Impressum

Hasso Grabner, Heinz Mildner

Die Zelle

 

ISBN 978-3-96521-417-0 (E-Book)

 

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

 

Das Buch erschien 1968 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale).

 

2021 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

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Und ob wir dann noch leben werden,

wenn es erreicht wird –

leben wird unser Programm;

es wird die Welt

der erlösten Menschheit beherrschen.

Trotz alledem!

Karl Liebknecht in der „Roten Fahne“ vom Tage seines Todes

1

Wenn der Meister Kirsten in die Halle kommt, vor dem trotz Oma Lauterbachs Putzlappen immer ein wenig staubigen Kalender stehenbleibt, die große 21 aus dem Blechrahmen herausnimmt, die Pappe nicht umdreht, sondern hinter die übrigen fünfzehn Kalenderkarten steckt, so also die 22 einfach unterschlägt und den Kalender gleich auf die 23 vorspringen lässt, dann ist Sonnabend, Sonnabend, der einundzwanzigste.

Der Kalender ist arm dran, denkt Willy Schnabel. Seit Jahr und Tag ist ihm durch Ernst Kirstens Ordnungssinn verwehrt, in der Mechanischen Werkstatt von Meier & Sonntag die Tage der Ruhe mit den Zahlen auf seiner breiten Brust zu feiern, die ihnen auf Geheiß des längst verblichenen Papstes Gregor zuständen. Für ihn gibt es nur Wochentage. Sonnabend, der einundzwanzigste – Montag, der dreiundzwanzigste. So will es Meister Kirsten, und der ist, was den Kalender betrifft, stärker als Seine Heiligkeit Anno dazumal.

Natürlich will der Meister Kirsten den Sonntag nicht aus der Welt schaffen. Dazu hat er das Kartenkunststück nicht erfunden. Ernst Kirsten ist zwar ein fleißiger Mann, ein sehr fleißiger, und er liebt auch den Fleiß anderer, aber Sonntag bleibt Sonntag. Den gönnt er sich und allen anderen, den Drehern, Fräsern, Hoblern, die hier in dieser Halle seinem Kommando unterstellt sind. Im Übrigen hätten sich alle auch ohne Kirstens Wohlwollen ihres Sonntags erfreut.

Im Knast, so hatte Herbert Müller vor Jahren seinem Freund Willy Schnabel berichtet, im Knast habe ich mich beim Aufwachen jeden Tag gefragt: Worauf kannst du dich heute freuen? Und, glaub es oder glaub es nicht – es gab immer etwas. Montags neue Bücher, dienstags turnen oder was sie da so nannten, mittwochs baden, donnerstags Hering, freitags neue Wäsche, sonnabends zeitiger Feierabend, na, und Sonntag war Sonntag. Diese selbst unter so schlimmen Verhältnissen tragfähige Philosophie der „Freuden des Alltags“ hatte Willy Schnabel gut handhabbar gefunden und sich seitdem oft zunutze gemacht. Heute früh hat er allerdings beim Aufwachen nicht erst fragen müssen. Heute steht ein guter Tag auf dem Programm: Gernsdorfer Wäldchen! An Freuden ist dringender Bedarf. Was diese Zeit zu bieten hatte, konnte selbst den bescheidendsten Ansprüchen nicht mehr genügen. Schließlich schreibt man nicht einen beliebigen Sonnabend, den einundzwanzigsten, sondern Sonnabend, den einundzwanzigsten Juni und den wiederum nicht in irgendeinem Jahr, sondern neunzehnhunderteinundvierzig!

Und das ist ein Scheißjahr! Der stinkige Höhepunkt, besser gesagt Tiefpunkt schon wahrlich genug beschissener Jahre. So jedenfalls empfinden es Willy Schnabel und natürlich auch Else, obwohl diese das hässliche Wort nicht denkt. So empfinden es Herbert und Horst und Bertold, Fritz, Mariechen, die Witwe Hagelstange und viele andere. Aber noch viel mehr empfinden ganz anders. Millionenfach wird da eine Vorsehung bemüht, sich auf den Knien dafür danken zu lassen, dass sie dem deutschen Volke den Führer geschenkt hat. Eine verrückte Welt, in der die Leute jubeln, von der Pest befallen zu sein. Nicht Willy Schnabels Welt, wahrhaftig nicht, und dennoch die, in der er zu leben gezwungen ist und – darin liegt die ganze Tragik – aus der es nirgendwo einen Ausweg zu geben scheint. Vor dem giftigen Atem dieses Hitler sind die Völker wie wurmstichige Äpfel vom Baum Europas gefallen. Zu Stiefelsohlen verarbeitet, marschiert das deutsche Rindvieh kreuz und quer über den Kontinent. Was in den Stiefeln steckt, hat Maß und Sinn verloren. Das grölt von einem kleinen Blümelein namens Erika dort, wo einst von der schönen blauen Donau gesungen wurde, berät im Hradschin über die besten Galgenmodelle, trägt das Mittelalter über die Weichsel nach Warschau hinein, macht aus dem Tivoli einen Rummelplatz für den deutschen Feldwebel, lässt sich mit Brille in edelgermanischer Pose vor Oslos Wikingerschiffen fotografieren, frisst sämtliche blauen Trauben aus den endlosen Gewächshäusern der Brüsseler Peripherie, spuckt Amsterdams Grachten voll, lässt die Mona Lisa im Louvre nachdenken, worüber sie eigentlich noch lächeln soll, säuft Rackij in der Festung Belgerad und Uso im Schatten eines alten Gerümpels, das die Athener Eingeborenen unverständlich ehrfürchtig Akropolis nennen. Stark beschäftigt – vormittags Leute umbringen, nachmittags Heimatpäckchen packen, vom Abend ganz zu schweigen ist das alles mit sichtbarem Erfolg bemüht, das tausendjährige Heuschreckenreich zu errichten, begleitet von den Lob- und Preisgesängen jener Millionen, die ihre Kenntnis von den unvergleichlichen Heldentaten ihrer braven feldgrauen Jungen aus schwungvollen Wehrmachtsberichten und behaglichen Feldpostbriefen beziehen.

Das Unkraut Wahnwitz, Verblendung, Herrendünkel und Habgier hat den deutschen Acker überwuchert. Klein ist das Häuflein derer, die nicht mitschwimmen wollen im schaumigen Wahn. Ihr Nein flüstern sie dazu noch auf sehr unterschiedliche Weise. Der Herr hat sein Antlitz von den Völkern abgewandt, sagen die einen; dem Schwein, dem Hitler, gelingt auch alles, die anderen.

Und weil ihm eben alles gelingt, haben Willy Schnabel und die Seinen mehr Kummer, als ihren Herzen zuträglich ist. Herkules soll die Erde ein Weilchen auf dem Rücken getragen haben. Was ist Herkules gegen einen Willy Schnabel, den die Frage drückt: Wie soll das weitergehen?

