„Im Dunkel seiner Augen kann ein Mensch sich verlieren.“
Black Elk (Heiliger Mann der Oglala-Lakota-Indianer)
Raus aus der Box
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© 2021 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
Das E-Book basiert auf dem 2021 erschienenen Buchtitel »Führung und Selbsttäuschung« von The Arbinger Institute ©2021 GABAL Verlag GmbH, Offenbach.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN Buchausgabe: 978-3-96739-074-2
eISBN epub: 978-3-96740-122-6
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Anna Kunle, Konz
Lektorat: Anja Hilgarth, Herzogenaurach
Titelbild: Michael Brown, www.arbinger.com
Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen; www.martinzech.de
Illustrationen und Umschlagkonzept: Michael Brown, www.arbinger.com Satz und Layout: ZeroSoft, Timisoara
© 2021 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
© für die amerikanische Ausgabe „Leadership and Self-Deception“ 2018 Arbinger Properties, LLC.
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Einleitung
Teil I Selbsttäuschung und die Box
1Bud
2Ein Problem
3Selbsttäuschung
4Das tieferliegende Problem
5Unter effektiver Führung
6Die tieferliegende Wahl, die den Einfluss bestimmt
7Menschen oder Objekte
8Zweifel
Teil II Wie wir in die Box geraten
9Kate
10Fragen
11Selbstbetrug
12Merkmale des Selbstbetrugs
13Leben in der Box
14Kollusion
15Der Fokus in der Box
16Die Probleme in der Box
Teil IIIWie wir aus der Box aussteigen
17Lou
18Führung in der Box
19Auf dem Weg aus der Box
20Sackgassen
21Der Weg raus aus der Box
22Führung außerhalb der Box
23Geburtsstunde einer Führungskraft
24Eine zweite Chance
Anhang: Ressourcen und weiterführende Literatur
Forschung über Selbsttäuschung in Unternehmen
Von der Veränderung der Art zu sein zur Veränderung des Mindsets
Anwendungsbereiche für Führung und Selbsttäuschung in Unternehmen
Weitere Bücher von Arbinger
Die zentralen Schaubilder
Das Arbinger Institute
Das Problem der Selbsttäuschung ist schon sehr lange Gegenstand von Philosophen, Wissenschaftlern und Gelehrten, die sich mit den zentralen Fragen der Geisteswissenschaften befassen. Die Öffentlichkeit ist sich dieses Problems im Allgemeinen nicht bewusst. Das wäre nicht so schlimm, wenn Selbsttäuschung nicht so allgegenwärtig wäre, dass sie jeden Aspekt des Lebens berühren würde. „Berühren“ ist vielleicht zu milde formuliert, um den Einfluss der Selbsttäuschung zu beschreiben. In Wirklichkeit bestimmt Selbsttäuschung die eigene Erfahrung in allen Aspekten des Lebens. Inwieweit dies geschieht – und insbesondere, inwieweit Selbsttäuschung die Art des eigenen Einflusses auf andere Menschen und die Erfahrungen mit ihnen bestimmt –, ist Thema dieses Buches.
Um Ihnen eine Vorstellung davon zu geben, worum es geht, schauen wir uns einmal folgende Analogie an: Ein Kind lernt, wie man krabbelt. Es beginnt also durch das Haus zu robben. Während es das tut, bleibt es unter einem Möbelstück stecken. Dort haut es um sich, weint und schlägt seinen kleinen Kopf gegen die Seiten und Kanten des Möbelstücks. Es steckt fest und möchte sich unbedingt befreien. Es tut also das Einzige, was ihm einfällt, um sich selbst zu helfen: Es windet sich noch stärker – und verschlimmert dadurch sein Problem nur noch. Es steckt noch mehr fest.
Wenn dieses Kind sprechen könnte, würde es das Möbelstück für seine Probleme verantwortlich machen. Immerhin tut es ja alles in seiner Macht Stehende, um der Situation zu entkommen. Das Problem liegt aus seiner Sicht nicht bei ihm – was es natürlich doch tut, auch wenn es das nicht erkennen kann. Es stimmt zwar, dass es alles aufbietet, um das Problem zu lösen, aber das Problem ist eigentlich, dass das Kind nicht sehen kann, dass es selbst das Problem ist. Nichts, was ihm einfällt, kann sein Problem lösen.
Mit Selbsttäuschung ist es genauso. Sie macht uns blind für die wahren Ursachen von Problemen, und wenn wir einmal blind sind, werden alle „Lösungen“, die wir uns vorstellen können, die Sache noch schlimmer machen. Ob bei der Arbeit oder zu Hause, Selbsttäuschung verdunkelt die Wahrheit über uns selbst, verfälscht unsere Sicht auf andere und auf die Situation und hemmt unsere Fähigkeit, kluge und hilfreiche Entscheidungen zu treffen. In dem Maße, in dem wir uns selbst täuschen, werden sowohl unser Glück als auch unsere Führungsfähigkeit untergraben, und das Möbelstück ist sicher nicht schuld daran.
