Steve Biddulph
Ein Einladung zur Befreiung
Aus dem Englischen von Christa Broermann
Knaur eBooks
Steve Biddulph, geb. 1953 in England, ist ein australischer Familienpsychologe, der Erfahrungen in der Arbeit mit Problemfamilien, Vietnam-Veteranen, Notfallopfern sowie Opfern von Vergewaltigungen, Trauma und Mobbing gesammelt hat. Er kritisiert den Verlust von familiärer Gemeinschaft und propagiert ein neues Denken im Hinblick auf die Bedürfnisse von Kindern, Männern und Ehepaaren. In den letzten Jahren hat er sich in der Flüchtlingsarbeit sowie für den Klimaschutz engagiert. Biddulphs Bücher sind Weltbesteller und haben in Deutschland zum Teil sechsstellige Verkaufszahlen erreicht, darunter »Das Geheimnis glücklicher Kinder« (2001), »Männer auf der Suche« (2003) und »Wie die Liebe bleibt« (2006, zusammen mit Shaaron Biddulph).
Die englische Orinigalausgabe erschien 2021 unter dem Titel
Fully Human. A New Way of Using Your Mind
bei Bluebird / Pan MacMillan, Basingstoke/London.
Knaur eBook
© 2021 Bluebird/Pan MacMillan UK
© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Christiane Bernhardt, Stuttgart
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Asymme3/shutterstock.com
ISBN 978-3-426-46267-6
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Die preisgekrönte Journalistin Madeleine Bunting schrieb ein wunderbares Buch über dieses Thema: Willing Slaves: How the Overwork Culture is Ruling Our Lives, London 2005.
2
Stroebe, M., Schut, H., Stroebe, W., »Health outcomes of bereavement«, in: The Lancet, Dezember 2007, Bd. 370 (9603), S. 1960–1973.
3
Moon, J. R., Kondo, N., Glymour, M.M., Subramanian, S.V., »Widowhood and mortality: a meta-analysis«, in PLoS ONE, August 2011, Bd. 6(8), e23465.
4
In den USA gab es damals keine Krankenversicherung für alle, sodass nur wohlhabende Menschen oder solche mit guten Jobs eine verlässliche Krankenversicherung hatten.
5
Das ist eine vereinfachte Version, die volle Version, die für die Studie benutzt wurde, findet sich online unter: www.ajpmonline.org/article/S0749–3797(98)00017–8/fulltext
6
Diese Form der Therapie beruhte auf der Transaktionsanalyse (TA); eine Vorläuferin der heutigen kognitiven Verhaltenstherapie und ihr de facto weit überlegen. Die TA beruht darauf, die gesammelten »Tonbänder« der Programmierung durch die Eltern aufzudecken und zu schauen, wie sie sich auf unser Denken und unsere Beziehungen zu anderen auswirkt (daher die »Transaktion«). Aber die Gouldings fügten dem noch die dynamischen, handlungsbasierten Methoden der Gestalttherapie hinzu, von der man sagen könnte, sie sei eine Vorläuferin der Achtsamkeitstherapie, aber wesentlich kraftvoller und intensiver und dazu gedacht, neue Verbindungen im Gehirn rund um lange bewahrte Muster von Selbstimitation und Dysfunktion zu schmieden.
7
Steve Biddulph, »Morrison a ›bad dad‹ for denigrating young climate protesters«, in: Sydney Morning Herald, 1. Oktober 2019, online unter: https://www.smh.com.au/national/morrison-a-bad-dad-for-denigrating-young-climate-protesters-20190930-p52 w63.html.
Doch wir bedenken weniger, als wir wissen;
wir wissen weniger, als wir lieben;
wir lieben sehr viel weniger, als es gibt.
Ronald D. Laing
Du hast ein Hirn im Kopf,
du hast Füße in den Schuhen,
wohin du auch gehen willst,
du kannst es tun.
Dr. Seuss
Ziel dieses Buches ist, dass Sie an geistiger Beweglichkeit gewinnen. In all jenen Etagen Ihres Bewusstseins, deren Vorhandensein Sie bisher kaum wahrgenommen haben, »das Licht anzuknipsen«. Sobald alle Bereiche Ihres Geistes erwacht sind, arbeiten sie von Natur aus harmonisch zusammen, sodass Sie kraftvoller und integrierter in einem erweiterten Raum leben können.
Das Buch beruht auf jüngsten Erkenntnissen der Neurowissenschaften, bezieht aktuelle Verfahren der Psychotherapie ein und stützt sich auf meine lebenslange Arbeit mit Menschen in oft unvorstellbar belastenden Situationen, denen ich helfen wollte, heil zu werden und zu wachsen. Es wendet sich an alle, die das Gefühl haben, das Leben müsse doch eigentlich reicher sein und wir könnten etwas Besseres aus unserem Dasein in der Welt machen.
Zwei Kerngedanken bilden das Herzstück des Buches: erstens der von mir so genannte »Supersinn« – die Art und Weise, wie Ihr Körper Ihnen Botschaften schickt, und zwar in jeder Sekunde Ihres Lebens. Diese Botschaften sind schneller, subtiler und häufig wesentlich klüger als das, was Ihr Bewusstsein zur Wahrnehmung des aktuellen Geschehens beisteuert. Doch die meisten Menschen ignorieren sie völlig.
Zweitens das Bild eines vierstöckigen inneren Hauses, mit dessen Hilfe Sie die zahlreichen Ebenen des Geistes leicht erfassen und zur Zusammenarbeit bewegen können, statt sich von ihnen in verschiedene Richtungen zerren zu lassen (wie das oft der Fall ist). Dieser Gedanke ist so einfach, dass ein fünfjähriges Kind ihn begreifen kann, aber zugleich so tief, dass er auch einem schwer geschädigten Erwachsenen helfen kann.
