«Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.»
Albert Einstein
Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.
Die Angaben in diesem Buch wurden nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt und entsprechen dem Stand von Frühjahr 2021. Verlag und Autor übernehmen jedoch keine Gewähr für deren Richtigkeit.
© 2021 Conzett Verlag Zürich
Bilder: Chris Zollinger
Lektorat: Ursula Kohler
Gestaltung und Satz: Claudia Neuenschwander
ISBN 978-2-03760-051-1
eISBN 978-3-03760-051-1
www.glaskugel-gesellschaft.ch
zollinger@glaskugel-gesellschaft.ch
www.conzettverlag.ch
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
Reformanstösse für die Zukunft der Schweiz in Zeiten des Epochenwandels
Conzett Verlag
DIE «DURCHSCHAUT!»-TRILOGIE
von Christoph Zollinger im Conzett Verlag
Mythen, Macht + Menschen durchschaut!
Gegen Populismus und andere Eseleien
Kommentare 1984–2013
ISBN 978-3-03760-031-3
Conzett Verlag, 2014
Perspektivenwechsel. Fokus Zukunft
Zeitberichte und Geschichtsbilder
Kommentare 2013–2016
ISBN 978-3-03760-043-6
Conzett Verlag, 2017
Notizen eines Unverbesserlichen
Reformanstösse für die Zukunft der Schweiz in Zeiten des Epochenwandels
Kommentare 2016–2020
ISBN 978-3-03760-050-4
Conzett Verlag, 2021
Manifest und Vorwort
Manifest
Vorwort
Warum Kolumnen und Bücher?
Das Momentum
Durchschauen und verändern
Verstehen wir, was wir wissen?
Die Zeichen der Zeit erkennen
Der Autor dieses Buches
Nostalgischer Rückblick zur Vorbereitung auf die Zukunft
Also sprach Libero (1984–2005)
Transparenz als Schlüssel zur Moderne (2003–2004)
200 x «durchschaut!» (2009–2016)
«Helvetisches Malaise»
Annäherung an die Gegenwart
50 x «durchschaut!» 2020–2019
Die Long-Runner
Persönliche Bilanz
Die Schweiz reformieren?
Gestern ist heute ist morgen
100 x «durchschaut!» 2019–2016
Analyse: «durchschaut!» – die Quintessenz
Quantitative Spartenthematik
Die helvetischen Baustellen der Politik
Ist-Zustand
Transparenz-Forderung, Whistleblower, Lobbying
Föderalismus-Umbau, Ständerat, Ständemehr, Kantönligeist und Kirchturmpolitik
Nachhaltigkeitsgebot, Klimaerwärmung und Energie
Landwirtschaftspolitik, Landschaftsschutz
Schweiz-EU-Verhältnis
Reformprojekte: Altersvorsorge, Gesundheitswesen, Gleichstellung der Geschlechter
Stopp nach 40 Jahren
Die Jahre 2020/2021 der Covid-19-Pandemie
Sind wir Zeugen eines epochalen Wandels?
Das Ende der Neuzeit?
Augen auf, lernen, machen
Seiner Zeit voraus …
Die falschen Propheten
Und der Kapitalismus?
Die Geschichte bleibt sich gleich: eine neue «Renaissance»?
Morgenröte
Zum Einstieg
Zeitzeichen
Neu denken
Alt denken
Meine Bücher zum epochalen Neubeginn
Richtungswechsel im Fluss der Geschichte
Diesmal ist alles anders
Krise als Chance?
Das philosophische Erdbeben
Vorboten der Reformen
Der Zeitpunkt ist gekommen
Intermezzo: Abstract Painting
In kleinen Schritten zur Reform der Schweiz
Nachdenken über das neue Welt- und Menschenbild
Paradies Schweiz?
Das Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft
Nachhaltigkeit, Ressourceneffizienz und Klimaerwärmung
Wirtschaft, Politik, Gesellschaft im Gleichschritt
Inventar
Die Flughöhe verändern
Die Schweiz von morgen
Wirtschaft und Gesellschaft mit Pioniercharakter
Beethovens Neunte – Symphonie für die Welt
Wie weiter?
Quellenverzeichnis
«Engagiert Euch!» Anfang des 21. Jahrhunderts wandte sich Stéphane Hessel (1917–2013) zum zweiten Mal in einem Manifest an die Jugend. Mit «Empört Euch!» hatte der 93-jährige Diplomat und ehemalige Widerstandskämpfer schon kurz zuvor Furore gemacht. Diesmal ging es um seine Vorstellung eines engagierten Lebens. «Wir müssen handeln!», ruft er der Jugend zu, «… mit den Mitteln der Demokratie. Dazu gehört persönliches Engagement im Kleinen und dafür brauchen wir eines – den Glauben daran, dass unser bürgerliches Engagement die Welt verändern kann.»
Im hier vorliegenden Manifest heisst es heute: «Emanzipiert euch!» Gerichtet ist der Aufruf an die Jugend, an Junggebliebene, an politisch Engagierte und neugierige Leser*innen. Er ist so zu verstehen:
Überdenkt, was heute den Alltag prägt!
Fragt nach dem Sinn eures Tuns!
Befreit euch von der einlullenden Tagesroutine!
Konzentriert euch auf die unter dem Deckel gehaltenen politischen «Baustellen»!
Entlarvt Lobbyisten aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik!
Fordert Transparenz in «geheimen» Vorgängen!
Schafft Voraussetzungen für eine politische Zukunfts-Strategiefindung!
Helft mit, die Schweiz zu reformieren!
Stärkt unsere Demokratie!
Handelt!
Emanzipiert euch!
An dieser Stelle ist der dänische Wissenschaftsjournalist Tor Nørretranders und sein spannendes Buch «Spüre die Welt – Die Wissenschaft des Bewusstseins» zu erwähnen. Darin argumentiert Nørretranders in Hinsicht auf eine emergente Politik: «Die emergente Politik besteht nicht darin, den Dingen ihren Lauf zu lassen, sondern das zu tun, woran man glaubt und wobei man ein gutes Gefühl hat, auch wenn es völlig nutzlos erscheint. Sie besteht darin, etwas zu tun, das nach der eigenen Überzeugung gut ist für einen selbst und für das persönliche Umfeld, auch wenn es naiv erscheint. Emergente Politik bedeutet Naivität zu akzeptieren, aber nicht Passivität […] das Wichtigste ist, dass man überhaupt etwas tut.» Mit emergent bezeichnet Nørretranders Prozesse, die durch Zusammenwirken mehrerer Faktoren unerwartet neu auftretende Eigenschaften entstehen lassen.
Dieses Buch entstand in den Coronajahren 2020/2021. Abrupt wurden die Bevölkerungen weltweit aus dem Alltagstrott gerissen. Gefahr drohte. Aus «Schlafwandlern» wurden wache, aufmerksame, auch verunsicherte Menschen.
