Jules Wake
Roman
Aus dem Englischen von Bettina Ain
Knaur eBooks
Mit zehn Jahren verkündete Jules Wake zum ersten Mal, Schriftstellerin werden zu wollen. Zwischendurch ließ sie sich von der glamourösen Welt der PR ablenken, aber schließlich überzeugten sie die Stimmen in ihrem Kopf davon, dass es an der Zeit war, sich hinzusetzen und den Roman zu schreiben, von dem sie immer erzählt hat.
Ihr Debütroman »Talk to Me« erschien 2014. Seither hat sie unter den Namen Jules Wake und Julie Chaplin ein Dutzend wundervoller Liebesromane veröffentlicht, die zu Bestsellern wurden.
Twitter @juleswake
juleswake.co.uk
Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Notting Hill in the Snow« bei One More Chapter, London.
Copyright © Jules Wake 2019
© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Silvana Schmidt
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung eine Design von Cover design © HarperCollinsPublishers Ltd 2019
Coverabbildung: Cover Motiv, Collage aus mehreren Shutterstock Motiven
Emojis im Innenteil: Cosmic_Design/Shutterstock.com
ISBN 978-3-426-46038-2
1
Eine Sitzprobe ist eine Probe, bei der die Sänger mit dem Orchester zusammensitzen, und oftmals ist es das erste Mal, dass beide Gruppen miteinander proben.
Für meine Heimatsterne Nick, Ellie & Matt.
Von euren Talenten fühle ich mich immer wieder inspiriert. X
Müssen Sie das Ding um diese Uhrzeit hier reinschleppen?«, blaffte mich die Frau an. Sie fuhr zu mir herum und warf mir giftige Blicke zu, während alle vom Gleis am Notting Hill Gate sich vorwärtsdrängten, kaum dass sich die U-Bahn-Türen öffneten. Die Wimperntusche ließ ihre Wimpern aussehen wie stachelige Spinnenbeine. »So was Rücksichtsloses.« Ich glaubte zu hören, wie sie irgendein Schimpfwort anfügte, hatte es aber nicht genau verstanden.
Von ihrer Feindseligkeit ganz sprachlos, brachte ich gerade mal eine eilige Entschuldigung hervor, aber sie starrte mich nur empört an.
Ich ließ meinem entschuldigenden Lächeln ein Schulterzucken folgen, mit dem ich ausdrücken wollte: Hey, Lady, ich muss auch zur Arbeit. Wenn man zu den Stoßzeiten mit einem Geigenkasten (eigentlich ist es eine Bratsche, die man auch Viola nennt, aber die meisten Leute tippen auf eine Violine) unterwegs war, machte man sich selten beliebt, weshalb ich mich meistens bemühte, es zu vermeiden.
Ich spürte ganz deutlich die Blicke der anderen Fahrgäste, die der Frau zuzustimmen schienen, die noch immer vor sich hin brummte, was für eine Schweinerei das Ganze doch wäre, und ich presste den Kasten fest an die Brust, bei dem Versuch, so wenig Platz wie möglich einzunehmen. Obwohl ich mir schon die Nase daran platt drückte, regte sie sich noch immer darüber auf. Schließlich warf sie das Haar nach hinten und sagte laut: »Das ist doch lächerlich.« Als sie sich an mir vorbeiquetschte, stieß sie mich derart unsanft gegen den Handlauf, dass der Kasten von dem Metall abprallte und mir ins Gesicht schlug. Mit einem knirschenden Geräusch traf er meinen Wangenknochen, was mir die Tränen in die Augen trieb. Der Schock über den Schmerz und die Tatsache, dass sie das tatsächlich gerade getan hatte, ließen mich sprachlos zurück, und statt mich zu beschweren, stand ich einfach nur da – vollkommen fassungslos.
Als ich mich wieder gesammelt hatte, war sie längst verschwunden; von der Menge verschluckt, arbeitete sie sich wohl durch den Wagen nach hinten vor. Meine Wange pochte, aber es war zu umständlich, den Arm aus dem Gedränge zu ziehen, ohne die Viola loszulassen, und die Wunde tröstend zu streicheln, wie sie es unbedingt gebraucht hätte. Blinzelnd kniff ich die Augen zusammen. Ich war mir nur allzu bewusst, dass einige Leute beobachtet hatten, was geschehen war. Als ich sie wieder öffnete, blickte ich in warme braune Augen, die mich mitfühlend ansahen. Er flüsterte: »Alles in Ordnung?«
Ich schluckte und spürte, wie mir erneut Tränen in die Augen stiegen. Dieses Gefühl, verwundbar und mitleiderregend zu sein, war mir zutiefst unangenehm, also nickte ich nur. Sei bloß nicht nett, bitte, sei nicht nett. Dann heule ich wirklich noch los. Dennoch fühlte ich mich dank des freundlichen Lächelns und seiner aufrichtigen Sorge ein wenig besser, ein einzelner Verbündeter in dieser feindseligen Menge von Menschen, die alle verzweifelt zur Arbeit wollten. Ich erwiderte sein Lächeln matt, aber dankbar. Netter Mann. In der Tat sehr nett. Für braune Augen habe ich eine Schwäche. Ebenso wie für ein Lächeln. Ein Lächeln macht im Leben viel aus. Es kostet nichts und kann einem den Tag retten. Wie seines meinen gerettet hatte. Die mürrische Dame mit dem aufgebrezelten Gesicht war vermutlich dazu verdammt, den ganzen Tag lang schlecht drauf zu sein.
Kaum sah er weg, wagte ich einen weiteren Blick. Er wirkte ganz geschäftlich und zugeknöpft, dieser Mr Bürojob, aber ansehnlich – okay, umwerfend – und mit dem schicken Anzug, den glänzenden Herrenhalbschuhen und dem kurzen, stylishen Haar für mich unerreichbar. An diesem Morgen mimte ich die Mafia-Gangsterbraut, ein Berufsrisiko, wenn man sein halbes Leben damit verbrachte, einen Bratschenkasten durch London zu schleppen. Vervollständigt wurde der Look durch meinen langen, schwingenden Bob, den ich trug, weil er pflegeleicht war und zu meinem geraden kastanienbraunen und – Gott sei Dank – glänzenden Haar passte. MACs bester grellroter Lady-Danger-Lippenstift, zu dem mich meine Freundin aus der Maske überredet hatte, und das eng sitzende schwarze Kleid, das ich trug, da ich nachher einen Auftritt hatte, verstärkten den Eindruck noch.
Es war ein Elend, so früh unterwegs zu sein, aber die Dirigentin dieser Aufführung flog heute Nachmittag nach Österreich, also hatte sie uns zu einer morgendlichen Probe zusammengetrommelt.
In der Menschenflut, die bei Holborn umstieg, entdeckte ich meinen lächelnden Mann ein zweites Mal. Er lief einige Meter vor mir, marschierte zielorientiert und bahnte sich mit der Leichtigkeit eines Hais seinen Weg durch die Menge, anders als ich, die wie ein Stück Treibgut dahintrieb und versuchte, nicht unterzugehen und den Violakasten nicht zu verlieren.