Ich, Willy Schnabel, werde erst in dreißig Jahren siebzig. Vorher gedachte ich nicht zu sterben – wenn sich’s einrichten lässt. Noch dreißig Jahre das, was sie Drittes Reich nennen! Ein unmöglicher Gedanke! Es ist kein Trost, dass die acht Jahre, seitdem die Verbrecher an der Macht sind, auch vorübergegangen sind. Gewiss, wenn uns dreiunddreißig einer gesagt hätte, die halten sich acht Jahre, den hätten wir für verrückt erklärt. Wir haben die acht Jahre hineinfressen müssen. Aber immer war irgendeine Hoffnung. Die Röhmrevolte, die Saarabstimmung, die Remilitarisierung des Rheinlandes, die freche Provokation in Spanien, Österreichs gewaltsamer Anschluss, die tschechoslowakische Krise und dann der Krieg. Blatt um Blatt hat dieser Baum Hoffnung verloren. Nun steckt er seine kahlen Äste in den eisigen Himmel der „europäischen Neuordnung“ – und die Vernunft, die verfluchte, muss sich sagen: Da wächst kein Grün mehr.

Dürres Braun ringsum, und das heißt eben dreißig Jahre Gefängnis Drittes Reich. Selig die, die noch in Preußen oder in Reuß jüngere Linie geboren wurden, nicht im Deutschen Reich, weil es dies noch nicht gab, als sie das fragwürdige Licht der Welt erblickten. Sie haben diese dreißig Jahre schon voraus und die begründete Hoffnung, durch natürlichen Abgang die braundeutsche Zucht- und Strafanstalt um einen Insassen zu prellen. Noch glücklicher die, die schon einrückten in Karl Liebknechts Armee. Ihnen blieb erspart, das Nichts zu sehen. Sie durften in der Hoffnung sterben, während uns die bitterste aller Erkenntnisse zu werden droht: Nun ist alles aus!

He! Schnabel! Was soll’s? Hast du nicht immer gesagt: Bolschewik, das ist eine Lebensstellung, da gibt’s keinen Urlaub? Seit wann singst du dir dein Requiem selbst? Ist dir nicht eben Herbert Müllers Zuchthausphilosophie eingefallen? Hat dir nicht die heutige Morgenstunde ins Ohr geflüstert: Gernsdorfer Wäldchen? Ist das keine Freude? Na schon, meinst du? Wieso ist dann alles freudlos? Weiße Birken, blauer Himmel und „die lieben Vöglein alle“, das ist schon etwas. Aber nicht genug, bei weitem nicht genug, um zu vergessen, dass sich über gefiederte Sänger, wiegende Birken und blinkenden See die stinkende Käseglocke des großdeutschen Wahnsinns stülpt. Also doch keine rechte Freude? Eine knifflige Frage. Aber Willy, würde Else sagen, ein halbes Leben lang fanden wir schön: Heute wollen wir das Ränzlein schnüren. Nicht von „schön“ ist die Rede, Else, sondern von der Freude. Das ist nicht immer dasselbe. Heute schon lange nicht mehr. Können wir mit dem Gernsdorfer Wäldchen auf die Faschisten einschlagen? Können wir nicht. Womit wir aber nicht auf die Faschisten einschlagen können, das ist außerstande, rechte Freude zu bereiten. Das ist höchstens schön, schlicht und simpel schön.

Aber wir haben rechte Freuden. Wir sind die unbesiegbare Kommunistische Partei Deutschlands auf dem Territorium

Meier & Sonntag. Wir haben die Volksfront geschaffen, sie reicht von Hennigs Profitgier über die persönliche Anständigkeit des alten Sonntag, über den in blanke Aggregate verliebten Meister Kirsten, über Fleiß, Tüchtigkeit und guten Willen der Kollegen bis zur Bereitschaft, auf Leben und Tod für die Fahne zu kämpfen, die hier unsichtbar und unantastbar zugleich aufgerichtet ist. Wir sind glücklich im Sinne unseres Freundes Balatnikow. Und wir sind dankbar, denn uns können Blut und Dreck und Dunst den Weg zur Tat nicht verlegen. Die Flügel, die uns tragen, haben einen Namen. Er steht in schwarzer Tusche auf vielen Ordnern in den Aktenregalen der Fräsmaschinenfabrik Meier & Sonntag: RUSSENAUFTRAG. Wie die Faschisten ihren Krieg verlieren sollen – wir wissen es nicht. Alle Wie? sind uns versiegelt. Eine Nussschale sind wir im brüllenden Sturm. Höher schlagen die Wogen, als unsere Augen sich zu erheben vermögen, um Land zu erspähen. Zerbrochen das Ruder, über Bord gespült Kompass, Sextant und Karten, wer kann da noch von geradem Kurs, von bewusster Navigationskunst sprechen! Dennoch: Kein Meer ist so groß, dass es nicht seine Küsten hätte. Diese Gewissheit bleibt unzerstörbar in uns, wenn es auch fraglich ist, ob wir diese Küsten je erreichen. Doch ist uns ein Zeichen von diesem Lande gegeben. Manchmal sitzt ein weißer Fregattvogel auf dem Mast unseres Schiffleins, ein kühner Segler im brausenden Hurrikan, Zeuge der Zukunft und der großen Wahrheit, dass der Gewalt des feindlichen Elements Grenzen gesetzt sind. Jetzt ist er lange nicht dagewesen, unser schimmernder Vogel Hoffnung. Zehn Wochen und länger wohl. Doch nächste Woche, so hoffen wir, wird er uns begrüßen: Gutten Tack, Herr Schnabbel, haben wir gutt gearbeitet, dass Arbeiter in Gorki sich freuen werden? Nächste Woche. Eine geht heute wieder zu Ende. Oma fegt den Hallenflur blank von Spänen und Dreck. Lappen und Besen regieren die Stunde. Komm her, alte Niles (Drehmaschine der „Deutschen Niles AG“), ich will dich schön machen für den Sonntag. Vielleicht willst du auf deine alten Tage noch zum Ball gehen.

Heute wollen wir das Ränzlein schnüren, ohne das rechte Lachen zwar, ohne wirkliche Lust und wahren Frohsinn; Kummer, Trotz und schwere Bürde sind kein Gepäck auf Fahrt. Dennoch wird sie nicht abgesagt. Nichts wird abgesagt, nichts, weißer Fregattvogel. Trotz Braus und Brand – uns geht die Sonne nicht unter.

Servus, alte, blitzende Niles. Tschüss bis dann, Heinz und Herbert, wer zuerst am Bahnhof ist, löst die Karten für uns alle …

2

Das Zelt ist alt und mürbe, man sieht ihm seine zehn Jahre an, von außen wie von innen. Willy Schnabel stört das nicht sonderlich, er gehört nicht zu den Leuten, die Gütern nachtrauern, die nun einmal nicht zu haben sind. Wie sollte man auch zu einem neuen Zelt kommen, jetzt, wo zwar die Segeltuchwebereien auf vollen Touren laufen, aber jede Bahn schon für einen Landser vorbestimmt ist, und deren gibt es Millionen. Ob es so viel Zeltbahnen gibt, woher soll Willy Schnabel das wissen? Für ihn gibt es keine, das ist todsicher, er ist kein Soldat. So kann er im Zelt auf dem Rücken liegen, die Hände unter dem Kopf gefaltet, und die vielen kleinen Löcher im Dach betrachten, durch die der junge Sonntagmorgen hereinblinzelt. Einen unbestreitbaren Vorteil hat das Gernsdorfer Wäldchen. Es liegt in der Nähe der großen Stadt und doch weit genug weg von ihren Hakenkreuzfahnen, Amtswalteruniformen und „Stürmer“-Schaukästen.

