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„Das Leben kann manchmal richtig schön sein.“
Falk Fatal
Falk Fatal
Wir spielen Blinde Kuh auf dem Minenfeld des Lebens
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FALK FATAL: „Wir spielen Blinde Kuh auf dem Minenfeld des Lebens“
1. Auflage, April 2021, Edition Subkultur Berlin
© 2021 Periplaneta - Verlag und Medien / Edition Subkultur
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit
mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.
Lektorat: Laura Alt
Cover: Julian Weber (Webseite: www.retrocartoons.de)
Satz & Layout: Thomas Manegold
print ISBN: 978-3-948949-10-5
epub ISBN: 978-3-948949-11-2
Viele Menschen neigen zur Gemütlichkeit. Sie sagen Ja zur Entschleunigung und Nein zur Hektik. In der Büroküche trinken sie ihren Kaffee aus einer Tasse, auf der steht: „Ich bin hier auf der Arbeit, nicht auf der Flucht.“ Auf dem Heck ihres VW-Kombis prangt ein Aufkleber: „Nicht hupen, Fahrer träumt von Werder Bremen.“ Auf Instagram posten sie Bilder von Sandstränden bei Sonnenaufgang, die mit kleinen Sinnsprüchen versehen sind wie etwa: „Die Zeit vergeht nicht schneller als früher, aber wir laufen eiliger an ihr vorbei.“ Ebenfalls beliebt ist: „Es gibt Wichtigeres im Leben, als beständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen.“ Oder mein Favorit: „Du musst nur langsam genug gehen, um immer in der Sonne zu bleiben.“ Klar, kann man machen – wenn man auf Hautkrebs steht.
Aber es stimmt. Die Hektik, der Stress, dieser moderne Lifestyle macht uns krank. Er zerstört den Körper und zerrüttet die Seele. Wir kriegen Kopfweh, werden depressiv, bekommen ein Burnout, werden süchtig nach Alkohol, Zigaretten, Cannabis, Kokain, Heroin, essen zu viel oder zu wenig und verlieren uns selbst. Das kann den Achtsamkeitspropagandisten nicht passieren. Die verweilen in sich selbst, die haben die Ruhe weg. Deshalb habe ich auch nichts dagegen, wenn sie bedächtig durch ihr Leben schlendern. Sollen sie ruhig glauben, eine Pause würde sie auf ihrem Weg voranbringen. Ist ja nicht meine Lebenszeit, die sie verschwenden. Aber wenn Menschen auf einer vollen Rolltreppe links stehen und nicht nach oben gehen, ist es mit meinem Verständnis für Gemütlichkeit vorbei. Da könnte ich zum Hulk werden, Koffer durch die Gegend werfen und brüllen: „Die Regel lautet: rechts stehen, links gehen. Und nicht: rechts stehen, links stehen und die Rolltreppe blockieren. Das ist doch nicht so schwer zu kapieren, ihr Penner!“
Ihr findet das vielleicht lustig oder übertrieben. Aber jetzt mal ehrlich. Was soll das? Was Du mit Deinem Leben machst, ist mir egal, solange es mein Leben nicht negativ berührt. Doch ich will so wenig Zeit wie möglich in einer U-Bahn-Station oder einem Einkaufszentrum verbringen. Und wenn dann irgend so ein Arschloch glaubt, nicht nur die eigene Zeit, sondern auch die Zeit aller, die hinter ihm auf der Rolltreppe stehen, gepachtet zu haben, dann berührt das mein Leben negativ, und zwar ganz gewaltig. Also halte Dich einfach an dieses gottverdammte ungeschriebene Rolltreppengesetz – rechts stehen, links gehen – und ich bleibe die Ruhe selbst.