Schließlich stand er mit mir im selben Aufzug der Untergrundstation von Covent Garden. Wir verließen die U-Bahn, und er holte zu mir auf. »Ist mit Ihrem Gesicht alles in Ordnung? Sie haben einen ganz schönen Schlag abbekommen.« Verkniffen betrachtete er meinen Wangenknochen. »Tut mir leid, ich hätte etwas zu der Frau sagen sollen, aber mir war erst klar, was passiert war, als sie schon weg war. Sie ist an der Bond Street ausgestiegen.«
»Schon gut«, versicherte ich ihm. »Ich hatte auch keine Gelegenheit, etwas zu erwidern.« Den Rest der Fahrt hatte ich genug Zeit damit verbracht, mich selbst deswegen zu schelten. Er hielt mich vermutlich für feige.
Ich hob eine Hand ans Gesicht. Mein Wangenknochen pochte noch immer, und ich spürte, dass die Wange leicht geschwollen war. Großartig, es war gerade mal neun Uhr früh an einem Montagmorgen, und ich stand bereits für den Quasimodo-Look Modell. Die Verlegenheit verwandelte sich in Gereiztheit. Ein umwerfender Mann stand mir gegenüber, und ich benahm mich wie ein armseliges Weichei. Das sah mir gar nicht ähnlich.
»Ich schätze, wir haben den gleichen Weg.« Er ließ mir den Vortritt durch die Schranken der U-Bahn-Station und deutete mit dem Daumen auf den Kasten, eine Geste, die nicht so recht zu seinem Anzug passen wollte.
»Zum Opernhaus?«, fragte ich.
»Ja. Sie sehen wie eine Musikerin aus.«
Ich riss gespielt überrascht die Augen auf und atmete scharf ein. »Was hat mich verraten?«
Ganz kurz bezweifelte ich, dass er lachen würde, aber dann bildeten sich Fältchen an seinen Augen, seine Mundwinkel hoben sich und ein tiefes Lachen ertönte. »Ich bin Hellseher«, verkündete er.
»Natürlich sind Sie das.«
»Geige?«
»Aha, doch kein so guter Hellseher, wie Sie dachten. Es ist eine Viola.«
»Tja, durchschaut. Wo liegt der Unterschied?«
Ich hob eine Augenbraue. »Wollen Sie das wirklich wissen?«
Mit verschmitztem Lächeln nickte er. Ich strahlte ihn an. Warum eigentlich nicht? Was ist schon verwerflich daran, mit einem gut aussehenden Fremden zu flirten, selbst wenn man eine übergroße Beule im Gesicht hatte, ganz besonders, wenn man genau wusste, dass er auf keinen Fall nach der Telefonnummer fragen oder einen auf einen Drink nach der Arbeit einladen würde. Er war die Art Mann, an dessen Arm mit größerer Wahrscheinlichkeit eine kühle, elegante Blondine hing. Ich bin keine Modeexpertin, aber dem Anzug haftete etwas von einem Designer an, und er kostete vermutlich mehr, als ich im ganzen Jahr für meine kleinen schwarzen Kleider ausgab.
»Eine Viola ist ein wenig größer als eine Violine, die Saiten sind etwas kräftiger und«, ich hielt kurz inne und fuhr in einem verträumten Tonfall fort, den ich mir einfach nicht verkneifen konnte, »sie klingt völlig anders. Sanfter und voller.«
Seite an Seite liefen wir über die gepflasterte Straße.
»Sie halten sie für das überlegenere Instrument?«, hakte er mit wissendem Lächeln nach, sobald wir die Menschenmenge erreichten, die sich gegen den strengen Wind dick eingepackt hatte, der heute Morgen um die Häuser pfiff.
»Sie sind ja doch Hellseher«, erwiderte ich. Ich warf einen kurzen Seitenblick auf die Dekorationen, die in den letzten Tagen aus dem Boden geschossen waren, obwohl dem November noch eine Woche blieb. Covent Garden hatte sich im Weihnachtsglanz herausgeputzt, rote Weihnachtssterne und Girlanden aus Tannenzweigen quollen überall auf der Piazza aus den Blumentöpfen und Kästen, mit winzigen weißen Lichtern dazwischen und von großen goldenen Schleifen geschmückt.
»Ich schätze, Sie haben sich verraten.«
Ich lachte. »Ich bin vermutlich ein wenig voreingenommen.«
»Spielen Sie schon lange?«
»Fast mein ganzes Leben lang.«
»Warum eigentlich die Viola und nicht die Violine?«
Erneut musste ich lachen und hielt einen Moment inne. »Die meisten fangen mit der Violine an, aber«, um meinen Mund zuckte es, »es war mir vorherbestimmt, die Viola zu spielen.« Ich wackelte mit einer Augenbraue. »Bekommen Sie jetzt hellseherische Schwingungen?«
Er legte die Stirn in Falten, als würde er sich konzentrieren, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, die hellseherische Übertragung scheint gestört zu sein. Die Verbindung ist abgebrochen.«
Bevor ich antworten konnte, trat uns eine junge Frau aus einem der Läden in den Weg, aus denen bereits Weihnachtslieder schallten. Sie hielt uns ein Tablett mit Mince Pies entgegen und köderte uns mit dem Duft des Buttergebäcks und der fruchtigen Füllung. Wie von selbst leckte ich mir beim Anblick des Zuckers, der auf dem Gebäck glänzte, über die Lippen.
»Mince Pie?«, bot sie uns an.
Sowohl er als auch ich blieben abrupt stehen und streckten gleichzeitig gierig die Finger aus, bis sich unsere Hände berührten. Wir lachten.
»Tut mir leid, ich liebe Mince Pie«, erklärte ich mit einem glücklichen Seufzer. Der herrliche Duft verkörperte für mich das Beste an Weihnachten.
»Ich auch.« Er biss in eines der Gebäckstücke, und die strahlend weißen Zähne lenkten meinen Blick auf seinen Mund. Etwas in seinen Augen verriet mir, dass ihm das nicht entgangen war.
Eilig biss ich selbst hinein und zuckte sofort zusammen, weil meine Wange wieder schmerzte.
»Alles in Ordnung? Das sieht wund aus.« Er hob eine Hand, als wollte er mein Gesicht berühren, hielt aber inne, als ihm wohl plötzlich bewusst geworden war, dass wir uns eigentlich nicht kannten.
»Schon gut. Ich sollte wirklich zur Arbeit.«
»Ja.« Er schaute auf sein Handgelenk. »Ich muss zu einem Meeting.«
Die junge Frau, die vermutlich gehofft hatte, sie könnte uns mit ihren Waren in den Laden locken, wirkte geknickt, als wir uns abwandten und unseren Weg fortsetzten.
Wir erreichten den Bühneneingang, durch den ich musste, und ich blieb stehen. »Hier muss ich rein.« Ich deutete auf das Schild über der Tür. Dann zeigte ich zum Eingang zur Kasse ein paar Meter weiter. »Sie müssen da lang.«
»Richtig.« Er schwieg.
