ZWISCHEN FREIHEIT UND KONTROLLE
2021
Umschlaggestaltung: Uwe Göbel
Redaktion: Dr. med. Nicola Offermanns
Satz: Nicola Graf, Freinsheim, www.nicola-graf.com
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Erste Auflage, 2021
ISBN 978-3-8497-0377-6 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8266-5 (ePUB)
© 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
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VORWORT
1DER MENSCH WIRD ZUM WIRTSCHAFTSGUT – EIN RÜCKBLICK
2EMOTIONALE GRUNDLAGEN UNSERES SEINS
Wenn die fehlende Neugier lähmt: Langeweile verhindert die Entwicklung von Fantasie und Leidenschaft
Wenn die Wut fehlt: Ersticken im Karitativen und fehlende Sorge um sich selbst
Wenn Trauern nicht gelingt und keine Freude aufkommen will: Verharren in Lähmung und Gegenwart
3DIE ELTERN-KIND-BINDUNG VERSUS KINDERKRIPPE
4EINE GENERATION WIRD KRANKGESCHRIEBEN
5CHARAKTER UND TEMPERAMENT VERSUS »STÖRENFRIED«
6VERTRAUEN ALS GEGENSPIELER VON ANGST UND ENTWERTUNG
7FANTASIE UND LEIDENSCHAFT
8WAS NUN? EIN AUSBLICK
Wahrnehmen und Fühlen versus Wissen und Theorien
Intuitive Kompetenz
Frühe Fokussierung auf »Leistungen« des jungen Kindes: Meilensteine der frühkindlichen Entwicklung
ANHANG: TEMPERAMENT-ITEMS
ANMERKUNGEN
LITERATUR
ÜBER DIE AUTOREN
Welch ein Titel! Das Kind als Rohstoff, als etwas rein Materielles, als etwas Benutzbares. Ein Rohstoff hat eben nichts Individuelles, nichts Persönliches und schon gar keine Seele. Ein Stoff, der in der Natur vorkommt und aus dem etwas gewonnen wird, so definiert das Wörterbuch den Begriff Rohstoff. Sind wir schon angekommen in der schönen, neuen Welt von Aldous Huxley, in der Menschsein nicht mehr individuell sein darf? Sind Kinder der Rohstoff unserer Gesellschaft oder gar unserer Wirtschaftsordnung?
Früh sollen sie Fremdsprachen lernen, die Schullaufbahn soll kürzer werden und die Ausbildung besser. Sie dürfen den Eltern nicht im Weg stehen, damit diese eine möglichst hohe Wirtschaftsleistung erbringen können. Spielen wird immer seltener. Mit wem denn? Und wo?
Als Familientherapeut und vor allem als Kinderpsychiater muss ich heute konstatieren, dass der Titel »Rohstoff Kind« beileibe nicht abwegig ist. Dabei müssten wir es doch besser wissen. Und gerade im Frühjahr 2020 hat nun diese Problematik wie unter einem Brennglas ganz deutliche Konturen angenommen. In der Zeit der Corona-Pandemie wurden Kitas und Schulen geschlossen, Beziehungen zu Lehrerinnen und Lehrern, aber auch zu den Klassenkameraden wurden abgeschnitten. Plötzlich war das sogenannte Homeschooling angesagt. Die Aufgaben wurden von der Schule bereitgestellt. Aber nun sollten die Eltern kontrollieren, was gelernt werden muss. Und das wichtigste Ziel schien zu sein, das Klassenziel zu erreichen und eine bestmögliche Note zu erlangen. Die Sicht auf die Kinder als Menschen, als emotionale Wesen, rückte immer weiter in den Hintergrund.
Im Verlauf meiner nun 30-jährigen Arbeit als Kinderpsychiater und Familientherapeut beobachte ich die Veränderungen in unserer Kultur, den Wandel des Menschenbildes. Ich habe den Eindruck, dass sich die Nutzung der mühevoll erworbenen einschlägigen Kenntnisse über seelische Vorgänge und über die Wechselwirkungen zwischen individueller Entwicklung und sozialer Umgebung abgeschwächt hat oder gar völlig der Vergessenheit anheimgefallen ist. Wie mag es zu diesem sozialen Wandel gekommen sein?