Das Buch ist reich an eindrucksvollen Geschichten, Entwicklungswegen und Kämpfen, die vielleicht denen in Ihrem eigenen Leben recht ähnlich sind. Aber Sie brauchen nichts weiter zu tun, nur neugierig sein und lesen, obwohl wir auch Übungen mit aufgenommen haben, mit denen Sie den Gang der Dinge beschleunigen können, wenn Sie möchten. Sehr wahrscheinlich werden Sie das, was Sie in diesem Buch lernen, für den Rest Ihres Lebens täglich anwenden.
Ich hoffe, es verändert Ihr Leben und die Veränderungen ziehen Kreise in Ihrer Umgebung, sodass wir gemeinsam das Leben unserer Kinder und Enkel verbessern können. Die Liebe zueinander und zur Natur um uns herum erwächst einfach daraus, dass wir die Verbindungen erkennen, die schon immer da waren. Ihr Geist weiß, wie das geht, Sie brauchen ihn nur aufzuwecken.
Steve Biddulph
Manche Leser möchten zu Recht etwas über den Autor erfahren, ehe sie sich einem Buch anvertrauen. Falls Sie dazugehören, können Sie einige Seiten über mein ungewöhnliches Leben am Ende des Buches finden. Wenn Sie möchten, können Sie zuerst einmal dorthin springen, wenn nicht – legen Sie einfach los!
Andie Lewellyn, Allgemeinärztin mit einer Teilzeitstelle in einer Praxis und Mutter von zwei Mädchen, hatte einen ziemlich guten Tag. Ihre Eltern passten auf die Kinder auf, und sie hatte den Vormittag freigenommen, um sich in der Stadt mit Freundinnen zum Mittagessen zu treffen. Jetzt war sie auf dem Heimweg. Sie stieg an ihrer Haltestelle aus der Stadtbahn aus und ging schnellen Schrittes zum Parkplatz, weil ein kalter Wind blies. Einen Moment lang kämpfte sie mit ihren Taschen und Schlüsseln, bekam das Auto schließlich auf und stieg ein. Aus dem Augenwinkel sah sie eine Gestalt in der Ferne, einen jungen Mann, der auf sie zusteuerte.
Als sie den Motor anließ, war er schon relativ nahe gekommen und rief ihr etwas zu. Er war gut gekleidet, sah recht nett aus und brauchte anscheinend bei irgendetwas Hilfe – vielleicht hatte er etwas verloren oder wollte nach dem Weg fragen. Da sie ein Leben lang gewohnt war, sich höflich zu benehmen, regte sich ihr Gewissen; es ging ihr gegen den Strich, jemanden einfach zu ignorieren. Ihre Hand bewegte sich sogar Richtung Fenster, um es herunterzukurbeln. Aber dann spürte sie, wie sich in ihrer Magengrube etwas ein kleines bisschen zusammenzog, und ganz gegen ihre Art fuhr sie los und, beinahe panisch, schnell an ihm vorbei auf die Straße hinaus. Im Rückspiegel sah sie ihn reglos dastehen und ihr nachschauen. Selbst als sie zu Hause ankam, hatte sie noch heftiges Herzklopfen. »Was ist denn los mit mir?«, dachte sie.
Zurück im häuslichen Trubel, von den Eltern und ihren kleinen Töchtern herzlich in Empfang genommen, schob sie den Vorfall innerlich beiseite. Bis sie am Abend die Nachrichten anschaute. Ein Mann war an einer Stadtbahnhaltestelle von der Polizei festgenommen worden – an ihrer Haltestelle. Er hatte mit vorgehaltenem Messer versucht, eine junge Frau zu entführen, aber sie hatte geschrien und sich gewehrt und das große Glück gehabt, dass genau in diesem Moment zwei weitere Frauen auf den Parkplatz gefahren kamen, woraufhin der Mann floh. Andie brauchte nur ein paar Sekunden, um die Verbindung zu ihrem Erlebnis herzustellen – um Haaresbreite hätte es sie getroffen. Und die arme andere Frau … Als Andies Mann ins Wohnzimmer kam, sah er erschrocken, dass sie zitternd und schluchzend auf dem Sofa saß.
Gemeinsam riefen sie die Polizei. Noch am gleichen Abend kamen zwei Kriminalbeamte zu ihnen und brachten Fotos mit. Andie konnte den Mann als denjenigen identifizieren, der sich ihrem Auto genähert hatte. Sie dankten ihr und sagten, es sei sehr clever von ihr gewesen, dass sie ihm aus dem Weg gegangen sei. (Sie vermieden sorgfältig die Formulierung »entkommen sei«.) Als ihr Mann die Polizisten zur Tür begleitete, begann sie wieder zu zittern.
Andie war bei mir Patientin, als ich als junger Therapeut anfing. Sie blieb an diesem windigen Nachmittag unversehrt und vielleicht auch am Leben, weil sie auf ganz spezielle Signale achtete – buchstäblich auf ihr »Bauchgefühl«. Sie reagierte genauso, wie es nötig war, um ihr Leben zu schützen. Diese Art von vorprogrammierter Reaktion hält die Menschen seit Jahrtausenden am Leben.