Wir haben dieses Buch geschrieben, um Menschen eine Lösung für dieses wesentliche Problem aufzuzeigen. Unsere Erfahrung bei Schulungen zu Selbsttäuschung und dessen Lösung hat gezeigt, dass Menschen dieses Wissen als befreiend empfinden. Es schärft den Blick, reduziert Konfliktgefühle, belebt den Wunsch nach Teamarbeit, verdoppelt die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, steigert die Fähigkeit, Ergebnisse zu erzielen, und vertieft das Gefühl von Zufriedenheit und Glück. Dies gilt unabhängig davon, ob wir diese Ideen mit Führungskräften in New York, Regierungschefs in Peking, Gemeindeaktivisten im Westjordanland oder Elterngruppen in Brasilien teilen. Mitglieder aller Kulturen beteiligen sich in dem ein oder anderen Ausmaß an ihren eigenen individuellen und kulturellen Selbsttäuschungen. Die Entdeckung eines Auswegs aus diesen Selbsttäuschungen ist die Entdeckung der Hoffnung und die Schaffung neuer Möglichkeiten und dauerhafter Lösungen.
Dieses Buch wurde erstmals im Jahr 2000 veröffentlicht. In dieser neuen dritten Ausgabe, die im Jahr 2018 erschienen ist, wurde der Inhalt überarbeitet, wir haben am Ende neue Abschnitte hinzugefügt, in denen beschrieben wird, wie groß das Ausmaß an Selbsttäuschung in Unternehmen ist, wie sich dieses Ausmaß bestimmen lässt und wie die Menschen sich dieses Buch und seine Ideen in fast zwei Jahrzehnten seit seiner Erstveröffentlichung zunutze gemacht haben.
Einige Leser waren zunächst überrascht, dass das Buch als Geschichte geschrieben ist. Obwohl die Erfahrungen der Figuren fiktiv sind, wurden sie von unseren eigenen und den tatsächlichen Erfahrungen unserer Kunden inspiriert, sodass die Geschichte glaubhaft klingt. Und die meisten Leser sagen uns, dass sie sich im Erzählten wiederfinden können. Aus diesem Grund liefert das Buch nicht nur ein konzeptuelles, sondern auch ein praktisches Verständnis des Problems der Selbsttäuschung und seiner Lösung.
Die daraus resultierenden Auswirkungen haben Führung und Selbsttäuschung zu einem der meistverkauften Bücher aller Zeiten zum Thema Führung gemacht. Die Fortsetzung des 2006 erschienenen Buches Konflikte im Kern gelassen lösen – Die Anatomie des Friedens basiert sowohl auf der Geschichte als auch auf den in Führung und Selbsttäuschung entwickelten Ideen. In der Kategorie „Konfliktlösung“ belegt es seit über einem Jahrzehnt den ersten Platz auf den Bestsellerlisten. Unser jüngster Bestseller, The Outward Mindset, zeigt, wie Unternehmen die in Führung und Selbsttäuschung eingeführten Ideen erfolgreich umsetzen können. Einzeln und zusammen helfen diese Bücher den Lesern, sowohl ihr Arbeits- als auch ihr Privatleben auf völlig neue Weise zu sehen und praktische und wirksame Lösungen für Probleme zu finden, von denen sie sicher waren, dass sie von jemand anderem verursacht wurden.
Wir hätten niemals gedacht, zu was für einem großen Erfolg Führung und Selbsttäuschung werden würde. Als das Buch erstmals erschien, hatten nur wenige Menschen jemals vom Arbinger Institute gehört, und unsere Entscheidung, es im Namen des Unternehmens zu veröffentlichen, widersprach der üblichen Vorgehensweise. Und doch ist das Buch ein Vorreiter geworden. Es ist heute bereits ein Klassiker mit einer Botschaft, die so wichtig und relevant wie nie zuvor ist. Wir sind zuversichtlich, dass unsere Einführung in das Problem der Selbsttäuschung und dessen Lösung Ihnen sowohl persönlich als auch beruflich hilft – nach der Lektüre können Sie sich selbst, andere und Ihre Herausforderungen anders sehen und Probleme lösen, die sich bislang hartnäckig einer Lösung widersetzten.
Es war ein strahlender Sommermorgen um kurz vor 9 Uhr, als ich mich beeilte, zum wichtigsten Treffen meines neuen Jobs bei der Zagrum Company zu kommen. Während ich über das von Bäumen gesäumte Gelände ging, erinnerte ich mich an den Tag vor zwei Monaten, als ich das ruhig gelegene Hauptquartier im Campus-Stil zum ersten Mal persönlich betreten hatte, um ein Vorstellungsgespräch für eine Leitungsposition zu führen. Ich hatte das Unternehmen mehr als ein Jahrzehnt von meinem Posten bei einem von Zagrums Konkurrenten aus beobachtet und beschlossen, mich endlich bei der Nummer eins zu bewerben. Nach acht Gesprächen und drei Wochen, in denen ich voller Selbstzweifel auf Nachricht gewartet hatte, bekam ich die Zusage, eine der Produktlinien von Zagrum leiten zu dürfen.
Heute, vier Wochen später, sollte ich ein spezielles Ritual der Geschäftsleitung von Zagrum kennenlernen: Ich würde ein ganztägiges Gespräch mit dem stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden Bud Jefferson führen. Bud war die rechte Hand von Zagrums Direktorin Kate Stenarude. Und aufgrund einer Änderung in der Geschäftsleitung war er im Begriff, mein neuer Chef zu werden.
