Der populistische Planet
Berichte aus einer Welt in Aufruhr
Mit Beiträgen von Naren Bedide, Ágnes Heller,
Jonas Lüscher, Yvonne Adhiambo Owuor,
Carol Pires, Youssef Rakha, Maria Stepanova
und Michael Zichy.
C.H.Beck
Hat die «Elite» tatsächlich den Kontakt zum «Volk» verloren? Was bedeutet es wirklich, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen? Was verbirgt sich hinter der Floskel «Das muss man doch noch sagen dürfen»? Eine internationale Gruppe von Denker*innen stellt die gängigen Erzählungen des Populismus auf den Prüfstand. Entstanden ist ein einzigartiger Briefwechsel über verschiedene Kontinente hinweg. Rechte und linke Populisten auf der ganzen Welt eint dieselbe Erzählung: Der Staat befinde sich in der Hand einer abgehobenen, globalistisch denkenden, meist urbanen Elite, die den Kontakt zu den «normalen» Bürger*innen längst verloren habe und die alltäglichen Sorgen des «Volkes» gar nicht mehr nachvollziehen könne. Sie aber, die Populist*innen, gehörten nicht zu dieser Elite und würden exklusiv die Ängste der
Bürger*innen verstehen, offen artikulieren und ernst nehmen. Der Schriftsteller Jonas Lüscher und der Philosoph Michael Zichy haben eine diverse Gruppe zusammengestellt, um den Gemeinsamkeiten, aber auch den Unterschieden zwischen den vielen Erscheinungsformen des Populismus unter den Vorzeichen unterschiedlicher gesellschaftlicher, ökonomischer und religiöser Bedingungen nachzuspüren. In globalen Gesprächen zwischen Budapest, Kairo, Brasilia, Nairobi, Moskau, Hyderabad, Salzburg und Zürich ist so ein Buch über einen populistisch infizierten Planeten entstanden. Es zeigt, warum sich die Welt vielerorts in Aufruhr befindet – und was es konkret bedeutet, unter einer populistischen Regierung leben zu müssen.
Jonas Lüscher ist Schriftsteller und lebt in München.
Michael Zichy ist Assoziierter Professor für Philosophie an der Universität Salzburg.
Einleitung
Jonas Lüscher und Michael Zichy:
Eine erste Überlegung
Ágnes Heller:
Populismus oder Ethnonationalismus?
Yvonne Adhiambo Owuor:
Der undurchdringliche Schatten unserer Existenzkrise
Michael Zichy:
Das Rezept des Populismus
Jonas Lüscher:
Die Mär vom «guten Populisten»
Carol Pires:
Brasilien, ein Land der Zukunft? Über den (Miss-)Erfolg des Populisten Bolsonaro
Ágnes Heller:
Es gibt keine Demokratie ohne kulturelle Elite
Youssef Rakha:
Big Macs und Coca-Colas des politischen Marktplatzes
Maria Stepanova:
Passéismus im Ressentimentstaat
Naren Bedide:
Populismus ohne Volk
Michael Zichy:
Die vielen Gesichter des Populismus: Eine Zwischenbetrachtung
Carol Pires:
Jair Bolsonaro und der tropische Protofaschismus
Jonas Lüscher:
Nach einem Jahr – was hat sich verändert?
Yvonne Adhiambo Owour:
Die Seuche, die Populisten und wir
Youssef Rakha:
Wir, die Populistinnen und Populisten
Maria Stepanova:
Geteiltes Unglück
Naren Bedide:
Indien ist die Pandemie
Yvonne Adhiambo Owuor:
Das. Auch.
