Kein sicherer Ort
Schriften des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel
Band 35
Ulrike Winkler
Verlag für Regionalgeschichte
Bielefeld 2021
Titelbilder:
Grundriss einer Wohnetage im Margaretenhort in der Haakestraße 98.
© Staatsarchiv Hamburg, Bestand 353-4 Nr. 301.
Margaretenhort in der Haakestraße 98, November 2020.
© Margaretenhort Kinder- und Jugendhilfe gGmbH.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Ev.-Luth. Kirchenkreis Hamburg-Ost und
Margaretenhort Kinder- und Jugendhilfe gGmbH
Alle Rechte vorbehalten
ISSN 1868-047X
ISBN 978-3-7395-1285-3
ISBN 978-3-7395-1385-0 (epub)
www.regionalgeschichte.de
Gestaltung: büro-für-design.de, Martin Emrich, Lemgo
Druck und Verarbeitung: Beltz, Bad Langensalza
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier nach ISO 9706
Printed in Germany
Geleitworte
Dr. Ulrike Murmann
Inka Damerau
Rainer Rißmann
Dank
Editorische Vorbemerkung
Einleitung
Anlass der Studie
Forschungsstand
Potemkinsche Dörfer – Spurensuche in den Akten
Dem Alltag auf der Spur – Leitfadengestützte Interviews als Quellen
Theoretische Rahmung: Der Begriff der Gewalt und die „Territorien des Selbst“
„Sexueller Missbrauch“, „sexuelle Gewalt“, „sexualisierte Gewalt“ – Begriffsdefinitionen
Zum Aufbau der Studie
Der Margaretenhort als Bauwerk
Der „alte“ Margaretenhort in der Nöldekestraße (1907 bis 1969/70)
Der „neue“ Margaretenhort in der Haakestraße (1970/71 bis 1991/92)
„Kleine und Große, Knaben und Mädchen.“ – Die Bedenken des Amtes für Jugend
Alltag im Margaretenhort I
Vorgeschichten und Ankunft
„Kirchengruppe“, „Hippiegruppe“ – Die Gruppen und ihr Ruf
Räume, Dinge, Menschen
„Wir gehen durch das Loch.“ – Räume zum Leben
Dinge für sich
Begegnung mit Menschen
„Tante Inge“ – Die Beziehung zu Leitung und Erzieherinnen
„Ältere“, „Fußvolk“, „Opfer“ – Die Kinder und Jugendlichen untereinander
„Das hat man nicht gelernt.“ – Außenkontakte
Die Beziehungen zu den Kindern und Jugendlichen aus der Perspektive der Erzieherinnen
Tagesabläufe
Am Morgen
Am Mittag
Am Nachmittag
Am Abend
Festkultur
Basteln für den Adventsbasar – Das religiöse Leben
„Mit einer Lebenskerze“ – Geburtstagsfeiern
Ein Hort der Gewalt I
Tage und Nächte: Gewalt durch männliche Mitbewohner und Jugendliche von „außerhalb“
Im Flur – „Fratzengeballer“
Im Badezimmer und im eigenen Zimmer – Vergewaltigungen
Im Keller – „Und da stand schon einer.“
Draußen – „Penis vor Augen“
Heino Maurer* – „Einer von ihnen“
„Hat sie geglaubt, ich mache das freiwillig?“ – Vom Wissen und Schweigen
Leitung und Erzieherinnen
Kuratorium, Gesamtausschuss und Heimaufsicht
Ein Hort der Gewalt II
Gewalt durch Erzieherinnen
„Die Jungs immer untenrum […]“ – Ein übergriffiger Betreuer
Gewalt der Kinder und Jugendlichen untereinander
Gewalt von Jugendlichen gegen „Behinderte“
Gewalt gegen Erzieherinnen
Alltag im Margaretenhort II
Personalprobleme
„Übergroße Ängstlichkeit“, „Unruhe“, „Nägelkauen“ – Die psychischen Probleme der Kinder und Jugendlichen
Sexualerziehung?
Alkohol und Zigaretten, Cannabis und Pattex – Fluchten aus dem Heimalltag
Heimreform – Chance für ein neues Leben?
Die Deinstitutionalisierung des Margaretenhorts
Leben nach dem Margaretenhort
Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
Gesellschaftliche Integration durch Segregation
Wer waren bevorzugte Opfer?
Bindungslosigkeit
Familialisierung und Koedukation. Und das Konzept?
Räume der Angst
Personaldilemma
Gewaltfördernde institutionelle Strukturen
Asymmetrische Kommunikation
Schutz der Institution vor Opferschutz …
… ein fatales Signal
Offene Augen und Ohren
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
Autorin
Hilfe und Anlaufstellen
Diese Studie trägt dazu bei, die sexualisierte Gewalt aufzuarbeiten, die in einem kirchlichen Erziehungsheim in Hamburg-Harburg in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts begangen wurde. Sie dokumentiert und analysiert die sexualisierte Gewalt, die männliche Jugendliche an mindestens zehn Mädchen und einem Jungen verübt haben. Sie hinterfragt die Strukturen und benennt die Ursachen, die diese Gewalttaten ermöglicht haben, und ordnet die Vorfälle historisch und soziologisch ein. Die Studie beruht in wesentlichen Teilen auf den Schilderungen betroffener Frauen, die sich im Frühjahr 2016 über Vertrauenspersonen erstmals an den Ev.-Luth. Kirchenkreis Hamburg-Ost gewandt haben und danach sowohl in seelsorgerlichen Gesprächen als auch in leitfadengestützten Interviews berichteten, was ihnen als Kinder und Jugendliche im Margaretenhort widerfahren war.
Diesen Frauen gebührt mein tief empfundener Respekt und großer Dank. Denn ohne ihr Mitwirken hätten wir nie erfahren, was ihnen unter dem Dach eines kirchlichen Heimes angetan worden ist.
Im Oktober 2016 ist der Kirchenkreis Hamburg-Ost an die Öffentlichkeit gegangen, um über die ersten Erkenntnisse zu informieren und weitere Betroffene sowie Zeugen zu bitten, sich zu melden. Sich an eine Kindheit voller Gewalt, Einsamkeit und Leid zu erinnern aber ist schmerzvoll und enorm belastend.
