgesetzt habe«, versicherte ihr Frank.

»Nein, nein, ich kann das morgen machen«, widersprach sie ihm und ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie sein Angebot nicht nur aus Rücksichtnahme auf ihn auszuschlagen versuchte. Der weitaus triftigere Grund hieß Henri. Auf die Weise könnte sie ihn womöglich morgen wiedersehen, aber Frank entgegnete entschieden, dass es kein Aufwand für ihn wäre, die Tasche zu holen. Barbara wurde in diesem Augenblick bewusst, dass am nächsten Tag vielleicht nichts mehr so sein würde, wenn es sich bewahrheitete, was Paula befürchtete. Dass ihr Vater wirklich im Sterben lag.

»Danke«, sagte sie leise. »Aber vielleicht übertreibt Paula, und es geht ihm gar nicht so schlecht.«

Frank tätschelte ihren Arm. »Du kannst jetzt nur noch abwarten. Ich komme morgen mit deiner Tasche vorbei.«

Barbara nickte, während sich in ihrem Magen die Angst zu einem Stein zusammenballte.

Wenn ich tot bin, verstreu meine Asche an der Plage. Sie wusste auch nicht, warum ihr dieser Satz ihres Vaters gerade jetzt in den Sinn kam. Jahrelang hatte sie ihn verdrängt, weil ihr die Worte des Vaters unheimlich gewesen waren. Sie gaben keinen Sinn. An welchem Strand? Und wieso benutzte er das französische Wort? Ihr Vater hatte zeitlebens Urlaube am Meer nur der Mutter zuliebe mitgemacht. Und das nicht in Frankreich, sondern wenn im Ausland, dann in Italien. Und Französisch redete er sonst auch nicht, weil ihre Mutter die Sprache nicht leiden konnte. Außerdem hatte Barbara ihren Vater niemals so betrunken erlebt wie an diesem Abend. So betrunken, dass sie ihn angezogen ins Bett befördert hatte. Sie hatte nur geantwortet: »Du musst jetzt schlafen«, und peinlich berührt eilig sein Zimmer verlassen.

Bitte, Papa, warte auf mich. Geh nicht ohne Abschied! Ich habe doch noch so viele Fragen, dachte Barbara, während ihr so übel wurde, dass sie das Fenster einen Spalt öffnen musste.

2

Colleville-sur-Mer,
August 1943

Juliette Laurent liebte ihren ältesten Bruder wirklich, aber seine Fürsorge erdrückte sie. Dass sie nicht einmal Madeleine in Colleville besuchen durfte, ohne dass Louis ihr eine Zeit vorgab, zu der sie wieder in Arromanches zurück zu sein hatte, ging entschieden zu weit. Sogar ihrer Mutter war diese Bevormundung ihrer jüngsten Tochter zu viel. Sie hatte Juliette erlaubt, ihre Freundin ohne Einschränkung zu besuchen, wenn sie vor Einbruch der Dunkelheit zurück sei. Es wurde höchste Zeit, dass ihr ältester Bruder wieder nach Caen zurückging, um ihrem jüngsten der älteren Brüder, Gérald, im Restaurant zu helfen. Seit dem Tod des Vaters im vergangenen Jahr aus Kummer darüber, dass sein Lieblingssohn Claude, der mittlere seiner Söhne, als französischer Kriegsgefangener zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht worden und dort gestorben war, hatten die beiden in Caen das Sagen. Von diesem Schicksalsschlag hatte sich ihr Vater auf jeden Fall niemals erholt. Nun führten die Brüder das Hotel mit Restaurant in der Stadt, während ihre Mutter und sie das kleine Hotel am Meer betrieben. Ihre Mutter wurde aber zunehmend in der Stadt gebraucht, weil dort mehr Betrieb herrschte als im Hotel Normandie. Hotels und Restaurants für Einheimische existierten gar nicht mehr, aber in dem einstigen Hotel in Caen hatten sich einige hohe Offiziere einquartiert. Juliette würde also auch gut allein zurechtkommen, zumal nach Arromanches gar keine Gäste mehr kamen außer den deutschen Offizieren aus Caen, die hier gelegentlich ein Wochenende am Meer verbrachten. Ihre Brüder hatten mithilfe ihrer Quartiersgäste aus Caen verhindern können, dass das Hotel von anderen Deutschen konfisziert werden konnte. Außerdem hatten sie erfolgreich unterbunden, dass das Haus am Meer von Mutter und Tochter geräumt werden musste, da es in einer strategischen Zone lag. Aber auf die beiden Frauen konnte man vor Ort nicht verzichten. Es hieß, keiner könne so perfekte Menus zaubern trotz der Lebensmittelknappheit, die auch in der Normandie herrschte. Deshalb durfte auch der Restaurantbetrieb weiterlaufen, seit die Deutschen Gefallen an Juliettes Kochkünsten gefunden hatten.