Ich habe meine Notizen zur Gegenwart in den letzten rund 40 Jahren zweigleisig publiziert: Da sind die 370 Print- und Internet-Kolumnen zu kleinen, kurzfristigen Themen mit politischem Fokus auf überfälligem Reformbedarf; dort die sieben Bücher zu grösseren Herausforderungen unserer Epoche und deren zukünftigen Auswirkungen. Da sind die handfesten Beobachtungen zum Alltag in der Schweiz festgehalten, dort die spekulativen Wahrnehmungen über immer drängendere Manifestationen eines globalen, langfristigen Zeitenwandels.
Unser Land ist zweifellos eine Vorzeige-Demokratie mit sehr gut funktionierenden politischen Abläufen. Doch Abnützungserscheinungen werden sichtbar. Damit wir weiterhin einen Spitzenplatz in diesem Feld besetzen können, sind Reformschritte einzuleiten. Allzu viele Rituale sind erstarrt; Verhaltensweisen von Verantwortlichen lassen eine vergangenheitsorientierte Ausrichtung erkennen, wo doch eine Ausrichtung auf die zukünftigen Herausforderungen einer Welt der Informationstechnik und Künstlichen Intelligenz überfällig wäre. Dazu liefere ich Denkanstösse.
Ich lade Sie zu einem Exkurs in die USA ein. Da seit mindestens 80 Jahren alle neuen Trends aus Amerika alsbald in Europa und damit unserem Land ihre Fortsetzung respektive Nachahmung finden, hier meine explizite Warnung vor dem Trump-Trend. Er ist eine grosse Gefahr für die Demokratie.
Trump-Trend? Traumverkäufer und Netzutopien ergeben eine brandgefährliche Mischung. Wir müssen uns fragen: Wären Leute wie der ehemalige Präsident der USA, Donald Trump, bereit, die Demokratie aufzugeben? Genügen Charisma und sehr grosser Reichtum, um mit einem Lügengeflecht – verbreitet über Facebook oder Twitter – Demokratien buchstäblich aus den Angeln zu heben? Haben wir im Januar 2021 einen makabren Vorgeschmack dessen, was auch uns zukünftig erwarten könnte, serviert bekommen?
Der Sturm des Pöbels am 6. Januar 2021 auf das Capitol in Washington D. C. – nachdem er vom Noch-Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika dazu angestiftet worden war – muss uns beschäftigen.
2005 schon hat Jared Diamond in «Kollaps – Warum Gesellschaften überleben oder untergehen» gewarnt. Sein faszinierendes Buch gibt Antworten aus 3200 Jahren Menschheitsgeschichte. «Immer waren es Klimakatastrophen, Raubbau an der Umwelt, rapides Bevölkerungswachstum, politische Fehleinschätzungen», die zum Untergang führten.
Politische Fehleinschätzungen. Die USA haben uns vorgemacht, wie die Polarisierung der Politik durch Vertreter beider Extrempositionen die Spaltung der Nation nach sich zieht. Diamond plädiert deshalb vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen für den «mittleren Standpunkt» bei wichtigen Streitpunkten in Umwelt-, Wirtschafts- und Politikproblemen.
Populisten verkaufen Träume seit der Antike. Heute, in der unsicheren, von Covid-19 geprägten Postmoderne, profitieren diese modernen Rattenfänger von Hameln von sozialen Medien wie Twitter & Co. Hier ködern sie ihre Nostalgiekunden problemlos – mit Versprechen von einer besseren Welt («Make America great again!»), würde man nur ihrem Erlöser folgen. Auf Trump bezogen heisst das: Nach 56 750 Tweets, davon 20 000 dokumentierter Unwahrheiten («Die Zeit»), endete nach beinahe 12 Jahren der Trump-Trend mit der Sperrung von Trumps Konten durch Twitter und Facebook. Vorläufig.
Grosser Reichtum, viele Millionen, eigene Partei gründen, die Politik kaufen? Bereits drohte Trump mit der Gründung einer neuen Partei, der Trump-Partei. Mitverantwortlich für solche Horrorvorstellungen sind überholte politische Strukturen. In den USA – und in der Schweiz. Damit sind wir beim Hauptthema dieses Buches. In den USA war es das System der Wahlmänner, das es Trump 2017 ermöglichte, überhaupt Präsident zu werden, obwohl seine Gegnerin mehr Volksstimmen erzielte. In der Schweiz ist es das überholte System der Standesstimmen, das eine Volksinitiative bachab schicken kann, auch wenn sie vom Volk angenommen worden ist.
Alle neuen Trends aus Amerika finden alsbald in Europa und damit unserem Land ihre Fortsetzung respektive Nachahmung, schrieb ich weiter oben. Diese Warnung ist mir wichtig genug, sie im Vorwort dieses Buches zu platzieren. Bevor meine eigentliche Geschichte beginnt.
Den Nebel spalten. 2020/2021 wurde hierzulande eine von Millionären/Milliardären finanzierte neue politische Bewegung ins Leben gerufen. Diese übernahm – so hört man – den «Nebelspalter» und gründete dazu die Klarsicht AG, Winterthur (VR-Präsident Konrad Hummler). Mit dem Satiremagazin wollen die Leute, so Markus Somm in der «NZZ am Sonntag», «unabhängig von Christoph Blocher eine bürgerliche Bewegung bilden, die sehr viel Geld hat, eine neue Heimat sucht, weil sie sich von den alten Verbänden nicht mehr angesprochen fühlt».
Der frühere Chefredaktor der «Basler Zeitung», Markus Somm, hat also zu diesem Zweck den guten alten «Nebelspalter» übernommen. 70 Investoren sollen sich am Kapital von sieben Millionen Franken beteiligt haben. Ihr Ziel ist der Aufbau einer elektronischen Plattform mit Schwerpunkt Schweizer Innenpolitik. Der gedruckte «Nebelspalter» soll auch weiterhin erscheinen. Jetzt fragen sich besorgte Leser*innen der ältesten Satirezeitschrift der Schweiz, wohin diese Reise gehen wird.
Im Gespräch mit dem «Tages-Anzeiger» liess Somm im Februar 2021 verlauten, er verstehe sich als liberal-libertär. Da erinnern sich viele daran, wie derselbe Somm vor rund zehn Jahren Chefredaktor der «Basler Zeitung» wurde. Dieses Blatt gehörte Christoph Blocher, wie später publik geworden ist. Jetzt verkündet Somm: «Den ‹Nebelspalter› braucht es als Gegengewicht zum linksliberalen Mainstream in den Schweizer Medien» («Tages-Anzeiger»).