In der langen Vorgeschichte unserer Spezies hat es immer Gefahren gegeben, und wir haben hoch empfindliche Sinnesorgane gebraucht, um sicher leben zu können. Ein plötzliches Verstummen der Vögel, eine kaum wahrnehmbare Bewegung zwischen den Bäumen – wir haben zuerst reagiert, und dann hat sich unser Hirn eingeschaltet, um zu überlegen, was wir als Nächstes tun sollten: uns verstecken, weglaufen oder einen Warnruf ausstoßen. Oder uns einfach entspannen und sagen: »Willkommen zu Hause!«
Unser Gehirn ist darin sehr gut; Informationen, die uns durch unsere Sinnesorgane erreichen, werden fast augenblicklich verarbeitet und bewertet, lange bevor wir Zeit haben, nachzudenken oder etwas zu folgern. Das ist Ihr »Supersinn«. Er führt komplexe und subtile Informationen zusammen, um zu entscheiden, welche Wahrnehmungen für Sie wichtig sind. Das tut er in jeder Sekunde des Tages. Ehe die Hirnforschung das richtig erklären konnte, hätte man es als »Intuition« oder »sechsten Sinn« bezeichnet, aber beides stimmt nicht. Vielmehr handelt es sich um eine hoch entwickelte Fähigkeit Ihres Gehirns, Informationen aus Sinnesreizen zuerst blitzschnell zu integrieren und sie dann mit den gesammelten Erinnerungen Ihres ganzen Lebens abzugleichen, um zu sehen, ob da bei Ihnen etwas klingelt. Und dann vollbringt Ihr Supersinn noch ein drittes Wunder – er signalisiert Ihnen, was Sie wahrnehmen müssen. Er löst Körperreaktionen aus, die stark genug sind, um Sie zu warnen – wiederum schneller als Worte –, dass hier etwas dringend Beachtung erfordert. Und wenn Sie, wie Andie, wach genug und in Kontakt mit Ihrem Inneren sind, dann kommt die Botschaft auch bei Ihnen an.
Uns modernen Menschen wurde auf tausenderlei direkten und indirekten Wegen beigebracht, unser Gehirn sei der klügste Teil von uns. Und mit »Gehirn« meinen wir die dünne »Orangenschale« unseres Gehirns (den präfrontalen Kortex), die für das bewusste, verbale Denken zuständig ist, für alles von »Habe ich die Tür abgeschlossen?« bis hin zu »Soll ich mich bei Netflix anmelden?«. Dieser Teil unseres Gehirns ist eindrucksvoll, aber im Vergleich zu unserem Supersinn ist er ein tapsiges Kleinkind. Ihr Supersinn besitzt so unglaubliche Fähigkeiten, dass Sie völlig von den Socken sein werden, wenn Sie ihn erst einmal verstanden haben, aber wir greifen vor – wir haben noch ein ganzes Buch vor uns. Wir besitzen diesen Supersinn, und im Laufe Ihrer Lektüre werden Sie lernen, ihn auf immer höhere Ebenen Ihres Lebens anzuwenden. Allein oder mit einer Familie, bei der Arbeit, mit Freunden und draußen in der Welt. Er ist immer da, nicht nur um für Ihre Sicherheit zu sorgen, sondern um Ihnen kluge Entscheidungen zu ermöglichen und Ihr Glück im Leben zu maximieren. Sie haben ein Leitsystem, das hervorragend, subtil und kraftvoll ist, und in diesem Buch werden Sie lernen, es zu nutzen.
Unser System für die Wahrnehmung innerer Signale (internal sensory system) ist der Kern unserer Menschlichkeit, der Funktionsweise unseres Geistes. Es ist daher ziemlich schockierend, dass wir in der modernen Welt vergessen haben, dass es diese Signale gibt. Wir wurden in der Kindheit nicht dazu ermuntert, auf sie zu hören, und haben nicht einmal eine Sprache, mit der wir über sie sprechen können. Die meisten Menschen nehmen innere Warnsignale zwar vage wahr – in Form von Unruhe oder Bedenken, oder auch positive Signale wie einen Drang oder eine Sehnsucht – aber meist ignorieren wir sie. Das ist keine Kleinigkeit, denn ohne diese Informationen kann es gut sein, dass unser Leben von großen und kleinen Fehlern nur so strotzt. Wir heiraten vielleicht die falsche Person, wählen den falschen Beruf, verpassen bei einem unserer Kinder ein Warnsignal, das sich später als sehr wichtig erweist. Oder wir melden uns nur freiwillig zum Grillen für einen guten Zweck, hätten aber besser die Finger davon gelassen!
Unser Supersinn hat sich entwickelt, um uns als wichtigstes mentales Leitsystem zu dienen; mit seiner Hilfe weiß unser Gehirn, was für uns richtig oder falsch, sicher oder gefährlich ist. Wenn wir den Kontakt dazu verlieren, kann eine ganze Reihe von Dingen schiefgehen. Wir haben dann kein starkes Selbstgefühl – nehmen nicht deutlich wahr, wer wir sind und was wir wollen. Wir können in Beziehungen in die Irre gehen oder müssen zusehen, wie unsere Familie zerbricht. Wenn wir innere Zweifel ignorieren, verlieren wir vielleicht unsere Werte aus den Augen und haben bald das Gefühl, dass unser Leben eine Lüge ist, dass wir nur noch eine Ansammlung von Klischees und Posen sind. Wir tun dann nichts mit Kraft und Authentizität. Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?
Sollte das auch für Sie gelten, bringt Ihnen dieses Buch eine Botschaft der Hoffnung: Wenn Sie in irgendeinem Bereich Ihres Lebens zu kämpfen haben, so ist das etwas, das sich ändern kann. Sie können Ihren Supersinn wieder zum Leben erwecken und allmählich erkennen, wer Sie sind und was Ihnen wichtig ist, Sie können wieder zur Ganzheit finden, und Ihr Leben kann wesentlich reicher werden. Lassen Sie mich Ihnen dies anhand einiger Belege verdeutlichen.
Im Laufe Ihres Lebens sind Sie fast sicher schon Menschen begegnet, die Ihnen auf gute Weise anders und besonders vorkamen. Viel lebendiger und präsenter als die übrigen um Sie herum. Uns allen fallen solche Menschen auf, wir nehmen sie mit unserem Supersinn gleich von Anfang an wahr, und im Laufe der Zeit bestätigt sich unser Eindruck.