Der Philosoph und Soziologe Michel Foucault beschreibt 1973 gesellschaftliche Vorgänge, die großen Einfluss auf die medizinischen Denkweisen und soziale Prozesse genommen haben und die auch als Erklärung für diesen Wandel dienen könnten – zumindest als deren Ausgangspunkt. Er zitiert Jean-Nicolas Covisart, den Leibarzt von Napoleon Bonaparte, mit seiner Erkenntnisweise und Überzeugung: »Am Krankenbett schweigt jede Theorie!« Damit hebt er die klärende Bedeutung der individuellen und sich auf Gefühle stützenden Diagnose eines gesundheitlichen Zustandes hervor. Diese Haltung ist von hoher Bedeutung, weil mittlerweile die Kategorien »gesund« und »krank« in der Wissenschaft kaum noch etwas gelten. Die statistisch belegten Größen »normal« und »unnormal« kommen mit Berechnungen aus, die den Einzelnen nicht im Blick haben (s. Émile Durkheim1 als Begründer der Anomie-Theorie).
Ebenso wird abweichendes Verhalten weniger durch Gefühlsbeurteilungen bestimmt, als durch »Zählen« und die Erfassung in Tabellen. Diese Zahlen sind die Grundlagen für gesellschaftliche Normen, auf deren Einhaltung u. a. die Rechtsprechung achtet. Foucault hat dazu bedrückende Einzelheiten beschrieben, wie noch bis ins frühe 19. Jahrhundert abweichendes Verhalten sanktioniert wurde. Er führt uns somit die äußerst drastischen Handlungsweisen einer »Disziplinargesellschaft« vor Augen. Mir stellt sich die Frage, in welcher Art Gesellschaft wir heute leben.
Die spätere soziologische Forschung sieht einen Wandel bei der Definition von Normen und beim Umgang mit sogenanntem abweichenden Verhalten.2 In der als »Kontrollgesellschaft« bezeichneten Ordnung zeigen sich neue, ultraschnelle, effektive und schwer greifbare Kontrollmechanismen, die nach »neuen Waffen« rufen, mit deren Einsatz man solchen Entwicklungen entgegentreten kann.3 Und so stehen Disziplinargesellschaft und Kontrollgesellschaft einander gegenüber und doch auch nebeneinander – mit am Ende sehr ähnlichen Wirkungen auf den Menschen.
Es ist nicht abzuschätzen, ob heute eher eine abgeschwächte Beachtung bzw. sogar Ignoranz gegenüber den seelischen Erfordernissen durch Rückgriffe auf die Disziplinargesellschaft vorherrscht oder ob es eine fortschreitende Entwicklung hin zu einer subtil agierenden Kontrollgesellschaft gibt.
Provokativ gefragt: Sind nun Kinder ein formbarer »Rohstoff«, der sich in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung entsprechend den jetzt gültigen Auffassungen und Zielsetzungen zu funktionierenden Gesellschaftsmitgliedern formen lässt? Das wäre also die Auswahl leistungsbereiter Menschen innerhalb der Konventionen und Grenzen des gesellschaftlichen Rahmens, die sich keinen privaten Leidenschaften unterwerfen. In unserer heutigen Gesellschaft wäre das Kind dann nur noch Rohstoff. Die emotionalen Voraussetzungen und Möglichkeiten für die Entwicklung des Kindes werden kaum noch beachtet.
Aldous Huxley lässt 1932 warnend seine utopische Schöne neue Welt4 mittels ausgeklügelter biologischer Methoden entstehen, die dem Embryo mögliche Kompetenzen vorschreiben: Alphawesen oder Schlusslicht werden. Unserer modernen Kontrollkultur reicht es heute aber, die Ausprägung seelischer Entwicklungen zu hemmen und damit die funktionale Brauchbarkeit der Gesellschaftsmitglieder vorzubereiten – und das sicher meist unreflektiert und ohne Absicht.