Leider wollen einige Menschen mich nicht ruhig erleben, wie neulich etwa. Da wollte ich auf ein Konzert. Die Orgasm Addicts sollten im Kupa spielen. Ich war spät dran und ich wollte mich noch im Supermarkt mit ein paar Fläschchen Weinbrand eindecken. Es war kurz vor Ladenschluss. Vor mir trotteten drei Doofärsche in aller Seelenruhe nebeneinander über den schmalen Bürgersteig der Emserstraße wie drei Lkw, die sich auf einer zweispurigen Autobahn ein Wettrennen liefern. Rechts waren die Häuserwände, links war alles zugeparkt und ich musste vorbei. Doch keine Chance. Die flanierende Tempobegrenzung war mit sich selbst beschäftigt: „Ist das heute nicht ein schöner Tag für einen gemütlichen Abendspaziergang?“
„Ja, wie recht du hast, mein Sportsfreund. Und schau mal, da oben am Himmel, da ist der Mond. Wie der leuchtet. Einfach wundervoll.“
„Das Universum ist so groß und wir sind so klein wie die Sandkörner am Strand. Wir sollten mit viel mehr Ehrfurcht durchs Leben gehen.“
Nein, mit mehr Geschwindigkeit! Aber so tief ins eigene Gespräch versunken, kam natürlich keiner der Jungs auf die Idee, schneller oder wenigstens kurz zur Seite zu gehen. Dabei war ich ihnen ordentlich auf die Pelle gerückt. Eigentlich mussten sie schon meinen Atem im Nacken spüren. Ich war ihnen so dicht auf den Fersen, dass ich fast auf diesen stand. Und noch immer ließen mich diese grauen Herren nicht vorbei. Doch nicht mit mir! Die Uhr tickte. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich habe mir neulich diese App heruntergeladen: The Death Clock. Die errechnet, wie lange du noch zu Leben hast. Ich habe nur noch 29 Jahre, 6 Monate, 9 Tage, 22 Stunden und 4 Minuten. Und da soll ich wertvolle Sekunden hinter dieser Trippelschrittblockade verschwenden? Sicher nicht! Zeit ist nicht nur Geld, Zeit ist auch Leben! Und ich will leben! Ich will jede Sekunde auskosten, die mir dieses Leben noch zu bieten hat. Höchste Zeit also, diese Verschwendung zu beenden. Freundlich zwar, aber bestimmt.
Bevor ich dem Typen ganz links auf die Ferse trat und anschließend seinen schwankenden Körper mit einem beherzten Rempler auf die Motorhaube eines Honda Civics stieß, brüllte ich ihm ein „Entschuldigung“ ins Ohr. Dann schlüpfte ich durch die Lücke und überholte die restlichen Blockierer mit großen Schritten. Das wütende Geschrei hinter mir ignorierte ich. Denn wie heißt es in diesem alten irischen Sprichwort so schön: „Gehe deinen Weg ruhig inmitten von Lärm und Geschrei und wisse, welchen Frieden die Stille schenken mag.“ Oder weniger poetisch: „Freier Marsch für freie Bürger!“
Ich hatte Glück. Der Supermarkt war noch offen. Zielsicher steuerte ich das Getränkeregal an und schnappte mir zwei Köpi. An der Kasse nahm ich noch drei Fläschchen Mariacron und dann wartete ich. Und wartete. Und wartete. Denn vor mir legte eine alte Frau ihre Einkäufe aufs Band und ich weiß seitdem, warum Menschen zu Amokläufern werden. Es sind nicht Wolfenstein 3D, Counter Strike, Doom oder Stage of Emergency, es ist diese eine Oma, die sich kurz vor 22 Uhr in der Warteschlange an der Supermarktkasse genau vor dich verirrt hat. Während du nur Bier und Weinbrand bezahlen und schnell weiter in den Kupa willst, versucht die alte Frau ein Pfund geschnittenes Brot, ein Glas Erdbeermarmelade, zwei Packungen Butter, 150 Gramm Aufschnitt, vier Rollen Toilettenpapier extraweich, einmal die Gala, 250 Gramm Leberwurst in der Dose, 500 Gramm Käse, sechs Eier aus Bodenhaltung, zwei Tafeln Schogetten, einen Liter H-Milch, fünf Dosen Whiskas, zwei Flaschen Rotkäppchensekt und eine Flasche Chantré mit einem Einmachglas voller Ein-Cent-Stücke zu bezahlen.
Die alte Frau hatte Glück. Ein Jagdgewehr besaß ich zu diesem Zeitpunkt nicht und außerdem hatte ich noch etwas vor. Ich wollte die Orgasm Addicts sehen und auch wenn auf dem Flyer stand, dass sie pünktlich um 22 Uhr beginnen sollten, wusste ich, dass das akademische Viertel auch in weniger akademischen Etablissements gerne genutzt wird. Ich wollte die Band unter keinen Umständen verpassen, aber blieb ruhig.