Ich hatte versucht herauszufinden, worum es bei diesem Treffen gehen würde, aber die Erklärungen meiner Kollegen trugen nur zu meiner Verwirrung bei. Sie sprachen von einer Entdeckung, die angeblich zwischenmenschliche Probleme löse, wie etwa, dass sich niemand wirklich auf Ergebnisse konzentriere, und davon, dass das „Bud-Meeting“, wie es genannt wurde, sowie die Strategien, die offensichtlich daraus folgten, der Schlüssel zu Zagrums unglaublichem Erfolg seien. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprachen, aber ich war gespannt darauf, meinen neuen Chef kennenzulernen und ihn zu beeindrucken.
Bud Jefferson war eine jung aussehende 50-jährige Kombination von merkwürdigen Widersprüchen: ein reicher Mann, der in einem einfachen Auto ohne Radkappen herumfuhr; ein Schulabbrecher mit Harvard-Abschluss in Jura und Wirtschaft – summa cum laude –, ein Kunstkenner, der auch Beatles-Fan war. Trotz seiner offensichtlichen Widersprüche und möglicherweise auch gerade deshalb wurde Bud als Ikone verehrt. Er genoss die Bewunderung der gesamten Firma.
Es dauerte genau 12 Minuten, um zu Fuß die Entfernung von meinem Büro in Gebäude 8 zur Lobby des Zentralgebäudes zurückzulegen. Der Weg – einer von vielen, die die zehn Gebäude von Zagrum miteinander verbanden – schlängelte sich unter Eichen- und Ahornbäumen am Ufer von Kates Creek entlang, einem malerischen Flüsschen wie auf einer Postkarte, das von Kate Stenarude gestaltet und von den Mitarbeitern nach ihr benannt worden war.
Als ich die hängende Stahltreppe des Zentralgebäudes in den dritten Stock hinaufstieg, ging ich nochmals meine Leistungen während meines ersten Monats bei Zagrum durch: Ich war immer einer von denen gewesen, die zuerst kamen und zuletzt gingen. Ich hatte das Gefühl, dass ich fokussiert war und mich nicht von meinen Zielen abbringen ließ. Obwohl sich meine Frau oft darüber beschwerte, dass ich so viel Zeit und Energie im Büro aufwendete, versuchte ich stets, alle Kollegen, die in den kommenden Jahren für eine Beförderung im Rennen waren, an Schnelligkeit, Qualität und in jeder sonstigen Hinsicht zu übertreffen. Ich nickte zufrieden. Nein, es gab nichts an meiner Arbeit auszusetzen. Ich war bereit, Bud Jefferson zu treffen.
Als ich in der Lobby im dritten Stock ankam, wurde ich von Buds Sekretärin Maria gleich überaus freundlich begrüßt. „Sie müssen Tom Callum sein“, sagte sie und lächelte.
„Ja, ich habe einen Termin mit Bud um 9 Uhr“, sagte ich.
„Natürlich. Bud bat mich, Sie im Eastview Room auf ihn warten zu lassen. Er sollte in ungefähr fünf Minuten bei Ihnen sein.“ Maria begleitete mich den Flur entlang und führte mich in einen großen Konferenzraum.
Ich ging zur langen Fensterfront und bewunderte die Aussicht auf den Campus inmitten des grünen Connecticut-Waldes. Etwa eine Minute später klopfte es heftig an der Tür und Bud trat ein.
„Hallo Tom. Danke, dass Sie gekommen sind“, sagte er mit einem breiten Lächeln und streckte die Hand aus. „Setzen Sie sich bitte. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee, Saft?“
„Nein, danke“, antwortete ich. „Ich hatte heute Morgen schon genug.“
Ich setzte mich in den schwarzen Ledersessel, der direkt neben mir stand, mit dem Rücken zum Fenster, und wartete auf Bud, der sich am Tablett in der Büroecke etwas Wasser einschenkte. Er kam mit seinem Wasser sowie dem Krug und einem zusätzlichen Glas zurück und stellte alles zwischen uns auf den Tisch. „Manchmal kann es in diesem Meeting ziemlich heiß hergehen. Wir zwei haben heute Morgen viel zu tun. Bitte bedienen Sie sich, wann immer Sie möchten.“
„Danke sehr“, murmelte ich. Ich war dankbar für die Geste, aber unsicherer denn je, worum es hier eigentlich ging.
„Tom“, sagte Bud abrupt. „Ich habe Sie aus einem ganz bestimmten Grund gebeten, heute herzukommen – einem wichtigen Grund.“
„Okay“, sagte ich monoton und versuchte, die Angst, die in mir aufstieg, zu verbergen.
„Sie haben ein Problem – ein Problem, das Sie lösen müssen, wenn Sie es bei Zagrum schaffen wollen.“
Ich hatte das Gefühl, als hätte mir jemand in die Magengrube getreten. Ich suchte nach passenden Worten, aber mein Verstand raste. Ich brachte keinen Ton heraus und mir wurde plötzlich bewusst, wie schnell mein Herz schlug und wie blass ich wurde.