Willy und Else haben auf diesem Fleck Erde schon gezeltet, als sich die braunen Uniformen in der Stadt noch scheu in die Ecken drücken mussten und die Scheiben eines Nazischaukastens keine Nacht überlebt hätten. So ist Willy im Gernsdorfer Wäldchen auf eigene Art zu Hause und muss sich nicht erst lange vorstellen, wie dieses Stückchen Welt rund um sein zerlöchertes Zelt zur Stunde aussieht. Er ist eins mit den jungen Birken da draußen, die sich Tag und Nacht etwas zu erzählen haben, eins mit dem grünen Gras, den Löwenzahnlaternen, den breiten Huflattichblättern, den Haselsträuchern, in denen der Kleiber schon nach den kaum milchreifen Nüssen fahndet. Dennoch ist Willy alles andere als das, was sie früher einen „Latscher“ nannten, einen, der „der Städte dumpfen Banden“ entfloh, um „im Walde tief drinnen die blaue Blume fein“ zu finden. Die rote Nelke, die auf dem Asphalt der Großstadt blüht, ist ihm mehr als die Hälfte seiner vierzig Jahre begehrenswerter erschienen. Else hat diese Blume erst später lieben gelernt. Sie ist früher ein zünftiger Wandervogel gewesen, die langen Zöpfe in Schnecken über die Ohren gewunden, ein Kleid wie ein Nachthemd, mit einer Schnur unter der Brust notdürftig auf eine gewisse Form gebracht, eine schwere bronzene Rune darauf, echte Handarbeit zu entsprechenden Preisen. Edelkommunisten nannte sich dieses Völkchen, das sich mitleidig von den Radaukommunisten abgrenzte, Kropotkin las, Bakunin, auch wohl Marxens „Heilige Familie“ und dann Tagore, Nietzsche, Stirner, Spengler, van de Velde und viel Sigmund Freud und Alfred Adler. In diesen Kreisen hatte sich Else wohl gefühlt, ein Naturmensch, „ein glühender Verfechter der Revolution der Herzen“, ein Teil des „Weltgeistes“. Lesen, singen, debattieren und „in reiner Nacktheit baden“, darin hatte sie den Sinn ihres Lebens gesehen.

Dann trat Willy in ihr Leben und lief vom ersten Tage an Sturm gegen ihr Credo: Hebt eure Fahnen in den Wind, / sie leuchten hell wie Sonnenglut / und künden, dass wir gläubig sind. / Der Mensch ist gut! Wenn ihr sänget: Der Mensch hat eine Nase, das würde ich euch noch abnehmen, zwei Hände, zwei Beine meinethalben auch, aber beim Gehirn, da hakt es schon aus. Manche haben keins. Eure ultrarevolutionären Schwarmgeister zum Beispiel. Wer ist denn das: der Mensch? Ist das der Herr Krupp, oder ist das der junge Drehergeselle Schnabel? Für einen von beiden müsst ihr euch schon entscheiden. Wie – das ist längst klar? Ihr meint den „freien Menschen“! Na, ausgezeichnet! Da gibt es zum Beispiel einen Menschen namens Braun. Dieser, von Beruf Landgerichtsdirektor in Berlin, war so frei, einen anderen Menschen namens Max Hölz für etwas, was jener gar nicht begangen hatte, zu lebenslänglich Zuchthaus zu verurteilen. Welcher Mensch ist nun frei, welcher gut, welcher gute ist frei, welcher freie ist gut? Wie willst du mit deinem Gefühlssalat fertig werden, wenn du nicht begreifst, dass es Reiche und Arme gibt, Bourgeois und Proletarier, Unterdrücker und Unterdrückte, und keinen Menschen schlechtweg? Sammle einmal fünf Mark für Max Hölz und die anderen zehntausend Gefangenen der bürgerlichen Klassenjustiz, dann bist du gut und tust auch einen Schritt auf dem Wege zur Freiheit.

Else war damals über den Ausdruck „Gefühlssalat“ sehr empört gewesen, aber dann hatte sie, mehr aus Trotz, doch Geld gesammelt. Willy hatte sie zum Kassierer der „Roten Hilfe“ geschickt, dort begriff sie zum ersten Mal, was Willy meinte. Die Augen des Kassierers hatten es ihr gesagt. Augen voller Freude und Befriedigung über die bescheidenen acht Mark und über den neuen Mitstreiter für die gerechte Sache, Augen voller Sorge wegen der noch fehlenden achttausend oder achtzigtausend oder acht Millionen Mark, die nötig gewesen wären, um den Kampf mit größerer Wucht zu führen.

An diesem Tage spürte Else, dass es nicht genügt, die Revolution in heißen Reden zu preisen, in schwungvollen Gesängen zu feiern. Wenn wirklich, wie es im Lied hieß, aus Not und Plagen jungen Bluts Begeisterung glüht, dann muss diese Begeisterung das junge Blut auch treppauf, treppab jagen, um Groschen um Groschen für die „Rote Hilfe“ zu sammeln oder ein anderes der tausend Dinge zu tun, die die Kommunisten erdacht hatten, um den Traum von der Revolution zur revolutionären Tat zu erheben.

Dennoch war Else nicht das geworden, was man eine nüchterne Frau nennt. Was gut war an Schwung, Begeisterung, Gefühl, hatte sie sich standhaft bewahrt und Willy unmerklich und wohl auch unbewusst gelehrt, wie gut es harmoniert mit der trockenen, poesielosen täglichen Kleinarbeit des Arbeiterfunktionärs. Es wäre falsch, von zwei Kieselsteinen zu reden, die sich gegenseitig abgewetzt haben, denkt Willy, ganz falsch wäre das. Keine Kiesel, langweilig, glatt, ergeben, über die die Wasser der Zeit dahinschwätzen. Wenn schon Steine, dann haben hier zwei Feuersteine aufeinandergeschlagen, dass die Funken spritzen, glatte Flächen und scharfe Kanten waren das Ergebnis, und nie verloren gegangen sind Spannung, Bereitschaft, Eigenwilligkeit. Die Partei hat Else bewahrt, im Schwung der Jugend am Himmel der Revolution aufzuglühen wie eine Sternschnuppe und dann im Spießertum zu verlöschen, denkt Willy und ist froh, Vollstrecker dieses Parteiauftrags gewesen zu sein. Nicht nur, weil er Else liebt, auch seinetwillen. Was wäre ohne Else aus ihm geworden? Auch ein aktiver Kommunist, natürlich. Gewerkschaftsdebatten, Betriebsratsprobleme, Flugblätter verteilen, Plakate kleben, Landpropaganda, Broschüren vertreiben, agitieren, demonstrieren, diskutieren, Proparbeit, Ware, Geld, Mehrwert, Profit, Umschlag von der Quantität in die Qualität, Negation der Negation, Urgesellschaft, Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus, Imperialismus, Sozialismus. Durch Else hatte er verstehen gelernt, dass dies alles nicht nur getan, gedacht, erlernt werden kann und darf, sondern auch erlebt werden muss. Hinter jedem verteilten Flugblatt, aber auch hinter jedem in der MASch (Marxistische Arbeiterschule. Einrichtung der KPD zur theoretischen Schulung, wissenschaftlichen und künstlerischen Bildung der Arbeiterklasse auf dem Boden des Marxismus) mühselig studierten gelehrten Satz standen opferbereite, selbstlose Kämpfer, Geschlecht um Geschlecht bis in die Tage des Spartacus, um für die „heilige Sach“ und ihren endgültigen Triumph zu zeugen. Der gesammelte Groschen, das geklebte Plakat, die dem misstrauischen Bauern mit schon heiserer Stimme doch noch verkaufte Broschüre mündeten ein in die rauschende Fahne, die des Volkes Grollen über Zwingburgen stolz himmelan trägt.