Das erste Fläschchen Mariacron stürzte ich zehn Minuten später hinunter, direkt nachdem ich den Supermarkt verlassen hatte. Schon 21:58 Uhr zeigte mir mein Smartphone an. Jetzt aber hurtig. Schnell noch den zweiten Mariacron geext und dann los. Mit großen Schritten lief ich durch die Fußgängerzone, ignorierte die Streitigkeiten rivalisierender Gesamtschulcliquen, überquerte den Kochbrunnenplatz und stand Punkt 22:13 Uhr an der Kasse des Kupas, gerade rechtzeitig zum Beginn der Orgasm Addicts. Doch dann die Ernüchterung: „Die Orgasm Addicts spielen heute nicht. Die hatten eine Panne bei Würzburg und ihr Tourbus wird erst morgen Mittag wieder startklar sein. Aber dafür sind Kacke Heesters eingesprungen. Die fangen auch gleich an. Und der Eintritt kostet nur 5 statt 10 Euro.“ Scheiße. Dafür hatte ich mich so abgehetzt? Für Kacke Heesters, die schlechteste Band der Region? Für vier aufgeblasene Idioten, die sich für die Größten halten, weil sie mal Vorband der Abstürzenden Brieftauben waren, dabei aber einen Lärm fabrizieren, den Dreijährige, denen man zum ersten Mal ein Instrument gegeben hat, besser hinbekommen? Scheiß drauf. Jetzt war ich schon einmal hier, jetzt würde ich auch bleiben. Lieber ein schlechtes Konzert als gar kein Konzert. Und an der Theke sah ich meinen alten Freund und Mitbewohner Johnny Rhabarber stehen. So schlimm konnte es also nicht werden. Er sah das leider anders. „Ich kann mir diese Scheiße nicht antun. Ich gehe heim“, sagte er.
„Ach komm, ein Bier. Ich bin gerade erst angekommen.“
„Nee, echt nicht. Ich musste schon Die rasenden Umweltsäue und Hoden aus starkem Stahl ertragen. Jetzt noch diese Schmierlappen von Kacke Heesters und ihren ‚Hit‘ ‚Ich bin ein Freudenhausimmobilienmakler‘ ertrage ich nicht. Tut mir leid, mein Freund. Wir sehen uns später in der WG.“ Sagte es und verließ den Kupa.
In schweren Stunden weiß man, wer die wahren Freunde sind. Hätte ich bloß auf meinen Freund gehört. Doch ich wollte saufen. Unter Menschen. Und nicht nur mit Johnny in der WG. Also blieb ich. Und hatte einen guten Abend an der Theke. Ulle gab mir den ein oder anderen Schnaps aus, ich bestellte dafür das eine oder andere Bier bei ihm. Irgendwann waren nur noch wir beide im Kneipenraum. Kacke Heesters hatten vor Stunden aufgehört zu spielen und waren nach ihrem Gig wütend abgedampft, weil sie nicht den Zuspruch bekamen, den sie erwartet hatten. Die wenigen Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich diesen Scheiß angetan hatten, waren ebenfalls längst über alle Berge. Höchste Zeit zu gehen.
Der Nachhauseweg gestaltete sich schwieriger als gedacht. Meine motorischen Fähigkeiten waren stark eingeschränkt. Ich schwankte gehörig, nutzte die komplette Straßenbreite aus und machte schließlich am alten Hertiegebäude Rast. Mein Arsch plumpste auf die Bank an der Bushaltestelle und dann wartete ich, bis sich das innere Karussell fertig gedreht hatte. Zum Glück fand ich noch ein Fläschchen Mariacron in meiner Jackentasche. Das verlieh mir Auftrieb. Mit neuer Energie schnellte mein Körper nach oben, kämpfte kurz mit dem Gleichgewicht und schwankte dann die letzten 600 Meter nach Hause.
Gefühlte 60 Minuten später stand ich endlich vor der Haustür. Nach weiteren zwei Minuten steckte der Schlüssel wirklich im Schloss, ich drehte, drückte mit meiner linken Schulter die Tür auf und stolperte ins Treppenhaus. Jetzt noch die Herkulesaufgabe, die Treppen, und dann wäre ich endlich am Ziel. Ich zog mich am Treppengeländer die Stufen hinauf und dann stand ich vor unserer Wohnungstür. Etwas überrascht zwar, dass die „Gegen Nazis“- und „Punks not dead“-Aufkleber nicht mehr an der Tür klebten, aber über das Warum konnte ich mir morgen Gedanken machen. Jetzt galt es, die Tür zu öffnen. Doch das Schloss stellte sich als widerspenstiges Arschloch heraus. Es wollte meinen Schlüssel nicht. So sehr ich es auch versuchte. Vielleicht war es der falsche Schlüssel. Doch auch die übrigen Schlüssel an meinem Bund ließen sich nicht einführen. Irgendwas lief hier grundlegend falsch. Ich klingelte. Johnny machte nicht auf. Also hämmerte ich meine Faust gegen die Tür. Einmal, zweimal, immer wieder. Und ich brüllte dabei: „Johnny du Arsch, mach die Tür auf!“ Doch nichts passierte. Also klingelte, hämmerte und schrie ich weiter. Immer lauter, immer wütender. Bis mich plötzlich zwei kräftige Hände an den Schultern packten und gegen die Wand drückten. „Ey, was soll das, du Arschloch?“, schrie ich.