Youssef Rakha:
Revolution 101
Naren Bedide:
Die Welt versetzt sich zurück in den Mutterleib
Michael Zichy:
Hinsehen, wo es weh tut
Jonas Lüscher:
Pandemie und Anstand
Carol Pires:
Populismus, der tötet
Nachrufe auf Ágnes Heller
Sie war eine vorbildliche Exponentin der kulturellen Elite
Sie wird eine Quelle der Inspiration bleiben
Über die Autor*innen
Fußnoten
Für Ágnes
Ende 2018 kontaktierte uns das Goethe-Institut mit der Anfrage, ob wir Interesse hätten, ein Konzept für einen Online-Dialog zum Thema Populismus auszuarbeiten. Mit Online-Formaten werden in der Regel Geschwindigkeit und Kürze assoziiert: kurze Texte, tagesaktuell, schnell geschrieben, Schlag auf Schlag publiziert; aber eben auch schnell gelesen und schnell vergessen. Bei einem derartigen Vorgehen kommen aber die Freiheiten nicht zur Geltung, die man durch das digitale Publizieren gewinnen könnte. Deswegen haben wir beschlossen, einen anderen Weg zu gehen – den der maximalen Freiheit: keine strengen Abgabetermine, keine Einschränkung in der Länge der Beiträge, also Zeit zum Nachdenken und Platz, um Gedanken sorgfältig zu entwickeln. Und weil wir sowieso schon dabei waren, etwas ungewohnte Wege zu beschreiten, haben wir uns auch noch erlaubt, für diesen Dialog ein etwas aus der Mode gekommenes Format, den Briefwechsel, zu wählen.
Das Thema war im Groben gegeben: Populismus. Darüber wurde schon viel nachgedacht und publiziert; die wissenschaftliche Literatur dazu ist extensiv, Analysen gibt es zuhauf. Was uns aber interessiert hat, ist, das Phänomen aus einer internationalen, vielschichtigen Perspektive zu beschreiben und dabei subjektive Wahrnehmungen zur Sprache kommen zu lassen. Also auch Stimmen einen Raum zu geben, die von der konkreten Lebenswirklichkeit unter populistischen, teils semi-autoritären bis autoritären Regierungen berichten.
So ergänzen sich Analyse und Berichte aus der Lebenswirklichkeit; gepaart mit der internationalen Perspektive ergibt sich daraus ein komplexes Bild, das sich in kein striktes Gattungskorsett zwängen lässt. Mehr noch: Vermeintliche Gewissheiten, was der Populismus sei oder warum er schlecht sei, werden durch die Form eines aufeinander bezogenen Briefwechsels relativiert beziehungsweise provokativ in Frage gestellt.
Dazu haben wir eine diverse Gruppe zusammengestellt, bestehend aus Journalist*innen, Philosoph*innen, Aktivist*innen, Schriftsteller*innen mit einem Altersunterschied von 60 Jahren aus sieben Ländern auf vier Kontinenten.
Nicht alle unserer zukünftigen Briefpartner*innen kannten wir persönlich. Einige waren uns nur durch ihr Werk vertraut, aber sie schienen uns vielversprechende Dialogpartner*innen, weil sie sich alle durch einen ganz eigenen Blick auf ihr Land auszeichneten und individuelle Wege gefunden hatten, ihre scharfen Beobachtungen in Sprache zu fassen.
Im Laufe des Dialogs wurde uns bald klar, wie richtig unser Ansatz war, welches Glück wir mit unserer Auswahl hatten und wie wertvoll diese Diversität war. So wurde schnell deutlich, dass wir alle unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen leben und schreiben, die Welt sehr unterschiedlich wahrnehmen und uns dadurch gegenseitig außerordentlich bereichern können. Aber ebenso schnell wurde deutlich, dass uns etwas Fundamentales verbindet: die Sorge um unsere Gesellschaften und die Angst vor Grausamkeit, Erniedrigung und Unfreiheit, die wir angesichts des raumgreifenden Populismus verspüren.
Zwei unerwartete Ereignisse haben diesen Briefwechsel geprägt. Bereits im Sommer 2019, nachdem sie zwei Briefe verfasst hat, ist Ágnes Heller verstorben und hat eine tiefe Lücke in unserem Kreis hinterlassen. Wie wichtig sie für uns war, zeigt die Tatsache, dass wir alle immer und immer wieder in unseren Briefen auf ihre Beiträge Bezug nehmen. Ihr wacher Geist, ihr Mut und ihr unkonventionelles Denken haben uns auch im weiteren Verlauf dieses Projektes begleitet. Im Anhang dieses Buches finden sich zwei Nachrufe auf sie, die wir für die Webseite des Goethe-Instituts, noch ganz unter dem Eindruck ihres unerwarteten Todes, verfasst hatten.
Ihren Platz hat auf ganz eigene, großartige Weise Naren Bedide eingenommen, ein Lyriker und Dalit-Aktivist aus dem südindischen Hyderabad, der uns mit überraschenden Einblicken in die Spielart des indischen Populismus vor dem Hintergrund des Kastensystems versorgt hat.