Im Namen der Ev.-Luth. Kirche in Hamburg danke ich den Frauen für ihren Mut, ihre Offenheit und ihre Bereitschaft, nicht nur einmal, sondern mehrmals über ihre Vergangenheit zu berichten. Ihre Erinnerungen zu lesen, ist berührend und beschämend.
Die Schuld, die unsere Kirche an ihrem Schicksal und an einer Kultur des Schweigens und Wegschauens trägt, ist beträchtlich. Wir haben sie zu bekennen und anzunehmen und bitten diejenigen um Vergebung, an denen wir schuldig wurden. Insofern stellt diese Studie auch keinen Abschluss der Aufarbeitung dar, sondern gibt einen Anstoß, sich als Verantwortliche in Kirche und Diakonie dieser dunklen Vergangenheit zu stellen, um daraus für die Zukunft zu lernen.
Die betroffenen Opfer selbst äußerten den Wunsch, die Missbrauchsstrukturen im damaligen Margaretenhort aufzuarbeiten. Die Pein, die Demütigung und Entwürdigung, die die Mädchen erleiden mussten, dürften nicht verschwiegen werden. Das Versagen von Erzieher*innen und Leitenden sowie die Strukturen, die sexualisierte Gewalt an Schutzbedürftigen zuließen, müssten erforscht und benannt werden, meinten sie. Die Erkenntnisse dieser Forschung sollen dazu beitragen, dass so etwas nicht wieder passiert.
Das Ziel, die teils massive sexualisierte Gewalt im damaligen Margaretenhort aufzuarbeiten, wird mit dieser Studie – soweit es uns derzeit möglich ist – erfüllt.
Die gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse sind jedoch nicht nur für Hamburg-Harburg wertvoll, sondern reichen weit darüber hinaus. Sie sind von exemplarischer Bedeutung. In diesem Umfang wurde das Vorkommen sexualisierter Gewalt unter gleichaltrigen Kindern und Jugendlichen in kirchlichen und öffentlichen Einrichtungen der Erziehungsfürsorge bisher noch nicht wissenschaftlich untersucht. Die Forschungsarbeit richtet sich an Menschen, die heute im pädagogischen Umfeld in kirchlichen ebenso wie in anderen Einrichtungen tätig sind. Sie richtet sich an Lehrende, die junge Diakon*innen, Sozialpädagog*innen und Erzieher*innen aus- und weiterbilden. Und sie richtet sich an Verantwortliche in Kirche und Diakonie, damit die Ergebnisse dieser Forschung Eingang finden in die Präventions- und Schutzkonzepte kirchlicher und diakonischer Einrichtungen.
Diese werden im Kirchenkreis Hamburg-Ost, Nachfolger des ehemaligen Heimträgers, und im Margaretenhort, der mittlerweile als eigenständige gGmbH geführt wird, mit eigenen Schutz- und Handlungskonzepten umgesetzt. Es gibt festgelegte und eingeübte Verfahrensabläufe, die beim Aufkommen eines Verdachts sexualisierter Gewalt greifen. Es gibt unabhängige Meldebeauftragte und Beschwerdestellen und das stetige Sensibilisieren und Einüben einer Haltung der Achtsamkeit gegenüber Schutzbefohlenen und ihren Betreuer*innen. Dennoch geschehen Entwürdigung und Gewalt auch in unseren Einrichtungen. Daher dürfen wir in Kirche und Diakonie nicht aufhören, denen zuzuhören, die sich Hilfe suchend an uns wenden, und die eigenen blinden Flecken anzusehen.
Mein herzlicher Dank geht an Frau Dr. Ulrike Winkler, die uns mit großer Expertise und Klarheit in dem Prozess der eigenen Aufarbeitung begleitet hat. Mit wissenschaftlicher Neugier, Umsicht und Beharrlichkeit hat sie sich der Nachforschungen angenommen. Mit beeindruckendem Feingefühl, mit Besonnenheit und Zugewandtheit hat sie das Vertrauen der betroffenen Frauen gewonnen und die Gespräche mit ihnen geführt. Die Interviews mit ihnen und mit Verantwortlichen in den kirchlichen und städtischen Behörden bilden das Zentrum und den Ausgangspunkt für diese sehr aufschlussreiche Schrift.
Möge die Lektüre dazu beitragen, dass Gewalt fördernde Strukturen in Kirche und Gesellschaft weiter abgebaut werden und unsere Kinder zukünftig behütet und sicher aufwachsen dürfen.
Hamburg, im Dezember 2020
Ein sicherer Ort sollte der Margaretenhort sein. Aber er war kein sicherer Ort für zahlreiche Kinder und Jugendliche in den 1970er und 1980er Jahren.
Im Frühjahr 2016 erhielt der Kirchenkreis Hamburg-Ost Kenntnis darüber, dass es im Margaretenhort in Hamburg-Harburg Anfang der 1980er Jahre zu sexuellen Übergriffen von männlichen Jugendlichen an Kindern und Jugendlichen gekommen ist.
Für den Prozess der Aufarbeitung, der unmittelbar danach einsetzte, haben wir im Beraterstab die klare Entscheidung getroffen, dass es neben zahlreichen Fragen zu damaligen Strukturen der Einrichtung, dem Handeln von verantwortlichen Gremien und dem Handeln von Verantwortlichen selber darum gehen muss, den Betroffenen zuzuhören und ihr eigenes Erleben zum Ausgangspunkt zu machen.
Dass der Evangelisch-Lutherische Kirchenkreis Hamburg-Ost als Gesellschafter mit seinem Verwaltungsrat die Chance zur Aufarbeitung bekommen hat, ist zuallererst dem Mut der Betroffenen zu verdanken, die über das ihnen Widerfahrene berichteten.
Dafür bedanke ich mich von ganzem Herzen bei ihnen.
Wir können nun mit großer Konzentration darangehen, die Arbeitsweisen und Strukturen der aufsichtlichen Gremien in der Vergangenheit kritisch zu reflektieren. Auf dieser Grundlage müssen wir uns daraufhin befragen, ob die aufsichtliche Verantwortung in Gegenwart und Zukunft in guter Weise wahrgenommen wird.
Mein Dank geht auch an Frau Dr. Ulrike Winkler, die mit zugewandter offener Klarheit und professionellem Blick ermöglicht hat, dass wir heute diese Studie vorlegen können.