„Sie wecken mit Ihrem Geschrei das ganze Haus auf.“
„Mir doch egal. Ich will in mein Bett.“
„Hier ist nicht Ihr Bett. Ihren Personalausweis bitte.“ Und dann realisierte mein besoffenes Gehirn plötzlich die Uniform, die das Arschloch trug. Er war ein Bulle. Und die junge Frau, die neben ihm stand und mich angewidert musterte, auch. Es braucht manchmal nur ein paar Sekunden und du weißt: Heute wärst du besser im Bett geblieben.
Ein widerliches Beep-beep-beep riss mich aus dem Schlaf. Benommen tastete meine rechte Hand nach dem Radiowecker und haute, nachdem sie ihn gefunden hatte, kraftvoll darauf. Das Piepen verstummte und ich schwang mich aus dem Bett. Man muss wissen: Ich schlafe in einem Hochbett. Das ist praktisch, denn ich lebe in einer Altbauwohnung mit hohen Decken und kann so den Raum unter dem Bett als Kleiderschrank nutzen. Einfach ein kleines Expedit-Regal darunter und ein paar Kleiderbügel mit Gaffa an die Unterseite des Betts geklebt, fertig ist die Klamottenablage. Leider habe ich bei einem meiner zahlreichen Umzüge die Leiter für das Hochbett verloren und muss improvisieren. Zurzeit dienen eine umgedrehte Plastikkiste und ein Nachttischschränkchen als Treppenstufen für den Auf- und Abstieg. Das braucht etwas Geschick, funktioniert aber ganz gut.
Leider war jetzt mein Gehirn noch im Standby-Modus und nicht im Artistik-Programm und befahl meinen Muskeln, mehr Schwung zu nehmen als nötig. Was folgte, war absehbar. Mein rechter Fuß verpasste das Nachttischschränkchen um Haaresbreite, ich verlor das Gleichgewicht und kippte nach vorne. Doch mein Sturz wurde glücklicherweise von der schon erwähnten Plastikkiste abgefedert, auf die mein Brustkorb krachte. Meine Knie hatten weniger Glück. Die knallten mit Karacho auf den Linoleumboden. Meinem Schmerzensschrei fügte ich noch ein „Scheiße“ hinzu und eigentlich wäre jetzt der richtige Moment gewesen, zurück ins Bett zu gehen. Aber dafür hätte ich wieder klettern müssen. Weil meine Knie zu sehr schmerzten, humpelte ich in die Küche. Ein frisch gebrühter Kaffee könnte dem Tag eine Wendung zum Guten bringen. Doch der Blick in die Kaffeedose war kein schöner. Gähnende Leere. Die paar Krümel würden nicht einmal für einen Espresso reichen. Meine Laune befand sich endgültig in der Tiefgarage. Ich hatte Wut, ich hatte Hass, aber keinen Kaffee. Der nächste Schritt musste sitzen, um zu retten, was noch zu retten war. Ich brauchte einen Plan. Einen guten Plan. Wenn der Tag so beginnt, dann muss man sich abreagieren. Die angestaute Wut rauslassen. Dann hatte ich die Lösung: Paintball! Sich mit einer Luftdruckknarre, die Farbe verschießt, den Frust von der Seele ballern: Das war genau das, was ich jetzt brauchte! All die Wut und den Schmerz in positive Energie umwandeln. Endlich konnte ich die Motivationsgurus und ihre Ratschläge beim Wort nehmen: „Wer fällt, kann verlieren. Doch wer liegen bleibt, hat schon verloren!“, „Jedes Ende ist auch ein Anfang!“, „Wenn es holprig wird, steigst du nicht aus, du schnallst dich an!“, „Es gibt nur einen Weg, den Weg mit Herz, den nur ein Krieger geht“, „Schmerz ist vergänglich, was bleibt, ist der Erfolg“, „Wer nichts wagt, kann nichts verlieren“ – interessanterweise klingen diese Weisheiten alle wie Textzeilen von den Böhsen Onkelz.