Wenig später, 1948, beschreibt George Orwell in 19845 eine Gesellschaft, in der Gefühle verboten sind. Die »Gedankenpolizei« ist ein überall präsenter Wächter. Und wenn sich ein Gefühl doch nicht unterdrücken lässt, gibt es den Stoff »Soma« als Psychopharmakon, der die befürchteten Wirkungen der individuellen Gefühlswelt möglichst verhindern soll.
Die Parallelen sind auch hier frappierend. Es drängt sich die Frage auf, ob in der Gegenwart ähnliche seelische Störungsbilder definiert wurden, deren Abschwächung oder Beseitigung mittels Medikamenten man als unabdingbar notwendig erachtet.
Dieses Buch möchte aufzeigen, auf welchen subtilen Wegen in unserer Gesellschaft die Entwicklung zur unverwechselbaren Persönlichkeit von klein auf beeinträchtigt wird. Fördert und akzeptiert die moderne Kultur als Kontrollgesellschaft ein mit »Schnellfeuer«6 gewandeltes Menschenbild sowie die Wege zu Selektion und Leistung unter Verzicht auf die Ausprägung einer differenzierten Seelenlandschaft?
Auch hier wurde uns im Frühjahr 2020 deutlich, wie groß und wie selbstverständlich unsere moderne Kontrollgesellschaft Einfluss nimmt – im Großen wie im Kleinen. Schulschließungen, Versammlungsverbote und der sogenannte Shutdown des gesellschaftlichen Lebens waren in der Pandemie wahrscheinlich notwendig, aber über die Auswirkungen gerade auf Kinder und Jugendliche wurde kaum gesprochen. Die virtuellen Räume der Videokonferenzen waren sicher hilfreich und doch kein Ersatz für reale Beziehungen, kein Ersatz für das Erleben von Emotionen, von Ängsten und von Freude.
Das Wissen über die Beziehungsmodalitäten, die es braucht, um seelische Entwicklung zu ermöglichen und voranzubringen, hat weiterhin Gültigkeit. In meiner alltäglichen Arbeit und Begegnung mit Familien bemerke ich, dass dieses Wissen bei meinen Klienten durchaus vorhanden ist. Intuitiv wissen die meisten, was gut für ihre Kinder ist, und auch, was schlecht ist – und was gut bzw. schlecht für sie selbst ist.
Ich höre Klagen über tief empfundene Mängel und registriere zugleich, dass manche meiner Klienten selbst mutlos geworden sind – in ihrer Selbstwahrnehmung und in der Beziehung zu ihren Kindern. Sie scheuen sich, fehlenden Respekt einzufordern. Einige kommen mit gebeugtem Haupt und wirken gedemütigt und kraftlos – vergleichbar mit dem Zustand nach traumatisierenden Erfahrungen. Sie thematisieren auch bisweilen ihre Angst vor Disziplinierung und der dann folgenden Benachteiligung, wenn sie z. B. auf das pädagogische Geschehen in den Institutionen wie Schule oder Kindertagesstätte Einfluss nehmen möchten. Andere dagegen nehmen den empfundenen Mangel einfach hin. Sie denken, sie würden sich daran gewöhnen, und suchen das Problem bei sich selbst.
Wo führt das hin? Wie kann ich mit diesem Wissen, mit diesen Erfahrungen umgehen? Und als Arzt stelle ich mir die Frage: Wie kann ich hier helfen?
Vor dem Hintergrund dieser Fragen und meiner Erfahrungen schreibe ich dieses Buch. Ich will meine Erfahrungen teilen und ein Bewusstsein für Entwicklungen wecken, die ich für höchst bedenkenswert halte. Ich hoffe, auf diese Weise einen Diskurs zu starten, der sich mit Menschenbild und Werten auseinandersetzt und mit den Folgen unseres Handelns in der Schule, in der Erziehung und im gesamten Bildungsbereich.