Das zweite unerwartete Ereignis ist natürlich die Corona-Pandemie, die nicht nur unser aller Leben auf ähnliche, aber auch auf erstaunlich unterschiedliche Art und Weise auf den Kopf gestellt, sondern auch unseren Briefwechsel bald dominiert hat. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als hätten wir unser ursprüngliches Thema aus den Augen verloren; dem ist aber natürlich nicht so, denn die Pandemie hat die Auswirkungen populistischer Politik in aller Deutlichkeit zutage gefördert und wir sahen uns gezwungen, uns diesem Phänomen sozusagen unter Extrembedingungen zu widmen.
Herausgekommen ist der vorliegende Briefwechsel, den wir dankenswerterweise, erweitert und ergänzt durch einige zusätzliche Briefe, hier als Buch publizieren dürfen. Wir danken unseren Briefpartner*innen, mit denen wir uns nach diesen zwei Jahren freundschaftlich verbunden fühlen. Wir danken Tatjana Brode und Eliphas Nyamogo, die das Projekt «Diesseits des Populismus – Zeitgeister» beim Goethe-Institut angestoßen und betreut haben. Ohne ihr großes Engagement und die Mithilfe des Instituts hätte das Buch nicht erscheinen können. Und wir danken Martin Hielscher, der das Projekt zum Verlag C.H.Beck getragen, und Matthias Hansl, der das Buch beim Verlag betreut hat.
Salzburg & München im Januar 2021
Michael Zichy & Jonas Lüscher
München, 29. April 2019
Liebe Freund*innen,
Wie Ihr wisst, wollen wir mit Euch einen internationalen Dialog über verschiedene Kontinente hinweg führen, der sich einem Thema widmet, das uns alle seit geraumer Zeit in seinem Bann hält: dem Populismus. Um unsere Diskussion darüber in Fahrt zu bringen, beginnen wir mit ein paar ersten Überlegungen. Zuallererst eine notwendige Präzisierung: Anstelle von Populismus wäre es vermutlich richtiger, den Plural zu verwenden und von Populismen zu sprechen. Ganz offensichtlich tritt der Populismus in verschiedenen Ausformungen auf. In der Fachdiskussion wird in erster Linie zwischen rechtem und linkem Populismus unterschieden. Aber auch diese Unterscheidung ist natürlich nicht feinkörnig genug. Wir wollen in diesem Projekt den Unterschieden, aber auch den Gemeinsamkeiten zwischen den vielen Erscheinungsformen des Populismus unter den Vorzeichen unterschiedlicher gesellschaftlicher, ökonomischer und religiöser Bedingungen nachspüren. Dazu haben wir eine ausgesprochen diverse Gruppe zusammenstellen können.
Ágnes Heller, die einen großen Teil ihres Lebens in den USA verbracht hat und nun wieder in Ungarn lebt, dem Land, welches sie vor 42 Jahren zu verlassen gezwungen war, kennt sowohl die Eigenarten der US-amerikanischen Politik, die zur Wahl Donald Trumps geführt haben, wie auch die Zustände in Ungarn, in denen Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei seit vielen Jahren die Politik bestimmen. Zudem haben wir in Ágnes Heller eine Gesprächspartnerin, die als Kind den Schrecken des Faschismus erlebt oder vielmehr überlebt hat und die in den 70er Jahren, nach vielen Jahren der politischen Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Regime und der Unterdrückung durch dasselbe, ihre Heimat verlassen musste. Sie ist eine Gesprächspartnerin, die also nicht nur die Populismen der Gegenwart auf beiden Seiten des Atlantiks bestens kennt, sondern auch die beiden folgenschwersten politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts, die sich – aber dazu wird sich Ágnes Heller selber äußern – populistischer Mechanismen bedient haben.
Mit Maria Stepanova haben wir eine profunde Kennerin der russischen Verhältnisse in unserer Gruppe, die nicht nur seit vielen Jahren die Politik Putins als Journalistin und Publizistin kritisch begleitet, sondern in ihrem jüngst erschienenen Roman Nach dem Gedächtnis die Tiefen der sowjetischen Erinnerungsräume auslotet.