Das erste Ziel dieser neuen Bewegung ist die Verhinderung des Rahmenvertrags der Schweiz mit der EU. Das haben wir gehört. Ganz nach dem Rezept aus den USA, wo «weisse, alte Männer» wie die Koch-Brüder – stramme Milliardäre und vaterländisch nationalistisch gesinnt – seit vielen Jahren jährlich Millionenbeträge in den Medien investieren, um die USA auch zukünftig nach ihren persönlichen Überzeugungen auf dem «richtigen» politischen Weg zu halten.
Der gute alte «Nebelspalter» – Lachen ist erlaubt. Doch: Wenn damit Politik gekauft werden soll, spaltet sich die undurchsichtige Nebelwand und dahinter wird ein Propaganda-Ungeheuer sichtbar. Jetzt bleibt vielen das Lachen im Hals stecken …
Die Durchsicht verloren. Aus «Schlafwandlern» wurden wache, aufmerksame, auch verunsicherte Menschen, schrieb ich zu Beginn dieses Vorworts in Bezug auf die Covid-19-Pandemie. Ein Jahr später ergänze ich: Dieselben Menschen sind inzwischen ungeduldig, gereizt, enttäuscht.
Die Medien werden nicht müde, jene anzuklagen, die versagt haben. Der Bund ärgert sich hinter vorgehaltener Hand über die Widerspenstigkeit der Kantone. Diese murren über das Führungsversagen des Bundes, gleichzeitig beharren sie auf verfassungsrechtlich zugesicherten kantonalen Zuständigkeiten. Die Epidemiologen warnen unermüdlich. Die Ökonomen werfen ihnen vor, die gesamtwirtschaftlichen Aspekte des Lockdowns auszublenden.
Was ist das Fazit der Aufregung? Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkrieges haben wir die Kontrolle über das Geschehen verloren. Während diese Tatsache weltweit Verärgerung und Unglauben auslöst, weisen nachdenkliche Menschen darauf hin, dass wir diese Kontrolle gar nie hatten, weil sich die Natur nicht den Menschen unterwirft.
Was können wir lernen? Wir haben Corona nicht im Griff. Wir alle nicht. Wir haben die Durchsicht verloren. Dies sollte uns nachdenklich stimmen.
Nicht akzeptabel ist das Verhalten des Bundesamts für Gesundheit (BAG), das sich Anfang 2021 weigerte, ein brisantes Aussprachepapier an die Medien auszuhändigen. Schliesslich mussten sie es doch tun, denn wir kennen in unserem Land seit 2004 das Öffentlichkeitsgesetz. Mündige Bürger*innen wollen ehrlich informiert sein, auch vom BAG.
Gleichzeitig müssten wir vielleicht doch darüber nachdenken, ob unser Gerangel zwischen Bundes- und Kantonskompetenzen, genannt Föderalismus, bei der Corona-Bewältigung der Sache dienlich war.
Zurück zum eingangs erwähnten Thema des Zeitenwandels. Die Übergänge von einer Epoche zur nächsten lassen sich schlecht an einzelnen Jahreszahlen festmachen. Die Epochengrenzen sind fliessend. Historische Entwicklungslinien sind von langer Dauer und können oft nicht abschliessend datiert werden.
Die Covid-19-Pandemie, dieser Einbruch des «Kaum-fürmöglich-Gehaltenen», ist ein Augenöffner. War der epochale Wandel der Zeit bisher kaum ein Thema, so ist er fortan – so meine persönliche Interpretation – manifest.
Die Szenarien sind faszinierend: bedrohlich, spannend, herausfordernd oder fantastisch. Wir wissen nicht, was wir nicht wissen. Ich weiss es nicht.
Das Jahr 2020 – auch Coronajahr genannt – symbolisiert das Jahr des grossen Umbruchs. «Es» passierte ohne unseren Einfluss und überrumpelte die Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft über Nacht. Viele Menschen stellen sich die Frage, ob gar die Bezeichnung «Epochenwechsel» für die sich am Horizont abzeichnenden Verwerfungen verwendet werden darf. Markiert dieser nicht für möglich gehaltene Einbruch in unsere Zeit der verharrenden Beliebigkeit, des prahlerischen Überflusses, des drängelnden Egoismus und des grassierenden Populismus eine unsichtbare Grenzlinie zwischen der Postmoderne (Gegenwart) und dem Nachher (Zukunft)?
Philosophen, Philologen, Bewusstseinsforscher, Physiker u.a. beschäftigen sich mit dieser Frage nicht erst seit 2020. Schon vor bald 100 Jahren stellten sie sich im Kontext krisenhafter Verwerfungen die Fragen, ob sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts Anzeichen eines Epochenwechsels mehrten und sich die Menschheit in dieser Phase des Umbruchs unterwegs zur Epoche des Nachher, auch bezeichnet als New Realism (neuer Realismus) oder Bewusstwerdung, befände.
«Es gibt historische Momente, in denen man fast schlagartig den Eindruck gewinnt, dass sich etwas Wesentliches verändert hat: dass unsere Urteile und Gefühle, Empfindlichkeiten und Handlungen nunmehr durch andere Bezugsgrössen gesteuert und beeinflusst werden als bisher; dass die vorherrschende Kultur und mit ihr die gesamte Gesellschaft nicht mehr dieselben sind wie noch wenige Jahre zuvor» (Christoph Riedweg: «Nach der Postmoderne»).
Der brillante Physiker Robert Laughlin, *1950, schrieb 2005 in seinem Buch «Abschied von der Weltformel – Die Neuerfindung der Physik» im Zusammenhang mit dem Aufkommen des neuen Zeitalters der Emergenz: «Wir leben nicht in der Endzeit der Entdeckungen, sondern am Ende des Reduktionismus, einer Zeit, in der die falsche Ideologie von der menschlichen Herrschaft über alle Dinge mittels mikroskopischer Ansätze durch die Ereignisse und die Vernunft hinweggefegt wird.»
Wir sehen, dass die verschiedenen Forschungsrichtungen für das Zeitalter der Gegenwart und jenes der Zukunft unterschiedliche Bezeichnungen verwenden. In diesem Fall setzt Laughlin Reduktionismus an die Stelle von Postmoderne und «das Zeitalter der Emergenz» anstelle des oben erwähnten New Realism.
«In diesem Buch [‹Ursprung und Gegenwart›] wird nun in der Tat über das Werden einer neuen Welt, eines neuen Bewusstseins Bericht erstattet. Und zwar nicht auf Grund von Wunschbildern oder von Spekulationen, sondern auf Grund von Einsichten in die Mutationen der Menschheit von den Uranfängen bis heute […]» (Jean Gebser: «Ursprung und Gegenwart»).
Seit nunmehr rund 40 Jahren «durchschaue» ich (im Sinne des Verstehenwollens) politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorgänge in der Schweiz. Damit einher gehen Vorschläge zur Vorbereitung unseres Landes auf die Zukunft. Ebenso lang bin ich fasziniert von den Möglichkeiten eines zukünftigen ganzheitlicheren Verstehens und Handelns der Menschen als Manifestation einer integralen, epochalen Vision des menschlichen Seins.