Eine entsetzliche Zeit, diese Besatzung durch die Boches, dachte sie, während sie sich die letzten Meter bergan anstrengen musste, denn der Anhänger ihres Fahrrads war sehr schwer. Sie hoffte wie alle anderen darauf, dass man sie bald vom Joch der deutschen Besatzung befreien würde. Madeleine wohnte mit ihrem Vater etwas außerhalb des Ortes auf einer Anhöhe. Ihre Mutter war im vergangenen Jahr gestorben, und der Vater bemühte sich redlich, ihr ein guter Vater zu sein, auch wenn die Arbeit auf dem Hof ihm nicht viel Zeit ließ. Deshalb war Madeleine meist auf sich selbst gestellt, was sie manchmal recht übermütig werden ließ. Besonders was ihren Kontakt zu jungen Männern anging. Nicht dass Juliette ihr das moralisch ankreidete, aber es bereitete ihr manchmal große Sorge, wie blauäugig die Freundin sich auf die Kerle einließ, denn ein uneheliches Kind war immer noch eine Schande.

Der Besuch bei der Freundin war nicht nur rein privat, sondern Juliette deckte sich auf dem Hof der Petits auch mit frischen Waren für die Küche ein. Auf ihrer Liste standen Fleisch, Gemüse und Milch. Dass der Bauer Monsieur Petit seine Erzeugnisse nicht wie andere abgeben musste, hatte er einem deutschen Kommandanten zu verdanken. Und die Laurents hatten das unfassbare Privileg, die Lebensmittel bei den Petits nicht mit den rationierten Karten bezahlen zu müssen. Da der Vater ihrer Freundin dem Widerstand angehörte, nahm er diese Privilegien mit der Faust in der Tasche an. Genauso wie ihr Bruder Louis. Ab und zu drangen Nachrichten aus den großen Städten zu ihnen durch. Dort hungerten die Menschen. Eigentlich ist das, was wir da treiben, nicht solidarisch, pflegte ihr Bruder stets zu beklagen, wenn er ein paar Calvados zu viel getrunken hatte, aber er tröstete sich damit, dass die Alternative wäre, ebenfalls Hunger zu leiden.

Auf der Hälfte des unbefestigten Weges hielt Juliette an, um etwas zu verschnaufen. Von hier aus konnte man weit über das Meer sehen. Ihr Blick schweifte in die Ferne. Ihre Brüder sagten, eines Tages würden wie aus dem Nichts Schiffe am Horizont auftauchen und die Besatzer vernichten.

Doch in diesem Moment zog etwas anderes ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. Auf der Wiese stand eine Staffelei, davor ein hochgewachsener junger Mann mit nacktem Oberkörper. Juliette war der Anblick von nackten Männerrücken nicht fremd bei zwei älteren Brüdern, und auch Pierre hatte sie schon ohne Unterhemd gesehen. Pierre war der beste Freund von Louis und, wenn es nach ihrem Bruder ginge, auch bald sein Schwager. Der sonst so gestrenge Louis überließ sie auffallend oft allein der Gesellschaft seines Freundes. Sie mochte Pierre, aber dass sie seine Frau würde, konnte sie sich nicht so recht vorstellen. Ein bisschen Herzklopfen wünschte sie sich dann doch beim Anblick eines Mannes. Und die Gefühle, die sie Pierre entgegenbrachte, waren rein schwesterlich.