Ich hielt den Atem an.
»Es war nett, Sie kennenzulernen. Ich hoffe, Sie haben einen angenehmeren Heimweg.«
Verdammt. Enttäuscht ließ ich den Atem entweichen.
»Danke«, sagte ich, bevor ich durch die Tür schlüpfte.
»Warten Sie …«
Mein Herz flatterte hoffnungsvoll.
»Sie haben mir noch nicht verraten, warum Sie die Viola spielen.«
Ich blieb auf der Türschwelle stehen und seufzte. Es war ein schönes Spiel gewesen.
»Es war einfach unvermeidlich.« Ich lachte und beobachtete entzückt, wie er fragend die Augenbrauen hob. »Mein Name ist Viola.«
Ein kurzer Blick in den Spiegel auf der nächstbesten Damentoilette genügte, um mich statt in den Probenraum vier Etagen nach oben eilen zu lassen. Mir blieb noch genügend Zeit: Ich wollte vor der heutigen Probe eigentlich eine Saite an meiner Bratsche austauschen, aber das konnte bis morgen warten.
Ich spähte durch die Tür in den Perücken- und Maskenraum, in der Hoffnung, Tilly anzutreffen. Puh, sie stand an ihrem chaotischen Arbeitsplatz, umgeben von Haarsträhnen und den gruseligen Kopfständern mit den vielen Nadeln, die zum Herstellen von Perücken verwendet wurden. Auf mich wirkten sie so, als gehörten sie in einen Horrorfilm. Sie lösten bei mir stets eine Gänsehaut aus.
Dankbar, dass sonst niemand da zu sein schien, schlich ich hinein.
»Oh mein Gott, was ist denn mit deinem Gesicht passiert?« Tillys Stimme füllte das stille Zimmer.
Ich verzog den Mund. »Kannst du mir helfen? Es für mich abdecken? Schminke drauftun? Ich weiß, wie schlimm es aussieht.«
»Ich werde dich in eine Göttin verwandeln.« Sie eilte herbei und untersuchte mein Gesicht. »Mit der Schwellung wird’s allerdings eine leicht deformierte. Hast du dich etwa geprügelt? Wann ist das denn passiert?«
»Auf dem Weg zur Arbeit.« Ich erzählte ihr die traurige Geschichte, unterschlug dabei aber aus irgendeinem Grund die braunen Augen, als wollte ich diesen angenehmen Teil des Tages für mich behalten.
»Was für eine Zicke.« Mit schmalen Augen begutachtete sie mein Gesicht. »Da solltest du vermutlich etwas Eis drauflegen, damit die Schwellung zurückgeht.«
»Wenn ich einen Eiskübel zur Hand hätte, würde ich das auch tun«, sagte ich. »Du hast wohl nicht zufällig eine Paracetamol da? Ich muss noch eine dreistündige Probe hinter mich bringen.« Dabei würde ich mir die Viola genau auf der Seite unters Kinn klemmen.
Sie strahlte mich an. »Ich habe beides. In Jeanies Büro gibt’s einen kleinen Eisschrank, und wir haben immer etwas vorrätig … nur für uns selbst, versteht sich.« Sie zwinkerte mir zu.
Das Kindermädchen für weltberühmte Tänzer und Sänger zu mimen, damit sie vor ihrem Auftritt nicht die Nerven verloren, gehörte ebenso zu ihren Aufgaben wie das Schminken.
»Offenbar habe ich unterschätzt, wie brandgefährlich die U-Bahn um diese Tageszeit ist, aber du bist ja auch schon früh da.« Wir hatten alles andere als geregelte Arbeitszeiten. Sie hingen davon ab, ob man sich mit einem Stück noch in der Probephase befand oder es bereits eröffnet wurde.
Im Moment fanden die letzten Proben für das jährliche Weihnachtsballett Der Nussknacker statt, und Tilly war für das Maskenbildner-Team der Aufführung verantwortlich, weshalb sich unsere Arbeitszeiten überlappten. Für den Nussknacker arbeitete ich gerne, denn ich hatte ihn schon ein Dutzend Mal aufgeführt – die Musikstücke gingen mir mittlerweile leicht von der Hand, auch wenn das nicht hieß, dass ich aufs Üben verzichten konnte.
»In einer Stunde soll Bryn Terfel die Perücken anprobieren, und ich hatte noch einiges zu tun.« Mir gefiel, wie sie seinen Namen ganz beiläufig erwähnte, als wäre er irgendein dahergelaufener Kerl und nicht einer der gefragtesten internationalen Superstars der Opernwelt. »Ich hol dir mal etwas Eis.«
»Ich hab keine Zeit. Kannst du nicht einfach ein bisschen Make-up draufklatschen?«
Sie schürzte die Lippen und musterte mein Gesicht, die Hände in die Hüften gestemmt. Mit einem Mal wirkte sie ganz professionell und ein wenig hochmütig. »Klar kann ich das, aber wenn ich vernünftige Arbeit leisten soll, dann wäre es besser, wenn wir die Schwellung etwas abkühlen.«
Sie konnte ganz schön schusselig sein, aber ihre Arbeit nahm sie ernst. Wie die meisten von uns. Ich hatte unzählige Stunden üben müssen, um so gut zu werden, und dass ich hier eine Anstellung gefunden hatte, sah ich nicht als selbstverständlich an.
»Okay, aber ich muss in einer halben Stunde zur Probe.«
»Setz dich.« Um mir Platz zu schaffen, stellte sie eine Perücke ins Regal, die eher an eine dösende getigerte Katze erinnerte. Ihre Kitten Heels klackerten über den Boden, und der Rock mit dem Vintage-Aufdruck wippte auf und ab, als sie zum Büro ihrer Vorgesetzten lief.
Wenig später steckte ihre Chefin Jeanie den Kopf durch die Tür, die Mundwinkel wie immer missbilligend nach unten gezogen. »Was haben Sie wieder angestellt?«
In der strengen schwarzen Tunika und den Leggings wirkte sie wie eine schwarze Krähe, der nichts entging. Sie und Tilly mit ihren Vintage-Klamotten, dem langen präraffaelitischen Haar und den klimpernden Armreifen an den Armen waren wie Tag und Nacht, aber sie vergötterten einander geradezu.
»Kleiner Unfall auf dem Weg zur Arbeit. Ich hatte eine Auseinandersetzung mit dem Violakasten.« Ich bemühte mich um ein Lächeln. Tilly behauptete stets, dass Jeanie nicht biss, aber davon war ich noch nicht überzeugt.
Schnaubend verkroch sie sich wieder in ihr Arbeitszimmer.
Tilly kehrte mit einer Handvoll Eiswürfeln zurück, die sie in einen pinken Seidenschal voller Schminkflecken gewickelt hatte, und ich drückte mir das Bündel gegen die Haut. Die Kälte ließ mich zusammenzucken.