2021 scheint mir deshalb der richtige Zeitpunkt, um die beiden Anliegen – das Verstehen- respektive Verändernwollen und die Fokussierung auf die Chancen einer versöhnlichen Zukunft – miteinander zu verknüpfen. Deshalb auch dieses Buch.
Wenn einer während 40 Jahren in der Schweiz mehr oder weniger regelmässig Beiträge in Print- und elektronischen Medien publiziert und danach immer noch der Meinung ist, seine Worte könnten etwas bewegen im Land, der hätte nicht begriffen. Falls seine Aufrufe in erster Linie an permanent überlastete Politikerinnen und Politiker adressiert gewesen wären, um Grundprobleme in der schweizerischen Politiklandschaft aufzuzeigen und Reformideen in Gang zu setzen, dann müsste er seinen Einfluss masslos überschätzt haben. Sollten seine oft kritischen Voten an CEOs oder Top-Banker gerichtet gewesen sein, wäre ihm wohl entgangen, dass diesen wirtschaftlich eminent wichtigen und vergleichsweise recht gut bezahlten Menschen für solche Ansinnen schlicht die Zeit fehlt. Auch die sporadisch eingeflochtenen Aufrufe und Appelle – pauschal an die Gesellschaft adressiert –, und das hätte er längst wissen dürfen, wären, falls überhaupt zur Kenntnis genommen, mit einem Lächeln beiseitegelegt worden. So viel zu den Adressaten seiner Botschaften.
Einzelne der 50 Sparten in den 370 Kolumnen dominieren quantitativ. Der Autor muss von ihnen sozusagen besessen sein: Politik, Schweizer Politik, vor allem die von Jahr zu Jahr verschobenen Reformprojekte, besetzen klar und eindrücklich den ersten Platz. Als prägende Dauerthemen folgen die zäh verteidigten Machtstrukturen und die von den Parlamenten und Verwaltungen zu oft ignorierten Transparenzgebote des 21. Jahrhunderts.
Auch Wirtschaft, Volkswirtschaft und Gesellschaft sind oft Ziele der Reflexionen des Schreibenden. Der Blick in die Zukunft, auf Innovationen, Informationstechnik IT und Künstliche Intelligenz KI drängt sich auf, kombiniert mit kompetenten Stimmen aus den Wissenschaften. Ebenso das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union, seit 1992 künstlich zum Dauerbrenner und als Spaltpilz der Nation am Leben erhalten. Dass bei alledem immer wieder des Autors Wunsch nach ganzheitlicher statt fragmentarischer Betrachtung durchschimmert – es ist dies meistens vergebliche Liebesmühe. Persönliche Partikularinteressen sind Motivatoren allererster Güte und verhindern schweizweit tragfähige Lösungen. So viel zu den Inhalten seiner Botschaften.
Zu «durchschauen!» ist an dieser Stelle also immer damit verbunden, die Voraussetzungen für zukunftsfähige Problemlösungen zu schaffen. War mit dem Begriff Reformation in früheren Zeiten meistens eine «Kriegserklärung» an das alte Gültige verbunden, so erhält die Bezeichnung Reform im zeitgemässen Verständnis den Appell, anstelle von Krieg (Kampf) einen verlässlichen Frieden – eine erspriessliche Kooperation – zu ermöglichen. Parteiübergreifende Kooperationen auf der Bühne der schweizerischen Politik sollen es ermöglichen, neu zu denken und in der Folge zu handeln. Was fehlt heute? Eine austarierte politische Zukunftsstrategie für unser Land. Wenn eine der wichtigsten Aufgaben des Verwaltungsrats in der Wirtschaft die Erarbeitung der strategischen Unternehmensziele ist, dann könnte es nicht schaden, auch in der Politik eine analoge Findungstruppe einzusetzen. Eine solche hätte die Aufgabe, längst überholte, blockierende Elemente innerhalb der Politstrukturen zu definieren und auf diese Weise das System zu straffen und zu «sanieren».
Strategisch kooperieren statt endlos kämpfen! Überraschende Lösungen statt sture Blockaden! Der deutsche Gegenwartsphilosoph und Autor Markus Gabriel (*1980), Professor an der Universität Bonn, plädiert in seinem Buch «Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten» (Ullstein) vehement für ein universelles Umdenken: «Wir bedürfen dringend einer innovativen Form der Kooperation von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, um eine globale Gesellschaft zu entwerfen.»
Der Leserschaft kommuniziert er sein Ziel, «… der Idee neuen Auftrieb zu geben, dass die Aufgabe der Menschheit auf unserem Planeten darin besteht, moralischen Fortschritt durch Kooperation zu ermöglichen.»
Was mir besonders gefällt an seinen Gedanken: Gabriel empfiehlt uns zu versuchen, dass wir besser erkennen, was wir tun bzw. unterlassen sollen, und «… dass wir moralische Tatsachen, die teilweise verdeckt waren, aufdecken». Mein Vokabular: durchschauen!
Es kommt noch besser. Sieben Themenkreise waren, und sind es immer noch, für den Absender dieser Botschaften gar ein Buch wert: «Transparenz» (2002), «Ganzheit» (2005), «Reform der Schweiz» (2008), «Bewusstseinswandel» (2011), «Populismus» (2014), «Perspektivenwechsel» (2017), «Freiheit» (2019). Gemeinsam ist diesen Büchern das alles prägende Anliegen, offizielle, vordergründige oder orchestrierte Handlungsrechtfertigungen dort zu «durchschauen!», wo sie unehrlich oder nicht zielführend sind. Gemeinsam ist ihnen auch die Verpflichtung des Autors, immer wieder auf die Feinde unserer (und nicht nur unserer) Demokratie hinzuweisen: Populisten sind nicht die Freunde des Volkes, als die sie sich propagandistisch inszenieren. Im Kern sind diese eifrigen Nationalisten weltweit in der Regel autoritäre Reaktionäre, die sich bewusst über die Werte der Demokratien hinwegsetzen, diese gar lächerlich machen. Es gibt Ausnahmen.
Eine Kurzbetrachtung dieser sieben Bücher finden Leser*innen auf Seite 258.
Wenn wir schon 40 Jahre zurückblicken, dann müssen wir uns natürlich auch 57 Jahre zurückbesinnen. Max Imboden (1915–1969), Jurist, drängte als engagierter, aber unabhängiger Bürgerlicher schon früh darauf, die Zeichen der Zeit ernst zu nehmen. Sein berühmtes Buch «Helvetisches Malaise» von 1964 war ein grosser Erfolg und wurde intensiv diskutiert.
Im Kapitel «Helvetisches Malaise» (Seite 34) gehe ich der Frage nach, welche Autoren sich ausserdem in den letzten sechs Jahrzehnten mehr oder weniger kritisch mit dem Zustand der Schweiz auseinandergesetzt haben.