Juliette wollte sich gerade von diesem nicht unangenehmen Anblick losreißen, als sich der Mann umdrehte, sie anstarrte wie ein Weltwunder, dann zu sich winkte, während er sich hektisch das Hemd über den entblößten Oberkörper zog. Sie überlegte kurz, ob sie sich so einfach von einem Fremden heranwinken lassen wollte. Eigentlich reagierte sie in der Regel nicht auf derartige Annäherungsversuche, die sie zur Genüge kannte. Nicht nur die jungen deutschen Burschen versuchten, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, auch die Freunde von Louis und Gérald ließen keine Gelegenheit aus, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Juliette hatte sich als Kind nie besonders hübsch gefühlt, aber inzwischen konnte sie nicht leugnen, dass sie die jungen Männer geradezu magisch anzog. Madeleine behauptete immer, mit ihren blauen Augen, dem schwarzen Haar und der schlanken und doch weiblichen Figur sei sie der Traum eines jeden Mannes. Sie sagte das ganz ohne Neid, denn Madeleine besaß etwas anderes, womit sie Verehrer in Scharen anzog. Sie hatte blondes Haar.

Der Fremde lächelte gewinnend und rief ihr auf Französisch zu, dass er nur eine Frage habe. Erst beim Näherkommen bemerkte Juliette die schwarze Klappe über seinem rechten Auge. Sie stand in merkwürdigem Kontrast zu der Vitalität, die dieser Mann ausstrahlte. Aber Makel hatten Juliette schon immer an Lebewesen fasziniert. Schon bei dem Hund, den sie sich als kleines Mädchen aus einem Wurf hatte aussuchen dürfen. Juliette hatte den Welpen mit nur einem Auge gewählt, den der Bauer eigentlich hatte ertränken wollen. Dabei hatte er das schönste Fell von allen besessen. Nicht dass sie diesen Mann mit ihrem Hund vergleichen wollte, aber das, was andere Frauen abstoßen würde, zog Juliette magisch an. Außerdem war der junge Mann trotz dieses Makels von ausgesprochener Attraktivität. Dieser geheimnisvolle Fremde gefiel ihr auf den ersten Blick, und zwar mehr als all die anderen jungen Burschen, die ihr zu Füßen lagen. Aber das würde sie ihm mit Sicherheit nicht zeigen. Wer trotz dieses Makels so verdammt gut aussah, war sicherlich entsetzlich eingebildet.

»Fragen Sie«, sagte sie statt einer Begrüßung in einem hochnäsigen Ton.

»Oje, was habe ich falsch gemacht?«, erwiderte er immer noch lächelnd. »Natürlich, ich hätte zu Ihnen kommen müssen und Sie nicht heranwinken dürfen. Aber ich habe gerade den Pinsel in die Farbe getaucht. Ist das wohl Entschuldigung genug?« Er legte den Kopf schief und musterte sie scheinbar betroffen, während ihm der Schalk aus den Augen blitzte. Beziehungsweise nur aus dem einen, aber sein grüngraues Auge strahlte für zwei.

Juliette konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. »Woher kommen Sie? Ihren Akzent kann ich nicht einordnen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte er, und seine Miene verfinsterte sich. Er schien mit sich zu kämpfen, aber dann sagte er nur knapp: »Aus dem Norden.«

Keine befriedigende Antwort, fand Juliette, während sie prüfend das Gemälde fixierte. Ob er Maler war? Denn Touristen gab es hier kaum mehr wie vor der Besatzung durch die Deutschen.

Ihr Blick blieb an dem Felsen, den er gerade gemalt hatte, hängen. Sie deutete darauf. »Aber die Küste von Arromanches kann man doch von hier aus gar nicht sehen.«

»Entschuldigen Sie, ich bin ein lausiger Hobbymaler, ich zeichne den Blick über die Küste, wie ich sie am liebsten habe. Damit ich später ein Erinnerungsstück an diesen wundervollen Ort habe.« Er lachte.