So erfolgreich ich in meiner Karriere auch war, eine meiner versteckten Schwächen war, dass ich zu leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen war. Ich hatte gelernt, dies zu kompensieren, indem ich die Muskeln in meinem Gesicht und in meinen Augen trainierte, um mich zu entspannen, damit kein plötzliches Zucken meine Aufregung verriet. Und auch jetzt wusste mein Gesicht instinktiv, dass es sich von meinem Herzen lösen musste, um mich nicht als denselben ängstlichen Drittklässler zu entlarven, der jedes Mal in der Hoffnung auf einen „Gut gemacht“-Aufkleber in Angstschweiß ausbrach, wenn meine Lehrerin die Hausaufgaben zurückgab.
Endlich gelang es mir zu sprechen: „Ein Problem? Was meinen Sie?“
„Wollen Sie das wirklich wissen?“, fragte Bud.
„Ich bin mir nicht sicher. Aber so wie es klingt, denke ich, sollte ich es wissen.“
„Ja“, stimmte Bud zu, „das sollten Sie.“
„Sie haben ein Problem“, fuhr Bud fort. „Die Leute bei der Arbeit wissen es, Ihre Frau weiß es, Ihre Schwiegermutter weiß es. Ich wette, sogar Ihre Nachbarn wissen es.“
Trotz seiner Worte lächelte er warmherzig. „Das Problem ist, dass Sie es nicht wissen.“
Ich war überrascht. Woher sollte ich wissen, dass ich ein Problem hatte, wenn ich nicht einmal wusste, was das Problem war?
„Ich fürchte, ich weiß nicht, was Sie meinen“, sagte ich und versuchte, mich ruhig zu geben.
Bud nickte. „Denken Sie einmal zurück“, sagte er. „Denken Sie beispielsweise an den Moment, als Sie gewusst haben, dass Ihre Frau das Auto nach Ihnen brauchte und Sie festgestellt haben, dass der Tank fast leer war. Sind Sie nicht nach Hause gefahren und haben sich gesagt, dass sie es genauso gut selbst auftanken kann?“
Ich dachte einen Moment darüber nach. „Ich nehme an, das habe ich mal getan, ja.“ Na und?, wunderte ich mich.
„Oder haben Sie jemals versprochen, Zeit mit den Kindern zu verbringen, haben aber in letzter Minute einen Rückzieher gemacht, weil sich etwas Interessanteres aufgetan hat?“
Ich dachte an meinen Jungen Todd. Es stimmte, dass ich es vermied, viel Zeit mit ihm zu verbringen. Allerdings glaubte ich nicht, dass das allein meine Schuld war.
„Oder noch ein ähnliches Beispiel“, fuhr er fort, „Haben Sie jemals mit Ihren Kindern einen Ausflug zu einem Ort gemacht, an den sie schon lange hinwollten, haben dann aber dafür gesorgt, dass sie sich die ganze Zeit dafür schuldig fühlten?“
Ja, aber wenigstens bin ich mit ihnen überhaupt irgendwo hingefahren, sagte ich mir. Zählt das etwa gar nicht?
„Oder wie wäre es hiermit: Haben Sie jemals auf einem Behindertenparkplatz geparkt und haben dann ein Hinken vorgetäuscht, damit die Leute Sie nicht für einen rücksichtslosen Egoisten halten?“
„Auf keinen Fall“, sagte ich verteidigend.
„Nein? Nun, haben Sie dann vielleicht jemals irgendwo geparkt, wo es eigentlich nicht erlaubt war, und sind dann mit einer solchen Überzeugung aus dem Auto gestiegen, dass Beobachter glauben mussten, es sei Ihr rechtmäßiger Parkplatz?“
Ich rutschte unbehaglich auf meinem Sessel hin und her. „Vielleicht.“
„Oder haben Sie jemals einfach dabei zugesehen, wie ein Mitarbeiter etwas tat, von dem Sie wussten, dass es ihn in Schwierigkeiten bringen würde, obgleich Sie ihn leicht hätten warnen oder aufhalten können?“
Ich antwortete nicht.
„Und wenn wir schon beim Thema Arbeit sind“, fuhr er fort, „Haben Sie jemals wichtige Informationen für sich behalten, selbst wenn Sie wussten, dass diese für einen Kollegen wirklich hilfreich wären?“
Ich musste innerlich zugeben, dass ich das getan hatte.
„Oder verhalten Sie sich manchmal herablassend den Menschen in Ihrem Umfeld gegenüber? Beschimpfen Sie sie zum Beispiel wegen ihrer vermeintlichen Faulheit oder Inkompetenz?“
„Ich weiß nicht, ob ich sie beschimpfe“, sagte ich schwach.
„Nun, was machen Sie dann, wenn Sie denken, dass andere inkompetent sind?“, fragte Bud.
Ich zuckte die Achseln. „Ich glaube, ich versuche, sie eher auf andere Weise dazu zu bringen, ihr Verhalten zu ändern.“
„Also zeigen Sie lieber Nachsicht und sind übertrieben freundlich zu den Menschen, um sie dazu zu bringen, das zu tun, was Sie wollen? Auch wenn Sie eigentlich noch immer Verachtung für sie verspüren?“
Nun fühlte ich mich wirklich unfair behandelt. „Eigentlich glaube ich, dass ich mich sehr bemühe, die Menschen um mich herum gut zu behandeln“, konterte ich.