Falls es Sie, liebe Leser*innen, interessiert, können Sie gar 82 Jahre zurückblicken. Am 14. Oktober 1939 wurde der Autor dieses Buches, Christoph Zollinger, in Zürich geboren und wuchs in der Folge in Rüschlikon ZH auf. Als Ökonom immer im Food-Detailhandel tätig (Schweiz, USA, Deutschland, Holland, Österreich, Italien, Russland), von 1963–1980 in leitenden Positionen bei bekannten Grosskonzernen (Denner AG, Metro International, Jelmoli-Konzern), von 1981–2001 als selbständiger Food-Consultant für Mövenpick, SBB (Aperto), Globus (Delicatessa), Coca-Cola, Hofer & Curti, Post (PTT, Post-Agenturen), Usego, Merkur/Valora u.a.: Immer versuchte er, das Vordergründige zu durchschauen und hinter die Fassaden des Sichtbaren zu sehen: «Mehr wissen wollen» ist noch heute seine Motivation. Für Arbeitgeber und Kunden implantierte er neue Verkaufsmodelle, auf der Antizipation sich abzeichnender internationaler Trends basierend.
Schon in jungen Jahren politisch interessiert und später während 20 Jahren auf lokaler Ebene politisch aktiv, war Zollinger während acht Jahren Mitglied des Gemeinderats Kilchberg (Exekutive seines Wohnorts), auch der Schulpflege und als Koordinator der «Vereinigung der Parteilosen» involviert. Die von ihm gegründete Institution «Verein Jugend in Kilchberg» verantwortet eine professionelle, entpolitisierte Jugendarbeit; das «Suchteam» wirkt als Gremium für Suchtprävention, die Kinderkrippe ist längst nicht mehr wegzudenken, ebenso wenig das «Gespräch am Runden Tisch», quasi ein Thinktank für den regionalen Approach für altersgerechte Wohnformen und gemeindeübergreifende Strategien.
Seit 2001 wirkt Zollinger hauptsächlich als Autor und Publizist. Eine Übersicht der bisher publizierten Bücher finden Sie auf dem hinteren Klappentext des Buchumschlags. Quasi als Zusammenfassung seiner Hauptthemen versteht er die «durchschaut!»-Trilogie «Mythen, Macht + Menschen durchschaut!», «Perpektivenwechsel. Fokus Zukunft» und das vorliegende Buch. Seit 2009 hat er 350 Internet-Kolumnen geschrieben (auf glaskugel-gesellschaft.ch und ab 2013 auch im journal21.ch publiziert), nachdem er schon früher Kolumnen in verschiedenen Printmedien platzierte.
Parallel dazu malte Zollinger während 50 Jahren grossflächige, abstrakte Bilder («Transparency on Canvas»), die seine Schreiberei reflektierten. «In Büchern gemalt – auf Bildern geschrieben» lautete die Devise: Immer ging es um die Transparenz der Vorgänge. Sein Vorbild: Mark Rothko. Darüber gewährt das Buch «Perspektivenwechsel. Fokus Zukunft» Einblick.
Bildkunst und Schrift sind das Gleiche. Ein Bild ist geschrieben und Schrift ist Bild.
www.glaskugel-gesellschaft.ch
zollinger@glaskugel-gesellschaft.ch
Christoph Zollinger auf Wikipedia
(Reihenfolge der zitierten Beiträge: alt vor neu)
1984 sprach Libero, ein freier Mann, zur Dorfbevölkerung. Viele kennen die Bezeichnung Libero aus dem Fussball: Dort ist er «sowohl als auch». In der Verteidigung zur Absicherung, im Sturm als Angriffsverstärkung eingesetzt, funktioniert er als letzter Fels in der Brandung oder Überraschungsstratege. Im Frauenfussball wird sie Libera genannt, eine freie Frau. Liberas und Liberos, so nennen sich auch die Frauen und Männer der «Operation Libero», der 2014 gegründeten politischen Gruppierung, die sich für Umbruch der schweizerischen Politlandschaft einsetzt.
Jener Libero, der sich 1984 als liberaler Mensch sporadisch schriftlich an die Kilchberger Dorfbevölkerung wandte, setzte sich zum Beispiel für eine rechtzeitige Reform der Schweiz ein, bevor eine solche – wie einst durch Napoleon – dem Land von aussen aufgezwungen würde. Reform dort, Umbruch hier. Dazwischen liegen 30 Jahre. Dort der schreibende Polit-Libero, hier die «Operation Libero». Es folgen auf Seite 26–31 kleine Auszüge aus den in den Jahren 1984–2004 publizierten Internetbeiträgen, deren Relevanz im Jahr 2021 ungebrochen scheint.
«Freiheit, 1984» war konsequenterweise der Titel des ersten Beitrags jenes Liberos, der inkognito und ungeschoren 22 Jahre lang die Dorfbewohner mit Gedanken belieferte. Sein Name: Christoph Zollinger. Er erinnerte seine Mitbürgerinnen und Mitbürger an die Worte Alexis de Tocquevilles aus dem Jahr 1856: «Sie, die Freiheit, erwärmt und vereinigt die Bürger jeden Tag aufs Neue durch die Notwendigkeit, sich in der Behandlung gemeinsamer Angelegenheiten miteinander zu besprechen, einander zu überzeugen und sich wechselseitig gefällig zu sein. Sie allein ist fähig, die Bürger dem Kult des Geldes und den täglichen kleinlichen Plagen ihrer Privatangelegenheiten zu entreissen, um sie jeden Augenblick das Vaterland über und neben ihnen wahrnehmen und fühlen zu lassen; sie allein lässt von Zeit zu Zeit die Lust am behaglichen Leben durch tüchtigere und erhabenere Leidenschaften verdrängen.»
«Sicherheit, 1984» hiess die Überschrift des zweiten Beitrags. Libero hielt den Leserinnen und Lesern den Spiegel vor. Wir Schweizer sind das am besten versicherte Volk der Welt. […] Als Denkanstoss diente die Aussage einer damals 70-jährigen Tessinerin: «Seit ich AHV beziehe, geht es mir materiell besser als je zuvor. Aber arbeiten will ich trotzdem, sonst hat das Leben für mich keinen Inhalt. Viele meiner Freundinnen besorgten früher im Alter eine Kuh, ein paar Geissen, eine kleine Wiese. Seit sie AHV beziehen, haben sie alles verkauft, da sie den Verdienst nicht mehr brauchen. Jetzt sitzen sie traurig und unzufrieden herum – während die Wiesen verganden.»