Ich bin glücklich gewesen zwischen Asphalt und diesem „Himmelan“, denkt Willy, und die Groschen sammelnde, Plakate klebende, Broschüren verkaufende Else ist mir nicht denkbar gewesen ohne die, die deklamierte: „Lächeln, Atem und Schritt sind mehr als des Lichtes, des Windes, der Sterne Bahn, die Welt fängt im Menschen an.“ Das war ein anderer Mensch als das blutlose Ideal ihrer Jugend. Sie selbst war ein neuer Mensch geworden und durch sie ich auch. Ohne sie wäre ich ein Fritz Nitzsche geworden und hätte nie erfahren, was es darüber hinaus noch gibt. Nein, ich will Fritz Nitzsche nicht herabsetzen, nichts liegt mir ferner als das. Ein Mann, ein Kommunist, der Fritz. Um nichts geringer, nur anders. Kommunist, das ist kein Leisten im Schusterregal, den anderen links und rechts gleich. Kommunist, das ist Vielfalt, der eine so, der andere so und dennoch im Grunde viel ähnlicher als ganze Reihen von Leisten nebeneinander.

Im Nachbarzelt liegen Herbert und Mariechen Müller. Else und Mariechen, wie sehr sie sich unterscheiden! Aus zwei getrennten Welten fanden sie die Straße, auf der die Partei marschiert. Großes, unmerkliches Kopfschütteln damals, in der Silvesternacht einunddreißig, als Herbert seinen neuen Stern im Schnabelschen Hause vorstellte.

3

Ein Weibchen, dieses Mariechen, dachten Else, Willy und auch die Nitzsches, ein Weibchen mit strammem Busen und einer genauen Vorstellung davon, ihn wirkungsvoll ins Treffen zu führen. Dumm wie Bohnenstroh. Sie muss sich furchtbar gelangweilt haben unter Menschen, die, während andere trinken, singen, tanzen, lachen, ihren Glühwein kalt werden lassen über Gesprächen um das 11. EKKI–Plenum (EKKI: Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale) und überhaupt nicht auf den Gedanken kommen, dass sich ihr Gast nichts unter einem Plenum und schon gar nichts unter dem EKKI vorstellen kann. Spaßig, wie Herbert immer versucht hatte, den Dolmetscher ins Parteideutsch zu spielen, während er doch selbst nur die Hälfte von dem verstand, worüber geredet wurde. Willy hatte sich darum nicht gekümmert; was er erläutert hatte, war Parteilinie, bündig und gültig formuliert, nachzulesen in der „Roten Fahne“ und in der theoretischen Zeitschrift „Internationale“. Es war Nitzsches und Herbert Müllers eigene Schuld, wenn sie nicht lasen, was für sie, für sie ganz besonders gedruckt worden war, genauso wie es ihre Schuld war, zu Silvester zu Schnabels zu kommen. Bei Willy und Else wird theoretisiert, das wussten sie alle, worüber um alles in der Welt hätte man sich einen ganzen langen Silvesterabend unterhalten sollen? Große Stunden für den Polleiter der Betriebszelle Meier & Sonntag, denn Gedanken entwickeln, belehren, erklären war und ist Willy Schnabels große Leidenschaft. Große Stunde, wenn das zu Erklärende mit dem tiefsten Herzenswunsch übereinstimmt. Man begann das neue Jahr, das Jahr, das die Entscheidung bringen sollte, musste, würde. Das Jahr, für das im Buch der Geschichte eine Seite reserviert war, eine Seite, auf der in unvergänglichen Lettern geschrieben stehen würde: 1932 – Sturz der Kapitalsherrschaft – Proletarische Revolution – Errichtung der Sozialistischen Räterepublik Deutschland.

4

Bei all dem hatte Mariechen wie ein Hühnchen im Falkenhorst gehockt, bemüht, bisweilen mitzugackern, als die Falken über ihren bevorstehenden Sturmflug auf den großen Zwingberg sprachen. Nun ja, aus dem Sturmflug war nichts geworden, wohl aber aus dem Hühnchen! Kein Falke, bewahre! Aber waren denn die Falken noch Falken? Acht Jahre Hitler. Da steht einem der Falkenflug nicht mehr recht an. Sich unter acht Jahren Hitlerdiktatur fortzubewegen, erscheint die Wühlmausgangart zweckmäßiger. Acht Jahre Wühlmaus, eifrig bemüht, an den Wurzeln der großdeutschen Eiche zu nagen, das ist auch etwas. Vom Falken zur Wühlmaus – was heißt das schon! Wenn es als Falke nicht mehr geht, Sturmflug wegen übermächtiger Winde nicht auf der Tagesordnung steht – nagt, nagt, die verfluchte Eiche muss fallen! Und wenn die Wurzeln so dick geworden sind, dass sie in alle Ewigkeit der Zähne zu spotten scheinen – nagt, nagt weiter, aus Prinzip, aus Beharrlichkeit, aus Treue, aus Hass. Lasst nicht ab, fragt nicht, ob es noch einen Sinn hat. Generationen vor euch haben nicht gesiegt und dennoch gekämpft. Und wo immer müde Fechter hinsinken im blutigen Strauß, es kommen neue Geschlechter, sie fechten es besser aus. Hinsinken – ja. Aufgeben – niemals. Für Willy gilt das, für Else, für alle, auch für Mariechen. Sie ist eine ganz ordentliche Wühlmaus geworden. Keine kann so schön über die Knappheit der Lebensmittelmarken seufzen und den Frauen im Laden beibringen, wie gut doch früher alles war, keine läuft so eifrig durch die Straßen, allen erzählend, wer aus der Nachbarschaft gefallen ist. O Gott, o Gott, der schlimme Krieg! Mariechen ist gut, sie denkt, wenn auch mit kleinem Verstand, so doch scharf genug. Das Nur-Weibchen hat sie längst abgelegt. Ist sie Kommunistin? Ja, wenn zum Kommunistsein nicht gehört, Kenntnis zu haben vom Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. Wenn das unerlässlich ist, ist Fritz auch kein Kommunist, aber Fritz ist einer. Und Herbert und Heinz Meyer sind es auch und nicht nur vom Hörensagen, obwohl sie von diesem Gesetz kaum mehr als den Namen kennen. Alle haben Kopf und Kragen riskiert in den vergangenen acht Jahren, denn die Wühlmäuse leben alles andere als ungestört, und es nagt sich nur in gefährlicher Nähe blankgeschliffener Spaten an den Wurzeln der großdeutschen Eiche.