»Solange du das hältst, kann ich auch gleich deine Augen schminken«, meinte Tilly, die mein Gesicht mit einem Leuchten in den Augen studierte.
»Ach, würdest du das tun?« Das munterte mich wieder auf.
»Ja, das lenkt die Leute von der Prellung ab«, erklärte sie sachlich. »Du hast tolle Augen mit diesem herrlichen Bernsteinton. Die wollte ich mir schon ewig mal vornehmen.« Sie näherte sich mir mit den Fingern, an denen schon irgendein Kosmetikprodukt klebte.
»Tob dich aus. Ich habe mich bisher nicht getraut zu fragen.«
»Du darfst mich jederzeit darum bitten. Wenn du mal wieder ein heißes Date hast, komm zu mir rauf.«
Ich schenkte ihr ein verhaltenes Lächeln. Dates waren in letzter Zeit eher Mangelware.
»Ich trage erst mal etwas Grundierung auf, die hält alles zusammen. Du wärst überrascht, wie viele Leute die nicht benutzen.«
»Wäre ich vermutlich nicht«, scherzte ich. »Ich hab noch nie davon gehört.«
»Die hier ist speziell für Profis, aber bei Urban Decay gibt’s eine, die echt gut ist.«
Begeistert hob ich den Kopf. »Das wäre doch das perfekte Weihnachtsgeschenk für Bellas Tochter Laura. Sie ist sechzehn und steht total auf Make-up.«
Tilly runzelte die Stirn. »Bella ist die jüngere deiner Cousinen? Sie hat drei Töchter. Tina ist die Älteste, und sie hat zwei Töchter, richtig?«
»Gut gemacht. Du lernst dazu.« Meine große Familie faszinierte Tilly, die erst spät in ihrem Leben eine Beziehung zu ihrer Schwester aufgebaut hatte.
So wie auch ich erst spät in der Ehe meiner Eltern auf der Bildfläche erschienen war. Spät und völlig ungeplant. Mum war fünfundvierzig, fast schon sechsundvierzig gewesen, als sie mich zur Welt gebracht hatte. Fröhlich hatte sie allen erzählt, wie leicht sie durch die Menopause kam, denn davon abgesehen, dass sie etwas aufging, blieben die Hitzewallungen völlig aus. Es war also ein ziemlicher Schock gewesen, als sie erfahren hatte, dass sie im vierten Monat schwanger war.
Ihre Schwester, Tante Gabrielle, hatte bereits zwei Töchter, nämlich Bella und Tina, und die ältere der beiden war fünfzehn Jahre älter als ich. Folglich war ich der ungelegene Gast bei unseren Familientreffen, um den man sich kümmern musste. Meine Tante hatte es genossen, dass die Familie wieder Bars und Restaurants besuchen konnte, nachdem meine Cousinen endlich etwas älter und selbstständiger geworden waren, aber dann gab es ganz plötzlich mich, und ich ruinierte ihr den ganzen Spaß. Wieder einmal blieb ihnen nichts übrig, als sich in familienfreundlichen Lokalen mit Kinderstühlen und Wickeltischen zu treffen.
Für diese Enttäuschung entschädigte ich sie allerdings in der Pubertät, als ich mit der Bratsche die Prüfung zur achten Stufe gerade rechtzeitig absolvierte, um auf beiden Hochzeiten meiner Cousinen spielen zu können. Leider befreite mich das nicht davon, auch beide Male die Brautjungfer zu sein. Seither verabscheute ich Tüll und Kleider in Dreiviertellänge zutiefst, was geradezu ironisch war, wenn man bedachte, wo ich arbeitete. Die London Metropolitan Opera Company führte sowohl Balletts als auch Opern auf.
»Ich kann mir so eine große Familie gar nicht vorstellen. Meine Eltern sind beide Einzelkinder. Cousinen habe ich keine, nur meine Schwester.«
»Sei deinem Glücksstern dankbar«, sagte ich. »Ich fühle mich, als stünde ich ständig auf Abruf bereit. Nächste Woche soll ich meiner Cousine Tina und ihren Kindern abends nach der Schule helfen. Sie backen das jährliche Lebkuchenhaus, und es braucht zwei Leute, um das Dach zusammenzuhalten, bis der Zuckerguss aushärtet.«
»Lebkuchenhaus? So eins habe ich noch nie gebacken.« Tillys Augen strahlten vor Begeisterung, während sie meine Lider betupfte. Sie trat einen Schritt zurück und begutachtete ihr Werk. »Marcus ist eine kleine Naschkatze. Ich frage mich, ob er sich über eins freuen würde.«
»Im Ernst, lass es«, riet ich ihr. Ich schielte durch ein Auge zu ihr hoch, während ich noch immer das Eis an mich drückte und die kalten Tropfen abwischte, die mir über das Gesicht liefen, weil das Eis nach und nach dahinschmolz. »Das ist die reinste Friemelarbeit. Wenn der Lebkuchen nichts wird, stürzen die Wände ein, und das ganze Ding bricht zusammen. Letztes Jahr musste Tina zwei Bleche backen. Außerdem muss sie auch noch extra Buntglasfenster aus Bonbons zusammensetzen.« Ich stöhnte bei der Erinnerung auf.
»Was ist denn so schlimm daran? Klingt doch total nett«, sagte Tilly.
»Wenn es funktioniert, ist es das auch. Wenn nicht …« Ich schüttelte den Kopf. Gott sei Dank gab es reichlich Gin. »Dieser Stress! Eins verrat ich dir: Meine Cousinen wetteifern dauernd. Jede will die perfekteste Mummy sein und die andere übertrumpfen. Und mich ziehen sie da mit rein. Beide wollen meine Lieblingscousine sein.
Das dumme Lebkuchenhaus ist nur der Anfang. Bis Weihnachten werden Kränze gebunden, Weihnachtskuchen dekoriert, Keksanhänger für den Baum gebacken, Christmas Pudding angerührt und Papierketten gebastelt. Vom Einpacken der Geschenke ganz zu schweigen: Wer hat das schönste Papier, die meisten Schleifen und die Geschenke, die am besten aufeinander abgestimmt sind? Dann gibt’s noch die Weihnachtskonzerte, Christingle-Messen und zwei verschiedene Krippenspiele an den Schulen.«
Tilly hielt inne und griff nach meinen Händen, um sie zu beruhigen. Sie neigten dazu, das Reden für mich zu übernehmen, und signalisierten gerade die verrücktesten Botschaften. »Alles in Ordnung?«
Ich stieß einen Atemzug aus, als mir klar wurde, wie laut ich geworden war und wie aufgebracht ich geklungen haben musste. »Ach du liebe Güte! Tut mir leid, ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist. Ignorier mich einfach.«
»Ist schon okay. Du darfst dich ruhig auskotzen. Ich weiß ja, dass du deine Familie liebst.«
»Das tue ich, und ich liebe Weihnachten. All das.« Ich deutete zum Fenster raus auf den riesigen Weihnachtsbaum, der auf dem Platz gegenüber der St Mark’s Church stand. »Aber manchmal wächst mir mit meiner Familie alles ein wenig über den Kopf.«
Gegen Ende der Probe geriet ich ins Straucheln, und mein Bogen verharrte den Bruchteil einer Sekunde in der Luft, als eine Art sechster Sinn meinen Blick zur Tür lenkte, wo irgendein Witzbold bereits trunken einen Mistelzweig aufgehängt hatte.