Helmut Bonney
Heidelberg, im Januar 2021
Diesen Rückblick beginne ich mit der Erinnerung an eine Konferenz, bei der die Arbeitsgemeinschaft der Kinderanalytiker im Jahr 2001 in Frankfurt zusammenkam. Ich möchte damit deutlich machen, wie umstritten und wie emotional das Thema diese Buches auch in Fachkreisen ist. Es war für mich eine bedrückende Erfahrung – aber auch eine klärende. Kinder als Rohstoff?
Die Versammlung dieser Arbeitsgemeinschaft hatte den Titel meiner kurz vorher veröffentlichten Arbeit Neues vom Zappelphilipp zu ihrem Tagungsthema gewählt und entsprechend auch mich als Referenten eingeladen. Während ich meinen Beitrag nur aus der alltäglichen Erfahrung und praktischen Perspektive einbringen konnte, berichteten anerkannte Hochschullehrer von ihren Forschungsergebnissen als Neurobiologen und Klinikleiter.
Gerald Hüther, Neurobiologe und Psychiater, beleuchtete und kritisierte in seinem Referat7 den zu engen Blick der aktuell gewordenen öffentlichen Meinung, man kenne ja nun die Ursache der Störung bei unruhigen Kindern und könne dieser angeblich nur mit der Anwendung bestimmter Arzneien zielgerichtet begegnen. Sein Vortrag verdeutlichte, dass die von mir entwickelte systemische Behandlungsmethode bei ADHS-Konstellationen – und anderen Sorgenanlässen – auch deshalb wirksam war, weil sie sich die Wandlungsfähigkeit des Gehirns, die Neuroplastizität, zunutze macht. Hüther konnte mit seinen kritischen Anmerkungen die anwesenden Kinderanalytiker ein wenig aufrichten; hatten doch Nichtärzte, die keinen Rezeptblock einsetzen können, gleichsam depressiv verstimmt damit begonnen, mit hängendem Kopf an dem Wert ihrer therapeutischen Bemühungen zu zweifeln. Mit einer Medikamentengabe wurden Kinder behandelt, sozusagen normiert. Einen Zappelphilipp will ja niemand haben.
Längst vor der Zusammenkunft in Frankfurt hatte ich mich 1985 nach Jahren der Arbeit in Kliniken selbstständig gemacht und begonnen, gemeinsam mit meinem sozialpsychiatrischen Team eine ambulante psychotherapeutische Versorgung aufzubauen. Kinderpsychiater waren auch damals – so wie heute immer noch – Mangelware. Die seit 1968 aus der Taufe gehobene Kinderpsychiatrie hatte zwei »Mütter«, die ihr Kind nur ungerne in die Selbstständigkeit entlassen wollten: Die Erwachsenenpsychiatrie und die Kinderheilkunde. Als »Schmalspur-Psychiater« und auch als keine »richtigen« Kinderärzte hatten die Kinderpsychiater kein gutes Selbstbewusstsein entwickelt. Psychotherapeutische Kompetenz war damals noch nicht vorgeschrieben; man hatte sich selbst berufsbegleitend darum zu kümmern. Das hatte ich auf dem Weg zum Kinderarzt bereits 10 Jahre vor meiner Anerkennung als Facharzt für Kinderpsychiatrie begonnen.
Durch meine kinderärztliche Kenntnis aller möglichen körperlichen Störungen und die recht gute Ausstattung mit psychotherapeutischem Handwerkszeug war ich doch kaum auf einen Rezeptblock angewiesen. Bereits vor der Konferenz in Frankfurt habe ich als Kinderpsychiater und Familientherapeut während langer Jahre eine sehr große Zahl von Kindern, Jugendlichen und Familien gesehen, die in meiner Praxis nach Lösungen suchten und meist ohne Arzneiverordnung zu erreichen waren.