Solche Menschen haben oft drei ausgeprägte Merkmale: Erstens ihre Haltung – sie wirken geerdet und lassen sich Zeit, ihre Aufmerksamkeit ist fokussiert, und sie sind ganz bei Ihnen, hier und jetzt. Zweitens ihr Auftreten – sie nehmen sich selbst und die Höhen und Tiefen des Lebens leicht, können aber gleichzeitig überraschend kämpferisch und ernsthaft sein, wenn es wirklich darauf ankommt. Sie schützen andere und die Welt. Man fühlt sich bei ihnen sehr sicher. Und drittens sind sie Nonkonformisten; sie verstehen sich vielleicht gut mit anderen, aber sie leben nicht nach den üblichen Normen. Sie sind sich selbst treu und tanzen nicht einfach nach der verrückten Melodie, die die Gesellschaft vorgibt.
Ohne unseren Supersinn …
heiraten wir vielleicht die falsche Person,
wählen den falschen Beruf, verpassen bei
einem unserer Kinder ein Warnsignal,
das sich später als sehr wichtig erweist.
Oder wir melden uns nur freiwillig zum
Grillen für einen guten Zweck,
hätten aber besser die Finger davon gelassen.
Ein Mensch, der sein inneres Potenzial voll entwickelt hat, sticht aus der Menge heraus. Bei solchen Menschen hat man den Eindruck, dass sie ihre verschiedenen Ebenen stärker integriert haben. Herz, Kopf und Geist weisen in die gleiche Richtung.
Die Hirnforschung entdeckt derzeit nach und nach, dass diese Art von Lebendigkeit ein neurologischer Zustand ist, in dem mehr mentale Fähigkeiten aktiviert sind, und dass er uns allen zugänglich ist. Der Supersinn ist der Ursprung, der Kern, in dem das Personsein seinen Anfang nimmt. Wenn Sie erst einmal Ihren Supersinn zu »lesen« verstehen, können Sie aufwärts zu den Emotionen, zum Denken und einem Gefühl der Verbundenheit mit allem um Sie herum weitergehen. Ihr Bewusstsein ist wie ein Haus mit vielen Stockwerken, und Sie können sämtliche Räume öffnen und sich an dem freuen, was sie zu bieten haben. Wenn Sie auf diese Weise Ihre Fähigkeiten aktiviert haben, werden Sie bald ganz automatisch integrierter, und die Widersprüche zwischen Gefühlen, Handeln und Werten werden sich schrittweise auflösen. Sie werden ganz sein und sich auch so fühlen.
Was dieses Buch Sie lehren möchte, erfordert in manchen Punkten eine neue Art von Aufmerksamkeit, aber das ist nichts Kompliziertes – selbst ein fünfjähriges Kind kann es meistern. Es gibt Ihnen Werkzeuge an die Hand, die Sie für den Rest Ihres Lebens nutzen können, und Sie werden feststellen, dass sie schon vom ersten Tag ihrer Anwendung an eine Veränderung bringen.
Die Ursprünge unseres Supersinns liegen tief in unserer Vorgeschichte. Wir Menschen waren in der Anfangszeit keine besonders vielversprechenden Geschöpfe, als wir in der Savanne herumschlichen und die von den Löwen liegen gelassenen Markknochen aufknackten oder an den Ufern afrikanischer Seen Schalentiere aussaugten.
Wir hatten ebenso scharfe Sinne und ein ebenso fein reguliertes Nervensystem wie ein Leopard oder ein Keilschwanzadler, aber wir hatten keine Klauen und Reißzähne, und wir waren nicht sonderlich groß oder stark. Unser Platz in der Nahrungskette hätte ziemlich weit unten sein können (d.h., wir wären Futter für andere gewesen!), doch eines sprach zu unseren Gunsten: Es war die Fähigkeit, die uns – buchstäblich – nach den Sternen greifen ließ. Diese Fähigkeit war der Schlüssel zu allem, was Menschen je hervorgebracht haben – von Medizin, Kunst und Musik bis zu Tandoori-Hähnchen-Pastete. Wir Mitglieder der Spezies Homo Sapiens sind wie geschaffen für die Kooperation. Unsere Art hat dadurch überlebt und sich ihren Platz in der Welt gesichert, dass sie eng miteinander verbundene Familiengruppen gebildet hat, die füreinander gesorgt und sich gegenseitig geschützt haben, zumindest die meiste Zeit. Allein waren wir Schwächlinge, aber wie so mancher Höhlenbär entsetzt erkennen musste, hatte er, sobald er sich mit einem einzelnen Menschen anlegte, die ganze Sippe am Hals.
Zusammenarbeit verlangt eine Menge Koordination und soziale Kompetenz. Schon ehe wir über Worte verfügten, mussten wir daher wissen, wie wir einander sicher einschätzen, Konflikte vermeiden, Ängste beruhigen und Spannungen beilegen konnten. Wir sind die einzigen Lebewesen, bei denen ständig das Weiße im Auge zu sehen ist, sodass wir die Blickrichtung anderer Menschen verfolgen können. Wir haben ein breiteres Spektrum an emotionalen Gesichtsausdrücken als jedes andere Geschöpf. Das unterstützt uns dabei, die Gemütslage anderer zu deuten, was uns einerseits gefährliche Unmutsausbrüche minimieren hilft, andererseits aber auch Intimität und Spaß ermöglicht, die eine starke Bindungskraft haben. Wir sind auch eine kreative, verspielte und liebevolle Spezies. Besuchern bei Jäger-und-Sammler-Gesellschaften oder anderen indigenen Völkern fällt unter anderem regelmäßig auf, wie viel Wärme, Überschwänglichkeit und unbefangene Zuneigung die Menschen an den Tag legen. (Das war zumindest meine Erfahrung in den 1970er-Jahren in Papua-Neuguinea. Es wird auch wiederholt in Jean Liedloffs Klassiker Auf der Suche nach dem verlorenen Glück: Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit erwähnt, in dem es um die Kindererziehung bei einem indigenen Volk im Amazonasgebiet geht.) Seitdem der Westen zum ersten Mal mit der vorindustriellen Welt in Berührung gekommen ist, wurde zur Kenntnis genommen, dass diese Kulturen heutige Großstadtbewohner wie stocksteife Zombies wirken lassen. Sie haben etwas, das wir verloren haben.