Was sie erreicht haben? Ach, die Eiche steht, scheint es, im besten Saft. Und doch ist sie schwächer geworden, durch die Wühlmäuse. Gewiss, um ein Winziges nur, aber um so viel doch, wie deren Kraft vermochte. Und um genauso viel ist die Kraft der Sowjetunion gewachsen. Ihr zugeflossen sind das Können, der Fleiß der Kollegen von Meier & Sonntag, die durch das Vorbild und durch das Geschick der Genossen, für die gute Sache zu werben, begriffen hatten: Fräsmaschinen für die Sowjetunion, das sind nicht Fräsmaschinen schlechtweg, nicht Maschinen für Hinz und Kunz. Da kann man nicht nur arbeiten, wie ein guter Arbeiter eben arbeitet, da muss man arbeiten, dass es keiner besser kann in der ganzen Zunft der Dreher, Schlosser, Monteure. Es hatte lange gedauert, ehe sie das begriffen hatten. Fräsmaschinen für Sowjetrussland! Mitten aus dem braunen Machtbereich heraus. Starke Maschinen, schöne zuverlässige. Von Willy Schnabel gebaut, von Heinz Meyer, von Herbert Müller, Fritz Nitzsche, von Hunderten deutscher Arbeiter. Es geht einem Menschen wie Willy Schnabel nicht um bloße Selbstzufriedenheit. Diese stille Stunde im Zelt ist der rückschauenden Besinnung gewidmet, sie soll den Standort feststellen, klarmachen, wie die Kräfte gruppiert sind, und der Vorausschau dienen. Das vollzieht sich nicht in einem vorsätzlichen Akt, ja, es ist ihm gar nicht unmittelbar bewusst. Sein Kopf kann nicht anders, als die Gedanken unablässig um seine gefährliche Welt kreisen zu lassen, die er mit der ganzen Kraft seines Herzens verändert sehen will. Es drückt ihn schwer, dafür keinen Weg zu wissen, aber die Bedrückung macht ihn nicht mutlos. Es wird ein Tag kommen, der den Ausweg zeigt, an dem sich erweist, dass der Kampf nicht umsonst gekämpft wurde. Das ist Willys sichere Überzeugung, und in ihr weiß er sich einig mit allen seinen Freunden.

5

Willy hört Heinz im Nachbarzelt rumoren. Ein unruhvoller Junge, so früh schon wach. Nun stellt er auch noch das Radio an. Morgennachrichten? Jetzt schon! Und womit beginnt die Goebbelssche Dreckschleuder? Mit der Wehrmachtfanfare natürlich. Dieses gottverfluchte Täterätä! Da haben sie irgendwo wieder einen Nachttopf versenkt, das müssen sie gleich verraten.

 

„Achtung, Achtung, wir bringen eine wichtige Sondermeldung. Achtung, Achtung, wir bringen eine wichtige Sondermeldung. Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: Am heutigen Morgen, vieruhrfünfundvierzig, haben starke Einheiten der deutschen Wehrmacht, unterstützt von zahlreichen Kampfverbänden der Luftwaffe, auf breiter Front die sowjetrussischen Grenzen …“

 

Mit einem Ruck ist Willy hoch. Er reißt an der Zeltverschnürung und zwängt sich durch das halbgeöffnete Loch.

„Was ist denn los“, murmelt Else, jäh aus dem Schlaf gerissen, aber Willy hört nur: „sowjetrussische Grenzen überschritten.“ Sowjetrussische Grenzen. Heinz hat den Kasten aufgedreht, dass der Wald dröhnt. Aus allen Zelten schauen verschlafene, strubblige Köpfe heraus. Es dauert nur Sekunden, da hocken ein Dutzend Menschen um das Akku-Gerät und ducken sich, als fege ein Sturm über sie dahin und raube ihnen Atem und Besinnung.

6

Noch einmal klingt die Wehrmachtfanfare auf. Sie dröhnt wie das Gekreisch einer nun ganz wahnsinnig gewordenen Welt.

Die meisten Menschen hier kennen sich gerade so vom Ansehen. Dennoch blickt Willy, als er sich in der Runde umsieht, in die gleichen starren, erschrockenen Gesichter. Die sind alle echt, denkt er. In einer solchen Minute spielt keiner Theater. Aber er denkt es nur. Acht Jahre konspirative Arbeit haben ihm Vorsicht und Wachsamkeit zur zweiten Natur werden lassen. Erst später fällt ihm ein, dass die anderen auch nur gedacht haben, gesagt hat keiner etwas.

Schweigend gehen die Leute in ihre Zelte zurück. Willy, Else, Herbert, Mariechen und Heinz bleiben vor dem verstummten Apparat sitzen. Als niemand mehr nahe genug ist, ein leise gesprochenes Wort aufzufangen, bricht Herbert Müller das Schweigen: „Jetzt gibt’s Senge.“ Alle nicken. Keiner fragt, wer diese Senge austeilen und wer sie einstecken wird.

Wie war das gestern, denkt Willy, gestern, als Meister Kirsten den Kalender umsteckte und den Sonntag übersprang? War es nicht so, als bliebe selbst für den Traum keine Luft zum Atmen? Selbst der Sonntag war gestorben? Und nun ist Sonntag geworden, Sonntag lässt sich nicht aus der Welt schaffen und schon gar nicht für ewig und alle Zeiten. Gestern schien es keine Antwort mehr zu geben auf die Frage, wer die drohende Eiszeit der „Europäischen Neuordnung“ aufhalten soll. Heute schmettert das braune Blech seinen eigenen Untergang frech in die Welt hinaus. Gestern schienen Willy Schnabel und seine Genossen, die ihm Nahestehenden und die Tausende, die er nicht kennt, zu lebenslanger Haft im Zuchthaus Großdeutschland verurteilt zu sein. Heute kündet die Wehrmachtfanfare den Riesen an, der die Kerkermauern zertrümmern wird. Mit Willy Schnabel und den Seinen werden die Völker Europas vor einem Schicksal bewahrt werden, gegen das die babylonische Gefangenschaft nur ein harmloser Familienausflug gewesen wäre. Auch dem deutschen Volke wird in dieser Stunde ein helfender Urteilsspruch. Erlöst wird es von einer Rolle, die ihm nicht ansteht, die seinen Namen endgültig auslöschen würde aus den Annalen des menschlichen Fortschritts.

Es ist Sonntag, der zweiundzwanzigste Juni neunzehnhunderteinundvierzig. Ein Tag wie keiner. Die Eiszeit findet nicht statt. Nun wird Horst Schulze wissen, wie richtig es war, eingelenkt, den bösen Streit beendet zu haben. Nicht unter dem Druck dieses gewaltigen Ereignisses, sondern schon vorher, aus der Freiheit eigener Entscheidung heraus, jener Freiheit, über die er so eifersüchtig wacht. Jetzt wird er selbst froh sein, trotz seiner Zweifel an der Richtigkeit des Paktes den Weg zur Partei zurückgefunden zu haben, zur Partei, die ihn nicht entbehren kann, wie er ohne sie aufhören müsste, er selbst zu sein.

