Jonathan Coe, 1961 in Birmingham geboren, lebt in London. Er zählt zu den wichtigsten und humoristischsten britischen Autoren der Gegenwart. Zahlreiche Auszeichnungen, darunter der Preis des Europäischen Buches 2019. Seine Bücher wurden verfilmt und in viele Sprachen übersetzt. Bei Folio sind zuletzt auf Deutsch erschienen: Nummer 11 (2017) sowie der Brexit-Roman und Bestseller Middle England (2020).
Cathrine Hornung hat Amerikanistik, Anglistik, Geschichte und Italienische Philologie studiert und übersetzt Literatur aus dem Englischen und Italienischen.
Roman
Aus dem Englischen von Cathrine Hornung
Für Neil Sinyard
London
Los Angeles
Griechenland
München
Paris
London
Danksagungen, Quellen und Anmerkungen
An einem Wintermorgen vor sieben Jahren nahm ich eine der Rolltreppen, mit denen man im U-Bahnhof Green Park von den Bahnsteigen der Piccadilly Line hinauf zur Straßenebene gelangt. Wer schon einmal mit diesen Rolltreppen gefahren ist, weiß, wie lang sie sind. Die Fahrt von unten nach oben dauert ungefähr eine Minute, und für eine ungeduldig veranlagte Person wie mich ist eine Minute Stillstehen zu lang. Obwohl ich es an jenem Morgen nicht besonders eilig hatte, begann ich nach wenigen Sekunden, die Stufen der Rolltreppe hochzusteigen, vorbei an den Fahrgästen, die auf der rechten Seite Wurzeln geschlagen hatten – und dachte währenddessen bei mir, „Du gehst zwar auf die sechzig zu, hast es aber immer noch drauf, du bist noch fit“ –, bis ich nach etwa drei Vierteln des Aufstiegs nicht weiterkam. Rechts stand eine junge Mutter und links ihre Tochter, ein Mädchen von vielleicht sieben oder acht Jahren, das ihre Hand hielt. Es hatte blonde Haare und trug einen roten Regenmantel mit Kapuze, in dem es ein bisschen so aussah wie das kleine Mädchen, das am Anfang von Wenn die Gondeln Trauer tragen in einem Teich ertrinkt. (Alles erinnert mich an einen Film, ich kann mir nicht helfen.) Es war nicht genügend Platz, um mich an dem Mädchen vorbeizuschieben, und überhaupt wollte ich diesen schönen Moment der Verbundenheit zwischen Mutter und Kind nicht stören. Daher wartete ich, bis die beiden das obere Ende der Rolltreppe erreichten, und sah zu, wie die Kleine sich zum Absprung bereitmachte. Sogar von hinten merkte ich ihr an, wie sehr sie diesem Moment entgegenfieberte, wie sie den Blick gebannt auf das nunmehr ebene Laufband zu ihren Füßen gerichtet haben musste und mit geballter Anspannung in den winzigen Gliedern und Muskeln auf den richtigen Zeitpunkt lauerte, um dann, als es so weit war, mit einer plötzlichen, ungestümen Bewegung abzuspringen und sicher auf festem Boden zu landen, woraufhin sie, zweifellos erleichtert und beschwingt von der Aktion, zwei kleine Hopser machte und dabei ihre Mutter an der Hand leicht mit nach vorn zog. Und ich glaube, mehr als alles andere müssen es diese Hopser gewesen sein, die mich ins Herz trafen, die mir den Atem verschlugen und dazu führten, dass ich der Mutter und ihrer Tochter mit wehmütigem Staunen hinterherschaute, während sie zusammen weiter zur Ticketschranke gingen. Ich musste an meine eigenen Töchter denken, Francesca und Ariane, die keine Kinder mehr waren, und daran, wie es ihnen mit sieben oder acht Jahren manchmal nicht genügt hatte, einfach nur zu laufen, es musste sich zu gewöhnlich angefühlt haben, zu langweilig, um ihrer unbändigen Freude an der Bewegung, an der aufregenden Neuheit ihrer Beziehung zur physischen Welt Ausdruck zu verleihen, weswegen auch sie manchmal unvermittelt einen Satz oder Hopser machten und mich dabei mit nach vorn zogen, jede an einer Hand, und manchmal machte ich ebenfalls einen Satz, um mit ihnen mitzuhalten und ihnen zu zeigen, dass ich ihre Freude an der Welt teilen konnte, dass mein mittleres Alter sie mir noch nicht ausgetrieben hatte.