Im Verlauf der Frankfurter Tagung im Frühjahr 2001 konnte ich nun wahrnehmen, wie verschiedene Erklärungen für eine entstandene Störung und die konträren Werteströmungen da aufeinanderstießen. Es wurde sehr emotional gestritten, und die Positionen lagen weit auseinander – und liegen es wohl noch heute. Ich erinnerte mich daran, dass mir die Hamburger Betreuerin meiner Doktorarbeit, Frau Thea Schönfelder, schon Jahre zuvor von ihrer Sorge um die Aufspaltung der Werthaltungen in der Kinderpsychiatrie berichtet hatte – sie nannte das eine Form von Schizophrenie: explodierende, eng gefasste biologische Forschungen und Vermutungen hier, dort Absagen an Verständnismöglichkeiten für die Seelentätigkeit und vergessende Ignoranz des schon bekannten Wissens über das Zusammenspiel von körperlichem, psychologischem und sozialem Geschehen. Etwa 20 Jahre später konnte ich nun nachvollziehen, was der Gegenstand ihrer Betroffenheit war und welche Wirklichkeit sich da herausgebildet hatte.
Bald nach unserer Begegnung in Frankfurt veröffentlichte ich zusammen mit Gerald Hüther ein kleines Buch8, das im ersten Teil zu neurobiologischen Vermutungen der ADHS-Entwicklung Stellung nimmt und im zweiten Teil in meine systemischen Behandlungsansätze einführt: Welche Hilfestellungen sind nützlich, wenn unruhige Kinder, denen regelkonformes Verhalten schwerfällt, innerhalb der Familie und der Schule Anlass zur Sorge geben?
Zu meiner Überraschung reagierte die Öffentlichkeit mit starker Resonanz auf unser Buch, das auch nach nunmehr 16 Jahren immer wieder neu aufgelegt wird. Ich wurde zu Vorträgen und Seminaren innerhalb Deutschlands und angrenzenden Ländern eingeladen. In jeder Gruppe der Teilnehmer – ob Fachpersonen oder Laien – zeigte sich, manchmal recht militant, die Spaltung in verschiedene Lager und darin die gegensätzlichen Positionen. In neurobiologischer Sicht sind Erleben und Verhalten als Folge von Gehirnprozessen zu deuten, in psychodynamischer Auffassung als Wirkungen der Seelentätigkeit. Hier scheint das »Entweder-oder« dem »Sowohl-als-auch« zunehmend unversöhnlich gegenüberzustehen.
Zumeist wollen die Eltern, die zu mir in die Praxis kommen, diese Unterscheidung nicht mitmachen. Sie haben die Zusammenhänge von körperlichen und seelischen Vorgängen erfahren. Gerne träumen sie davon, dass es hier wie bei machen körperlich-organischen Krankheiten ganz einfache Lösungen geben könnte. Es überfällt sie aber doch ein Unbehagen, und es entspricht nicht ihrer Lebenserfahrung, wenn die aufgesuchten Fachpersonen in komplexen Problemlagen vorschlagen, Seelisches außen vor zu lassen, weil man ja nun Neues aus dem Bereich der Biologie kenne und mittels Arzneigaben darauf reagieren könne. Die nun für jedermann verfügbaren neueren Berichte aus der Hirnforschung üben eine große Faszination aus, weil es nun – wenn auch mit Gänsehaut – vorstellbar wird, das Hirngeschehen biotechnologisch punktgenau zu beeinflussen. Die Eltern fragen danach, ob man denn angesichts dieser neuen Kenntnisse mit gutem Gewissen seelische Einflüsse und soziale Veranlassungen außer Acht lassen könne, wenn es tatsächlich möglich sein soll, durch Medikamente eine rasche Verbesserung zu erreichen. Sie haben sich in den Medien informiert und auch von Fachpersonen vernommen, man könne sich getrost auf Arzneiverordnungen verlassen. Zugleich nehmen sie das Unglück ihrer Kinder wahr und suchen doch oft verzweifelt nach Hilfestellungen, bei denen die Seelentätigkeit ihrer Kinder beachtet wird.