Und jetzt wird auch die Linie erneut bestätigt, um deren Verwirklichung seit Jahren ein so schwerer Kampf geführt wurde. Die Bedeutung von Awtosawod Gorki wird unter den Bedingungen des Krieges gewiss noch wachsen. Fräsmaschinen von Meier & Sonntag halfen mit, dieses Gewicht zu erlangen. Mehr als acht Jahre lang, länger als Hitlers tausendjähriges Reich währt, haben sie bei Meier & Sonntag Fräsmaschinen für die Sowjetunion gebaut. Mit der Präzision eines Uhrwerkes, das der Ehrgeiz treibt, die Zeit zu überholen, sind diese Maschinen in immer schnelleren Takten durch die Hallen gelaufen. Bereitstellung – Mechanische – Montage – Spritzerei – Versand! Tag für Tag, Jahr für Jahr, bis gestern, Sonnabend, den 21. Juni 1941, zwölf Uhr zehn. Jetzt ist es achtzehn Stunden später. Ringsum sieht alles aus, als sei dies ein Tag, wie er immer war; die Birken lassen sich ihr Haar vom Winde kämmen, der Himmel ist dabei sich in sich selbst zu verlieben, der Spötter pfeift sein djadjadjiö, dsidsidjädjäd, und doch ist alles anders geworden. Morgen, in weniger als vierundzwanzig Stunden, stehen Willy, Herbert, Heinz, alle Mitglieder der Zelle, steht die ganze Belegschaft von M & S dort, wo sie am Sonnabend aufgehört haben, karren Material heran, rücken Maschinen ein, setzen Schraubenschlüssel an, schaben, lassen die Spritzpistolen fauchen, tun, was sie immer taten, und – alles hat seinen Sinn verloren. Schlimmer – es hat einen neuen, furchtbaren Sinn erworben – Fräsmaschinen für die Nazis!

„Mensch, für die braune Pest arbeiten“, murmelt Herbert, und die Erregung macht ihm die Zunge schwer und die Stimmbänder heiser. „Das müssen Millionen, und schon so lange“, antwortet Mariechen. Sie spürt sofort selbst, wie schwach dieser Trost ist.

„Quatsch – für die Nazis arbeiten“, fährt Heinz dazwischen. „In der Bude geht ein paar Tage alles drunter und drüber. Bis dahin haben die Russen den Nazis den Arsch vollgehauen, und der Spuk ist aus. Genosse, sagen wir, wenn der erste Russe kommt, das hier ist Meier & Sonntag, hier seid ihr immer erstklassig bedient worden. Frag Balatnikow. Du kennst doch sicher den Ingenieur Balatnikow von der Handelsvertretung der UdSSR in Berlin? Jawohl, Genosse, Balatnikow wird dir bestätigen: Meier & Sonntag, immer karascho! Und nun kann’s gleich weitergehen. Ohne den alten Sonntag natürlich. Kein schlechter Kerl, der alte Sonntag, aber wozu brauchen wir den? Also – bitte schön, Genosse – wie viel Fräsmaschinen sollen es denn jetzt sein? Ein paar mehr als bisher schinden wir allemal noch heraus. Jetzt haben wir doch keinen Hennig mehr, der uns dazwischenfunkt. Den Hennig, den haben wir im Koksbunker eingesperrt, sobald wir dazu kommen, hängen wir ihn auf, den Halunken. Karascho?“

Lächelnd sieht sich Heinz Meyer um. Er ist der Jüngste im Kreis. Sechsundzwanzig, seit neunzehnhunderteinunddreißig Jungkommunist. Arbeitsdienst und Wehrmacht haben ihn nicht krumm gebogen. Ein großer Junge, den nichts umwirft. Du bist noch auf dem Galgengerüst sicher, dass der Strick reißt, sagte Fritz Nitzsche einmal zu ihm, halb anerkennend, halb tadelnd. Was heißt hier Galgen, hatte Heinz geantwortet. Wenn ich Adolf eine Bombe vor die Füße werfen könnte, wäre mir egal, ob der Strick reißt oder nicht. Menschenskinder! Warum schmeißt denn keiner!

Es war Willy schwergefallen, den Jungen zurechtzurücken, wohl auch, weil ihn die Frage selbst immer wieder bewegte. Der ist kein Revolutionär, den die Ungeduld nicht fast verzehrt. Aber wer ihr die Zügel schießen lässt, ist auch keiner. Dabei geht es nicht um ein faules Einerseits – Andererseits. Einheit von brennender Ungeduld und eiserner Beherrschung, das unterscheidet revolutionäre Geduld von Revoluzzer-Romantik und von lauem Kompromisslertum.

Willy hatte nur zu gut gewusst, wie wenig solche Bemerkungen auszurichten vermögen. Ihm war noch in fester Erinnerung, mit welchem Widerstreben er selbst vor Jahren Ottomars gleichgeartete „Schulstunden“ hingenommen hatte. Kein noch so treffliches Argument besitzt die Kraft des großen Lehrmeisters Erfahrung. Heinz wird das von diesem Tage an erneut lernen müssen.

„Du verlangst ein bisschen viel von der Roten Armee. Zwei, drei Monate musst du ihr schon zubilligen“, sagt Willy. Herbert Müller nickt sorgenvoll. „Hoffentlich“, seufzt Else.

Heinz ist gewöhnt, auf den Zellenleiter zu hören. Für ihn ist Willy ein Mann, der nahezu alles weiß, ein halber Gelehrter. Doch jetzt widerspricht er heftig: „Zwei, drei Monate? Du musst doch einen Vogel haben. Die Nazis haben gezeigt, was Blitzkriege sind, und was die können, können die Russen zehnmal besser. Mensch, Rote Armee …!“ Willy lächelt. Die Worte des Jungen sind gewiss nicht fein gewählt, aber das Herz, das aus ihnen spricht, ist in Ordnung. Nur der Kopf ist korrekturbedürftig. So antwortet er mit einer gewissen Schärfe: „Hoffen kann man gar nicht genug, aber wer die politische Lage falsch einschätzt, kommt unweigerlich zu falschen taktischen Schritten. Wir müssen uns für die nächsten Monate auf einen harten Kampf einrichten. Weihnachten kann es darüber werden.“ Heinz will aufbegehren, aber mit schroffer Handbewegung fegt der Zellenleiter den Protest beiseite. „Nichts gegen freudige Überraschungen, aber alles gegen unangenehme. Leichtsinn ist kein Optimismus.“

„Dass die Nazis endlich an die richtige Adresse geraten, finde ich sehr in Ordnung“, platzt Heinz doch heraus. Das war vor wenigen Minuten auch meine Meinung, und es gab viele Gründe, so zu empfinden, denkt Willy. Aber waren sie nicht alle von der eigenen, begrenzten Sicht bestimmt? War es wirklich richtig, auf diese Radiomeldung hin tief aufzuatmen? Welche Opfer wird der Überfall der Faschisten dem Sowjetvolk auferlegen? Ist es nicht fast frivol, an eine solche Entwicklung freudige Erwartungen zu knüpfen?

Willy schaut beklommen von einem Gesicht zum anderen. Sie fühlen seine Gedanken und weichen den Blicken aus.

„Frühstücken müssen wir trotzdem“, spricht Mariechen in das lange Schweigen hinein und erhebt sich. Else sieht ihren Mann von der Seite an. Sein Blick verrät ihr, was er denkt: Wer soll einen Bissen hinterkriegen nach solch einer Nachricht!