Bud hielt einen Moment inne. „Ich bin sicher, dass Sie das tun, Tom“, sagte er. „Aber lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie andere ‚gut behandeln‘, wie Sie sagen? Haben Sie dann immer noch das Gefühl, dass sie ein Problem sind?“
„Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen“, antwortete ich.
„Was ich meine, ist: Haben Sie das Gefühl, dass Sie andere Menschen ertragen müssen? Dass Sie hart arbeiten müssen, um als Manager erfolgreich zu sein, während Sie festsitzen mit einigen der Menschen, mit denen Sie unweigerlich zusammenarbeiten müssen?“
„Festsitzen?“, fragte ich, um Zeit zu gewinnen. Die Wahrheit war, dass ich verstand, was Bud sagte, aber ich war nicht einverstanden mit dem, was er meinem Verständnis nach andeutete. Ich versuchte verzweifelt, einen akzeptablen Weg zu finden, um mich zu verteidigen. „Ich nehme an, es stimmt, dass ich glaube, dass einige Leute faul und inkompetent sind“, antwortete ich schließlich. „Wollen Sie sagen, dass ich mich dabei irre? Dass niemand faul und inkompetent ist?“ Ich sagte „niemand“ mit so viel Nachdruck, dass ich mich zugleich ärgerte, dass meine Frustration nun so offensichtlich wurde.
Bud schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht. Manche Leute sind faul. Und ich bin in einer ganzen Reihe von Dingen inkompetent.“ Er hielt einen Moment inne. „Nun, was tun Sie, wenn Sie jemanden vor sich haben, von dem Sie denken, dass er faul oder inkompetent sei?“
Ich dachte darüber nach. „Das kommt darauf an. Bei einigen bin ich ziemlich direkt, bei anderen, bei denen das nicht so gut funktioniert, versuche ich, sie auf andere Weise anzutreiben. Einige versuche ich zu ermutigen, bei anderen habe ich das Gefühl, dass ich sie überlisten oder ausmanövrieren muss. Aber ich habe gelernt, dabei die meiste Zeit mein Lächeln zu bewahren, und das scheint zu helfen. Ich denke, ich bin ziemlich gut im Umgang mit Menschen.“
Bud nickte. „Ich verstehe. Aber wenn wir fertig sind, werden Sie das vielleicht anders sehen.“
Der Kommentar beunruhigte mich. „Was ist falsch daran, Menschen gut zu behandeln?“, protestierte ich.
„Nichts. Wenn es das ist, was man tatsächlich tut“, sagte Bud. „Aber ich denke, Sie werden vielleicht feststellen, dass Sie Menschen nicht so gut behandeln, wie Sie im Moment denken. Vielleicht richten Sie mehr Schaden an, als Sie ahnen.“
„Schaden?“, wiederholte ich. Ein Anflug von Sorge rötete meine Wangen. Während ich versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten, sagte ich: „Ich fürchte, das werden Sie mir erklären müssen.“ Diese Worte klangen selbst für mich kämpferisch, und meine Wangen röteten sich umso mehr.
„Das werde ich gerne tun“, sagte er ruhig. „Ich kann Ihnen helfen zu erkennen, was Ihr Problem ist und was Sie dagegen tun können. Deshalb sind Sie hier.“ Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: „Ich kann Ihnen helfen, weil ich das gleiche Problem habe.“
„Haben Sie Kinder, Tom?“
Ich war dankbar für diese einfache Frage und fühlte, wie die rötliche Farbe wieder aus meinem Gesicht wich. „Ja, einen Sohn. Sein Name ist Todd. Er ist sechzehn. Warum?“
Bud lächelte. „Erinnern Sie sich, wie Sie sich gefühlt haben, als Todd geboren wurde? Wie dieses Ereignis Ihre Sicht auf das Leben zu verändern schien?“
Ich versuchte, mich an Todds Geburt zu erinnern, und schob den damit für mich verbundenen Schmerz und den Kummer für einen Moment beiseite. In einem relativ jungen Alter war bei ihm eine Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert worden. Er war ein schwieriges Kind gewesen, und meine Frau Laura und ich waren ständig bei der Frage aneinandergeraten, was wir mit ihm tun sollten. Seine Aufmerksamkeitsstörung war mit dem Alter nur schlimmer geworden. Todd und ich hatten keine besonders gute Beziehung zueinander. Aber auf Buds Frage hin versuchte ich, mich an die Zeit und die Emotionen zu erinnern, die mit seiner Geburt verbunden waren. „Ja, ich erinnere mich“, begann ich nachdenklich. „Ich erinnere mich, wie ich ihn in meinen Armen hielt und über meine Hoffnungen für sein Leben nachdachte. Ich fühlte mich unzulänglich, sogar überfordert, aber gleichzeitig auch dankbar.“ Bei der Erinnerung ließ der Schmerz ein wenig nach, den ich in der Gegenwart empfand.