Juliette fiel in sein Lachen ein. »Das ist also nicht Ihr Beruf. Da bin ich ja beruhigt.«

»So schlimm?«

»Nein, die Sonne ist schön gelb und das Meer schön blau.«

»Und Ihre Augen haben das schönste Blau, die ich je gesehen habe.«

Juliette spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Der Kerl war unverschämt. Jedem anderen hätte sie die kalte Schulter gezeigt, aber dieser Mann erregte ihr Interesse. Sie wollte mehr über ihn erfahren. Außerdem sah er wirklich umwerfend aus.

»Gut, dann fragen Sie doch. Ich muss nämlich weiter. Noch den ganzen Berg hoch.« Das klang schroffer als beabsichtigt.

Er runzelte die Stirn. »Ich traue mich nicht mehr, denn jede Wette, mein Ansinnen wird Sie nur noch mehr verärgern. Ich kann die Staffelei kurz ihrem Schicksal überlassen und Ihnen das Rad den Berg hinaufschieben, wenn Sie wollen.«

Wie nett er das gesagt hat, dachte sie, doch sie blieb reserviert. »Nein, das schaffe ich schon allein. Fragen Sie doch endlich!«

»Gut, aber nicht böse sein. Als ich sie da eben stehen sah, hatte ich die verrückte Idee, Sie zu zeichnen.« Er deutete auf seine Pinsel. »Die Aquarellmalerei scheint nicht so ganz meinen Fähigkeiten zu entsprechen, aber zeichnen, das kann ich wirklich.«

In Juliettes Kopf arbeitete es fieberhaft. Eine Stimme in ihr jubelte bei der Aussicht, den Fremden wiederzusehen. Eine andere Stimme warnte sie davor, sich weiter auf dieses Geplänkel einzulassen. Der Mann war nicht von hier. So viel stand fest. Und das bedeutete, dass sie sich auf keinen Fall in ihn verlieben durfte …

»Gut, versuchen Sie Ihr Glück. Wenn es mir gefällt, habe ich ein Geschenk für Maman zu ihrem Geburtstag. Aber nicht jetzt.« Sie zeigte auf den Anhänger. »Ich bin zum Einkaufen für unser Restaurant unterwegs. Mir bleibt keine Zeit, Ihnen Modell zu stehen.«

»Restaurant? Wo? Und wie heißt das Restaurant? Meines Wissens gibt es überhaupt nur eins in der Nähe. Kommen Sie vielleicht aus Arromanches?«

»Das verrate ich Ihnen nicht. Erst einmal müssen Sie beweisen, dass Sie besser zeichnen als malen«, entgegnete sie kokett. »Ich bin nächsten Sonntag wieder hier. Zwei Stunden früher. Passt das bei Ihnen?« Juliette bereute ihre Worte, noch während sie sie aussprach. Damit hatte sie dem jungen Mann mit Sicherheit preisgegeben, wie gern sie ihn wiedersehen würde.

Er überlegte kurz, doch dann ging dieses Lächeln, das sie bei ihm ganz entzückend fand, über sein Gesicht. »Ich werde hier sein. Mit Zeichenblock und Kohlestiften.«

»Auf Wiedersehen, Monsieur«, flötete Juliette, bevor sie sich auf ihr Rad schwang. Sie meinte, seine Blicke im Rücken zu spüren, aber sie drehte sich nicht um. Der Berg kam ihr gar nicht mehr so steil vor wie vorhin. Im Gegenteil, es schien ihr, als könne man auch auf einem Rad dahinschweben.

Als sie auf den Hof radelte, wurde sie schon ungeduldig von Madeleine erwartet. »Ich muss dir dringend etwas sagen. Ein Geheimnis, das du niemandem verraten darfst.« Die Freundin zog sie in Richtung Scheune, hinter der sie sich ins Gras fallen ließen.