Yvonne Adhiambo Owuor hat in ihrem Debütroman Dust nicht nur die Politik der kenianischen Gegenwart beschrieben, sondern auch die koloniale und postkoloniale Geschichte ihres Landes ausgeleuchtet. Gegenwärtig beobachtet sie ihre Heimat aus der Ferne. Am Wissenschaftskolleg zu Berlin arbeitet sie an ihrem neuen Roman und hat dabei die Gelegenheit, populistische Strömungen in Deutschland mit den Verhältnissen in Kenia in Bezug zu setzen.
Carol Pires wird uns aus Brasilien berichten können, wo sich in den nächsten Monaten zeigen wird, wie schnell und tiefgehend der autoritäre und populistische neue Präsident Jair Bolsonaro das Land zu verändern vermag.
Youssef Rakha hat in Kairo den Volksaufstand 2011, die darauf folgende Regierungszeit der Muslimbrüder, die zweite Revolution – oder, je nach Sichtweise, den Putsch – und die sich nun verfestigende Militärregierung mit der ihm eigenen intellektuellen Distanz beobachtet. Er hat im Vorgespräch bereits angedeutet, dass er beabsichtigt, den Zusammenhang zwischen Populismus und Islamismus auszuloten.
Michael Zichy kennt, auch als aktiver Politiker bei den österreichischen Grünen, die Verhältnisse in seinem Land bestens und beobachtet mit Sorge die Veränderungen in der Gesellschaft, die sich im nun zweiten Jahr der rechtsbürgerlichen Koalition vollziehen.[1]
Jonas Lüscher wurde in seiner Jugend in der Schweiz durch das Erstarken des spezifisch helvetischen Rechtspopulismus der Schweizerischen Volkspartei (SVP), die nunmehr seit zwanzig Jahren die stärkste Partei im Land darstellt, politisiert. Heute beobachtet er mit Sorge den Einzug der rechts-konservativen bis offen rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) in den Bundestag seiner Wahlheimat. Eine solch vielfältige Gruppe ist eine ideale Voraussetzung, um dem Phänomen des Populismus auf die Spur zu kommen.
Wir wollen die Diskussion mit einer These anstoßen: Es scheint uns, als ob es ein Narrativ gibt, dessen sich alle Populisten bedienen. Der Staat, so lautet es, befinde sich in der Hand einer abgehobenen, globalistisch denkenden, meist urbanen Elite, die den Kontakt zu den «normalen» Bürgern längst verloren habe und die alltäglichen Sorgen des «Volkes» gar nicht mehr nachvollziehen könne. Sie aber, die Populisten, gehörten nicht zu dieser Elite und sie würden daher als Einzige die Ängste der Bürger*innen verstehen, offen artikulieren und ernst nehmen. Dort, wo die Populisten bereits in der Regierung sitzen – wie beispielsweise in Ungarn oder den USA –, wird das Narrativ leicht abgewandelt: Nun sei es die Opposition, mehr noch aber die übernationalen Institutionen – die EU, die UNO –, gegen die es die «wahren Interessen» des Volkes zu verteidigen gelte.
Diese Erzählungen sind aus mehreren Gründen interessant. Erstens: Viele führende Populisten kommen selbst nicht im Geringsten aus dem «gewöhnlichen» Volk. Christoph Blocher etwa, das Gesicht des Schweizerischen Rechtspopulismus, gibt sich als Volkstribun, ja fast schon als Bauernführer aus – dabei ist er ein Chemieunternehmer mit einem Vermögen von um die 10 Milliarden Euro. Donald Trump und Silvio Berlusconi sind ähnliche Beispiele. Weshalb wird diesen Männern trotzdem die Behauptung abgenommen, sie seien volksnah, wüssten um die Sorgen der einfachen Leute und nähmen sich dieser auch wirklich an?
Zweitens: Populisten rühmen sich dafür, das auszusprechen, was die «schweigende Mehrheit» denkt, und sie nehmen für sich in Anspruch, die wahren Interessen des Volkes zu vertreten. Aber tun sie dies wirklich? Oder gelingt es ihnen nur, das Volk auf perfide Art zu manipulieren, sich zum Sprachrohr für dessen Frust zu machen? Werden die Meinungen und Interessen einer Mehrheit tatsächlich durch eine Elite – und ihr Diktat der politischen Korrektheit – unterdrückt? Wenn dem nicht so wäre: Wie kommt es dazu, dass dieses Narrativ trotzdem so verfängt?