„So war es auch für mich“, sagte Bud. „Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die mit der Geburt meines ersten Kindes, David, begann?“
„Bitte“, sagte ich und freute mich darauf, zur Abwechslung seine Geschichte zu hören, anstatt meine eigene noch einmal zu durchleben.
„Ich war zu dieser Zeit ein junger Anwalt“, begann er, „und arbeitete viele Stunden in einer der renommiertesten Kanzleien des Landes. Einer der Deals, an denen ich arbeitete, war ein großes Finanzierungsprojekt, an dem rund 30 Banken weltweit beteiligt waren. Unser Kunde war der Hauptkreditgeber bei dem Geschäft. Es war ein kompliziertes Projekt, an dem viele Anwälte beteiligt waren. Ich war das zweitjüngste Mitglied des Teams und hatte die Hauptverantwortung für die Ausarbeitung von etwa 50 Verträgen, die dem Hauptdarlehensvertrag zugrunde lagen. Es war ein großer, attraktiver Deal mit internationalen Reisen, Beträgen mit vielen Nullen und profilierten Persönlichkeiten. Eine Woche, nachdem ich dem Projekt zugeteilt worden war, erfuhren Nancy und ich, dass sie schwanger war. Es war eine wunderbare Zeit für uns. David wurde acht Monate später am 16. Dezember geboren. Vor der Geburt arbeitete ich hart daran, meine Projekte abzuschließen oder zu delegieren, damit ich mir drei Wochen für unser erstes Baby freinehmen konnte. Das war die glücklichste Zeit in meinem Leben. Aber dann kam ein Anruf. Es war am 29. Dezember. Der Hauptpartner des Deals teilte mir mit, dass ich bei einem Meeting mit allen Projektbeteiligten in San Francisco gebraucht wurde.“
„Wie lange?“, fragte ich.
„Bis der Deal abgeschlossen war. Das hätten drei Wochen oder auch drei Monate sein können. Wir würden dort bleiben, bis alles unter Dach und Fach war“, sagte er. „Ich war niedergeschmettert. Der Gedanke, Nancy und David allein in unserem Haus in Alexandria zu lassen, machte mich furchtbar traurig. Ich brauchte zwei Tage, um meine Angelegenheiten in Washington D. C. zu regeln, bevor ich widerwillig in ein Flugzeug nach San Francisco stieg. Ich ließ meine kleine Familie im Parkbereich des Reagan Flughafens zurück. Mit einem Fotoalbum unter dem Arm riss ich mich von ihnen los und ging zum Terminal.
Ich kam als Letzter in unserem Büro in San Francisco an. Sogar der Kollege aus unserem Londoner Büro war vor mir da. Ich bezog das letzte verbleibende Gästebüro im 21. Stock, während sich das Hauptquartier und alle anderen Büros im 25. Stock befanden. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und machte mich an die Arbeit. Die meisten Aktivitäten fanden im 25. Stock statt: Meetings, Verhandlungen zwischen allen Parteien, einfach alles. Nur ich war allein im 21. Stock, allein mit meiner Arbeit und meinem Fotoalbum, das offen auf meinem Schreibtisch lag.
Ich arbeitete jeden Tag von 6 Uhr morgens bis nach Mitternacht. Dreimal am Tag ging ich zum Imbiss in der Lobby, kaufte mir ein Brötchen, ein Sandwich oder einen Salat und ging in den 21. Stock zurück, um zu essen, während ich mich in die Dokumente vertiefte. Wenn Sie mich damals gefragt hätten, was mein Ziel sei, hätte ich Ihnen gesagt, dass ich die bestmöglichen Verträge entwerfen wollte, um unseren Kunden zu schützen und den Deal abzuschließen, oder etwas in diesem Sinne. Aber es gibt ein paar Dinge, die Sie über meine Zeit in San Francisco wissen sollten.
Alle Verhandlungen, die für die Dokumente, an denen ich arbeitete, von zentraler Bedeutung waren, fanden im 25. Stock statt. Diese Verhandlungen hätten für mich höchste Priorität haben müssen, da jede einzelne Änderung in allen von mir erstellten Dokumenten berücksichtigt werden musste. Dennoch habe ich mich nicht allzu oft in der 25. Etage sehen lassen. Nach zehn Tagen Fast Food aus der Lobby stellte ich fest, dass im Hauptkonferenzraum im 25. Stock für alle Projektbeteiligten rund um die Uhr Essen bereitgestellt wurde. Ich war verärgert, dass mir niemand davon erzählt hatte. Zweimal innerhalb dieser zehn Tage wurde ich zusammengestaucht, weil ich einige der neuesten Änderungen nicht in meine Dokumente eingearbeitet hatte. Davon hatte mir ebenfalls keiner erzählt! Ein anderes Mal wurde ich gerügt, weil ich schwer zu finden war. Der Hauptpartner fragte in dieser Zeit zweimal nach meiner Meinung zu Punkten, über die ich mir keine Gedanken gemacht hatte. Punkte, die mir in den Sinn gekommen wären, wenn ich nachgedacht hätte. Sie waren Teil meines Verantwortungsbereichs. Es war schlicht und ergreifend nicht in Ordnung, dass er meine Arbeit für mich machen musste.