Auch heute noch nutzen wir die blitzschnellen Verarbeitungsprozesse im Gehirn, auf die Andie sich verließ, wenn wir die winzigen Signale der Körpersprache anderer deuten, die Veränderungen ihres Gesichtsausdrucks, ihres Sprachgebrauchs und andere Kleinigkeiten, die nicht zusammenpassen. Daher wissen wir, wenn unserem Kind etwas zu schaffen macht oder es uns nicht die ganze Wahrheit sagt. Oder wenn unser Partner, unsere Partnerin uns etwas verbirgt – und sei es nur eine Geburtstagsüberraschung! Oder wenn ein Geschäftsabschluss oder eine Vereinbarung nicht ganz hasenrein ist. Dieses Signalsystem entstand lange bevor die Menschen die Sprache hatten. Daher ist die Sprache unseres Supersinns körperlich, nicht verbal. Sie können die Signale im Magen oder im Kiefer spüren, in den Schultermuskeln, in den Eingeweiden, in den Genitalien, buchstäblich überall im Körper. Wenn Sie Ihr »Bauchgefühl« finden wollen, dann lenken Sie einfach Ihre Aufmerksamkeit in den Körper, besonders entlang der Mittellinie – Herz, Verdauungstrakt –, aber es kann überall sitzen, da ständig etwas in Ihnen vorgeht. Selbst zum Glück gehört ein eigenes Bauchgefühl.
Wie das funktioniert? Ihre Sinne nehmen jeden Tag von morgens bis abends gewaltige Informationsmengen auf, viel mehr, als Sie bewusst wahrnehmen können. Tief in Ihrem Gehirn werden diese automatisch mit den Erinnerungen Ihres ganzen Lebens abgeglichen. Dann geschieht etwas Bemerkenswertes. Ihr Hippocampus (in dem Ihre Erinnerungen wohnen) spricht mit Ihrer Amygdala (in der Ihre Emotionen wohnen) und schickt Signale an Ihren Vagusnerv (der in Wirklichkeit ein gewaltiges Netzwerk von Nerven zu vielen Organen und darüber hinaus ist). Alles, was Sie davon mitbekommen, ist, dass plötzlich irgendwo etwas Körperliches geschieht – in Ihrem Bauch, Ihrer Kopfhaut, Ihren Schultermuskeln, den Muskeln rund um Ihr Herz oder sogar in Ihren Händen oder Füßen –, das Sie darauf aufmerksam macht, dass Ihr Unbewusstes Ihnen etwas zu sagen hat.
Teile Ihres Körpers werden aktiviert, und Ihr Bewusstsein kann das wahrnehmen und nachfragen. Was ist los? Was ist verkehrt? Das ist eine außerordentliche Fähigkeit, die nur darauf wartet, genutzt zu werden. Sie können jahrelang ein Ziehen im Magen spüren, das mit einem bestimmten Thema oder Aspekt Ihres Lebens zusammenhängt, und dann, wenn Sie eines Tages in sich hineinhorchen und fragen, was es damit auf sich hat, erfahren Sie es.
Die Zusammenarbeit Ihres limbischen Systems (das vollkommen nonverbal arbeitet) mit all den anderen vorbewussten Teilen Ihres Gehirns läuft genauso wie bei unseren Verwandten im Tierreich – wir haben die Wachsamkeit und die Instinkte von Fuchs oder Adler, aber wir haben auch einen Neokortex, der rational denken und schlussfolgern kann. Diese beiden Seiten müssen wir zusammenbringen.
Der Supersinn macht niemals Pause, nicht einmal, wenn wir schlafen. Er befasst sich nicht nur mit der Außenwelt, sondern er reagiert auch auf unsere Gedanken und Ideen. Ich bin mir sicher, dass auch Sie das schon erlebt haben: Ein Gefühl nagt hartnäckig an uns und geht nicht weg. Es kann innerhalb von Minuten auftreten oder sich über Jahre hinweg aufbauen. Etwas ist nicht in Ordnung. Und dann bricht die Botschaft eines Tages in unser rationales, verbales Bewusstsein durch:
Dieser Freund ist kein Freund.
Diese Freundin ist keine Freundin.
Ich gebe mein Kind nicht mehr
zu diesem Betreuer/dieser Betreuerin.
Dieser Job ist nichts für mich.
Ich bin in meiner Ehe nicht sicher,
und es fehlt an Respekt,
das akzeptiere ich nicht mehr länger.
Im Laufe der Jahre wurden mir unzählige Beispiele dafür erzählt. Das folgende ist besonders bewegend. Eine Freundin, die heute Ende vierzig ist, bekam drei Monate nach ihrer Hochzeit Migräne und litt dann beinahe zwanzig Jahre daran. Eines Tages entdeckte sie, dass ihr Mann eine Geliebte hatte und dass die Affäre der beiden kurz nach der Heirat begonnen hatte. Schockiert und mit dem Gefühl, verraten worden zu sein, trennte sie sich wenige Wochen nach dieser Entdeckung von ihm. Die Migräneanfälle hörten auf und kamen nie mehr wieder.
Unser Körper ist erstaunlich, und er spricht ständig mit uns. Wenn wir nicht auf ihn hören, muss er schreien. Irgendwann schaltet sich auch Ihr schnarchnasiges Bewusstsein ein, und Sie überlegen, welche Schritte denn jetzt fällig sind. Aber erst einmal mussten Sie geweckt werden.
Wichtig ist aber hier der Hinweis, dass dieses System für die Verarbeitung von Sinneseindrücken nicht unfehlbar ist und dass Sie unbedingt auch Ihr logisch denkendes Gehirn schnell einschalten müssen. Ihr Alarmsystem kann durch eine zufällig entstandene Erfahrung aus der Vergangenheit fehlerhaft voreingestellt sein, was zu atypischen Reaktionen führen kann.