Doch für derlei Gedankengänge hatte ich keine Zeit. Ich wollte meine negative Energie in positive umwandeln. Also schnappte ich mir meine Gotcha-Knarre, suchte meine alte Karre auf dem Elsässer Platz, stieg ein und ließ den Motor aufheulen. Ein herrliches Geräusch. Der 1,2-Liter-4-Zylinder-Motor des Corsas brummte wie ein asthmakranker Braunbär. Ich drückte die Kupplung. Die kreischte wie eine Katze, der ein Bulldozer über den Schwanz fährt. Dann ließ ich das Gas kommen und tuckerte davon. Ich schob die „Thunderdome 19“ in den CD-Schlitz meines Autoradios und drehte es laut auf. Endlich mal an der Ampel stehen und wirklich das Auto mit der beschissensten Musik sein. Damit würde ich sogar die Phil-Collins- und Westernhagen-Hörer auf die Plätze verweisen. Meine Stimmung besserte sich schlagartig. Der Bass peitschte mich nach vorne und ich genoss den Road-Trip in den Taunus zur Paintball-Anlage. Denn die war wirklich ein vorzügliches Areal. Ein alter Fußballplatz, auf dem nun geballert, statt gebolzt wurde. Und für alte Gotcha-Veteranen wie mich gibt es das komplett aus Holz gefertigte „Castle Conquest“-Adventure-Scenario-Feld, das sich im Stil einer verlassenen Taunus-Raubritterburg präsentiert. Ein Traum für jeden Paintballer. Das Wembley der Hobby-Krieger. Das Wimbledon der Möchtegern-Paramilitärs. Das Eldorado für ballerfreudige Wehrdienstverweigerer. Der richtige Ort, um mich von meinen Sünden und Schmerzen zu befreien.
Doch kaum angekommen, folgte die große Enttäuschung: Die Scheißanlage war geschlossen. Niemand da. Und das am Wochenende. Aber über den Zaun klettern und alleine rumballern wollte ich auch nicht. Also feuerte ich ein paar Farbkugeln auf die Fassade des ehemaligen Vereinsheims und stieg wieder in meine Karre. Ich brauchte einen Plan B. Also schnell mal Facebook checken. Im Kladderadatsch war für heute Starkbieranstich angekündigt. Eine verlockende Alternative. Wenn ich meine negative Energie schon nicht in positive umwandeln konnte, würde ich sie wenigstens mit Starkbier fortspülen. Ich blickte auf meine Uhr. In einer Stunde sollte es losgehen. Allerhöchste Zeit zum Aufbruch. Ich ließ den Motor aufheulen und machte los.
Ich flog gerade am Sedanplatz vorbei, als mir kurz hinterm Orion eine Taube auf die Windschutzscheibe kackte. Auch das noch! Ich war sowieso geladen. Die Gotcha-Knarre auf dem Beifahrersitz zum Glück auch. Ich stieg voll in die Eisen. Schlingernd kam die Karre vor der Ampel am Veganimbiss zum Stehen. Ich sprang raus, mit der Gotcha-Knarre in der rechten Hand. Nicht mit mir, dachte ich empört und legte an. Ich hatte den Scheißvogel im Visier und folgte seiner Flugbahn. Als ich meinen Finger auf den Abzug legte, gab es einen lauten Knall. Ein BMW war mir aufs Heck geknallt. Abgelenkt und erschrocken von dem Schlag, verriss ich den Schuss. 50 Meter weiter klatschte der Paintball an die Scheibe eines mehrstöckigen Bürogebäudes und hinterließ einen blauen Fleck. Das Scheißfedervieh hatte ich verfehlt. „Spinnst du? Du hast deinen Führerschein wohl in der Waldorfschule gemacht, du Arschloch!“, hörte ich hinter mir eine Männerstimme brüllen. Ich drehte mich um. Der aufgebrachte Fahrer des BMW stürmte auf mich zu. Bevor er mich weiter beleidigen konnte, drückte ich ab. Er kippte um und prallte auf den Asphalt. Sein roséfarbenes Camp-David-Poloshirt sah mit dem blauen Farbklecks in Brusthöhe gleich viel schöner aus. Kein Wunder, das passiert immer, wenn zwei Komplementärfarben aufeinandertreffen.