Madeleine wollte gerade losplappern, als sie die Freundin prüfend musterte. »Was ist denn mit dir passiert? Du strahlst ja förmlich!«

Da sprudelte es schon aus Juliettes Mund heraus, und sie schilderte Madeleine mit hochroten Wangen, was sie soeben erlebt hatte.

Die Freundin kicherte leise, nachdem Juliette ihre Schilderung beendet hatte. »Ich bin vor ein paar Tagen auch einem Mann begegnet, der mich wiedersehen möchte.«

»Wie schön!«, bemerkte Juliette, allerdings ohne die von der Freundin erhoffte Begeisterung.

»Ist das alles, was du zu sagen hast?«, entgegnete Madeleine vorwurfsvoll.

»Nein, nein, es freut mich sehr für dich«, fügte sie hastig hinzu und ertappte sich dabei, dass sie hoffte, dass diese neue Beziehung etwas länger halten würde als die anderen.

Mit Madeleine verband Juliette eine Menge. Die Kindheit, die Schulzeit, und was war aufregender zwischen besten Freundinnen, wenn sie das Gefühl teilten, einem besonderen jungen Mann begegnet zu sein?

»Ist es denn etwas Ernstes?«, fragte Juliette.

Statt sich zu freuen, trübte sich Madeleines Blick nun ein. »Es darf wirklich kein Mensch je erfahren. Mein Vater schlägt mich tot, wenn er das erfährt. Und auch mein Bruder Bernard wird mich umbringen.«

Juliette musterte die Freundin erschrocken. »Um Gottes willen, du hast doch nicht etwa … Ich meine … du bekommst kein Kind von ihm, oder?«

»Nein, wir haben uns noch nicht einmal geküsst, aber trotzdem …«

»Was ist mit ihm? Ist er verheiratet?«

Madeleine schüttelte traurig den Kopf.

»Er ist ein Boche

Juliette zuckte regelrecht zusammen. Das war allerdings das Schlimmste, das einer jungen Frau in diesen Zeiten widerfahren konnte. Dass sie sich in einen deutschen Soldaten verliebte, besonders wenn die Brüder und Väter bei der Résistance waren, was auf Monsieur Petit, Bernard und Juliettes Brüder gleichermaßen zutraf.

»Und meinst du nicht, es ist besser, wenn du ihn gar nicht erst wiedersiehst?«, fragte sie zaghaft.

»Ganz bestimmt wäre das besser«, entgegnete Madeleine entschieden. »Aber ich kann nicht. Ich wusste nicht, dass es Liebe auf den ersten Blick gibt, aber er ist wunderbar, er ist …«

Juliette unterbrach die Schwärmerei unwirsch. »Und wie verständigt ihr euch?«

Einmal abgesehen davon, dass die Freundin schon häufig von der Liebe auf den ersten Blick gesprochen hatte, missfiel Juliette außerordentlich, dass sie sich ausgerechnet in den Feind verlieben musste.

»Ich kann ein bisschen Deutsch, weil wir oft Feriengäste aus Deutschland hatten, aber mehr mit den Augen.« Sie stockte. »… und sicher auch bald mit den Händen«, fügte sie leise hinzu. »Bitte schwöre, dass du es für dich behältst.«

Juliette hob die Finger zum Schwur. Niemals würde sie Madeleines Geheimnis verraten.

»Aber versprich mir, dass du vorsichtig bist. Nicht dass dich einer mit ihm sieht«, mahnte sie.

»Versprochen. Wir sind vorsichtig. Wir haben einen Treffpunkt vereinbart, an dem man uns nicht so leicht erwischen kann«, erklärte sie geheimnisvoll, und Juliette war froh, dass Madeleine ihr nicht verriet, wo genau sie sich mit dem Boche treffen wollte. Und schon schweiften ihre Gedanken zurück zu dem Fremden aus dem Norden, und allein die Vorstellung, ihn wiederzusehen und ihm Modell zu stehen, ließ ihr Herz schneller schlagen.