Und drittens schließlich: Stimmt die These der Existenz einer abgehobenen politischen Elite, einer «classe politique», überhaupt? Für welche Länder hat sie Gültigkeit, für welche nicht? Sind wir, die Diskursteilnehmer, Teil dieser Elite und damit Teil des Problems? Oder ist es nicht vielmehr so, dass es angesichts der Komplexität der Welt und der politischen Entscheidungen schlicht eine Elite braucht? Übt diese Elite tatsächlich moralischen Terror aus und spricht Denkverbote aus, oder ist die Diskrepanz zwischen politischer Elite und gewöhnlichem Volk die unvermeidbare Folge des Umstandes, dass sich politische Zusammenhänge in einer globalisierten Welt nur noch schwer vermitteln lassen?
Wer nimmt den Ball auf und antwortet mit einem ersten Essay auf unsere Fragen und berichtet über die spezifischen Verhältnisse in seinem Land?
Herzlich,
Michael und Jonas
Budapest, 27. März 2019
Liebe Freundinnen und Freunde,
ich habe ein Problem mit dem Ausdruck «Populismus». Perón war ein Populist, und Chávez ebenso. Doch Orbán und seine Gefolgschaft sind keine Populisten. Populisten sind zwar Demagogen, stehen aber tatsächlich auf Seiten des Volkes und nicht der Wohlhabenden. Einige totalitäre Parteien Europas waren auch populistisch, jedoch nur anfangs. Im Gegensatz dazu haben Orbán und seine Partei eine eigene Oligarchie geschaffen, die «Neureichen», deren Wohlstand ihnen gänzlich selbst zugutekommt, während die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird. Ich würde stattdessen eher von einer Art Refeudalisierung sprechen. Diese ethnonationalistischen Parteien behaupten nicht einmal, das «Volk» zu unterstützen; sie unterstützen die «Nation». Sie nehmen für sich in Anspruch, die Nation gegen all deren Feinde wie Soros, Brüssel und vor allem natürlich gegen den Liberalismus zu verteidigen. Den Liberalismus zum Feind Nummer eins zu erklären, ist beileibe nichts Neues. Das haben die Ethnonationalisten mit totalitären Parteien gemein. Und dennoch sind sie nicht totalitär, weil sie es gar nicht nötig haben.
Dementsprechend ist ihre Identitätspolitik ethnonationalistisch. Für Ethnonationalisten setzt sich die «Nation» im Gegensatz zu Aristoteles nicht aus der Summe ihrer Bürgerinnen und Bürger zusammen, sondern aus all jenen, deren Vorfahren aus dem betreffenden Land stammen, die von gleichem «Blut» sind und sich einem Land zugehörig fühlen, in dem sie vielleicht nie gelebt haben. Etwa so wie die «Volksdeutschen», die nie in Deutschland ansässig waren, selbst nicht in der Eltern- und Großelterngeneration, aber von denen man dennoch verlangte, ihre Treue zu Deutschland anstatt zu dem Land zu bekunden, in dem sie beheimatet waren. In den Augen der politischen Führungselite Ungarns zählt die Anhängerschaft der Oppositionsparteien nicht zu den Ungarn. Menschen hingegen, die nie in Ungarn gewohnt haben, doch ungarischer Herkunft sind, gelten als wahre Ungarn, vorausgesetzt, sie sind Befürworter Viktor Orbáns. Ethnonationalismus kann leicht in offenen Rassismus umschlagen.
Seit 1914 ist der Ethnonationalismus eine verbreitete Ideologie in Europa und war der eigentliche ideologische Beweggrund für den Ersten Weltkrieg. Europa bezahlte für diesen Krieg mit hundert Millionen Toten, alle Europäer, die durch die Hand von Miteuropäern starben.
Tatsächlich unterscheiden sich die neuen Ethnonationalisten von heute von denen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dahingehend, dass ihre Ideologie negativ ist. Sie versprechen keinen Landgewinn, keine Gesellschaft, die frei von Fremden ist, nicht Glück für alle oder gar Größe und Erhabenheit. Sie versprechen Schutz. Sie geben vor, ihre Nation vor Einwanderern, vor der Einmischung anderer in die Innenpolitik und der vermuteten Einschränkung der nationalstaatlichen Souveränität seitens der EU zu bewahren. Sie errichten Mauern nicht nur gegen Einwanderer, wie sie glauben machen wollen, sondern gegen alle anderen EU-Staaten, die nicht mit ihnen übereinstimmen.