Die Freunde ziehen sich in ihre Zelte zurück. Sie wissen nicht, wie sie noch zusammenhocken sollen, und nicht, wie sie auseinandergehen können. Sie wissen nichts anzufangen mit sich selbst und mit der neuen Kunde, die zwei sich so völlig ausschließende Seiten hat. Willy wirft sich wieder auf seinen Strohsack und starrt an die Dachplane. Dort stehen jetzt himmelblaue Sterne, aber das sieht er nicht, kein Zeltdach, keinen Himmel, kein Licht. Er fühlt nur einen dumpfen Schmerz in der Brust, den ausgedörrten Hals und die mörderische Frage: Was nun?

Draußen hantiert Else mit dem Aluminiumgeschirr. Das klappert gar nicht so lustig wie sonst. Auch vor den anderen Zelten ist es ruhig. Nichts von der übermütigen Lautstärke, mit der die paar Menschen hier sonst den Sonntagmorgen begrüßen, den freien Tag, den Tag einer kleinen persönlichen Freiheit von Hakenkreuzfahnen, Braunhemden, Arbeitsfront-Losungen und „Völkischem Beobachter“. Gedämpft sind alle menschlichen Stimmen ringsum. Nur der Spötter will nichts wissen von Weltgeschichte auf Leben und Tod. Er pfeift sein Djadjadjö dsidsidjädjäd, als gäbe es nur blauen Himmel, warme Sonne und wiegende Birken im Sommerwind.

„Lass ihn doch noch schlafen“, sagt Else zu Heinz, der sich durch ihre Frühstücksvorbereitungen hindurchwindet und den Kopf in das Zelt stecken will. Heinz sieht die Frau groß an. Meinst du, der schläft? soll das heißen, und Else senkt den Blick. Sie weiß besser als jeder andere, dass Willy nicht schläft.

Heinz schlängelt sich durch den Schlitz. Drinnen ist es dunkel. Er kann den Zettel nicht lesen, den er in der Hand hält. Aber er weiß die Zahlen aus dem Kopf.

„Wenn du annimmst, dass die dreihundert Kilometer machen, und das sind keine tausend von Brest bis hierher, da müssen sie jeden Augenblick kommen; um fünf werden sie doch spätestens aufgestiegen sein“, sagt er, und seine Augen glänzen. Willy lächelt seufzend. Tausendmal haben sie gesungen: Wir reißen hoch die Riesenapparate, / mit eisernem Griff die Hand das Steuer hält. / So kreiset wachsam überm Sowjetstaate / die erste rote Luftarmee der Welt. /

Kein Zweifel, sie würden höher und höher steigen, trotz allem Hass, und der Hohn würde dem fetten Göring im Halse steckenbleiben. Also mussten sie auch kommen, die ungezählten Geschwader, und den Himmel über dem Hakenkreuz verdunkeln. Aber kamen sie „jeden Augenblick“? Das denkt sich der Junge wohl doch ein bisschen zu leicht. „Ich weiß nicht“, erwidert Willy zögernd, „so einfach ist das nicht, Langstreckenflug zweitausend Kilometer hin und zurück, ob das geht? Bodenorganisation, Treibstoff, Funkdienst, reicht das von drüben bis hierher?“

„Wenn es wirklich drauf ankommt, bestehst du auf einmal aus lauter Zweifeln“, knurrt Heinz. Wird sich ein roter Flieger von ein paar organisatorischen Mängeln aufhalten lassen …!“

„Schade, dass sie dich nicht drüben haben. Du löst alle Fragen im Handumdrehen. Du füllst Bewusstsein in die Tanks, und schon fliegen die Maschinen.“

„Also kommen sie, oder kommen sie nicht? Wie eine vorgehaltene Pistole ist dieser Satz. Bekenn Farbe, Willy Schnabel: Glaubst du an die unüberwindliche Rote Armee, oder zweifelst du?

Schnabel lacht kurz und trocken auf. Noch nie hat er den Jungen so aggressiv gesehen. Natürlich kommen sie, aber das muss doch nicht heute sein.“

„Heute!“

„So, so, heute! Und die Infanterie möglichst gleich hinterdrein!“

„Na, wenigstens die Panzer. Berlin liegt doch nicht auf dem Mond. Die Dinger machen sechzig Stundenkilometer. Mit zwölf Stunden Marsch am Tag ist da viel geschafft.“

Jetzt wird Schnabel böse. „Nun hör aber auf! Einen Krieg gegen Nazideutschland kann niemand nach dem großen Einmaleins gewinnen. Die haben sich auch eine Chance ausgerechnet. Verkehrt, versteht sich. Aber Widerstand werden sie leisten. Und was Marschgeschwindigkeiten von Armeen anbelangt, Ludwig Renn hat uns das mal in einem Kursus erklärt. Da wirst du staunen, mein Lieber. Was die Deutschen im ersten Weltkrieg zügigen Vormarsch nannten, brachte ihre Divisionen am Tag zwei Kilometer voran. Ohne Widerstand.“

„Wir sind nicht im ersten Weltkrieg. Die Rote Armee ist vollmotorisiert. Das geht x-mal schneller.“

„Wie viel mal?“

Heinz denkt kurz nach, ehe er antwortet. „Zehnmal mindestens.“

„Na also, das sind fünfzig Tage von Brest bis hierher. Ohne Widerstand. Und du möchtest am liebsten jetzt schon das Ohr auf den Boden pressen, ob die Erde nicht dröhnt von den roten Panzerarmeen.“

„Ja, das möchte ich. Und sie wird dröhnen, sag ich dir.“

„Klar wird sie dröhnen. Aber September, Oktober, eher nicht. Du hast die revolutionäre Tugend immer noch nicht gelernt. Wir werden viel Geduld haben müssen. Die Rote Armee siegt! Unbedingt! Und wenn’s ein Jahr dauert!“

„Ein Jahr! Du weißt nicht, was du sagst, Mensch!“

„Nun ja, von einem Jahr kann keine Rede sein. Das habe ich nur so gesagt“, lenkt Willy ein. „Ich hätte auch zwei oder fünf oder zehn sagen können. Bloß so als Begriff, um klar zu machen: Geduld müssen wir haben, Heinz.“

„Geduld, Geduld, ich will keine Geduld mehr haben. Ich habe Stirnräder und Schnecken gefräst, immer hübsch eine hinter der anderen und mit Geduld. Nie habe ich den Hennig in die Fresse hauen, den Süße anspucken dürfen. Acht Jahre laufe ich herum wie in einer Zwangsjacke. Jetzt kracht’s in den Nähten. Zum Teufel mit deiner Geduld!“ Willy seufzt tief auf und sieht den erregten Jungen kopfschüttelnd an. Heinz beißt sich auf die Unterlippe. Eine Weile ist es still zwischen den beiden. Dann fährt Heinz fort: „Ich gehe jetzt nicht mehr weg vom Apparat. Am liebsten führe ich nach Hause. Da hab’ ich einen besseren. Mit dem krieg’ ich Moskau. Ich will das noch heute Abend hören: Unsere roten Geschwader belegten die Hauptstadt der Faschisten mit Bomben. Heute Abend will ich das hören, verstehst du!“

Schnabel nickt. „Ich möchte das auch, obwohl es eine verrückte Lage ist, in die wir hineingeraten sind. Bomben auf deutsche Städte! Wer ist Nazi, wer nicht? Bomben unterscheiden das nicht.“

Heinz sieht den Freund an, als habe er nicht recht verstanden. „Was sagst du da?“, fragt er verwundert.