«‹Im Prinzip› sind wir alle grün, 1985.» Wir alle, die wir an der Gemeindeversammlung schweizerisch, amerikanisch, bünzlig oder weltoffen denken, sind im Prinzip gegen die Umweltzerstörung. Nur, was unternehmen wir praktisch dagegen? Wir bleiben sitzen, die Hände in den Taschen; was sollen wir tun, sagen die einen, hört doch endlich auf mit dem Quatsch, die andern. Wir alle warten – je nach Temperament und geografischer Lage – stoisch und achselzuckend ab, mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen. Man sollte etwas tun, jemand muss das Übel anpacken, darüber sind wir uns einig …
«Der Lärm der schweigenden Mehrheit, 1987.» Geradezu grotesk mutet die Situation bei der politischen Entscheidungsfindung an: Da weder die Faust im Sack noch das goldene Schweigen hörbar sind, lässt die Mehrheit von uns zu, dass ihre Meinung ungehört verhallt. Wird sich daran 1987 etwas ändern? Ja, zweifellos. Vorerst stellen wir fest, dass liberales Denken, das sich auf individuelle Initiativen konzentriert, lautlos zunimmt. Manch einer entfernt sich gedanklich, sozusagen im Stil einer Revolution in den eigenen Reihen, vom Partei-Establishment …
«Wer sich getroffen fühlt, der ist gemeint, 1987.» Der Wandel, dem unser Wortschatz unterliegt, ist beachtlich. Ich zitiere: Eigensucht heisst jetzt Selbstentfaltung, Rücksichtnahme heisst Selbstverlust, Treuelosigkeit heisst Spontaneität, Flatterhaftigkeit heisst Flexibilität, Hemmungslosigkeit heisst Temperament, Kopflosigkeit heisst Impulsivität, Unzuverlässigkeit heisst Selbstbestimmung, Oberflächlichkeit heisst erfrischende, entwaffnende, wohltuende, unkomplizierte Natürlichkeit.
«Unproduktivitätssteigerung, 1989». Sehen weite Kreise unserer übersättigten Wohlstandsgesellschaft die Erfüllung ihrer Aufgaben – zum Beispiel in der Politik – in der Produktion von unproduktiven Gesetzesfluten, in der Popularisierung harmlos tönender Umweltverträglichkeitsprüfungen, in der Auflage von Sanierungsmassnahmen aller Art, im Verhängen von Verkehrsbehinderungsdekreten, im Auf- und Ausbau staatlicher Ämter? […] Oder wäre es möglich, dass Steuergelder sinnvoller ausgegeben würden als für die schleichende Ausweitung des unersättlichen Apparats von Regeln und Instanzen, den Bau neuer «Stadtmauern» mit Pförtneranlagen und «Berlinerkissen»?
«Das Ende des Status quo? 1990.» Kürzlich sind in unserem nördlichen Nachbarland im Rahmen des Zeit-Symposiums mehrere hochkarätige und verlässliche Politiker und Wissenschaftler zusammengekommen, um den Ursachen und Folgen der osteuropäischen Revolution nachzugehen. Zusammenfassend meinte ein nachdenklicher Ralf Dahrendorf: «Es ist uns bei diesem Gespräch klar geworden, dass wir mit dem Denken in Systemen und insofern dem Denken in den Kategorien des Status quo nicht mehr weiterkommen.»
«Schweiz – Europa, eine Vision, 1992.» Die Schlüsselabstimmung über den EWR-Beitritt kann mit Ja oder Nein enden […], ob all der Teilaspekte gilt es allerdings, das Ganze nicht aus den Augen zu verlieren: Erstmals seit Jahrhunderten baut Europa, die EG (ohne aktive Mithilfe der Schweiz), an einer stabilen Friedensordnung, an einem Projekt der Versöhnung.
«‹CH 1993›: Die Katze beisst sich in den eigenen Schwanz.» Eigenartigerweise sind es oft die gleichen Kreise, die heute die Subventionsgiesskannen in Bern hochhalten und für Bauern- oder Autosubventionen stimmen und morgen lautstark gestikulierend gegen die «classe politique» wettern. Reformen, die man am Vortag vor vollen Sälen gefordert hat, werden 24 Stunden später im Parlament verhindert. Subventionen werden am Leben erhalten, die eben diese maroden Strukturen endlich beseitigen würden.
«What a wonderful world! 1995 (Kilchberg einmal im Jahr).» Sie klettern auf die Bühne, ergreifen ihre Instrumente. «Hello Dolly» – und schon vibriert das ganze Spose-Zelt. Es ist Chilbi-Sonntag, 11.45 Uhr […]. Zwei Stunden später. «What a wonderful world» ist der krönende Abschluss (vor den Zugaben, vor dem zweiten und dritten Schluss). Bob weckt Erinnerungen an Louis, sein grosses Vorbild. Kilchbergerinnen und Kilchberger stehen auf den Bänken. Gefährliche Gleichgewichtsübungen, überschwappende Gläser, heisse Gesichter, strahlende Freude. Kilchbergerinnen und Kilchberger freuen sich über die wundervolle Welt …
«‹Illusion Sicherheit›, Neujahr 1996.» An der Schwelle zu einem neuen Jahr darf die Gesellschaft zur Kenntnis nehmen, was die Wissenschaft vermeldet. Das Zeitalter des mechanischen Determinismus ist überholt, das Prinzip der Kausalität nicht mehr alles erklärend. Das Ursache-Wirkung-Denken gründet auf Beobachtungen der Vergangenheit. Neue Welten tun sich auf, die mit den einst fortschrittlichen Erkenntnissen nicht mehr erklärt werden können. Die Sicherheit ist weg – spontane Änderungen werden unausweichlich.
«Liebi Dorflüt und Gebursami, 1998 (750 Jahre Kilchberg).» Benutzen wir doch 1998 dazu, dort Traditionen zu fördern, wo sie verbindend wirken. Mehr persönlichen Kontakt mit den Nachbarn, wie es früher gang und gäbe war? […] 750 Jahre später ist auch aus der Welt ein Dorf geworden, das Global Village. Die grossen Distanzen sind überbrückt – wir haben die ausgezeichnete Gelegenheit, im Jubeljahr auch einige kleine in unserem Dorf zu überwinden.
«Liberalismus, 2005.» Vor 21 Jahren erschien der Beitrag «Freiheit, 1984». Damit begann eine lose Serie Betrachtungen des Libero, die heute ihren Abschluss findet. […] «Die Grundbedeutung von Freiheit ist Freiheit von Ketten, von Eingesperrtsein, von Versklavung durch andere.» Wer politische Kompromisse oder Salärbescheidung in Topetagen der Wirtschaft als Ketten, Temporeduktionen im Individualverkehr als Eingesperrtsein oder die EU als Sinnbild der Versklavung durch andere empfindet, ist wohl einem Grundirrtum erlegen. So war dieser Satz von Isaiah Berlin nicht gemeint.
(Sämtliche im Kilchberger Gemeindeblatt von 1984–2005 erschienenen Leitartikel können im Buch «Mythen, Macht + Menschen durchschaut!» nachgelesen werden.)