Die Erlebnisse von massiver sexualisierter Gewalt, über die die Betroffenen berichteten, sind grauenvoll, und wir müssen uns heute auch der Frage stellen, warum die Betroffenen damals und danach über einen so langen Zeitraum damit alleine gelassen wurden. Tatsächlich hat es immer wieder Hinweise von Betroffenen über Gewalt und Übergriffe gegeben, damals und bis in das Jahr 2007, dem 100-jährigen Jubiläum des Margaretenhorts, hinein.
Mit der Erfahrung massiver sexualisierter Gewalt das eigene Leben gestalten zu müssen, ist eine große Herausforderung. Sie prägt die Gegenwart der Betroffenen bis heute. Zugleich bleibt das Geschehene prägender Teil der Gegenwart des Margaretenhortes sowie des Gesellschafters und seiner Gremien, mehr noch, die Vergangenheit muss die Auseinandersetzung über die richtigen Handlungsschritte für gute Prävention und Schutzkonzepte prägen.
Für die Gegenwart und Zukunft hat der Margaretenhort bereits begonnen, mit dem Wissen des Geschehenen Maßnahmen und Prozesse zur Prävention zu entwickeln und zu implementieren. Als Gesellschafter und Verantwortliche in den Gremien werden wir uns in den nächsten Monaten darauf befragen, in welcher Weise eine gute Rahmung für Prävention von eben diesen Gremien zur Verfügung gestellt werden kann und muss. Prävention ist kein einzelnes Projekt, sondern ein dauerhafter Prozess. Unser Ziel muss es sein, in den Bereichen und Einrichtungen von Kirche und Diakonie die Menschen, die uns vertrauen, vor Grenzüberschreitungen und Gewalt in Zukunft besser zu schützen.
Die vorliegende Studie ist das Ergebnis eines komplexen Prozesses und ihre Veröffentlichung eine große Chance dafür, das Nichtgehörte zu hören und besprechbar zu machen, Haltung zu entwickeln und Strukturen einzuziehen, die sexualisierte Gewalt und das daraus resultierende Leid für die Betroffenen nicht länger in Schweigeräumen belässt.
Sie ist ein erster Meilenstein auf einem noch längeren Weg von Aufarbeitung und Erkenntnis für zukünftiges Handeln. Dafür bin ich allen, die diesen Prozess nach Kräften unterstützt haben, sehr dankbar.
Nehmen wir die Aufgabe an!
Hamburg, im Dezember 2020
Es war kein einfacher Weg, auf dem diese Studie entstanden ist, und ich bin der Verfasserin Frau Dr. Ulrike Winkler sehr dankbar, dass sie mit hoher fachlicher Expertise und Einfühlungsvermögen vielfältige Ergebnisse über diese dunkle Zeit des Evangelischen Kinderheims Margaretenhort in der Haakestraße zusammengetragen hat. Danken möchte ich auch besonders den Menschen, die sich für die Beauftragung dieser Studie stark gemacht und diese ermöglicht haben!
Als Geschäftsführung des Margaretenhorts heute möchte ich Sie an meinen Gedanken zu diesem Thema teilhaben lassen. Mögen meine und Ihre Auseinandersetzungen mit den Geschehnissen und dem Thema sexueller Gewalt dazu beitragen, sexualisierte Gewalt häufiger und schneller aufzudecken und – besser noch – zu verhindern.
Seit Juli 2016 bin ich als Geschäftsführung für den Margaretenhort verantwortlich. Der Aufarbeitungsprozess, der sich damals in einer ersten Planungsphase befand, war bereits in meinen Bewerbungsgesprächen mit dem Auswahlgremium Thema.
Dieser besondere Aspekt meiner Rolle der Geschäftsführung beinhaltet für mich die Verantwortung und die Bereitschaft, ansprechbar zu sein.
Ansprechbar für die Menschen, die in den 1970er und 1980er Jahren die sexuellen Gewalterfahrungen erlebt haben, und die über die Geschehnisse bis zu dieser Aufarbeitung nicht „offiziell“ sprechen konnten. Ansprechbar für Zeitzeug*innen, die über die eigene Sicht und das Wissen aus dieser Zeit berichten wollen. Ansprechbar für Mitarbeiter*innen, die damals im Ev. Kinderheim Margaretenhort in der Haakestraße gearbeitet hatten, teilweise heute noch Kolleg*innen im Margaretenhort sind und ihre Perspektive beitragen möchten.
Mit der systematischen Vergegenwärtigung der sexuellen Gewaltereignisse im Ev. Kinderheim Margaretenhort in der Haakestraße und der Bearbeitung der damit verbundenen Fragen danach, was damals passiert ist, verschwand der Zeitunterschied für mich. Dass mehr als 30 Jahre zwischen den bekannt gewordenen Vorfällen sexueller Gewalt und heute liegen, ist für mich in der Auseinandersetzung mit den Menschen und Ereignissen kaum spürbar.
Die betroffenen Menschen, die ihre Geschichte zur Verfügung stellen, haben die Erinnerungen daran, wie die Gegenwart, aber bei sich – für sie bleiben sie spürbar!
Eine meiner prägendsten Erfahrungen aus dem bisherigen Aufarbeitungsprozess besteht darin, dass die verantwortlichen Leitungen, Geschäftsführungen und Aufsichtsgremien der 1970er und 1980er Jahre bis in die jüngste Zeit hinein die Verantwortung für das Geschehen in ihrer jeweiligen Rolle offenbar nicht so wahrgenommen haben, wie ich es heute für mich als Geschäftsführung verstehe und als Verpflichtung ansehe.
Meine eigene Fassungslosigkeit über das teilweise bis heute andauernde Schweigen und Nichthandeln ist mir wichtig auszusprechen. Ein Aspekt des Aufarbeitungsinteresses bezieht sich daher auf die Bedingungen, unter denen diese Ereignisse geschehen konnten, um zu erkennen, zu verstehen und um daraus zu lernen. Mir geht es insbesondere darum zu erfahren, warum das Schweigen so lange möglich war! Das Schweigen, das die Betroffenen über einen langen Zeitraum „ungehört“ bleiben ließ!
In diesem Verständnis will ich weiterhin gesprächsbereit bleiben, insbesondere auch für ehemalige Verantwortliche für das Gewaltvorkommen im Ev. Kinderheim Margaretenhort!
Der aus meiner Sicht wesentliche Grundsatz für die Aufarbeitung heißt: Den Menschen glauben, die von ihren Gewalterfahrungen berichten!