Jetzt lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen, Tom. Nachdem Sie nun ein wenig von meinen Erfahrungen in San Francisco gehört haben, würden Sie sagen, ich hätte mich wirklich dafür eingesetzt, die bestmöglichen Dokumente zu verfassen, um unseren Kunden zu schützen und den Deal abzuschließen?“
„Nein“, sagte ich kopfschüttelnd, überrascht über die Leichtigkeit, mit der ich Bud Jeffersons Verhalten kritisierte. „Es hört sich so an, als wären Sie nicht bei der Sache gewesen, als hätten Sie sich gar nicht an dem Projekt beteiligt.“
„Ganz genau“, stimmte er zu. „Ich habe mich tatsächlich nicht daran beteiligt. Und glauben Sie, der Hauptpartner hat das gemerkt?“
„Ich denke, dass es nach diesen zehn Tagen offensichtlich war“, mutmaßte ich.
„Er hat es zumindest genug bemerkt, um mich mehrere Male zusammenzustauchen“, sagte Bud. „Wie sieht es damit aus: Glauben Sie, er würde sagen, dass ich die Vision verstanden hatte? Oder dass ich engagiert war? Oder dass ich für andere in dem Projekt so hilfreich wie möglich war?“
„Nein, das glaube ich nicht. Indem Sie sich isolierten, haben Sie die ganze Sache gefährdet – seine Sache“, antwortete ich.
„Ich muss Ihnen zustimmen“, sagte Bud. „Ich war zu einem Problem geworden, keine Frage. Ich brachte mich nicht in das Projekt ein, war nicht engagiert, hatte die Vision nicht verstanden, bereitete den anderen Schwierigkeiten und so weiter. Aber bedenken Sie Folgendes: Wie hätte ich wohl geantwortet, wenn mich jemand beschuldigt hätte, nicht engagiert oder involviert zu sein? Glauben Sie, ich hätte dem zugestimmt?“
Ich dachte über die Frage nach. „Das bezweifle ich. Es ist schwierig, jemandem zuzustimmen, wenn er Sie kritisiert. Sie wären wahrscheinlich in die Defensive gegangen, wenn jemand Sie auf diese Weise beschuldigt hätte.“
„Und überlegen Sie einmal, was ich zu meiner Verteidigung hätte sagen können“, sagte Bud und nickte zustimmend. „Denken Sie darüber nach: Wer hatte sein Baby zurückgelassen, um nach San Francisco zu gehen? Ich. Und wer hatte 20 Stunden am Tag gearbeitet? Ich.“ Er wurde immer energischer. „Und wer war gezwungen, vier Stockwerke tiefer allein vor sich hin zu arbeiten? Ich. Und wem vergaßen die anderen, wichtige Details wie Verpflegung mitzuteilen? Mir. Also aus meiner Sicht betrachtet: Wer hat wem das Leben schwer gemacht?“
„Hmm, ich denke, Sie haben andere als Hauptursache für Ihre Probleme angesehen“, antwortete ich und fand die Ironie an dieser Aussage interessant.
„Darauf können Sie wetten“, sagte er. „Und was ist mit Engagement und dem Begreifen der Vision? Können Sie nachvollziehen, dass ich aus meiner Sicht nicht nur engagiert war, sondern möglicherweise die engagierteste Person im gesamten Deal? Aus meiner Sicht hatte niemand so viele Herausforderungen zu bewältigen wie ich. Und ich zog trotz dieser Schwierigkeiten durch und arbeitete hart.“
„Genau“, bestätigte ich, lehnte mich in meinem Stuhl zurück und nickte zustimmend. „So haben Sie das bestimmt gesehen.“
„Also lassen Sie uns noch mal darüber nachdenken.“ Bud stand wieder auf und begann auf und ab zu gehen. „Erinnern Sie sich an das Problem. Ich war nicht engagiert, hatte mich zurückgezogen, hatte die Vision nicht verstanden und machte anderen Projektkollegen das Leben schwerer. Das trifft alles zu. Und das ist ein Problem. Ein großes Problem. Aber es gab ein größeres Problem, und zwar das Problem, worüber Sie und ich uns unterhalten müssen.“
Er hatte meine volle Aufmerksamkeit.
„Das größere Problem war, dass ich nicht sehen konnte, dass ich ein Problem hatte.“
Bud hielt einen Moment inne und beugte sich dann zu mir und fügte in einem tieferen, noch ernsteren Ton hinzu: „Es kann keine Lösung für das Problem meines mangelnden Engagements geben ohne eine Lösung für das größere Problem: das Problem, dass ich nicht sehen kann, dass ich nicht engagiert bin.“
Ich wurde plötzlich unruhig und spürte, wie mein Gesicht wieder ausdruckslos wurde. Ich war so sehr in Buds Geschichte vertieft gewesen, dass ich vergessen hatte, dass er sie mir aus einem bestimmten Grund erzählt hatte. Diese Geschichte war für mich bestimmt. Er musste der Meinung sein, dass ich ein größeres Problem hatte. Trotz meiner Bemühungen, gelassen zu bleiben, wurden mein Gesicht und meine Ohren rot.