Wie ich vorher erwähnte, ist der größte Gegner der Ethnonationalisten der Liberalismus. Daher schaffen sie, sobald sie an die Macht gelangen, die Gewaltenteilung ab, zentralisieren alle entscheidungsgebenden Organe sowie die Medien und die Bildung und richten Institutionen ein, mit denen sie die öffentliche Meinung manipulieren (etwa durch die sogenannten Nationalen Konstitutionen in Ungarn). Damit können sie eine Diktatur errichten, ohne auf die Waffen des Totalitarismus zurückgreifen zu müssen. Dazu sind sie in der Lage, weil sie die Macht nicht durch Gewalt, sondern durch Parlamentswahlen erlangt haben – zwar keine sauberen, aber dennoch Wahlen. Sie werden gewählt und wiedergewählt, dreimal, fünfmal, wie Putin, Erdoğan, Kaczyński, Sisi und Orbán. Alle halten ihre Präsidentschaft für demokratisch, da sie ja von einer Mehrheit oder nahezu einer Mehrheit gewählt wurden. Lässt sich das abstreiten? Auf der Suche nach einer Bezeichnung für diese Regierungsform kam mir der Ausdruck «Demokratur» in den Sinn. Das Wort allein ist ein Indiz dafür, dass der Begriff «Demokratie» überdacht werden muss.
Demokratie wurde in der europäischen Geschichte mehrfach umdefiniert. Ursprünglich bezog er sich auf eine direkte Demokratie nach Athener Muster. Kant zufolge war diese Demokratieform nicht länger möglich, weil die Staaten zu groß waren und man sich nicht an einem Ort zur gemeinsamen Entscheidungsfindung versammeln konnte.
In den USA entstand die erste moderne Demokratie, die repräsentative Demokratie, die nur durch die Verabschiedung des Ersten Zusatzartikels zur Verfassung der Vereinigten Staaten zu einer liberalen Demokratie wurde. Dennoch vergingen viele Jahre bis zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Im neunzehnten und vor allem in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde Demokratie im Westen und später auch in Südeuropa jahrzehntelang mit einem Liberalismus gleichgesetzt, der Volkssouveränität und ein allgemeines Wahlrecht einschloss. Eine Zeitlang bedeutete der Begriff «Demokratie» Volkssouveränität durch allgemeines Wahlrecht, Gewaltenteilung und verfassungsrechtlich gewährleistete Rechte. Nun erleben wir eine neue Metamorphose des Demokratieverständnisses.
Was ist geschehen? Kurz gesagt hat sich die Klassengesellschaft in eine Massengesellschaft gewandelt. Da es keine Klassen (und somit kein Klassenbewusstsein) mehr gibt, ist das Volk zu einer «Masse» geworden. Traditionsparteien, Konservative wie Sozialisten, verlieren ihre Wählerschaft. Neue Parteien entstehen aus dem Nichts und repräsentieren keine Individuen mehr, sondern nach eigenem Verständnis «die Nation», die sie verteidigen. Sie gewinnen Wählerstimmen durch negative Ideologien. Negative Ideologien sind Ausdrucksformen des Nihilismus. Und sie sind gefährlich.
Über diese Gefahr möchte ich in meinem nächsten Brief sprechen. Aber zunächst freue ich mich über Kommentare zu meinen Ansichten, Zweifeln und kritischen Anmerkungen.
Beste Grüße,
Ágnes Heller
Aus dem Englischen von Christiane Wagler
Nairobi, 23. April 2019
Liebe Freundinnen und Freunde,
darf ich Euch in zwei Teilen antworten? Der erste ist eine allgemeine Erörterung des metaphorischen Terrains, der zweite ist ein wenig persönlicher, und dazwischen liegen mehr Fragen als Anregungen.
Zunächst, ein Geständnis. Die Position, aus der ich mich dem Thema annähere? In einem Wort: schadenfreud’sch.
Warum?