Damit erkenne ich als ein Verantwortlicher des Aufarbeitungsprozesses an, dass massive sexuelle Gewalt ausgeübt wurde!
Ich erkenne an, dass für jeden einzelnen betroffenen Menschen die Auswirkungen dieser Gewalthandlungen bis heute andauern! Es bleibt ungeklärt, ob die individuellen Verletzungen, unter denen die Opfer dieser Gewalt erkennbar bis heute leiden, in irgendeiner Weise gemildert oder ausgeglichen werden können.
Mit diesem wissenschaftlichen Bericht ist die Aufarbeitung nicht abgeschlossen – aus meiner Sicht beginnt sie damit erst und hat eine fundierte Diskussionsgrundlage erhalten!
Der vorliegende Bericht zeigt die Übereinstimmung der individuell von Betroffenen und Zeitzeug*innen geschilderten Sachverhalte mit Daten aus Archiven und weiteren zugänglichen Quellen.
Mit der Beschreibung dessen, was die Opfer erlebt haben, erhält ihr durchlebtes Leiden sowohl eine erkennbare „Stimme“ als auch „Gehör“, und wird in Teilen mitfühlbar.
Nun können wir auf dieser fundierten Basis mit Menschen ins Gespräch gehen! Dabei wünsche ich mir nicht allein den Blick auf die Opfer. Ich wünsche mir als Geschäftsführung des Margaretenhorts heute, dass die Verantwortung für Offenheit und Öffentlichkeit geteilt wird und das Schweigen nicht dadurch fortgesetzt wird, „nur“ die Opfer in den Fokus zu nehmen.
Ich wünsche mir Gespräche darüber, ob es tatsächlich auf der 100-Jahrfeier des Margaretenhortes im Jahr 2007 Hinweise an Leitungen auf die sexuellen Gewalttaten in den 1970er und 1980er Jahren gegeben hatte. Wie gehen wir heute damit um, wenn wir als Pädagog*innen ein „mulmiges“ Gefühl haben, dass hinter der geschlossenen Tür eines Jugendlichen vielleicht doch nicht das Fahrrad repariert wird, sondern etwas Unrechtes geschieht? Ich wünsche mir auch Gespräche mit älteren und jüngeren Kolleg*innen darüber, wie sie über die Historie denken und welche Ableitungen sie für sich daraus ziehen. Es braucht den offenen Austausch über unser pädagogisches Erleben und Handeln im Heute.
Die Betroffenen und die Zeitzeug*innen, die sich zu Gesprächen für diese Studie bereiterklärt hatten, bekommen über die nun vorliegende Studie „ihre Stimme“. Ihre Erlebnisse werden wirklich.
Es ist wünschenswert, dass es ebenfalls Studien gäbe, die die Tatbeschuldigten und auch die Verantwortlichen, die für diese Schutzbefohlenen und für die Mitarbeiter*innen zuständig waren, in den Fokus nähmen. Durch ihre Schilderungen des Erlebten und ihre Reflexionen könnten wir noch besser verstehen.
Und es würden weitere wichtige Perspektiven und Fakten sichtbar, die für ein Lernen, das dem Verhindern solcher sexuellen Gewalttaten verpflichtet ist, notwendig sind!
Parallel zu dem Aufarbeitungsprozess haben wir im Margaretenhort viele und breit angelegte Diskussionen im Zusammenhang mit unserer heutigen pädagogischen Praxis geführt. Die Ergebnisse mündeten in neue strukturelle Rahmungen der alltäglichen pädagogischen Arbeit. Diese umfassen den fortwährenden Aufbau und Erhalt einer breiten fachlichen Kompetenz unserer Kolleg*innen sowie nachvollziehbare hierarchische Strukturen, innerhalb derer Verantwortung delegiert wird, um Grenzüberschreitungen und Gewaltausübung präventiv entgegenzuwirken bzw. zu verhindern.
Fachliche Standards wurden ausgebaut bzw. entwickelt – u.a. durch Fort- und Weiterbildungen zu sozialpädagogischem Fallverstehen, Case-Management, systemischer Arbeit, Traumapädagogik, psychiatrischen und psychosozialen Themen – und ein neues Schutzkonzept erarbeitet, das für alle Mitarbeiter*innen als fachliche Basis und Verpflichtung dient.
Die Leitungsstruktur wurde mit Stellenbeschreibungen vereinheitlicht und Verantwortung sowie Handlungskompetenzen für Zuständigkeitsbereiche und Umsetzungsentscheidungen schriftlich delegiert. Begleitend werden interne Kommunikationsformen verändert und weiterentwickelt.
Diese strukturellen und qualifizierenden Schritte sind kein „Allheilmittel“ gegen Grenzüberschreitungen und Gewalt. Allerdings geht damit einher, dass die so wichtige Auseinandersetzung mit Situationen „in Grenzbereichen“ – in denen persönliche Grenzen von Menschen gefährdet sind oder übertreten werden – zunimmt. Neben einer Stärkung, fachliche Kriterien zur Einschätzung einer Situation anzuwenden, kann eine Sensibilisierung für diffuse und komplexe Zusammenhänge entstehen, durch die dann Fragen zur Klärung von unklaren Situationen gestellt werden können. Es kann selbstverständlicher werden, über Unsicherheiten zu sprechen, und es ist doch ein Erfolg, wenn sich eine geäußerte, Vermutung zu einer Grenzüberschreitung nicht bestätigt und insbesondere, wenn sie sich bestätigt!
Das Sprechen (über Situationen, die gesellschaftlich mit einem Tabu belegt sind) zu üben, wird noch länger eine anspruchsvolle fachliche Anforderung an unsere pädagogischen Professionen sein.
Wir gehen diesen Weg weiter!
Hamburg, im Dezember 2020
Dieses Buch geht auf einen Auftrag des Ev.-Luth. Kirchenkreises Hamburg-Ost zurück. Ich danke Frau Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann sehr herzlich für das in mich gesetzte Vertrauen und die jederzeit wertschätzende und konstruktive Zusammenarbeit.