Schon wieder er! Was hatte er denn hier verloren?
Kaum war mir dieser Gedanke durch den Kopf geschossen, zwang ich meine Konzentration auch schon wieder zurück auf meinen Bogen, erschrocken über den kleinen Aussetzer bei der Probe.
Verdammt, so etwas passierte mir sonst nie. Nach der Passage, als wir ein paar Takte lang eine Pause einlegten, erhaschte ich einen überraschten Blick von Becky, mit der ich mir ein Pult teilte. Auch die finstere Miene der Dirigentin war mir nicht entgangen.
Sobald das Ende eingeläutet wurde, gestattete ich mir einen Blick zur Tür. Mr Bürojob stand mit Alison Kreufeld, Intendantin und rundherum furchterregende Oberbossin, an der Wand. Was hatte sie hier unten verloren? Sie kümmerte sich eigentlich um die Inszenierung der Aufführungen und nicht um die Musik. Hier unten im Gewirr der Probenräume im riesigen Keller des Gebäudes trafen wir sie selten an. Und wer war er? Was wollte er hier?
Sie standen noch immer dort und unterhielten sich leise, während wir zusammenpackten. Nach den erhabenen Tönen von Tschaikowski und den feierlichen Klängen der Nussknacker-Suite rissen mich die alltäglichen Geräusche der Stühle, die über den Boden scharrten, der klappernden Musikständer, der Instrumentenkästen, die klackernd geöffnet wurden, und der dumpf tönenden Musikinstrumente, die in ihre gepolsterten Behälter gelegt wurden, immer wieder abrupt in die Realität zurück.
Nach der enormen Konzentration, die eine dreistündige Probe uns abverlangte, fühlte ich mich stets ausgelaugt und erschöpft, wie so ziemlich alle anderen im Raum auch. Wir waren wie Zombies, wenn wir unser Spiel beendet hatten.
»Kaffee?«, fragte eine der anderen Streicherinnen, als ich meine Notenblätter nahm und vorsichtig in die kleine schwarze Mappe zurücklegte.
»Ja. Wir sehen uns oben.« Ich begab mich zum Ausgang, und der Typ aus der U-Bahn nickte mir zu.
»Hallo, Viola, die Violaspielerin.« In seinen Augen funkelte es amüsiert.
»So trifft man sich wieder.« Meine Mundwinkel hoben sich zu einem unwillkürlichen Lächeln.
Sein Blick wanderte zu meiner Wange, und er zog die Augenbrauen zusammen. »Das sieht ja schon besser aus.«
»Ich habe eine Freundin in der Maske«, erklärte ich und berührte vorsichtig die Wange.
»Sie beide kennen sich?«, fragte Alison, die Augen argwöhnisch zusammengekniffen.
Verdutzt schauten wir einander an und erwiderten den Blick eine Sekunde länger als nötig, wie zwei Mitverschwörer.
»Nein«, leugnete ich zu laut und zu rasch auf jene Art, mit der man seine Unschuld beteuerte, bevor jemand noch auf die Idee kam, man hätte etwas angestellt.
»Wir hatten nur heute Morgen den gleichen Weg«, erklärte der Mann mit dem Hauch eines Lächelns. »Eingestiegen sind wir beide am Gleis vom Notting Hill Gate, und letztlich sind wir zusammen von der U-Bahn-Station aus gelaufen.« Das Zucken um seine Mundwinkel deutete darauf hin, dass er sich an unser Gespräch erinnerte. »Der Kasten brachte mich darauf, dass Viola vermutlich hier arbeitet.«
»Tatsächlich?«, fragte Alison, als wäre das alles unglaublich spannend. Auch wenn nicht unbedingt gleich Dollarzeichen in ihren Augen aufleuchteten, blitzte eindeutig habgieriges Interesse in ihnen auf.
Ich nickte. »Sind uns noch nie zuvor begegnet.«
»Was wollten Sie denn am Notting Hill Gate?«, hakte sie nach. Sie riss den Kopf zu mir rum und sprach in diesem unverblümten, direkten Detektivtonfall, bei dem ich mich augenblicklich schuldig fühlte. Das war schon dumm, schließlich hatte ich nichts zu verbergen, es sei denn, man hatte vergessen, mir mitzuteilen, dass es in den letzten Wochen verboten worden war, in diesem bestimmten Teil von London zu leben.
»Ich wohne da. In Notting Hill. Schon seit einer Weile.« Ich war sofort bereit, meinen geliebten Londoner Bezirk zu verteidigen. Die Grundstücksmakler könnten mich einstellen, um möglichen Interessenten vorzuschwärmen, wie fantastisch es dort ist – die guten Schulen, die hervorragenden Anbindungen, die großartigen Läden und so weiter und so fort. Gäbe es ein Fremdenverkehrsbüro für Notting Hill, wäre ich das Aushängeschild.
»Tun Sie das?« Sie schob die Augenbrauen zusammen und blickte wieder zu dem Mann. »Interessant«, sagte sie, bevor sie mir den Rücken zukehrte und den Kopf in seine Richtung neigte. »Soll ich Sie im Backstagebereich herumführen?« Es klang weniger nach einer Frage als vielmehr nach einer Aufforderung, mit der sie ihn weglotste.
Sie setzten ihren Weg den langen Korridor entlang fort, und ich sackte ein wenig in mich zusammen, aber dann warf er einen Blick über seine Schulter, hob die Hand zum Gruß und schenkte mir ein letztes Lächeln. Hmm, hübsche breite Schultern. Hübscher Anzug. Hübsches Lächeln. Hübscher Gang. Also wirklich, reiß dich zusammen, Viola. Aber es war wirklich ein hübscher Gang, mit diesen langen Beinen, den schmalen Hüften, selbstbewusst und aufrecht. Kann man jemanden wegen seines Gangs anhimmeln? Egal, zum ersten Mal seit Ewigkeiten verspürte ich Interesse aufflackern. Wie das Flattern eines kleinen Vogels in meiner Brust, entweder war es das, oder ich hatte einen Herzanfall.
Ich überlegte kurz. Ich war mir nicht sicher, ob es das verschwörerische Lächeln gewesen war, das er mir in der U-Bahn zugeworfen hatte, oder der rasante Schlagabtausch auf dem Weg von der Covent-Garden-Station, aber etwas in mir war hellhörig geworden. Hier stand ich nun und ließ zu, wie er sich entfernte, wie er sich aus meinem Leben stahl. Sirenen schrillten plötzlich los. Vielleicht würde ich ihn nie wiedersehen.