Davon betroffen sind auch die Umgebungserfahrungen der Kinder im familiären und schulischen Alltag. Wenn sie Anlass zur Sorge geben, fehlen Hilfestellungen, die von ihrer Seelentätigkeit wissen wollen und die dem Wohlergehen des Kindes dienen.9
EIN 9-JÄHRIGER SCHÜLER erreicht die Lernziele nicht. Die Untersuchung durch den Schulpsychologen ermittelt im Intelligenztest eine insgesamt gut durchschnittliche Begabung: sehr gutes logisches Denkvermögen und überdurchschnittliche sprachliche Fähigkeiten; aber eine erheblich verlangsamte Verarbeitungsgeschwindigkeit. Das Untersuchungsergebnis führt zur Vermutung einer Störung im Hirnstoffwechsel, die jedoch nicht beweisbar ist. Der einbezogene Psychotherapeut erfährt, dass die Mutter an einem wahrscheinlich zum Tode führenden Knochenkrebs erkrankt ist. Der Junge und die Familie leben in der Angst, die Mutter bald zu verlieren. Der Schulpsychologe ist ohne psychotherapeutische Ausbildung und kann sich kaum vorstellen, dass diese Angst und das dazu gehörende familiäre Klima die Leistungsfähigkeit des Kindes beeinträchtigen sollen. Er schlägt eine Arzneibehandlung zur Verbesserung des Hirnstoffwechsels vor. Die Eltern sind fassungslos. Sie sind selbst in großer Angst und erleben seine tiefe Betroffenheit, bisweilen sein dumpfes Brüten, wenn er Löcher in die Luft guckt und sich kaum mit den Hausaufgaben befassen kann, wenn er weder spielt noch sich mit Freunden verabreden mag. Sie wissen schon immer von seiner Feinsinnigkeit, die aber nun in einer Schule nichts gilt, die nur an Leistung und Selektion interessiert scheint. Dabei halten sie seine Lehrer und den Schulpsychologen schließlich für Fachleute, die doch auf der Basis ihrer Ausbildung zum Pädagogen und Psychologen die erforderliche Sensibilität besitzen und die nötigen Maßnahmen kennen müssten, damit ihr gut begabter Sohn in der Schule zurechtkommt. Sie können nicht nachvollziehen, warum sie mit der Sorge um ihren Sohn derart alleingelassen werden. Welches Menschenbild führt dazu, dass die Schule ihren Blick nur auf das Lernergebnis richtet und ahnungslos in Bezug darauf erscheint, welchen Einfluss seelische Vorgänge auf den schulischen Erfolg nehmen? Sie fragen sich, ob die akademische Ausbildung die pädagogischen und psychologischen Fachleute jeglichen Einfühlungsvermögens beraubt hat.
Die auf der Konferenz in Frankfurt offenbar gewordene Verstörung der Fachleute hat mich zu einem Rückblick veranlasst, der mir ausgehend von meiner alltäglichen Erfahrung in der Praxis verdeutlichen soll, welchen Verlauf die aufgezeigte Spaltung in die verschiedenen Lager genommen hatte.
Mitte des 19. Jahrhunderts suchte die Feststellung des damals bekannten Psychiaters Griesinger in der wissenschaftlichen Welt nach Resonanz: »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten!« Diese einengende Sichtweise schien mit der Entwicklung der Psychotherapie seit Sigmund Freud überwunden. Dazu stellte der holländische Psychiater Jan Foudraine10 entgegen der damaligen Überzeugung die Forderung auf, die Gebiete Psychotherapie und Neurologie zu trennen.
In den 1980er-Jahren kamen nun Erkenntnisweisen und geistige Strömungen auf, die nicht viel voneinander wussten: In Deutschland und Europa erweiterten die tiefenpsychologische Auffassung und ebenso in Ansätzen die Verhaltensanalyse ihren Blick auf das familiäre und soziale Geschehen. In den USA entwickelte sich eine hoch differenzierte Temperamentforschung mit wichtigen Hinweisen auf hilfreiche pädagogische Zugänge. Der philosophische Lehrstuhl in Frankfurt/Main (Habermas) hatte schon 1972 zentrale Ergebnisse der frühen amerikanischen Familientherapie-Forschung und -Praxis nach Europa gebracht. Das zunächst psychoanalytisch geführte Familientherapie-Zentrum in Mailand erprobte unter Einschluss der in den USA entwickelten Kommunikationsforschung und -praxis ihr Modell systemischer Therapie und bemühte sich seit etwa 1980 um deren weltweite Beachtung als neue und hilfreiche Erkenntnisweise. (Ich hatte die Möglichkeit, ab 1982 u. a. durch die Mailänder ausgebildet zu werden.) In den letzten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts machte dann die Hirnforschung mit Hochgeschwindigkeit große Fortschritte und suchte nach Anwendungen ihrer Erkenntnisse auf das Verstehen psychiatrischer Erkrankungen und deren Heilung. Kinderneurologisch ausgebildet konnte ich einen Teil dieser Forschungen verstehen.