Emma Shirer lebte als kleines Mädchen in London und war zur Zeit der deutschen Luftangriffe, des »Blitz«, sechs Jahre alt. Solange sie denken konnte, hatte man ihr verboten, jemals selbst die Toilettenspülung zu ziehen, weil sie noch zu klein war, um die Kette zu erreichen, ohne auf die Brille zu klettern. Sie fand das ungerecht und peinlich, und eines Abends zog sie die Kette trotzdem. In genau diesem Moment schlug eine deutsche Bombe im Nachbarhaus ein. Die ganze Außenmauer des Hauses, in dem Emma sich befand, wurde weggerissen, und sie stand da und starrte direkt in den offenen Himmel – noch immer mit der Hand an der Kette!
Ich lernte Emma kennen, als sie schon über siebzig war, und sie erzählte mir, sie hätte noch Jahre später Probleme damit gehabt, eine Toilettenspülung zu betätigen oder überhaupt in irgendeiner Weise auch nur minimal ungehorsam zu sein.
Manchmal wird jemand, dem wir begegnen, etwas in uns »triggern«, weil wir schon früher einmal Erfahrungen mit einer ähnlichen Person gemacht haben (das wird oft als »seelisches Gepäck« bezeichnet). Dann müssen wir sorgfältig überprüfen, ob wir richtigliegen oder nicht. Ich neige dazu, automatisch Menschen mit einem schottischen Akzent zu mögen und ihnen zu vertrauen, weil mir eine junge schottische Jugendarbeiterin namens Jean Grigor in den Teenagerjahren durch eine schwere Zeit half. Fans des Buches Ich, Eleanor Oliphant werden wissen, dass Schotten sehr freundlich sein können, aber das ist kein universeller Charakterzug der Bewohner von Schottland!
Und dann bricht die Botschaft eines Tages
in unser rationales, verbales Bewusstsein durch:
Dieser Freund ist kein Freund.
Diese Freundin ist keine Freundin.
Ich gebe mein Kind nicht mehr
zu diesem Betreuer/dieser Betreuerin.
Dieser Job ist nichts für mich.
Das erst kürzlich entdeckte Phänomen der »unbewussten Vorurteile« (durch die wir, ohne es überhaupt zu wissen, aufgrund von Geschlecht, Religion, Ethnie, Gesellschaftsschicht usw. alles Mögliche über andere Menschen annehmen, Gutes oder Schlechtes) ist ein sehr gutes Beispiel für dieses Gepäck. Zweifelsohne ist es sehr wichtig, unsere unbewussten Reaktionen auf diese und unzählige andere »Kategorien« unter die Lupe zu nehmen, in die wir andere vielleicht einsortieren.
Vor vielen Jahren habe ich einmal Vietnam-Veteranen behandelt, die aufgrund der Grausamkeit und des Schreckens dieses Krieges (bei dem man nie wusste, wer ein Feind war) verständlicherweise sofort extrem wachsam und alarmiert waren, sobald sie irgendwelche Asiaten sahen. Diese Männer mussten vietnamesische Flüchtlinge kennenlernen und sich mit ihnen anfreunden oder jetzt zu Friedenszeiten noch einmal nach Vietnam zurückkehren, um ihre Erinnerungen von diesen schlimmen Assoziationen zu lösen. Ihre Amygdala, der Ort im Gehirn, der für den Schrecken zuständig ist, musste umlernen und erleben, dass man mit Menschen mit asiatischen Gesichtszügen sicher und glücklich sein und Spaß haben konnte. Und dass man genießen konnte, was es in diesem Land zu sehen, zu riechen und zu hören gab. Die Frage »Ist das real, oder gehört das zu meinem seelischen Gepäck?« zu beantworten, ist für jeden wichtig. Dennoch sollten Sie niemals Ihr Alarmsystem übergehen, ohne sich ihm erst einmal zuzuwenden. Wir fahren am besten, wenn wir in eine Art Dialog mit unserem Supersinn treten und ihn befragen, um herauszufinden, was diesen Gefühlen zugrunde liegt. Er hat uns immer etwas zu sagen, und gelegentlich verändert seine Botschaft unser Leben.
Wenn Sie in diesem Buch nach und nach lernen, aufmerksamer auf die Signale Ihres Körpers zu hören, werden Sie davon entzückt sein, wie prompt, hilfreich und spezifisch seine Botschaften sind. Wenn Sie innehalten, um sich auf Ihren Supersinn einzustellen, werden Sie sich ein wenig mehr Zeit nehmen müssen, aber dafür auch viele zeitraubende Fehler vermeiden. Blicken Sie auf Ihr Leben zurück, werden Sie feststellen, dass fast jeder »Ausrutscher« und jedes Schlamassel von frühzeitigen Warnsignalen begleitet war, die Sie blindlings übergangen haben. Sie haben Ihren Supersinn ignoriert und einen saftigen Preis dafür bezahlt. Das gilt auch für die richtig großen Entscheidungen: Welches Fach möchte ich studieren, in welchem Beruf soll ich arbeiten, wo möchte ich wohnen und mit wem möchte ich ein Vertrauensverhältnis oder eine intime Beziehung eingehen? Aus diesem Grund sparen Sie in Wirklichkeit Zeit, wenn Sie sich Zeit nehmen, denn es verhindert zahlreiche Fehlentscheidungen. Und es wird Ihr Leben reicher machen – Entschleunigung beim Essen, in der Schule, in der Liebe, im Urlaub und beim Leben ganz allgemein kann zu überraschend aufregenden Erlebnissen führen, weil Sie spüren und wahrnehmen werden, wie für Sie der beste Weg, durchs Leben zu gehen, wirklich aussieht. Kurz, der Supersinn ist eine geballte Kraft und wartet nur darauf, dass Sie ihn wecken und sich von ihm leiten lassen. Er kann, solange Sie wach sind, jederzeit eingesetzt werden, und in den kommenden Kapiteln werde ich zeigen, wie das geht.