Ein großer Dank geht an die Mitglieder des Berater*innenstabes, der dieses Projekt begleitete. Diesem gehörten – zu unterschiedlichen Zeitpunkten – an: Frau Dr. Ulrike Murmann, Frau Inka Damerau (Leitung Bereich Diakonie und Bildung, Vorsitzende des Verwaltungsrates des Margaretenhorts), Herr Rainer Rißmann (Geschäftsführer des Margaretenhorts), Frau Claudia Sigl (ehemalige pädagogische Leitung des Margaretenhorts), Herr Jörg Lohgard (Bereichsleiter Margaretenhort), Frau Pröpstin Carolyn Decke sowie die Mitarbeiter*innen des Kirchenkreises Hamburg-Ost: Herr Rainer Kluck (ehemaliger Präventionsbeauftragter), Herr Remmer Koch (Pressesprecher), Herr Wolfgang Främke (Leitung Kommunikation und Medien), Frau Katrin Munz (Leitung der Fachstelle Prävention) und Frau Jette Heinrich (unabhängige Meldebeauftragte). Die Genannten haben ihre jeweiligen Perspektiven und Expertisen in die langen gemeinsamen Diskussionen eingebracht und auf diese Weise wertvolle Beiträge zum Gelingen des Projektes und zur Entstehung des Buches geleistet.
Für eine professionelle organisatorische Unterstützung bin ich Frau Corinna Schneemann, Frau Claudia Müller und Frau Gabriele Schott zu Dank verpflichtet.
Frau Dipl.-Psychologin Lisa-Marina Fritz führte Gespräche mit Menschen, die auf verschiedene Weise mit dem Margaretenhort verbunden waren oder sind. Hierfür danke ich ebenso herzlich wie für die Expertise von Herrn Michael Fricke, Fachanwalt für Medien- und Urheberrecht.
Herrn Albrecht Schmidt-Sondermann, Geschäftsführendes Mitglied des Verbandsvorstandes des Ev.-Luth. Gesamtverbandes Harburg, danke ich für wichtige Informationen zur Geschichte des Gesamtverbandes. Danken möchte ich auch dem ehemaligen Propst Herrn Jürgen F. Bollmann für seine Auskünfte.
Ein weiterer herzlicher Dank gebührt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der von mir besuchten Archive. Sehr hilfsbereit und kompetent haben mich Frau Heike Nowicki (Archiv des Ev.-Luth. Kirchenkreises Hamburg-Ost), Frau Britta Leibold und Frau Julia Wannagat (Staatsarchiv Hamburg), Herr Karl H. Hoffmann (Hamburgisches Architekturarchiv) und Frau Birgit Spatz-Straube (Archiv des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung, Berlin) bei meinen Recherchen unterstützt.
In kollegialer Dankbarkeit bin ich der Wissenschaftlichen Leitung des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte (IDSG) an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel verbunden, namentlich Herrn em. Prof. Dr. Matthias Benad, Frau Dr. Ursula Krey, Herrn Prof. Dr. Thomas Kuhn, Herrn Prof. Dr. Andreas Müller und Herrn apl. Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl, die die Aufnahme dieses Buches in die Schriftenreihe des IDSG befürworteten. Herrn Prof. Dr. Thomas Kuhn danke ich zudem für weiterführende Anregungen, Herrn apl. Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl für manches wichtige Gespräch.
Wieder einmal war die Zusammenarbeit mit Herrn Martin Emrich (Satz und Layout) professionell und angenehm. Herrn Olaf Eimer vom Verlag für Regionalgeschichte im Aschendorff Verlag sei ebenfalls gedankt.
Für seine fortwährende Unterstützung und sein unausgesetztes Interesse an meiner Arbeit danke ich Rolf Winkler von Herzen.
Mein größter Dank geht an meine Interviewpartnerinnen und Interviewpartner. Ohne ihren Mut und ihre Offenheit hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können. Dass sie mir über ihre Erlebnisse während ihrer Zeit im Margaretenhort berichteten und mir ihr Vertrauen schenkten, berührt mich immer noch sehr. Darüber hinaus haben mich diese Begegnungen persönlich bereichert, bin ich doch Frauen begegnet, die ihr Leben mit Kraft und Würde in die Hand genommen haben – trotz alledem.
Trier, im Dezember 2020
Ulrike Winkler
In diesem Buch werden nur wenige Frauen und Männer mit ihrem Klarnamen genannt. Dies sind die damaligen Leitungsverantwortlichen des Margaretenhorts, Vertreter des Diakonischen Werks Hamburg, Pfarrer sowie Behördenmitarbeiter. Die Namen aller Bewohnerinnen und Bewohner sowie jene der Beschäftigten des Margaretenhorts sind dagegen durch frei erfundene Pseudonyme ersetzt. Gekennzeichnet sind diese Namen mit einem Sternchen (*). Bei ihrer ersten Nennung wurden alle Namen kursiv gesetzt. Hinweise, vor allem biographische Details, die Rückschlüsse auf die Identitäten dieser Personen geben könnten, wurden weggelassen. Zwei Interviewpartnerinnen konnten trotz wiederholter Bemühungen nicht erreicht werden, damit sie ihre Äußerungen autorisieren. Daher werden sie nicht wörtlich zitiert, ihre Aussagen sind jedoch paraphrasiert in diese Studie eingeflossen. Ihre Interviews wurden mit zwei Sternchen (**) gekennzeichnet.
Die konsequente Anonymisierung bzw. Pseudonymisierung dient vor allem dem Schutz der Betroffenen und derjenigen, die heute noch in irgendeiner Weise mit dem Margaretenhort verbunden sind. Dass auch die Beschuldigten nicht mit ihrem Klarnamen genannt werden, ist der Intention dieser Studie geschuldet, sowohl Dokumentation als auch eine unabhängige wissenschaftliche Untersuchung zu sein.[1] Es ging vorliegend nicht darum, die Vorlage für eine forensische Untersuchung zu erstellen, die im Übrigen wohl ohne Folgen bleiben würde. Waren doch zum einen verschiedene Tatbeschuldigte zum Zeitpunkt ihrer Handlungen noch nicht strafmündig,[2] zum anderen greifen Verjährungsfristen.[3]
Am Ende des Buches gibt ein Register einen Überblick über die wenigen Personen, die unter ihrem wirklichen Namen auftreten. Rechtschreibung und Zeichensetzung in den Zitaten wurden – soweit nicht anders angegeben – behutsam den heute geltenden Regeln angepasst.
In den Interviews, aber auch in den Schriftquellen ist in aller Regel von „Erziehern“ die Rede, obgleich „Erzieherinnen“ gemeint waren. Ähnliches galt für die Psychologinnen, die von den damals Verantwortlichen mit der männlichen Berufsbezeichnung belegt wurden. Diese sprachlichen Ungenauigkeiten wurden aus Gründen der Authentizität beibehalten.