All diese Erkenntnisse und Berufserfahrungen, die ich machen durfte, haben aber immer auch Auswirkungen auf meine Patienten gehabt. Ich bin durch diese Konferenzen und Debatten hellhörig geworden, habe das Auseinanderklaffen von Biologie und Psychologie sehr deutlich wahrgenommen und konnte dann in meiner Praxis immer wieder darauf reagieren.
Nach meinem Eindruck besteht im psychiatrischen Alltag und nun auch in der Laienwelt die Faszination, man könne mittels neurobiologischer Kenntnisse Komplexes auf Einfaches zurückführen und dementsprechend handeln. Das, was man neurobiologisch begreifen kann, scheint die höchste Gültigkeit zu haben. Empfindungen und die Bemühung, komplexes Geschehen zu verstehen, bleiben vage und wissenschaftlich nicht erfassbar. Als die Parkinson-Erkrankung, die zuvor als unabdingbar psychiatrische Störung galt, 1960 mit dem Mangel an Dopamin erklärbar wurde, entwickelte sich ein starkes Bemühen, auch für andere psychiatrische Erkrankungen neurobiologische Begründungen zu finden: z. B. Aufmerksamkeitsprobleme mit der mangelnden Verfügbarkeit von Dopamin oder depressive Störungen mit dem Mangel an Serotonin. Hat der oben zitierte Satz »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten!« nun doch Gültigkeit – jetzt, wo wir mittels der Neurobiologie so tief in das Hirngeschehen blicken können?
Zurück zur Gegenwart: Ich arbeite und lebe wie andere Menschen in der gegenwärtigen Kultur eingebettet in den Wandel der Auffassungen, Erkenntnisgrundlagen und wissenschaftlichen Betrachtungsweisen von Psychologie und Medizin seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Zum Beispiel ist es noch nicht so lange her, dass aufgeklärt wurde, wie unser Gehirn uns die Wahrnehmung der Umgebung ermöglicht. Eine Generation vor dem Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud wurde in ersten Schritten die Struktur und Organisation des zentralen Nervensystems beschreibbar. Ab dann zeigen sich die auseinanderdriftenden Konzepte, die das Leib-Seele-Problem kennzeichnen – Veränderungen, die Menschen, die in meine Praxis kamen und kommen, implizit und sehr emotional spüren und verstehen.
Meine Erfahrung in Frankfurt hat mir deutlich gemacht, welchen Einfluss die Spaltung der Werthaltungen Biologie oder Seelentätigkeit von Anfang an auch auf meinen Werdegang genommen hat und später während meiner Facharztausbildung zunehmend Bedeutung bekam. Ich hatte ganz und gar naturwissenschaftlich motiviert mein Medizinstudium begonnen, war aber bald von einem Unbehagen erfasst, mir würde sicherlich noch etwas fehlen, wenn ich in Zukunft mit gutem Ergebnis kranke Menschen gut behandeln solle. Dazu nahm ich als Zweitstudium Psychologie dazu, musste aber realisieren, dass die akademische psychologische Wissenschaft sich kaum des Seelischen annahm. Psychotherapie lebte offensichtlich in einer anderen Welt außerhalb der Universitäten. Die zufällige Begegnung mit einem psychotherapeutisch motivierten Arzt eröffnete mir bald nach Beginn meiner kinderärztlichen Weiterbildung die Möglichkeiten einer berufsbegleitenden Psychotherapieausbildung. Im Rahmen dessen kam ich mit sehr erfahrenen Psychotherapeuten zusammen, die mich mit ihrer Menschlichkeit beeindruckten. Sie arbeiteten und lehrten z. T. noch in der Tradition der von Freud begründeten Tiefenpsychologie. Ich lebte nun ein gespaltenes Dasein: tätig in Kinderkliniken und neurologischen Spezialeinrichtungen, in denen Psychotherapie keinen Platz gefunden hatte, aber ständig mit wachem Blick auf das seelische Geschehen im Kind und in dessen Familien, ohne jedoch mit entsprechenden Behandlungsaufträgen betraut zu werden.