Willy holt tief Luft, ehe er sagt: „Ich verstehe es selbst kaum. Es ist nur so ein Gefühl. Obwohl es verdammt wenig Veranlassung gibt, Gefühle zu haben. Aber zu denken, dass die Dinger herunterstürzen und Not und Tod bringen über Gerechte und Ungerechte, wie der Pastor sagen würde, ich weiß nicht … Es ist schwer, sich darüber zu freuen. Es ist unmöglich. Und trotzdem müssen wir wünschen, dass es geschieht, ja, wir würden es selber tun, wenn wir könnten. Wirklich verrückt!“

„Sorgen hast du! Hitler muss krepieren! Punkt!“, antwortet Heinz schroff. „Das muss er, aber in diesem Satz ist von mehr die Rede als von einem toten Hitler. Ich muss oft darüber nachdenken. Zwanzig, als ich in der kommunistischen Kindergruppe war, hatten wir im Vorderhaus einen, ein Beamtensöhnchen, der lief zum ‚Scharnhorst‘, das war die Kinderorganisation vom ‚Stahlhelm‘. Militärisch durch und durch. Wir haben uns immer gestritten, der Gunter und ich. Dabei kam nichts heraus. Es war ein dummer Junge, und ich verstand wohl auch nicht viel von dem, worüber ich mich ereiferte. Der Knabe argumentierte immer damit, was wir alles nicht haben: eine Uniform, Bergstöcke als Gewehrersatz, einen schneidigen Werwolfführer, Zeltlager, Gulaschkanonen und – den Kaiser. Das ließ mich alles kalt. Uniform, Werwolfführer und Zeltlager konnte sich der Gunter samt seinem Kaiser an den Hut stecken. Und ein Vaterland habt ihr auch nicht – ätsch, quäkte dann das Jüngelchen, worauf ich krähte: Wozu brauchen wir denn das? So lautstark ich das auch sagte, ganz innen spürte ich: Mit dieser Antwort war es nicht abgetan. So wurde aus der Antwort eine Frage. Und das ist sie heute noch.“

Über Heinz Meyers Jungengesicht zieht ein tiefes Staunen. „Komisch“, sagt er, „da haben die Nationalen, die Patrioten etwas, worum ein Willy Schnabel sie beneidet. Das wär’ mir nicht im Traum eingefallen.“ – „Patrioten, Nationale, Schimpfworte sind das, Schimpfworte für einen ehrlichen Arbeiter. Ein Patriot, das ist ein vollgefressener Dummkopf, die Brust voll Lametta, viel Bier, viel Hurra! Hurra! Hurra! Nein, auf die war ich nicht neidisch. Was die Vaterland nennen, hasse ich, wie du, wie jeder anständige Prolet. Nur – gibt es nicht etwas anderes, kann es nicht etwas geben, was man liebt? Manchmal habe ich richtig Sehnsucht danach.“

„Das Vaterland aller Werktätigen ist die Sowjetunion, das hast du uns selbst oft genug gesagt. Wofür hätten wir uns sonst all die Jahre mit den Fräsmaschinen geschunden?“

„Davon streiche ich kein Jota ab. Wie aber könnte sie es sein, wäre sie nicht zugleich ein Ruf an alle Unterdrückten, sich ein eigenes Vaterland zu erkämpfen? Das eine kann das andere nicht ausschließen. Liebte ich meine Mutter weniger, wenn ich eine Tochter hätte?“ „Vier Jahre bin ich jetzt bei euch, und ich dachte, ich wüsste alles von dir. Auf einmal kenne ich deine wichtigsten Gedanken nicht. Sollen die Russen Bomben auf Deutschland werfen oder nicht?“

„Sie sollen, aber ich kann nichts dafür, dass mir jede einzelne weh tut.“

„Dann wirst du viel Schmerzen leiden, Willy.“

„Ja, das wird wohl so sein.“

7

„Alles geben die Götter, die unendlichen, ihren Lieblingen ganz, alle Freuden, die unendlichen, alle Leiden, die unendlichen ganz.“ Else hat das früher hin und wieder zitiert. Damals hat Willy gelächelt, die Sache mit den Göttern war ihm nicht ganz geheuer gewesen. Jetzt fällt ihm dieser alte Satz ein. Götter hin, Götter her, auf die Kommunisten trifft wahrhaft zu, was hier gesagt wird. Nur das Mischungsverhältnis könnte ein wenig ausgewogener sein. Nimm die neue Hoffnung als ganze Freude, Willy Schnabel, so werden dir die neuen Schmerzen gerechter erscheinen. Nicht im Sinne demütiger Ergebenheit, wohl aber in der nüchternen Überlegung, dass euch nichts geschenkt wird auf dieser Welt. Dazu seid ihr auch nicht geboren, ihr Kommunisten, euch etwas schenken zu lassen, ihr seid doch selbst ein Geschenk an die Welt. Das fragt nicht nach sich selbst und will sich verströmen, und wenn ihr um Größe ringt, dann, um es immer größer werden zu lassen.

Das sind große Worte, aber Willy fürchtet sich nicht vor großen Worten. Die Worte müssen der Stunde entsprechen, und dieser Stunde entsprechen selbst die größten nur mangelhaft. Deswegen drückt auch inmitten erhabener Gedanken ein ganz einfaches Wort aus, was not tut, um den großen Bogen zurückzuführen zu Anfang und Ende aller Gedanken: Weitermachen, Schnabel und Genossen, nichts als weitermachen. Es ist alles anders als gestern, und es ist alles so geblieben, wie es war. Dort ist der Feind, und hier stehen wir. Was soll die Frage nach Freuden und Schmerzen? Der Feind …!

8

Else weckt Willy eine halbe Stunde eher als üblich. „Du musst heute früher im Betrieb sein.“ Willy nickt nur stumm. Das Aufstehen fällt ihm schwer. Ein Tag zum Fürchten, dieser 23. Juni 1941. Nichts war gestern Abend im Radio gewesen, nichts außer dem unsagbar blöden Geschwätz der Goebbelsschen Propagandamaschine. Eine trockene Meldung von Radio London, die bestätigte, was jeder wusste. Nichts von Moskau, was darauf schließen ließ, dass Heinzens Zuversicht nicht täusche. Bomben auf Berlin? Schweigen! Vernichtende Gegenstöße roter Panzerarmeen? Schweigen!

Die gackern nicht bei jedem Ei, das sie legen, hatte Willy zu Else gesagt, als sie endlich zu Bett gingen. Ich weiß nicht, mir ist bange, irgendwie …, war die Antwort gewesen, und der Mann hatte nichts Rechtes dagegen zu sagen gewusst.

Nun steht die Ungewissheit mit auf und geht mit in den Montagmorgen hinein. Ist von der Ostfront schon nichts bekannt, um wie viel undurchsichtiger ist die eigene Lage. Werden die Nazis im Lande verrückt spielen? Die halbe Zelle haben sie in den Gestapo-Akten. Bisher sind sie nie zum Zuge gekommen. Man wird doch noch ordentliche Arbeit leisten dürfen! Deutsche Wertarbeit! Der alte Sonntag: Meine Gefolgschaft – dunkle Geschichten – aber meine Herren …! Das war. Vorgestern! Was ist heute?