Der Ort, der Raum und die Zeit, die das Thema hervorbrachten; die Tatsache, dass man ein Geschöpf aus einer jener nachaufklärerischen, von der Welt erdachten Alteritäten ist, der Orte, deren tatsächliche Existenz- und Bedeutungsnarrative überschrieben und dann anderswo beharrlich neugestaltet worden sind, mit einer auferlegten Sprache, die nicht von ihnen stammt, deren Lebenserfahrungen als «exotisch» oder «absurd» behandelt werden, deren Erleben des sogenannten Populismus als menschliche Anomalien abgetan wurden und nicht als Anzeichen dafür, was sich in jeder menschlichen Gesellschaft und zu jeder Zeit entfalten kann; deren Bevölkerung zu lange endlose Predigten von mehrheitlich europäischen oder amerikanischen weltlichen Missionaren erduldet hat, die ihnen die Vorzüge einer säkularen Dreifaltigkeit aus «Demokratie», «Menschenrechten» und «Rechtsstaatlichkeit» darlegten, und die in vergeblicher, zorniger Hilflosigkeit zusehen musste, wie jene unheilige Dreifaltigkeit Ländern wie Irak, Libyen oder Afghanistan von ähnlich gesinnten Predigern gewaltsam auferlegt worden ist, und das ohne jedes Verständnis für die Ironie, dass Millionen Menschen dabei den Tod fanden und finden … nun, da ich von so einem Ort stamme …, bin ich zutiefst erstaunt über die Vielfalt des menschlichen Widerstands, der sich gegen das, was einst als Zustand einer «progressiven», «normalen» Weltordnung verstanden wurde, regt.
Es muss sich eine philosophische oder theologische Bestätigung dafür finden, dass es eine Grenze gibt, bis zu der der menschliche Geist Heuchelei ertragen kann, bevor er nach einem Ausweg sucht und jedem beliebigen Menschen folgt, der ihm diesen neuen Weg verspricht.
Wie dem auch sei, nun zum Thema Populismus.
Zunächst einmal, warum sind wir hier? Nein, nicht «wir», die flüchtige digitale Gemeinschaft von Ideen, sondern Wir, die Menschheit? Ja, ja, ich werde jetzt ein wenig ontologisch. Um es noch komplizierter zu machen, widme ich mich auch noch der Axiologie: Was wertschätzen wir? Was halten wir für besser? Ferner, wenn ich «wir» sage, gehe ich dann davon aus, dass «unser» aller Empfinden und Wahrnehmen von und Denken über bestimmte Werte, Prinzipien und Ideale gleich ist? Was ist mit denen unter uns, die sich mehr und mehr der Ansicht einer «Pluriversalität» verschreiben (wie sie etwa Franz Hinkelammert, Enrique Dussel, Raymundo Pannikar und natürlich Walter Mignolo nahelegen, also im Wesentlichen der Auffassung, die die Vorstellung des vermeintlich «Universalen» ablehnt)? Sollte der derzeit einen Teil unseres Pluriversums beherrschende «Populismus» uns überhaupt interessieren? Warum sollen wir uns mit etwas auseinandersetzen, das in jedem Ausmaß und zu jedem Zweck lediglich eines von einer Reihe verstörender Phänomene ist, die dieses scheinbar apokalyptische Zeitalter prägen? Ist das derzeitige Unbehagen über den Populismus in Anbetracht dessen gerechtfertigt, dass er schließlich der kollektiven Menschheitserfahrung keineswegs fremd ist? Was genau liegt diesem Unbehagen der kollektiven Seele zugrunde? Die Angst vor der Rückkehr und dem Aufmarsch eines nur allzu vertrauten ruhelosen Geistes oder die unterdrückte Trauer über den Verlust scheinbarer Gewissheiten?
Dem allgemeinen Verständnis nach ist der Populismus unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sich zu irgendeinem Zeitpunkt ein Demagoge auf ein Podium schwingt und im Namen «des Volkes» zumeist rechtswidrige Parolen schreit. Das «Schreien» ist ein Thema an sich und muss gesondert betrachtet werden. Es scheint, als ob der schnellste Weg des politischen Aufstiegs selbst in Europa und Amerika darin bestünde, den Glaubenssätzen und Prinzipien der politischen Korrektheit eine lange Nase zu drehen.