In diesem Unbehagen nahm ich Abstand von der Kinderheilkunde und -neurologie, ich machte mich auf den Weg zu einer Kinderpsychiatrie, die Psychotherapie miteinschließen sollte. Bereits damals, 1981, musste ich entdecken, dass in der Kinderpsychiatrie die neurobiologische Denkweise vorherrschte; die Psychotherapie war schon zugunsten neurobiologischer Vereinfachungen weitgehend ausgesperrt. Wer etwas gelten wollte, musste die neu etablierte Sprache »Neurobiologisch« beherrschen. Das war für mich als Kinderneurologen leicht und verschaffte mir einen Ausbildungsplatz in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätsklinik, an der ich mich enttäuscht und trotzig beworben hatte – trotzig, weil es auch dort keine lebendige Psychotherapie gab. Ich konnte die Klinikleitung mit meinen Behandlungsergebnissen überzeugen, deren Grundlagen (Blick auf das Miteinander von seelischen und körperlichen Vorgängen) waren dort aber nicht von Interesse. Als neurobiologisch versiertem Arzt war mir die Alltagsarbeit mit Anwendung verschiedener psychotherapeutischer Verfahren unter Einschluss von systemischer Familientherapie gestattet, weil es offensichtlich funktionierte. Der damalige Klinikleiter war eigentlich ein feinsinniger und hoch engagierter Arzt und Psychologe, dem an wirksamen praktischen Hilfestellungen für unsere Patienten sehr gelegen war. Zugleich stand er unter dem Druck, sich gemäß der damals aufkommenden neurobiologischen Orientierung wissenschaftlich auszuweisen. So wollte er mir die von ihm angeregte Weiterqualifizierung zum Hochschullehrer nur dann gestatten, wenn ich mich von der Arbeit mit Familien verabschieden würde. Der wissenschaftliche Mainstream von neurobiologischen Vereinfachungen und ausschließlichen Betrachtungen der Verhaltensoberfläche hatte das Geschehen in der Klinik erfasst, was dem Ruhm und dem Wettbewerb mit anderen Institutionen dienen sollte. Wie sich das schon vor mehr als 100 Jahren etabliert hatte, sollten die psychiatrischen Phänomene mit einem medizinischen Modell erklärbar werden. Komplexeres Gedankengut wie systemische Modelle, die sich mit den Wechselwirkungen von Einflussfaktoren befassen, fanden keinen Eingang in die wissenschaftlichen Bemühungen der Psychiatrie, weil keine zur Forschung geeigneten Computerprogramme vorhanden waren.
Die Abteilung Psychosomatik gehörte als eine Klinik zum sog. Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, in das auch mein Ausbildungsort eingebettet war. In der betont wissenschaftlich arbeitenden Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie wurden auch solche Jugendlichen behandelt, die anerkannt unter psychosomatischen Problemen litten. So auch magersüchtige Patienten, die z. T. über Monate stationär aufgenommen blieben, weil sie nur unzureichende Fortschritte ihrer Gewichtsentwicklung zeigten. Das war umso häufiger der Fall, wenn die Behandlung vornehmlich auf ihre körperliche Verfassung fokussierte und psychotherapeutische Arbeit unter Einschluss der familiären Bedingungen in den Hintergrund getreten war.
Uns wurde ein 18-JÄHRIGES STARK UNTERGEWICHTIGES MAGERSÜCHTIGES MÄDCHEN