Im Margaretenhort in Hamburg-Harburg erlitten mindestens zehn Mädchen im Alter von etwa zwei bis 15, 16 Jahren und mindestens ein kleiner Junge in den 1970er und 1980er Jahren teils massive Gewalt. Männliche Bewohner und Jugendliche von außerhalb beschimpften, schlugen, nötigten und vergewaltigten sie. Wie konnte dies in einem christlichen Heim geschehen? Wieso wurde den Opfern nicht geglaubt, als sie ihren Erzieherinnen von diesen Vorfällen berichteten? Welche Faktoren und Strukturen ließen eine Kultur des Wegschauens und des Verschweigens entstehen und sich schließlich verfestigen? Wer trug dafür die Verantwortung? Gab es – jenseits der Gewalt – auch so etwas wie einen „normalen Alltag“ im Margaretenhort? Oder war die Gewalt die „Normalität“?
Antworten auf diese und andere drängende Fragen suchten die Betroffenen ebenso wie die Geschäftsführung des Margaretenhorts und der Ev.-Luth. Kirchenkreis Hamburg-Ost als Nachfolgerin des ehemaligen Heimträgers, des Ev.-Luth. Gesamtverbandes Hamburg-Harburg. Diese verstörenden Vorgänge zu untersuchen, zu analysieren, einzuordnen und zu dokumentieren, ist das Ziel der vorliegenden Studie. In ihrer Darstellung zur Geschichte des Margaretenhorts ist sie einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive verpflichtet. Eine Untersuchung unter kriminologischen, erziehungswissenschaftlichen, psychologischen oder gendertheoretischen Gesichtspunkten hätte sicher weitere wichtige Erkenntnisse erbracht und soll an dieser Stelle angeregt werden.[4]
Obgleich es bereits in der Vergangenheit sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit immer wieder Stimmen gab, den „sexuellen Missbrauch durch Kinder und vor allem Jugendliche […] nicht länger“ zu unterschätzen, stehen Forschungen zur Prävalenz sexueller und sexualisierter Gewalthandlungen zwischen Gleichaltrigen bzw. zwischen Kindern und Jugendlichen noch am Anfang. Dies gilt vor allem für den deutschsprachigen Raum.[5] Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Festzustellen ist in der Tat, dass die meisten Umfragen unter Kindern und Jugendlichen in aller Regel lediglich allgemeine Angaben über deren sexuelle Gewalterlebnisse erhoben haben und ihre Fragestellungen nicht auf sexualisierte „Peer Violence“[6] spezifiziert hatten. Um dieser Forschungslücke in einem ersten Schritt zu begegnen, förderte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ab 2013 ein deutschlandweites Forschungsvorhaben mit dem Titel „Sprich mit! – Erfahrungen von Jugendlichen zu sexueller Gewalt.“ Befragt wurden 153 Jugendliche, die in Einrichtungen der Jugendhilfe lebten, sowie 169 Mädchen und Jungen in Internatsunterbringung.[7] Über die Hälfte der Befragten gab an, schon einmal sexuelle Gewalt erlebt zu haben. Darüber hinaus zeigte diese Studie, dass die „Jugendlichen insbesondere von Gewalt durch Gleichaltrige betroffen“ waren, und rügte die Unterschätzung dieser Gefahr.[8]
Historische Forschungen zur Gewalt im evangelisch-diakonischen Heimkontext, die seit dem 2006 erschienenen Buch „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter Wensierski (* 1954) wieder Fahrt aufgenommen haben, nahmen sich zwar der Frage der Gewalt in pädagogischen Beziehungen an, fokussierten ihr Erkenntnisinteresse aber sehr auf die Taten des erwachsenen Personals gegen die ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Diese Schwerpunktsetzung lag indes nahe, bildete doch gerade das (späte) Bekanntwerden des gewalttätigen Handelns von Erziehern und Erzieherinnen, Diakonen und Diakonissen in den Regel den Untersuchungsanlass.[9]
Dabei wurden auch Fälle sexualisierter Gewalt unter den in diakonischen Heimen untergebrachten Kindern und Jugendlichen dokumentiert. So praktizierten Zöglinge in Freistatt, einer Dependance der von Bodelschwinghschen Anstalten im Diepholzer Moor, bei Neuankömmlingen regelmäßig das Ritual der „Schwarzen Hand“. Dabei wurde der Mitbewohner gewaltsam ausgezogen und dessen Genitalbereich mit schwarzer Schuhcreme beschmiert. Danach wurde er gezwungen, sich mit kaltem Wasser zu waschen, und zwar so lange, bis die Verschmutzung verschwunden war.[10] Im Evangelischen Johannesstift in Berlin mussten schwächere Zöglinge anderen stärkeren für „sexuelle Dienstleistungen“[11] zur Verfügung stehen. Besonders schlimm traf es ein 16-jähriges Mädchen im Heim „Am Finkenberg“, dessen Trägerin die damaligen Diakonischen Werke Himmelsthür waren. Stundenlang war die Jugendliche von sechs Mitbewohnerinnen gequält worden. Vollständig entblößt, musste sie ihren Urin trinken. Glühende Perlen eines Rosenkranzes wurden ihr auf die Fußsohlen und die Oberschenkel gedrückt. Schließlich schoben die Täterinnen ihrem Opfer Zahnpasta in die Scheide und den After. Dem gequälten Mädchen gelang die Flucht, die Polizei griff es auf und führte die Verletzte einem Amtsarzt vor. Die Leitung Himmelsthürs erfuhr erst aus der Presse von den Missständen in ihrem Verantwortungsbereich.[12] Diese Gewaltvorfälle ereigneten sich in den frühen 1960er Jahren sowie 1974. Das Wissen darüber verdankte sich leitfadengestützten Interviews mit Betroffenen sowie akribischen Aktenrecherchen.