Kurz gesagt, haben uns unsere Vorfahren eine wundervolle Ausstattung vererbt. Deren Kern bildet unser Supersinn, der alles erfasst und anschließend zusammensetzt. Die moderne Welt jedoch nutzt ihn nicht, wir wurden nicht dazu erzogen oder darin geschult, unsere eigenen Messinstrumente lesen oder auf unsere Mikrosignale hören zu können. Wahrscheinlich war ein achtjähriges Kind der Jäger und Sammler vor 250000 Jahren erheblich alltagstüchtiger, fähiger und smarter als Sie und ich.
Diese Ausstattung zur Entfaltung zu bringen, ist die eigentliche Aufgabe echter Psychotherapie. Meine Patientin Andie musste, um gesund zu werden, Ressourcen aller Ebenen ihres Seins aktivieren – ihres Herzens, ihres Verstandes und ihres Gefühls der Verbundenheit mit dem Universum. In ihrem Inneren waren viele Emotionen ineinander verknäult. Nicht nur wegen ihres Erlebnisses auf dem Parkplatz, sondern infolge ihrer gesamten Konditionierung in der Kindheit. Sie musste ihr ganzes Denken über die Welt, in der sie lebte, revidieren. Und am Ende war sie nicht einfach nur »wiederhergestellt«, nicht nur wieder »normal« (was für eine langweilige Vorstellung), sondern ein eigenständigeres Individuum mit einem stärkeren Gefühl von Lebendigkeit, Sinnhaftigkeit und Interesse für ihre Mitmenschen. Und sie war spiritueller, aber in einem geerdeten, kraftvollen Sinne. Jeder in ihrer Umgebung konnte die Veränderung sehen. Sie war nicht nur kuriert, nicht mehr nur einfach ein guter Mensch, sondern hatte sich zu einer erstaunlichen Persönlichkeit entwickelt.
Alles, was in unserem Leben geschieht, sogar Schreckliches und Tragisches, kann dazu verwendet werden, uns höher hinaufzuführen und uns freier, weiser und einfallsreicher zu machen. Doch wir brauchen keine Schreckenserfahrung, um ganz lebendig werden zu können. Babys kommen so auf die Welt. Wir können lernen, die dafür nötigen Eigenschaften bei unseren Kindern zu erhalten, sie so zu fördern, dass sie wild und frei bleiben. Und wir können diese Lebendigkeit in uns selbst wieder erwecken. Darum wird es in den folgenden Kapiteln gehen.
Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, werden Sie in Bezug auf manche Entscheidung oder Situation, vor der Sie standen, sicherlich Bedenken oder ein nagendes Gefühl gehabt haben. Suchen Sie sich ein Beispiel aus, und beschreiben Sie es kurz, wie etwa:
»Diese Person, die ich damals in … getroffen habe.«
»Die Entscheidung, die ich in Bezug auf … getroffen habe.«
»Damals, als ich noch ein Kind war, und …«
Wenn Sie sich damit wohlfühlen, beschwören Sie diese Erinnerung vor Ihrem inneren Auge etwas lebhafter herauf. Achten Sie darauf, ob Sie dabei irgendwelche körperlichen Signale oder Reaktionen wahrnehmen. Können Sie die körperliche Empfindung in Worte fassen – wo tritt sie auf, und wie ist sie beschaffen? ZumBeispiel »In meinem Magen zieht sich etwas zusammen … ich habe ein drückendes Band um die Stirn … mein Herz fühlt sich irgendwie flattrig an.« Üblicherweise wird sich eine bestimmte Stelle deutlich melden.
Lassen Sie sich etwa eine Minute Zeit, einfach bei diesem Gefühl zu bleiben, und achten Sie darauf, was es macht und wie es sich bewegt oder verändert, während Sie die Aufmerksamkeit darauf richten. Dann blinzeln Sie und schauen sich ein wenig um, spüren Ihre Füße auf dem Boden und atmen langsam ein und aus, um die Erinnerung loszulassen. Nehmen Sie wahr: Ja, ich habe diese »Warnlichter«, die in meinem Körper aufleuchten. Vielleicht könnte ich mehr auf sie achten? Sie helfen mir, gut zu leben.
Denken Sie an eine Situation oder Herausforderung, die Sie derzeit in Ihrem Leben umtreibt. An irgendein großes oder kleines aktuelles Thema – bei der Arbeit, zu Hause oder im persönlichen Leben –, das Sie beschäftigt. Welche Körperempfindungen nehmen Sie wahr, während Sie daran denken? Wo treten sie auf – in den Schultern, im Hals, im Bauch, im Gesicht oder in der Brust? Jetzt suchen Sie sich ein Wort, das sie am treffendsten beschreibt: Enge, Hitze, Flattern, Spannung, Schwere, Reißen, Leere oder ein Loch. Es gibt Tausende von Wörtern dafür.
Bleiben Sie einfach mit der Aufmerksamkeit bei dieser Stelle, und nehmen Sie wahr, ob die Empfindung sich verändert oder gleich bleibt oder stärker wird, wenn Sie sie benennen. Später werden wir Ihnen helfen, diese Empfindungen zu verändern, während Sie herausfinden, was sie Ihnen zu sagen versuchen. Nehmen Sie gleich jetzt die Haltung ein, dass das Ihre weise Wildtierseite ist, die Ihnen etwas mitteilt und versucht, Ihnen eine Botschaft zu senden. Schicken Sie diesem Teil Ihrer selbst wohlwollende Gedanken – Sie werden gute Freunde werden, und er wird ein sehr hilfreicher Verbündeter für Ihr Leben werden.