Der elektrische Schlag, den mir dieser Gedanke versetzte, trieb mich dazu an, ihnen mit langen, zügigen Schritten zu folgen, als hätten meine Instinkte die Beinarbeit übernommen. Ein leichter Anflug von Panik kochte in mir hoch, als sie um die Ecke bogen und aus meinem Sichtfeld verschwanden.
Ich würde ihn nie wiedersehen.
Ich beschleunigte meine Schritte. War es verrückt, dass ich einem Wildfremden nacheilte? Um Himmels willen, ich kannte ihn überhaupt nicht. Vermutlich war er verheiratet. Wenn nicht, dann hatte er sicherlich eine Freundin. Wie war ich nur von einem Lächeln in der U-Bahn und unserem Flirt in eine romantische Komödie geraten, in der er der eine sein könnte? War ich irre oder einfach nur verzweifelt?
Im Eilschritt um die Ecke fliegend, bremste ich abrupt ab und ruderte windmühlenartig mit den Armen, um anzuhalten, war aber nicht schnell genug. Der Bratschenkasten schoss nach vorne in seine Magengrube und verfehlte seinen Schritt nur um Haaresbreite. Ihm entfuhr ein angestrengtes Schnaufen.
»Oh Gott, das tut mir leid«, keuchte ich, als er sich krümmte und sich den Magen hielt.
So ein Mist, Mist, Mist. Offenbar waren sie stehen geblieben, um eines der vielen Schwarz-Weiß-Fotos von alten Aufführungen zu betrachten, die an der Wand hingen.
Alison riss überrascht die Augenbrauen hoch. Großartig. Eine Zeugin meiner Blamage. Was tat ich hier nur? Ich verhielt mich, als wäre ich völlig durchgedreht.
Ich stellte den Violakasten auf den Boden und griff, ohne nachzudenken, nach seinem Arm. Meine Finger rutschten über die seidene, feine Wolle seiner Anzugjacke. »Alles in Ordnung? Das tut mir wahnsinnig leid. Ich wollte …« Wollte was? Ihm nachjagen wie eine Jagdhündin auf der Fährte eines Fuchses?
Ich beugte mich zu ihm vor, und unsere Köpfe berührten sich, als ich die andere Hand zu seinem Bauch ausstreckte, als wollte ich ihn zur Beruhigung reiben. Sobald meine Finger den glatten, weichen Baumwollstoff seines Hemds berührten, spürte ich die Wärme seiner Haut darunter. Was sollte das bloß werden? Hastig riss ich die Hand weg.
Er hob den Kopf und blickte unter dem strubbeligen Pony zu mir hoch. Einen wohligen Augenblick lang begegneten sich unsere Blicke, dann richtete er sich auf und ließ ein gequältes Lächeln aufblitzen. »Das Ding ist eine tödliche Waffe. Um Sie muss man sich in einer dunklen Gasse wohl keine Gedanken machen, oder?«
Das Flair einer romantischen Komödie erstarb unter Alisons wütendem Blick, bevor sie sich ihm zuwandte. »Das tut mir sehr leid. Alles in Ordnung? Ich muss mich für Ms Smiths Ungeschicklichkeit entschuldigen.«
»Es war nur ein Missgeschick.« Er rieb sich derart behutsam über den Bauch, dass es den Anschein hatte, als litte er unter größeren Schmerzen, als er zuzugeben bereit war. Er wollte wohl höflich sein.
»Kann ich Ihnen ein Glas Wasser oder so holen?«, fragte ich. Denn das würde mit Sicherheit helfen. Mein Verstand schien sich vorübergehend verabschiedet zu haben.
»Ich denke, das wird schon wieder«, erwiderte er ernst, aber um seinen Mundwinkel zuckte es wieder.
Ich wirkte wahrscheinlich ziemlich durchgeknallt, wie ich mit offenem Mund dastand und kein Wort hervorbrachte.
In seinen Augen funkelte es, ob vor Vergnügen oder Mitleid, konnte ich nicht erkennen. Zum ersten Mal in meinem Leben betete ich, es möge sich ein Loch unter meinen Füßen auftun und mich verschlingen.
Er lächelte noch immer, und mein Herz tanzte hüpfend in meiner Brust umher wie ein bekloppter Hase.
»Wo wollten Sie denn so eilig hin?«, blaffte Alison. Ganz ehrlich, ich fühlte mich, als wäre ich wieder in der Schule.
»Äh … nur … äh … zur Toilette. Berufsrisiko.«
Grundgütiger, woher kam das denn? War das ernsthaft das Beste, was mir einfiel? Berufsrisiko? Er musste doch nun wirklich nicht wissen, wie lange ich mit überkreuzten Beinen in der Probe gesessen hatte.
Jetzt starrte Alison mich tatsächlich an. Kaum verwunderlich: Sie wusste genauso gut wie ich, dass die nächste Damentoilette in der anderen Richtung lag.
»Also, ich muss dann los«, verabschiedete ich mich in einem viel zu fröhlichen Tonfall. »Noch mal: Es tut mir aufrichtig leid. Ich hoffe, ich habe keinen allzu großen Schaden angerichtet.« Ich blickte zu seinem Bauch und auf seinen Schritt hinab.
Ups. Rasch hob ich wieder den Kopf und erhaschte einen Blick auf die amüsiert erhobene Augenbraue.
»Ich werde es wohl überleben. Ich würde ja gerne behaupten, es wäre nett, Sie wiederzusehen, aber …« Er verzog das Gesicht.
»Also dann.« Den Violakasten fest umklammert, schritt ich durch den Korridor in die völlig falsche Richtung davon und schlüpfte durch den Notausgang zur Hintertreppe, wo ich mich auf die fünfte Stufe setzte – und hoffte, sie würden nicht ebenfalls die Treppe benutzen. Ich musste warten, bis sie weitergezogen waren, bevor ich kehrtmachen und zu den Toiletten und meinem Spind zurücklaufen konnte. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
»Hi«, grüßte ich, als ich mich neben Leonie aus der Kostümabteilung auf einen Stuhl fallen ließ, den Tilly mir an einem Tisch in der Kantine frei gehalten hatte.
»Wie geht’s der Wange?«, erkundigte sich Tilly, die die Hand ausstreckte und mein Kinn anfasste. »Die Schwellung ist eindeutig abgeklungen, und die Grundierung hat gehalten. Auch das Augen-Make-up hält noch gut.«
»Ich fand dich heute richtig glamourös«, mischte sich Leonie ein. »Von der geschwollenen Gesichtshälfte mal abgesehen.«
»Danke. Tilly hat behauptet, es würde kaum auffallen.«
»Tilly erzählt Märchen«, sagte Leonie gelassen.
»Es sieht gar nicht mehr so schlimm aus wie vorhin.« Tilly warf Leonie einen finsteren Blick zu, doch die lächelte einfach nur breit. Sie hatte die Angewohnheit, einfach auszusprechen, was ihr durch den Kopf ging. »Außerdem sind die Leute viel zu sehr damit beschäftigt, ihr in die Augen zu sehen. Sind mir die nicht großartig gelungen?«
Leonie neigte den Kopf. »Das sind sie.«
Ich klimperte mit den Wimpern.