„Tom, es gibt einen Fachbegriff für die beharrliche Blindheit, die ich in San Francisco an den Tag gelegt hatte. Philosophen und Psychologen nennen es ‚Selbsttäuschung‘. Bei Zagrum haben wir einen weniger fachlichen Ausdruck dafür. Wir nennen es ‚in der Box sein‘. Wenn wir uns selbst täuschen, sind wir ‚in der Box‘. Sie werden noch viel mehr über die Box lernen, aber als Ausgangspunkt stellen Sie es sich so vor: In gewisser Hinsicht steckte ich in meiner Erfahrung in San Francisco fest. Ich steckte fest, weil ich ein Problem hatte, von dem ich nicht wusste, dass ich es hatte. Ein Problem, das ich nicht sehen konnte. Ich konnte nur aus meiner eigenen verschlossenen Perspektive heraus sehen und war zutiefst resistent gegen jeden Hinweis, dass es in Wahrheit anders war. Ich war in einer Box – abgeschnitten, verschlossen und blind. Macht das Sinn?“
Ich nickte.
„In Unternehmen ist Selbsttäuschung gang und gäbe“, fuhr er fort. „Denken Sie beispielsweise an eine Person in Ihrem Arbeitsumfeld, die ein Problem darstellt, die beispielsweise Teamarbeit erheblich behindert.“
Das war einfach. Ich musste sofort an Chuck Staehli denken, den leitenden operativen Geschäftsführer meines ehemaligen Arbeitgebers. Er war schlicht und ergreifend ein Idiot und dachte an niemanden außer an sich selbst. „Ja, ich kenne so eine Person.“
„Nun, hier ist die Frage: Glauben Sie, dass die Person, die Sie für ein Problem halten, auch selbst denkt, dass sie ein Problem ist?“
Ich schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Definitiv nicht.“
„Und das ist ganz normal. Jeder, der in Ihren Augen ein Problem hat, wird sich der Idee widersetzen, dass er eines hat. Das ist Selbsttäuschung: das Problem, nicht zu wissen und sich der Möglichkeit zu widersetzen, dass man ein Problem hat. Von allen Problemen in Unternehmen“, sagte Bud, „ist diese Selbsttäuschung das häufigste und schädlichste.“ Er hielt inne, um die Aussage wirken zu lassen. „Denken Sie mal darüber nach, Tom. Sie können keine Fortschritte bei der Lösung von Problemen erzielen, wenn die Personen, die diese Probleme verursachen, sich weigern, darüber nachzudenken, inwieweit sie dafür verantwortlich sein könnten. Daher besteht unsere wichtigste strategische Initiative bei Zagrum darin, die Selbsttäuschung von Personen und Unternehmen zu minimieren.“
Bud stand auf und begann erneut, auf und ab zu gehen. „Um zu betonen, warum uns das so wichtig ist“, sagte er, „muss ich Ihnen von einem ähnlichen Problem in der Medizin erzählen.“
„Haben Sie jemals von Ignaz Semmelweis gehört?“, fragte Bud.
„Nein, ich habe noch nie von ihm gehört.“
„Semmelweis war Mitte des 19. Jahrhunderts ein europäischer Allgemeinmediziner und Entbindungsarzt. Er arbeitete im Wiener Allgemeinen Krankenhaus, einem wichtigen Forschungskrankenhaus, in dem er versuchte, eine erschreckend hohe Sterblichkeitsrate bei Frauen in der Entbindungsstation aufzuklären. In der Abteilung der Station, in der Semmelweis praktizierte, lag die Sterblichkeitsrate bei eins von zehn. Jede zehnte Frau, die dort ihr Kind zur Welt brachte, starb. Können Sie sich das vorstellen?“
„Ich hätte meine Frau nicht in die Nähe dieses Ortes gelassen“, sagte ich.
„Da wären Sie nicht allein gewesen. Der Ruf des Wiener Krankenhauses war so furchterregend, dass einige Frauen tatsächlich auf der Straße gebaren und erst dann ins Krankenhaus gingen.“
„Das wundert mich nicht“, bemerkte ich.
„Die mit diesen Todesfällen in Zusammenhang stehenden Symptome“, fuhr Bud fort, „wurden als ‚Kindbettfieber‘ bekannt. Die Schulmedizin forderte zu dieser Zeit eine getrennte Behandlung für jedes Symptom. Eine Entzündung verursachte eine Schwellung durch überschüssiges Blut, also wurde ein Aderlass bei den Patienten durchgeführt oder es wurden Blutegel eingesetzt. Fieber wurde genauso behandelt. Atemprobleme bedeuteten, dass die Luft schlecht war, daher verbesserten sie die Ventilation. Und so weiter. Aber nichts half. Mehr als die Hälfte der Frauen, die die ‚Krankheit‘ bekamen, starben innerhalb weniger Tage. Das schreckliche Risiko war überall bekannt. Semmelweis berichtete, dass Patientinnen häufig ‚kniend und händeringend‘ darum baten, in eine zweite Abteilung der Entbindungsstation verlegt zu werden, wo die Sterblichkeitsrate eins von fünfzig betrug – immer noch erschreckend hoch, aber weitaus besser als die Eins-von-zehn-Rate in Semmelweis’ Abteilung.