In fast jedem Beruf und an beinahe jedem Arbeitsplatz wird man heute von Zeit zu Zeit zu einem Fortbildungskurs geschickt. Diese Veranstaltungen sind tendenziell so todlangweilig, dass Sie bis zur ersten Teepause schon genauestens Ihre Aktentasche studiert haben. Ich weiß das, weil mich vor einigen Jahren Leute zu kontaktieren begannen, die mich fragten, ob ich ihrem Team einen Vortrag halten könnte. Bei diesen Teams konnte es sich um alles, von Hebammen, Lehrerinnen, Bestattungsunternehmern bis hin zu hochrangigen Polizeibeamten, handeln. »Warum gerade ich?«, erkundigte ich mich dann stets, und man konnte selbst am Telefon ein verschwörerisches Lächeln ahnen: »Weil wir gehört haben«, erklärte man mir vom anderen Ende der Leitung her, »dass bei Ihnen die Leute nicht einschlafen.«
Damals hatte ich eine Familie zu ernähren und nahm diese Aufträge gerne an. Aber ich hatte keine Ahnung von der Arbeit von Hebammen oder Bestattungsunternehmern. Was konnte ich ihnen beibringen, das für ihre hoch spezialisierten und anspruchsvollen Berufe hilfreich war? Die Antwort war nicht schwer zu finden und lautete »menschlich sein«. Soziale Kompetenz – sich selbst und andere verstehen – ist für einen Polizisten auf dem Land ebenso bedeutsam wie für ein Mitglied der Königsfamilie oder einen Anästhesisten.
Ich hatte es dabei mit klugen Menschen zu tun, oft wesentlich klüger als ich, daher war meine Grundhaltung stets, ihre Lebenserfahrung zu respektieren. Wenn der Tag da war und ich vor meinen Zuhörern und Zuhörerinnen stand, stellte ich ihnen nach den einleitenden Worten eine täuschend einfache Frage: »Was ist ein Mensch?« Die Leute sahen im ersten Moment verdutzt aus und begannen dann zu schreiben. Nach ein paar Minuten bat ich sie, in die Runde zu rufen, was sie notiert hatten.
Einige Antworten waren konkret und einfach: »Ein Mensch ist ein Tier«, »ein zweibeiniges Säugetier« oder etwas in dieser Art. Andere Zuhörer sagten, der Mensch sei ein soziales Wesen. Die eher Idealistischen im Raum fügten an, wir hätten ein riesiges Potenzial, wir würden wachsen und lernen. Manche wiesen darauf hin, dass wir Gefühle und Werte und Träume haben. Einige wagten sich auch in den Bereich des Spirituellen vor – wir seien von Gott erschaffen oder Kinder Gottes, oder säkular ausgedrückt, wir bestünden aus Körper, Geist und Seele.
Das ist keine triviale Übung, denn unsere Vorstellung davon, was ein Mensch ist, übt einen mächtigen Einfluss darauf aus, wer wir selbst sind und wie wir mit anderen umgehen. Ein depressiver Mensch wird eine deprimierende Vorstellung vom Menschen haben und ein freundlicher Mensch eine wohlwollende Einstellung. Eine Person voller Wut und Groll wird eine abscheuliche Weltsicht haben. Sie merken sofort, dass es hier um etwas Wichtiges geht. Wenn Sie nicht viel von anderen Menschen halten, dann halten Sie in der Tiefe Ihres Herzens auch nicht viel von sich selbst. Man kann unschwer erkennen, wie leicht das selbstverstärkend werden und völlig aus dem Ruder laufen kann. Ich wiederhole mich hier, weil ich auf keinen Fall möchte, dass Ihnen das entgeht: Wie Sie den Menschen betrachten, ist wahrscheinlich das Allerwichtigste an Ihnen, weil es darüber entscheidet, wie Sie mit all jenen umgehen, denen Sie je begegnen, und wie Sie mit sich selbst umgehen. Deshalb müssen Sie unbedingt dafür sorgen, dass Sie in diesem zentralen Punkt keine falsche Vorstellung haben.
Ich hatte schon viele Patienten, die als Kinder oder Teenager von ihren Eltern mit großem Nachdruck immer wieder zu hören bekamen, sie seien »dumm, faul und nutzlos« oder Schlimmeres. Nur wenige Menschen kommen aus einer solchen Kindheit ohne tiefe Narben heraus. Aber selbst ein Kind aus einer liebevollen Familie, in der es gut behandelt wird, muss noch mit den Botschaften der Welt im Großen fertigwerden. Die Kultur um uns herum verkündet uns, knapp gesagt, wir seien ein einziges großes Habenwollen oder ein einziges großes Ego. Wenn wir darauf hereinfallen – und nur wenige sind völlig immun dagegen –, werden wir niemals glücklich sein. Wollen wir ein erfülltes Leben haben, ist es entscheidend, dass wir die denkbar beste und umfassendste Sichtweise davon haben, was ein Mensch ist und was wir selbst sind. Der ganze Sinn dieses Buches besteht darin, Ihre Auffassung davon, was einen Menschen ausmacht, und was Sie ausmacht, entscheidend zu erweitern.
Die Teilnehmer meiner Ausbildungsseminare kommen regelmäßig und ohne Anstoß von außen zu dem Schluss, dass Menschen zahlreiche Dimensionen haben, dass es Schichten oder Ebenen in uns gibt. Und aus Sicht der Neurowissenschaften trifft das auch definitiv zu: Die Struktur unseres Gehirns und daher auch unser Bewusstsein – das die Arbeitsweise unseres Gehirns widerspiegelt – besteht aus mehreren Schichten. Alte, primitive Reptilienstrukturen liegen ganz unten, während die Schichten der Säugetiere (warmblütig und warmherzig) über diesen liegen, und dann folgen die im engeren Sinne menschlichen Schichten von Einsicht und Empathie ganz außen auf der Oberfläche. Das entspricht auch der Reihenfolge der Evolution – Eidechsen liebkosen und nähren ihre Babys nicht, Säugetiere aber wohl. Und Igel und Dachse machen sich keine Gedanken darüber, wie sie eine gute Schule für ihren Nachwuchs finden!