»Das hat mich aufgemuntert. Wie lief es mit der Perückenprobe?«, fragte ich, denn ich wollte keine Informationen über meinen Morgen preisgeben. Die Blamage, dass ich beinahe den Mann überrannt hatte, der zum ersten Mal seit Langem mein Interesse geweckt hatte, ließ mich noch immer zusammenzucken.
»Die Perückenprobe lief super«, antwortete Tilly ein wenig zu enthusiastisch. »Ich musste kaum etwas ändern und habe jede Menge Fotos geschossen.«
Leonie und ich warfen uns amüsierte Blicke zu.
»Also, was ist schiefgegangen?«, hakte ich nach.
»Nichts.« Tillys schrille Stimme strafte ihre Worte Lügen.
»Was hat sie angerichtet?«, wandte ich mich lachend an Leonie. Tilly und Technologie vertrugen sich einfach nicht.
Leonie verdrehte die Augen. »Dieses Mal ist es das, was sie nicht angerichtet hat. Ich musste die Bilder hochladen.«
»Ich werde ja besser.« Tilly strahlte.
»Nein, wirst du nicht«, widersprach Leonie.
Ich musste über die beiden lachen. »Was hält Marcus davon?«
»Er hat aufgegeben. Er liebt mich so, wie ich bin«, erklärte Tilly mit einem Hauch Selbstgefälligkeit, als sie nach ihrem Kaffee griff. Die Geschichte, wie sie und Marcus zusammengekommen waren, war im gesamten Gebäude legendär. Damals waren wir noch nicht besonders gut befreundet gewesen, aber die Ereignisse mit ihren skandalösen Elementen – Tilly war kurzzeitig suspendiert worden – hatten vergangenen Dezember das ganze Opernhaus aufgerüttelt.
Leonie musterte sie düster. »Du weißt schon, dass dem Rest von uns euretwegen noch schlecht wird.«
»Ich weiß. Das darf ich mir von Jeanie ständig anhören.« Mit klimpernden Armreifen schob sie sich das Haar nach hinten und schenkte uns beiden ein weiteres selbstzufriedenes Lächeln. »Aber ich denke, Fred ist auch nicht ohne, oder?«
Leonie strahlte sie an. »Ja.«
»Ach, seid still, ihr zwei«, murmelte ich. »Ich hatte schon seit Ewigkeiten nicht mal den Anflug eines Dates. Das letzte war eine derartige Katastrophe, dass ich schon erwäge, mich zur Date-freien Zone zu erklären.«
Tilly lachte. »Was ist mit dem Anwalt, der wissen wollte, ob du dich auf der Arbeit schon mal verletzt hast? Und wie viel deine Hände wert sind?«
Ich erschauderte. »Eben. Ich werde mich nie wieder mit einem Anwalt einlassen.«
Darüber mussten beide lachen, aber dann fiel mir eine Person auf, die sich den Weg durch die Tische bahnte. »Oh Gott.« Ich zog den Kopf ein. »Versteckt mich vor ihr.«
Tilly warf einen Blick über die Schulter und drehte sich dann wieder um. »Mich liebt sie«, verkündete sie mit der eitlen Selbstgerechtigkeit einer Person, der man unrecht getan hatte und die schließlich entlastet worden und seither fein raus war.
»Ach, Viola, nicht wahr? Mit Ihnen wollte ich kurz reden.« Alison Kreufeld zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zur Überraschung aller zu uns.
»Hören Sie, das Ganze tut mir wirklich leid. Ist bei ihm alles in Ordnung? Er wird uns doch nicht verklagen, oder?«
»Mit Sicherheit nicht.« Sie lächelte, als hätte ich ihr gerade in die Hände gespielt. »Allerdings könnten Sie uns dahingehend aushelfen. Ich wollte mit Ihnen über unsere Öffentlichkeitsarbeit sprechen.«
Ich entspannte mich ein wenig.
»Wie Sie wissen, können wir uns für einige unserer Fördergelder nur qualifizieren, wenn wir Projekte in der Gemeinde durchführen, bei denen wir Menschen aus allen sozialen Schichten unsere Arbeit ein wenig näherbringen.«
»Ja.« Ich nickte. Auch ich hatte schon ein paar Schulen besucht, auf einigen Versammlungen gespielt und mich mit talentierten Musikstudierenden unterhalten.
»Also, der Herr, den ich herumgeführt habe …«
Der Herr. Hatte er denn keinen Namen? James, beschloss ich. Ihm haftete etwas von Andrej Bolkonski aus der Serie Krieg und Frieden an, der von James Norton gespielt wurde.
»Viola!«
Ich riss den Kopf hoch. »Ja?«
»Mr Williams«, sagte Alison nachdrücklich, »sitzt im Aufsichtsrat einer Grundschule in Notting Hill. Seine Schwiegermutter ist eine Freundin des Opernhauses.«
Mr Bürojob hatte also nicht nur einen Namen, sondern auch eine Ehefrau.
»Wir wurden darum gebeten, die Schule bei ihrem jährlichen Krippenspiel zu unterstützen.« Sie wirkte nicht gerade glücklich. »Auch wenn es etwas kurzfristig ist, so erfüllt es doch die Kriterien unserer Öffentlichkeitsarbeit. Außerdem ist sie eine bedeutende Wohltäterin.«
Ich nickte und ignorierte das nicht gerade diskrete Kichern von Tilly und Leonie.
»Es wäre vorwiegend vormittags und gelegentlich auch mal an einem Nachmittag. Zudem wohnen Sie ja in Notting Hill.«
»Okay.« Es klang nicht übermäßig anstrengend. Wie schwer konnte es schon sein, mit den Kindern ein paar Weihnachtslieder einzustudieren?
Erzähl ihnen, dass du schon was vorhast«, sagte meine Cousine Bella, die mit dem Holzlöffel in meine Richtung wedelte und sich vom Umrühren des Teigs eine kurze Pause gönnte.
Ich hatte nicht vorgehabt, meine neue Aufgabe für unsere Öffentlichkeitsarbeit zu erwähnen, aber sie hatte gefragt, ob ich morgen Zeit hätte, da sie eine Lieferung von Amazon erwartete. »Du musst morgen Nachmittag ein Paket für mich annehmen. Ich habe Tina versprochen, dass ich mich mit ihr in Westfield zum Weihnachtsshoppen treffe.«
Sie wohnte nicht weit von mir in einem dieser Häuser, deren Pastellfarben an Sorbet erinnerten und die dank des Films Notting Hill berühmt waren. Ihres war in einem hübschen Taubenblau gestrichen und schmiegte sich zwischen ein sonnengelbes und ein zartrosa Haus. Wenn ich durch ihre Straße lief, ging mir das Herz auf, was einer der Gründe war, warum ich so gerne hier lebte. Der Weg zu ihr kostete mich nie Überwindung, und manchmal übte ich in ihrem Wohnzimmer, während ich auf ihre Pakete wartete. Drinnen war ihr Haus sogar noch schöner mit seinen großen Räumen mit den hohen Decken, die über und über mit den Möbeln und Wohnaccessoires von John Lewis eingerichtet waren. Die äußerst modische Küche, in der ich gerade saß, war in mehreren Einrichtungszeitschriften und mindestens einer Sonntagsbeilage zur Schau gestellt worden.