Eine systematische Untersuchung zur Gewalt unter Kindern und Jugendlichen in konfessionellen und öffentlichen Einrichtungen der Erziehungsfürsorge, auch und gerade nach „1968“,[13] ist jedoch noch ein Forschungsdesiderat. Dabei ist insbesondere die „Reformepoche“ zwischen den frühen 1970er Jahren bis in die Mitte der 1980er Jahre von großem Interesse. Vollzog sich doch in dieser Zeit – unter einem inneren und einem äußeren Reformdruck – ein grundlegender pädagogischer Wandel in den Erziehungsheimen. Moderne, auf Partizipation und Mitbestimmung setzende Erziehungskonzepte wurden aufgelegt, Heimbeiräte ins Leben gerufen, Hausordnungen gelockert, der Kontakt mit der Außenwelt aktiv gesucht, Gruppen verkleinert, jüngeres, einschlägig qualifiziertes Personal eingestellt und vieles andere mehr. Entscheidungsleitend für die Heime war die Absicht, von den bis dahin praktizierten repressiven Erziehungsmethoden abzukommen und grundsätzlich mehr Freiheit zu wagen. Wenn dies aber mit der Aufgabe von Professionalität, Rollenklarheit und Verantwortungsbewusstsein verbunden war, konnten sich Strukturen verfestigen, die gewalttätiges Handeln erneut begünstigten.
„Aufgenommen werden Kinder und Jugendliche, Kinder vom ersten Lebensjahr an; Jugendliche möglichst nicht älter als dreizehn, vierzehn Jahre. Das Verbleiben im Heim kann durch den Besuch weiterführender Schulen und Berufsausbildungen über das 18. Lebensjahr hinaus ermöglicht werden. Das Heim führt freiwillige öffentliche Erziehungshilfe, angeordnete Fürsorgeerziehung nach JWG und Eingliederungshilfe nach dem BSHG durch. Schwerpunkte der Arbeit liegen u.a. in den Bereichen der Heil- und Sonderpädagogik für Kinder mit leichten psychisch bedingten Verhaltensstörungen, z.B. Verwahrlosungserscheinungen, Lernbehinderungen, Sprachstörung u.a. [sowie] hirnorganischen Behinderungen.“[14]
Mit diesen Worten beschrieb das „Evangelische Kinderheim Margaretenhort-Vollheim“ Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre in einem Werbeprospekt sein Tätigkeitsfeld und verwies weiter auf den „speziellen Ansatz der Arbeit“: „Neben dem heil- und sozialpädagogischen Angebot besteht für die Kinder die Möglichkeit, ein echtes Zuhause im Heim zu finden.“
Folgt man den wenigen überlieferten gedruckten Schriftquellen, etwa Chroniken oder Zeitungsartikel, dann scheint der Margaretenhort seinen Schutzbefohlenen in der Tat ein „echtes Zuhause“ geboten zu haben. Aus den ungedruckten Schriftquellen – Kuratoriumsprotokolle, Berechnungen, Schriftwechsel mit Behörden, Bewerbungsschreiben, Gesprächsnotizen, Dienstanweisungen, pädagogische Konzepte usw. – erfährt man darüber hinaus einiges über strukturelle Probleme, zum Beispiel zu baulichen Mängeln, zu Finanzierungslücken, zu Personalengpässen sowie zur fehlenden Qualifikation und zur Arbeitsüberlastung der Heimleitung und der Beschäftigten. Hin und wieder war auch von den multiplen Problemlagen mancher Kinder und der Reaktion der Erzieherinnen auf deren herausforderndes Verhalten zu lesen. Zu konstatieren war, dass die Akten der Institution Margaretenhort ihre eigene Wirklichkeit konstruierten, die keinerlei Rückschluss auf die hier in Rede stehenden Geschehnisse zuließen. Dies soll an einem Beispiel erläutert werden. Für die Jahre 1975 und 1976 existieren Belegungspläne für jede Gruppe im Margaretenhort. Aus ihnen gehen die Gruppengrößen, die Namen der Kinder und Jugendlichen sowie der Erzieherinnen ebenso hervor wie deren Zahl, ihre zu leistenden Arbeitsstunden und Schichtzeiten. Diese Pläne verraten aber weder etwas über die tatsächlichen Arbeitsbelastung der Mitarbeiterinnen noch etwas über die tatsächlichen Lebensumstände der Mädchen und Jungen. Nur hin und wieder – wenn man Akten gegen den Strich liest oder sich der Beschwerdebrief eines Angehörigen findet – blitzt eine weitere und – häufig – konträre Wirklichkeit auf.
Der Alltag im Margaretenhort, also das, was alle Tage passiert, und zu dem viele Jahre Gewalt und Angst gehörten, blieb hinter der Fassade des in den Schriftquellen gezeichneten „echten Zuhauses“ verborgen. Bis 2016 war diese Legende mehr oder weniger fester Bestandteil der Institutionengeschichte des Margaretenhorts. Will man aber das tägliche Leben, die Ordnungen des Margaretenhorts, die Erziehungsrezepte und Erziehungspraktiken, die sozialen Konstellationen, Interaktionen und Bindungen zwischen den im Heim tätigen Leitungspersonen, den Erzieherinnen und Psychologinnen und den Kindern und Jugendlichen sowie deren Verhältnis untereinander erforschen, muss man auf mündliche Aussagen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zurückgreifen. Dies gilt umso mehr, wenn man den Anlass für diese Studie – die massive Gewalt, die mindestens zehn Mädchen und mindestens ein Junge viele Jahre ertragen mussten – bedenkt. Fand sich doch in keiner der noch existierenden Akten zum Margaretenhort auch nur der kleinste Hinweis auf das, was männliche Jugendliche jüngeren Mädchen und Jungen – zum Teil mit Wissen und unter den Augen von Erzieherinnen – angetan haben. Dass diese verstörenden Vorgänge keinen schriftlichen Niederschlag gefunden haben, fügt sich in die Erkenntnisse bisheriger Forschungen zur Gewalt in der Heimerziehung. Vermieden es Heimleitungen doch immer wieder, für sie problematische und unliebsame Vorkommnisse schriftlich zu fixieren.[15] Insofern waren die Interviews mit Betroffenen und anderen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen unabdingbar.
Im Rahmen dieses Projekts wurden Interviews mit sechs ehemaligen Bewohnerinnen, zwei damaligen Mitarbeiterinnen, mit dem ehemaligen Leiter des Margaretenhorts und dem damaligen stellvertretenden Leiter der „Dienststelle Erziehungsfachgebiet“ im Jugendamt der Stadt Hamburg geführt.