Ich schaute mir das Unheil an. Das Heck meines Wagens war im Arsch. Hinter dem BMW waren weitere Autos zum Stehen gekommen. Ein Hupkonzert par excellence erklang. Aufgebrachte Autofahrer schimpften und zeterten. Ich beugte mich über das wimmernde Dieter-Bohlen-Double und zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche. 300 Euro. Immerhin. Für eine neue Heckpartie würde es nicht reichen, aber ein paar Starkbier im Kladderadatsch würde ich mir davon schon gönnen können. Die Karre wäre sowieso nicht mehr durch den TÜV gekommen. Ich schrieb sie einfach ab, so wie die Deutsche Bank das immer mit ihren Milliardenverlusten macht. Der Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich mich sputen musste. Nur noch 20 Minuten bis zum Starkbieranstich. Deshalb hatte ich auch keine Zeit für eine gepflegte Unterhaltung mit dem Proll, der aus einem der hupenden Autos ausgestiegen war. Der rannte auf mich zu. Leichte Bierwampe, dunkles kurzes Haar, ein gepflegter Schnurrbart, eine getönte Pilotenbrille auf der Nase, ein Glitzersteinchen im Ohrläppchen, eine blaue Jogginghose am Unterleib. Sein T-Shirt war bedruckt mit einem Spruch: „Wenn du ein Bier wärst, würde ich dich ficken.“
Für ihn verschwendete ich keine Munition. „Mich fickst du nicht. Und erst recht kein Bier!“, brüllte ich ihm entgegen. Dann streckte ich ihn mit einer Geraden nieder. Und plötzlich war ich wieder voll da. Im Hintergrund ertönten Polizeisirenen. Ich glaubte, einen Hubschrauber zu hören. Meine Augen verengten sich zu Schlitzen. Alle Schmerzen waren verflogen. Das Adrenalin schoss durch meinen Körper. Wie damals, Hannover ’95. Bei der Schlacht ums Sprengelgelände kurz nach der Netto-Plünderung. Ich rannte los, die Goebenstraße hinauf. Die meterhohen Buchen, die links und rechts die schmale Straße säumten, würden es dem Helikopter erschweren, mich zu lokalisieren. Vor dem orthopädischen Schuhgeschäft standen zwei Container. Zum Glück Papiermüll von Menschen, die nicht nur viel Pappe verbrauchten, sondern auch Süddeutsche und Zeit lesen. Und die kann man nicht nur prima zum Fischeinwickeln nutzen, sondern auch als Zünder. Ich schob die Container auf die Straße und steckte das Zeitungspapier in Brand. Schnell griff das Feuer auf die Pappe über und die Plastikcontainer brannten lichterloh. Zwei Fahrräder, die unabgeschlossen am Geländer standen, warf ich als zusätzliches Hindernis für die heranstürmenden Cops davor. Dann rannte ich weiter. Ich brauchte etwas, um mich zu verteidigen. Meine Gotcha-Knarre war fast leer und gegen die Cops würde sie mir kaum helfen. Vor der Reizbar machte ich halt, einer gemütlichen Bar mit einem kleinen Biergärtchen davor. Sie war geschlossen. Die beste Chance, die ich kriegen würde, wenn ich meinen Arsch irgendwie retten wollte.
Der Vorteil eines Viertels, in dem die meisten Bewohner grün wählen, sind die liebevoll gestalteten Baumumrandungen. Richtige kleine Gärtchen sind das, mit Blümchen, Ziersträuchern und dekorativen Steinen angerichtet. In der Mitte steckt ein Verbotsschild, das das Piktogramm eines kackenden Hundes zeigt. Drumherum ein Miniaturjägerzaun. Und zu meiner Überraschung: ein Quarzkristall. Ich schnappte mir die Steine und stecke den Quarzkristall in die Hosentasche. Mehr brauchte ich nicht. Die Tür zur Reizbar war natürlich verschlossen. Also haute ich mit dem kräftigsten Stein auf das Glasfenster daneben ein. Den schrillen Ton, den die Alarmanlage erzeugte, ignorierte ich. Jetzt war es sowieso egal. Und wirklich, nach dem dritten Hieb bildeten sich die ersten Risse, nach dem sechsten waren sie so groß, dass ich einen der metallenen Klappstühle des Biergartens dagegen hauen konnte und die Scheibe zu Bruch ging.