»Wann wird das Paket denn geliefert?«
»Irgendwann zwischen zwölf und vier.«
»Ich fürchte, das schaffe ich nicht. Ich könnte gegen halb vier hier sein.«
»Halb vier, nicht früher?«
»Ich bringe Dad zum Flughafen, dann bleibt mir gerade noch genug Zeit, um nach Hause zu fahren, das Auto wieder bei Mum abzustellen und um zwei bei der Schule zu sein.«
»Was sollst du dort denn tun?«, fragte sie.
Ich zuckte die Achseln. »Da bin ich mir nicht sicher. Vermutlich soll ich nur bei den Musikstücken und dem Gesang helfen. Ich wurde gebeten, morgen die Klasse zu treffen, weil sie dann mit den Proben anfangen, also habe ich zugesagt.«
»Oh Gott, du Arme.« Bella verzog das Gesicht. »Da ist das Geheule groß, weil sie alle Maria sein wollen, und ein Dutzend Hirten sind sauer, weil niemand ein Geschirrtuch auf dem Kopf tragen will.«
»Danke, Bel, das ist echt aufbauend!«
»Nun ja, verglichen mit der Tour nach Heathrow ist das sicher ein Kinderspiel.« Bella schüttelte den Kopf. »Hätte er nicht mit der U-Bahn hinfahren können oder mit dem Expresszug von Paddington?«
Ich verzog die Miene. »Mum wollte, dass ich ihn fahre. Es gefällt ihr nicht, wenn er allein mit Gepäck reist.« Ich zuckte die Achseln. »Er ist fünfundsiebzig.«
Bella schnaubte. »Er verreist mit dem Fernflieger und gönnt sich auf der anderen Seite eine Spritztour durch die Staaten. Ich denke, er wäre schon zurechtgekommen.«
Ich auch. Dad joggte noch immer jeden Tag eine Meile, und ich war noch nie einem fitteren, gesünderen Fünfundsiebzigjährigen begegnet – er sah eher aus wie fünfundsechzig –, aber Mum hatte den magischen Satz bei mir verwendet: Ich brauche dich.
»Egal, ich hab’s ihr versprochen. Ich werde es auch so timen, dass ich ihn früh genug abhole, um ohne Stress zur Schule zu kommen.«
»Also, ich finde, die Schule verarscht dich. Die können doch sicher nicht von dir verlangen … Entschuldige, Laura.« Sie drehte sich zu ihrer sechzehnjährigen Tochter. »Vergiss, was ich grad gesagt habe. Die verschaukeln dich.«
»Es ist Arbeit. Da kann ich mich nicht weigern«, erwiderte ich.
»Veralbern, verkohlen, zum Narren halten. Brauchst du noch weitere Synonyme?«, sagte Laura trocken, die uns trotz der Ohrstöpsel plötzlich mit kühlem Blick auf ihre Mutter unterbrach, bevor sie sich wieder ihrem Buch widmete. Sie saß am gegenüberliegenden Ende der riesigen Kücheninsel auf einem der weißen Hocker. Obwohl es mir bei drei Kindern und einem Hund reichlich unpraktisch vorkam, war alles weiß: die Schränke, die dezent glitzernde Arbeitsoberfläche aus Verbundstoff und die Fliesen.
Bella wollte gerade etwas zu ihrer ältesten Tochter sagen, erkannte aber wohl, dass es Zeitverschwendung wäre. Mit der Frechheit einer Jugendlichen hielt sich Laura das Buch genau vor das Gesicht, während ihre beiden jüngeren Schwestern Rosa und Ella – sie waren acht und fünf, auch wenn man die altkluge Ella für hundert hätte halten können – in abgestimmten grellpinken Feenkostümen durch die Küche rasten, Mehl in die Luft warfen und sich von ihrem Feenstaub etwas wünschten. Immerhin würde man es auf dem Boden nicht sehen.
Bella drehte sich zu mir um. »Du kannst dich weigern. Steht es denn in deinem Vertrag?«
»Weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, dass da etwas darüber drinsteht, im angemessenen Rahmen im Namen der LMOC aufzutreten. Wie gesagt, ich habe keine Wahl.«
»Du hast immer eine Wahl«, konterte Bella, die sich stöhnend die Schultern rieb. »Hier, du bist dran. Rosa, Ella, hört auf damit.« Ihr gespielt böser Blick löste nur Kichern aus.
Ich nahm ihr die Rührschüssel ab, und sie fuhr fort: »Erklär ihnen einfach, dass du familiäre Verpflichtungen hast. Wir brauchen dich. Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich tun würde.« Sie schaute zum Kalender. »Zum Glück ist Dave bis Weihnachten wieder zu Hause. Sein aktueller Auftrag dauert schon ewig.«
Ihr Ehemann Dave war Bauingenieur, der an Großprojekten im Ausland arbeitete und gerade in Finnland eine neue Brücke baute.
»Rühr weiter.« Mit dem Kopf deutete sie auf die Schüssel. »Ich hoffe, dass es mir dieses Jahr gelingt und das Obst nicht auf den Boden sinkt.« Sie ließ die Schultern kreisen, während ich tapfer den zähen Teig rührte.
Sehnsüchtig blickte ich zur Kenwood Chef neben uns.
»Das ist nicht dasselbe«, schalt Bella mich, als sie meinen Blick bemerkte. »Christmas Cake sollte immer von Hand gerührt werden. Das ist Tradition. Du machst das großartig.«
Weihnachten feierten wir immer bei Mum, auch wenn das Haus von Tante Gabrielle eindeutig größer war.
Seufzend schüttelte Laura den Kopf. Auch sie war nicht dumm. »Nee, passt schon.«
»Den Versuch war es wert.« Bella grinste mich schamlos an. »Du kannst dich aber nützlich machen und uns ein Glas Wein einschenken.«
»Wirklich? Die Mädchen haben sich gewünscht, dass du ihnen eine Gutenachtgeschichte vorliest, nicht wahr, Mädels?«
»Ja, ja, ja, Tante Vila«, rief Ella. »Jesus feiert Weihnachten!« Sie wedelte bereits mit dem Buch durch die Luft und wanderte um die Kücheninsel, um mich und mein schwarzes Kleid mit ihrem mit Mehl bestäubten Tutu anzustupsen.
»Also gut.« Ich verdrehte die Augen in Bellas Richtung und nahm Ella das abgegriffene Buch aus den Händen.
»Ich weiß«, erwiderte ich mit reumütigem Lächeln, bevor ich die erste Seite aufschlug.