Versuche, über eine öffentliche Berichterstattung und interne Anfragen weitere Gesprächspartnerinnen und -partner, insbesondere aus dem Kreis der damaligen Erzieherinnen und der Kuratoriumsmitglieder des Margaretenhorts, zu gewinnen, blieben leider ebenso erfolglos wie eine Anfrage an die ehemalige stellvertretende Leiterin des Margaretenhorts. So mussten – einstweilen – wichtige Perspektiven unberücksichtigt bleiben.Dies gilt insbesondere für die Perspektive des/der männlichen Opfer/s, das/die es im M argaretenhort ja ebenfalls gegeben hat. Bedauerlich ist dies insofern, als sexualisierte Gewalt gegen Jungen immer noch einem Tabu unterliegt, dem wiederum häufig die – meist unhinterfragte – Überzeugung eignet, dass ein männliches Wesen aufgrund seiner „Natur“ sich nicht zum Opfer machen lassen dürfe, es sich wehren müsse usw. Dabei zeigen Forschungen, dass in Deutschland zwischen fünf und zehn Prozent aller Männer als Kinder und Jugendliche sexualisierte Gewalt erlitten haben, es sich mithin keinesfalls um ein „Randphänomen“ handelt.[16]
Den betroffenen Mädchen im Margaretenhort wurde zunächst – und auch viele Jahre nach den Gewaltvorfällen – nicht geglaubt. Ihre Schilderungen wurden als „Schwindeleien“ abgetan, sie wurden als „Lügnerinnen“ stigmatisiert. Dieser Umgang mit von sexueller Gewalt betroffenen Kindern und Jugendlichen zieht sich sowohl durch die (Forschungs-)Geschichte als auch durch die öffentliche Diskussion. Dirk Bange und Günther Deegener kamen in diesem Zusammenhang zu einer zugespitzten Wertung:
„Die WissenschaftlerInnen, die PsychologInnen, die PädagogInnen, die MedizinerInnen und die JuristInnen standen selten auf der Seite der Opfer. Meist waren sie damit beschäftigt zu beweisen, dass die Opfer lügen, phantasieren, es selbst wollten usw. Sie waren Teil des gesellschaftlichen Verleugnungssystems und bekamen auch dafür ihr Geld.“[17]
Heute aber wird den ehemaligen Bewohnerinnen des Margaretenhorts Glauben geschenkt. Sie sollten nun umfassend und ausführlich zu Wort kommen. Ihre Erlebnisse und ihr Leid, ihre Geschichte und ihr Schicksal sollten im Mittelpunkt dieser Aufarbeitung stehen. Diesem Forschungsziel Rechnung tragend, wurde zu den Tatbeschuldigten für diese Studie kein Kontakt aufgenommen. Ihre Beweggründe werden daher bis auf Weiteres im Dunklen bleiben.[18] Auf eine Spekulation hinsichtlich ihrer mutmaßlichen Tatmotive und inneren Antriebe wurde ebenfalls verzichtet.[19] Einerseits sollte damit dem geschichtswissenschaftlichen Anliegen dieser Studie Rechnung getragen werden, andererseits galt es, die Integrität und die Würde der damaligen Opfer zu wahren. Ein Erfragen und Abdrucken von möglichen Tatmotiven, Rechtfertigungsversuchen, womöglichen Entschuldigungen und Bagatellisierungen kam daher vorliegend nicht in Frage.
Wie bereits in anderen Projekten zur Erforschung von Gewalt in Heimen der Erziehungsfürsorge, wurde auch hier leitfadengestützten Interviews der Vorzug vor narrativen Interviews gegeben.
Wieso? Narrative, also „erzählerisch freie“ Interviews geben Auskunft über die „Lebensgeschichte“ der Befragten. Dieser „Lebensroman“ ist ein Produkt ihrer Erlebnisse („Was wurde erlebt?“) und ihres Versuchs, das Erlebte vor dem Hintergrund ihres sozialen Wissens[20] (z.B. religiöse, politische und moralische Überzeugungen) zu verstehen, zu interpretieren und es schließlich auf möglichst sinnvolle Weise in das individuelle Bild von der „Welt“, vor allem aber in die eigene Biographie zu integrieren. Dieser Prozess kann auch als Erfahrung („Wie wurde etwas erlebt?“ bzw. „im Nachhinein“ verstanden?) bezeichnet werden. Häufig verschwimmen in narrativen Interviews das Erlebte und dessen Sinngebung, die Erfahrung. Beides lässt sich nur schwer voneinander trennen. Hingegen bieten leitfadengestützte Interviews eine gute Möglichkeit, jene Facetten des Alltagslebens in den Blick zu bekommen, die im sinngebungsgeprägten Erfahrungswissen in den Hintergrund geraten sind. Wieso? Leitfadengestützte Interviews strukturieren die Gesprächssituation sehr stark. Damit bieten sie die Möglichkeit, eingeschliffene und von den Befragten in aller Regel nicht mehr bzw. vielleicht bis dahin noch nie hinterfragte Erzähl- und Erinnerungsmuster aufzubrechen. Verschüttete Erinnerungen können zum Vorschein kommen.
Natürlich war zu berücksichtigen, dass sich die Betroffenen kennen, miteinander im Austausch stehen, Erinnerungen sich im Laufe der Jahre einander annähern und neue Narrative entstehen können. Daher wurden die Interviews und Berichte nach den Regeln der historischen Hermeneutik einer inneren und äußeren Quellenkritik unterworfen. So wurden systematisch Überkreuzvergleiche zwischen den Interviews angestellt, um übereinstimmende Muster herauszufiltern. Weiter galt es zu beachten, dass Erinnerungen und Schilderungen Konjunkturen unterliegen. Sie sind nicht nur – über das „soziale Wissen“ – wert-, sondern auch zeitgebunden. Nicht selten hat der weitere Lebensweg entscheidenden Einfluss darauf, wie der Heimaufenthalt und das dort Erlebte dargestellt bzw. welche Erlebnisse erinnert werden. Verläuft die Biographie eines Menschen nach seiner Entlassung aus dem Heim beruflich und privat erfolgreich oder wenigstens zufriedenstellend, dann kann der Blick „zurück“ des oder der Betreffenden eher von Dankbarkeit und Gelassenheit geprägt sein, als jener eines Menschen, der in seinem späteren Leben nur schwer zurecht kam. In diesem Fall wird das früher im Heim Erlebte und Erlittene häufig als die entscheidende Weichenstellung für das ganze spätere Leben begriffen.