Unter den Sohlen meiner Dr. Martens knirschten die Glassplitter, als ich den dunklen Schankraum betrat. Ich steuerte direkt die Theke an und griff mir sechs Bier aus dem Kühlschrank. Nachdem ich die ersten vier auf ex getrunken hatte, wurde mir leicht schummrig. Deshalb kippte ich den Inhalt der restlichen beiden Flaschen widerwillig auf den Boden. Bierverschwendung ist eigentlich eine Todsünde, die mindestens eine dicke Backpfeife pro verschüttetem Schluck verdient, doch unter diesen besonderen Umständen musste ich Gnade vor Recht walten lassen. Der Sachzwang war im Moment wichtiger als das Gemüt. Aus der angrenzenden Küche holte ich einen Kanister mit Speiseöl. Das kippte ich in die Flaschen, bis sie jeweils knapp halbvoll waren, und füllte sie dann mit Wodka auf. Dann zerriss ich ein Spültuch in sechs Streifen, die ich anschließend mit Sambuca übergoss und in die Flaschenhälse stopfte. Ich schnappte mir noch ein Stabfeuerzeug, das auf der Theke lag, und stürmte mit den Flaschen im Arm nach draußen. Genau rechtzeitig. Die Cops hatten meine Altpapierbarrikade durchbrochen und marschierten auf die Reizbar zu. Ich stellte meine Behelfsmollis auf den Boden und zündete die Sambucatücher an. „Lebe für nichts oder stirb für etwas“, murmelte ich leise. Dann warf ich die MacGyver-Brandbomben in Richtung der Cops. Die Flaschen klatschten einige Meter vor den Polizisten auf den Boden und zeigten die erhoffte Wirkung. Das Speiseöl-Wodka-Gemisch brannte wirklich und erzeugte eine Feuerwand. Die Cops wichen zurück. Ein kleiner Zeitgewinn. Der musste genügen, um es noch rechtzeitig zum Starkbieranstich zu schaffen. Im Zick-Zack rannte ich weiter die Goebenstraße hinauf. Ich bog in die Scharnhorststraße ein und stieß auf eine Traube schlecht gekleideter Menschen. Frauen mit Batikkleidern und Ledersandalen. Männer mit langen Haaren und Latzhosen, die wie Rainer-Langhans-Doubles aussahen. Einen kannte ich sogar. Es war Bernhard. Ein gelernter Agraringenieur aus dem Süden des Landes. Jahre hat er in der Einsamkeit des Waldes zugebracht. Den Vogelstimmen lauschend, fand er sein Glück in den Schriften Rudolf Steiners. Heute mag er Waldorfschülerinnen und Kaffee mit viel Milch und ohne Zucker, während er mit einem Geigenbogen über Metallplatten streicht, dabei eine neue Stufe des Seins erreicht und glaubt, er sei ein besserer Mensch. Ich griff nach dem Quarzkristall in meiner Hosentasche, zielte kurz und warf. Eine Spitze des Kristalls blieb in Bernhards Stirn stecken. Blut floss langsam die Schläfe hinab, während er zusammensackte. Ein echter Volltreffer!
Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner Seite. Hatten mich etwa Heckenschützen erwischt? Waren die Cops wirklich so krass unterwegs? Verwirrt blickte ich mich um. Doch von den Bullen keine Spur. Dann spürte ich den Schmerz erneut. Und hörte weit entfernt eine Stimme brüllen: „Aufwachen!“ Dann spürte ich einen Tritt gegen meine Waden. Und hörte wieder diese Stimme, nur lauter: „Wach endlich auf, du Penner!“
Benommen öffnete ich meine Augen. Ich sah verschwommenes Weiß. Langsam hob ich den Kopf und drehte ihn nach links, der Richtung, aus der die Stimme kam. Da stand eine Uniform. Ich drehte den Kopf nach rechts. Ich sah eine Holzpritsche und eine weiß gekachelte Wand. Ich lag also auf dem Boden. „Wo bin ich?“, murmelte ich.
„Ausnüchterungszelle, erstes Revier“, sagte die Uniform.