2003 und 2004 schreibt der Autor in der Zürichsee-Zeitung – in der Rubrik «Standpunkt», die jeweils für ein Jahr an zwei externe Autorinnen/Autoren vergeben wird. Erstmals werden die Begriffe «Transparenz» und «ganzheitlich» durch Christoph Zollinger zum Schlüsselthema bei der Bewältigung herausfordernder Projekte im neuen Jahrtausend postuliert.
«Transparenz und Klartext, 2003.» Wir akzeptieren, dass bisher Verborgenes sichtbar gemacht wird. Die neue Ehrlichkeit kommt jenen nicht gerade gelegen, die es in der Vergangenheit legitim oder clever fanden, sich Vorteile aus undurchsichtigen Abläufen zu verschaffen.
«Freiheit und Alltag, 2003.» Wir konsumieren unsere Freiheit, vermeintlich, ohne dafür bezahlen zu müssen. Sie dauert schliesslich seit 1291, das ist doch eine Leistung, die wir vorzuweisen haben. Haben wir? Und was tun wir heute dafür?
«Liberalismus und Demokratie, 2003.» Vor 200 Jahren verdrängte der Liberalismus den Merkantilismus, der seinerseits den Feudalismus abgelöst hatte. Anders gesagt: Die freiheitliche und freisinnige Welt-, Staats- und Wirtschaftsanschauung befreite damals die Wirtschaft von staatlicher Bevormundung.
«Populismus und Politik, 2003.» Gemäss Duden heisst Populismus «von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik mit dem Ziel, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen zu gewinnen».
«Gegensätzlich oder ganzheitlich? 2003.» Zweifellos erleben wir eine solche «Umbruchphase», eine Zeit, in der neue Werte jene alten zu überlagern beginnen, die dem Druck des Wandels nicht mehr gewachsen sind. Zum Beispiel:
Gegensätzlich (alt) | Ganzheitlich (neu) |
entweder/oder | sowohl als auch |
begrenzt | offen |
polarisierend | integrierend |
Linke gegen Rechte | lösungsorientiert |
Machtgehabe | Verantwortung |
Diktatur/Ultimatum | Lösung/Konsens |
«Grösse und Macht, 2004.» Die Fiktion der geltenden Lehrmeinung, wonach Grösse = Macht = Erfolg bedeutet, ist an sich eine Seifenblase. Den Konkurrenten besiegen. Den Markt beherrschen. Einfaches, lineares Denken – wie zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Kriegerisches Vokabular zudem.
Zwischen Januar 2009 und Oktober 2013 erschienen auf www.glaskugel-gesellschaft.ch in der Rubrik «durchschaut!» die ersten 100 Kommentare zum Zeitgeschehen – Fokus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Einige davon können nachgelesen werden im Buch «Mythen, Macht + Menschen durchschaut! Gegen Populismus und andere Eseleien», herausgegeben im Conzett Verlag, Zürich, oder natürlich auf www.glaskugel-gesellschaft.ch, ab 2012 auch in der schweizerischen Online-Zeitung journal21.ch, gegründet 2010 von Heiner Hug.
Ein Beitrag sei stellvertretend hier nochmals erzählt, weil es ein so schönes Märchen ist.
durchschaut! Nr. 53 vom 15. Januar 2012
(Ein skurriles Schweizermärchen)
Der alte Mann und der See
Die neueste Geschichte «made in Switzerland» stimmt viele Menschen im Land nachdenklich.
Der einstmals verwöhnte Fischer vom Zürichsee war seit über 84 Tagen ohne Erfolgserlebnis.
Er war, so haderte er, vom Pech verfolgt. Seine Frau verbot ihm sogar, weiterhin mit dem glücklosen Kollegen Marcello, genannt das «Schlitzauge» – den er vor Jahren an der Basler Fasnacht kennen gelernt hatte –, zusammenzuspannen. Stattdessen riet sie ihrem Gatten, mit erfolgreicheren Fischern in See zu stechen, hinaus Richtung Untiefen bei der Ufenau. Dezidiert brachte sie Rüdiger ins Gespräch. Er wäre der richtige Mann, erfahren im Netzeauswerfen und im Übrigen seit mehreren Jahren als treu ergebener Wasserträger im Dienste ihres Angetrauten. Und zudem: «Er denkt anders, als Sie denken.» Allenfalls würde Rüdiger seinen Gehilfen, im Freundeskreis «Engel» genannt, beiziehen. Letzterer genoss in Berufskreisen den Ruf eines begnadeten Märchenerzählers, der aus dem Nichts über Nacht «Tatsachen» fabulierte, was sich beim stundenlangen Warten auf fette Beute als sicherer Wert erweisen könnte.
Marcello blieb seinem Freund trotzdem in treuer Interessengemeinschaft verbunden, umso mehr, als dieser in letzter Zeit immer öfter Anzeichen von Wahnvorstellungen verriet. Schliesslich teilten die beiden seit Jahren wichtige Charaktereigenschaften. Beide kämpften sie unentwegt gegen Wind, Regierung und Wetter, gegen den äusseren Feind; ja, sie waren eigentliche Widerstandskämpfer von altem Schrot und Korn. Dafür investierten sie nicht nur viel Zeit.
Eines Tages weihte der alte Mann Marcello in seinen Plan ein: Morgen würde er, zusammen mit zwei erprobten Berufsfischern und Kampfgenossen ausfahren, weit hinunter, seeabwärts. Diesmal würde er seine Pechsträhne beenden. Potz Schweizerzeit! Marcello staunte nicht schlecht und blinzelte gewohnheitsmässig.
So fuhren denn die vier alsbald gen Nordwesten und legten ihre Leinen vor dem lieblichen Moränenhügel in Zürich-Enge aus. Gegen Abend biss tatsächlich ein grosser Fisch an. Die vier waren überzeugt, einen präsidialen Fang am Haken zu haben. Allerdings konnten sie ihn nicht sogleich ins Boot hieven, stattdessen drohte der in Panik geratene – war es ein gewaltiger Hecht? – ihr Fischerboot hinter sich herzuziehen. «Nur mit der Ruhe», schrie der alte Fischer und fuchtelte mit beiden Armen. «Das muss ein eingewanderter Marlin sein, der einheimische Fische verdrängt. Wir sind zwar nur vier, aber so, wie wir für die Unabhängigkeit unserer Heimat kämpfen, so werden wir auch diesmal siegreich bleiben!»