Da muss man sich fragen, ob ein Teil der Ausbreitung dessen, was heutzutage in der liberalen Presse als Geschwür wahrgenommen wird, der Abwesenheit von Foren geschuldet ist, in denen man sich direkt äußern kann, ohne vorherige Prüfung auf Anzeichen allgemeiner Unruhestiftung. Es ist einfacher, sich zur Menge derer zu gesellen, die ihre Liebe zur «Demokratie» verkünden, als dem inneren Verlangen nachzugeben, von einem Caudillo regiert zu werden, besonders wenn der, der dieses Verlangen hegt, ebenfalls ein gebildeter Mensch ist.
Als afrikanische Weltenbummlerin, die sich in verschiedene Räume menschlicher Begegnungen vorwagt, augenscheinlich freundlich gesinnt ist und für niemanden Partei ergreift, sah ich einige in der Öffentlichkeit aufrechterhaltene Fassaden im privaten Umfeld bröckeln. Vor zwei Jahren speiste ich mit einem Evolutionsbiologen, der später in sarkastischem Tonfall gestand, er habe Mr. Donald John Trump gewählt und wünsche dem 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten ein langes Leben. Das hätte er nie gefahrenlos in der Öffentlichkeit oder gegenüber Gleichgestellten einräumen können. Er wusste, dass er dann diffamiert, abgestempelt und ausgebuht worden wäre und anschließend seine Stelle verloren hätte. Aufgestauter Druck wird ein Ventil finden, selbst wenn er dadurch eine schreckliche Explosion auslöst, oder etwa nicht? Nun stellt sich eine weitere Frage: Trägt so etwas dazu bei, die Vorstellung von «Demokratie» zu begrenzen? Und ist ebendies denn nicht der Samen für eine Auflehnung gegen Einschränkungen, ist es nicht das, was in «Populismus» (oder Ethnochauvinismus, Ethnonationalismus, Tribalismus) umschlägt?
«Alles ist miteinander verbunden», heißt es oft, und nichts ist mehr verbunden oder zusammenhängend als die Vergangenheit mit der Gegenwart. Jenseits des Anspruchs, jenseits von dessen Synonymen, welch verstörende Frage lauert da im menschlichen Kollektivbewusstsein? Was fürchten die Menschen so, dass jeder falsche Prophet nicht nur Gehör, sondern auch eine Wählerstimme findet? Was hat eine Gesellschaft, die sich vom Populismus gestört fühlt, als Gegennarrativ oder Erkenntniskritik zu bieten, die machtvoll und inspirierend genug sind, um diese Energie zu zerstreuen? Und die Betrachtung dieser Fragen birgt eine weitere Wahrheit in sich, die ans Tageslicht kommen muss – nämlich unsere beständigste Menschheitsangst, die Angst vor dem Fremden. Die Angst, die unsere wundervolle Welt an den Abgrund geführt hat. Der bescheidene Umfang dieses Briefes gestattet es mir nicht, mich in und durch die Wunden der Menschheit zu graben und zu deren Ursache vorzudringen, zur Wurzel, aus der sich die derzeitige Existenzkrise speist.
Was nun als Populismus (Ethnochauvinismus, Ethnonationalismus, Tribalismus) bezeichnet wird, kommt nicht von irgendwo, sondern ist das Ergebnis vererbter Denkmuster, der Vorstellung von Regierungshandeln und der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit damit. Seine Ausprägung unterscheidet sich je nach Kontext. Im angloamerikanischen Raum fallen die aggressivsten Reaktionen mit dem Zustrom derer zusammen, die als «fremd» betrachtet und in schöner Regelmäßigkeit verzerrt dargestellt werden. Aber warum ist das so? Welchem Erkenntnissinn entspringt dieser Impuls? Wenn sich das herausfinden ließe, könnte man dann direkt benennen, welches «Unbehagen» das Symptom im Menschen verursacht, das wir heute als «Populismus» kennen? Und welchen Sinn hätte das? Was ist das beste zur Verfügung stehende «Angebot», das es aus sich heraus vermag, die positiven Sehnsüchte jener zu wecken, die nun auf der Suche nach volksverhetzenden Erlösergestalten sind, die ihren Träumen (und anderer Leute Albträumen) Ausdruck verleihen? Ist das überhaupt möglich?
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