„Ausnüchterungszelle? Ich verstehe nicht …?“
„Sie haben vor der Wohnung Ihrer Nachbarin randaliert. Sie waren stark alkoholisiert und haben Widerstand geleistet. Sie haben uns keine Wahl gelassen. Wir mussten sie mitnehmen. Und jetzt raus hier! Wir sind kein Hotel.“ Und dann fiel es mir wieder ein. Der Schlüssel, der nicht passte. Mein Klopfen und mein Schimpfen. Der Bulle, der mich gegen die Wand drückte.
Nachdem ich den Papierkram erledigt und meine Wertsachen wiederbekommen hatte, steuerte ich den nächsten Kiosk an. Der war nicht weit und lag direkt auf der anderen Seite des Platzes der Deutschen Einheit. Ich bezahlte die zwei Becks und die roten Gauloises und setzte mich auf eine der zahlreichen Bänke inmitten des Platzes. Ein Hund verscheuchte die Tauben, die auf der kleinen Wiese saßen, und hatte offensichtlich Spaß dabei, während sein Halter hinter ihm herrannte und immer wieder „Bei Fuß“ rief. Es war Sonntag, kurz nach 9 Uhr. Der Himmel war blau. Nur vereinzelt waren Wolken zu sehen. Die Sonnenstrahlen sorgten für eine behagliche Wärme. Ich blickte auf die Death Clock. 29 Jahre, 6 Monate, 9 Tage, 10 Stunden und 13 Minuten blieben mir. Eigentlich noch eine Menge Lebenszeit. Wozu also die Eile?
Ich lasse es also gemütlich angehen. Auch eine kleine Pause wird mich auf meinem Weg voranbringen. Es gibt schließlich Wichtigeres im Leben, als beständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen. Selbst wenn das mein Hautkrebsrisiko erhöht: Heute werde ich langsam genug gehen, um immer in der Sonne zu bleiben.
Wisst ihr noch, wie es war, als das mit Corona losging? Als sich das Virus exponentiell über den Globus ausbreitete und Deutschland für ein paar Wochen in den Shutdown ging? Als die Straßen verwaist waren und die Menschen mit Klorix gurgelten und Männer lernten, sich die Hände zu waschen? Als Analstufe Rot herrschte und die Menschen sich im Supermarkt um die letzte Packung Toilettenpapier prügelten, Nudelvorräte anlegten, die den Jahresbedarf eines italienischen Restaurants decken, und sogar Dosenwurst ausverkauft war? Als Social Media zur Bunkerbörse verkam: „Bei Rewe in der Aarstraße gibt es noch Ravioli“, „Der Penny in der Römergasse hat noch Mehl“, „Bei Aldi im Camp Lindsey habe ich Klopapier gesehen“. Die Babyboomer hatten endlich auch einen Grund zu bunkern. Einen richtigen Grund. Ein Virus, über das man zu diesem Zeitpunkt fast nur wusste, dass es töten kann. Nicht wie damals, als die Glühbirne zugunsten energiesparender und länger haltenden Erleuchtungskonzepte verboten wurde und sich trotzdem nicht wenige einen Mehrjahresvorrat der alten Stromfresser zulegten. Nein, dieses Mal war es ein waschechtes, gefährliches Virus.
Endlich konnte den Großeltern gezeigt werden, dass man ihre Bunkermentalität verinnerlicht hat. Dass man auch Vorräte anlegen kann, selbst wenn man dafür den SUV auf der Straße parken muss, um Platz in der Garage zu haben. Ob es an Guido Knopps Hitlertainment liegt? An diesen Erzählungen über die Bombennächte im Kartoffelkeller, die sich ins kollektive Gedächtnis gefressen haben? An diesem „Wir hatten ja nichts, nicht mal Klopapier“, das noch heute seltsam verklärt wird, zu einem Triumph, den Willen besessen zu haben, für eine größere Sache zu leiden? An diesen Erzählungen über die größte Not und das tapfere Hinnehmen, den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder, die letztendlich die Niederlage und das zerstörte Land zu einem Sieg über die Bombenwerfer umdeuten und gerne die Gründe für den Untergang verschweigen: den deutschen Größen- und Vernichtungswahn, das Fest- und Hochhalten alter Traditionen sowie die Verweigerung, sich neuen Dingen zu öffnen? Ich weiß es nicht. Aber noch heute gibt es Menschen in Deutschland, die glauben, dass sich der Buchdruck nicht durchsetzen wird und dass ein „Hitler, ohne das mit den Juden“ gut für das Land wäre.
Man erkennt diese Fixierung auf eine Führerfigur und das Festhalten am Altbewährten auch an der Geschichte der Demokratie.