Rüdiger riet besonnen zur Ruhe und putzte sich die Wasserspritzer von der randlosen Brille. «Lassen wir ihn zappeln, unsere Karten sind die besseren. Machen wir es uns gemütlich im Boot. Warum erzählst du uns nicht eines deiner Märchen, lieber ‹Engel›?» Dieser liess sich nicht zweimal bitten. Eloquent holte er aus: «Es war einmal ein Überflieger, ein mächtiger Mann, der in seinem Schloss an der Bahnhofstrasse die Autonomie unseres Königreichs gefährdete, ja es an die EU ausliefern wollte.» Der alte Mann, bereits etwas schwerhörig: «Eine Verschwörungstheorie …»
«Unterbrich ihn nicht, sonst kommen ihm Zweifel», zischte Rüdiger mit überlegenem Grinsen, seinem Markenzeichen.
Es verging die ganze Nacht. Der «Engel» erfand unermüdlich neue Märchen, sein Chef rieb sich die Hände vor Freude und Kälte; Hunger und Durst machten sich bemerkbar. Nur der alte Mann blieb ungerührt. Mit schmerzenden Händen umklammerte er die einschneidende Leine. «Ich bin seit jeher für Widerstand! Lasst uns wachsam bleiben, nicht erlahmen im Kampf gegen den unsichtbaren Feind!» Gerade wollte, im Morgengrauen, «Engel» kichernd noch sein kürzlich erfundenes Märchen «Der Schlumpf und die tapfere Eva» zum Besten geben, als Action aufkam.
Der Fisch begann zu kreisen – ein Anzeichen von Erschöpfung. Der alte Mann griff nach seiner Harpune … Noch einmal hatte der alte Mann den Kampf gewonnen.
In Zeitraum von November 2013 bis Juli 2016 folgten weitere 100 Kommentare auf www.glaskugel-gesellschaft.ch, sie sind teilweise nachzulesen im Buch «Perspektivenwechsel. Fokus Zukunft» aus dem Conzett Verlag, Zürich, und auf journal21.ch.
«Das Wort Malaise drückt eine immer weiter um sich greifende schweizerische Grundstimmung aus. Es bezeichnet eine seltsame Mittellage zwischen ungebrochener Zuversicht und nagendem Zweifel. […] Derartige Übergänge zwischen Bejahung und Verneinung sind bedrohlich. Sie verzehren die Kräfte des Einzelnen und sie lähmen die Tatkraft der Gemeinschaft. In der Ferne zeigt sich die Möglichkeit einer plötzlichen und ungestümen explosiven Entladung: Ausbrüche im Kleinen sind längst zur Tagesordnung geworden. Die Symptome dieser Entwicklung zu sehen und ihre Gründe zu erkennen, bleibt die erste Aufgabe, die uns die schweizerische Gegenwart stellt. Ihr folgt die Verpflichtung, Möglichkeiten zu suchen, die eine Heilung der schleichenden Krise versprechen.» (Max Imboden: «Helvetisches Malaise», 1964, zitiert aus: Zollinger: «2032 – Rückblick auf die Zukunft der Schweiz»).
Max Imboden (1915–1969) war ein Staats- und Verwaltungsrechtsprofessor an der Universität Basel. 1964 publizierte er sein «Pamphlet», wie er es selbst nannte, ein dünnes Büchlein von 42 Seiten. Es hiess «Helvetisches Malaise». «Die Schweiz befindet sich in einer seltsamen Mittellage zwischen Zuversicht und nagendem Zweifel. […] Im 19. Jahrhundert waren wir eine revolutionäre Nation; heute sind wir eine der konservativsten der Welt.»
An dieser Stelle beginne ich eine Aufzählung von Büchern, die sich in den letzten 20 Jahren mit dem Zustand der Schweiz auseinandergesetzt haben. Es ist gleichzeitig eine verräterische Liste. Die subjektive Auswahl umfasst 15 Werke, vom dünnen Büchlein bis zum dicken Wälzer. Eines wird sofort klar: Die kritischen Betrachtungen zur Schweiz haben Tradition. Immer wieder werden Reformen angeregt, gefordert, vermisst.
1990: Borner, Brunetti, Straubhaar: «Schweiz AG, vom Sonderfall zum Sanierungsfall?» Zitat: «Die Schweiz AG braucht eine neue Strategie. Deutlich vor Augen geführt durch die EG 92, haben die weltwirtschaftlichen Veränderungen in jüngster Zeit ein Ausmass erreicht, das ein gründliches Überdenken schweizerischer Eigenheiten erfordert.»
1990: Muschg: «Die Schweiz am Ende. Am Ende die Schweiz» «Die Schweiz muss also – nur scheinbar paradox – europäischer und globaler denken und handeln, um schweizerisch zu bleiben – das fragwürdige Privileg des Sonderfalls geniesst sie dabei nicht mehr.»
1991: Stiftung für Geisteswissenschaften (Hrsg.): «Die Schweiz: Aufbruch aus der Verspätung» «Ein Volk ohne Vision geht zugrunde.»
1995: Harabi (Hrsg.): «Wettlauf um die Schweiz 222» «Wie lösen wir die anstehenden Probleme der Altersvorsorge? Können wir den ökologischen Belastungen sinnvoll entgegenwirken?»
1995: De Pury u. a. (Hrsg.): «Mut zum Aufbruch. Eine wirtschaftspolitische Agenda für die Schweiz» «Die Schweiz verfügt über eine gute Ausgangslage, um sich in diesem Konkurrenzkampf zu behaupten. Voraussetzung dazu sind jedoch weitere mutige Liberalisierungsschritte und vermehrte unternehmerische Initiative.»
1996: Kutter: «Doch dann regiert das Volk» «So ist die Schweiz als Beispiel für eine direkte Demokratie auf der Karte Europas umgeben von repräsentativen Demokratien. Eine notwendige Auseinandersetzung mit einer Demokratieform, die ihre Berechtigung unter höchst aktuellen Bedingungen wieder einmal – oder gar zum letzten Mal? – zu beweisen hat.»
1998: Wittmann: «Die Schweiz – Ende eines Mythos» «Nötige Reformen werden durch die direkte Demokratie im Keim erstickt, der Filz der Wirtschaft, Politik und Militär und das Kantonsdenken blockieren vernünftige Entscheidungen, und der gute Ruf ist ruiniert.»
2000: Clavel/Schoenenberger: «Sonderfall ade – die Schweiz auf neuen Wegen» «Die Autoren formulieren in acht Thesen, wie die Zukunft der Schweiz aussehen könnte.»
2005: Sommaruga/Strahm: «Für eine moderne Schweiz» «Gemeinsam erläutern die Autoren, für jeden verständlich und ohne ideologische Scheuklappen, die dringendsten Reform-Aufgaben der Schweiz und wie sie endlich umgesetzt werden können.»
2007: Kreis (Hrsg.): «Die Schweizer Neutralität» «Die Schweizer Neutralität ist politisch höchst umstritten. Welche Rolle spielt sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts für die Schweizer Aussenpolitik?»
2008: Meier (Hrsg.): «Das Unbehagen im Kleinstaat Schweiz. Der Germanist und politische Denker Karl Schmid (1907–1974)»