Das alles schoss mir durch den Kopf, während ich zusah, wie Mutter und Tochter in Richtung Ticketschranke davongingen, und die Gedanken schwollen an und verdichteten sich zu einem einzigen vorübergehenden, aber überwältigenden Gefühl des Verlusts und der Sehnsucht, das mich erschrocken nach Luft ringen ließ und mich zwang, einen Augenblick innezuhalten, aus dem unaufhörlichen Strom der Passanten herauszutreten, tief durchzuatmen und mit der Hand auf dem Brustbein zu verharren, bis ich bereit war, mich wieder in den Strom einzureihen, meinen Weg fortzusetzen, die Oyster Card an den Kartenleser zu halten, die Schranke zu passieren und dann auf den Ausgang zur Piccadilly zuzusteuern, dem fahlen Morgenlicht entgegen.
Langsam ging ich die Piccadilly entlang und dachte darüber nach, was die Szene auf der Rolltreppe bei mir ausgelöst hatte. Morgen würde Ariane, die ältere meiner Zwillinge (um fünfundvierzig Minuten älter) von zu Hause fortgehen und ans andere Ende der Welt fliegen. Meine Aufgabe würde es sein, sie nach Heathrow zu fahren, ihr im Flughafenterminal Lebewohl zu sagen und dabei so zu tun, als empfände ich nichts als ungetrübte Freude über die wunderbaren Möglichkeiten, die sie in Sydney erwarteten. Und dann würden mein Mann und ich mit Fran zurückbleiben, mit dem Problem von Fran, mit Fran, die in den letzten Wochen plötzlich und auf dramatische Weise von einem Kind zu einem Problem geworden war, ein Problem, das uns beide kalt erwischt hatte und das uns auch weiterhin zusetzen würde, bis wir einen Weg gefunden hätten, der durch den Schlamassel, den sie angerichtet hatte, hindurchführte und auf der anderen Seite heraus. Aber noch war dieser Weg nicht in Sicht.
Was ich auf der Piccadilly vorgehabt hatte, war rasch erledigt. Ich ging zu Fortnum & Mason, um Ariane ein Abschiedsgeschenk zu besorgen, und musste nicht lange suchen: Tee. Sie liebte Tee – für sie schmeckte er nach Zuhause – und ich hatte ihn immer gern für sie zubereitet. Ich kaufte eine Packung mit sechs verschiedenen Sorten, dazu eine kleine silberne Teekanne mit Sieb, und versuchte mir vorzustellen, wie sie in irgendeinem gesichtslosen Studentenzimmer in Sydney Tee aus dieser Kanne in ihren Union-Jack-Becher schenkte und einen Schluck nahm und in Gedanken wieder daheim in unserer Küche saß, die Ellenbogen auf den alten Tisch aus Kiefernholz gestützt und ihr Haar in den Schimmer des sanften Sonnenlichts getaucht, das durch die Zweige des Apfelbaums draußen im winterlichen Garten fiel.
Vielleicht würde sie das trösten. Oder, was noch besser wäre und mir obendrein wahrscheinlicher erschien: Vielleicht würde sie gar keinen Trost brauchen.
Es war das Jahr 2013, die erste Januarwoche, jene verwirrende Zeit, in der die Festtage vorbei sind, die Welt aber noch nicht ganz zur Normalität zurückgekehrt ist. Ich hatte das Bedürfnis, etwas zu tun, das sich nach Routine, nach Alltag anfühlte, und beschloss, in der Bar der British Academy of Film and Television Arts einen Kaffee trinken zu gehen. Vielleicht würde jemand dort sein, den ich kannte. Es konnte mir nicht schaden, ein bisschen zu plaudern und Klatsch und Belanglosigkeiten auszutauschen.
Die Bar war fast leer und verströmte noch einen Hauch von nachweihnachtlicher Trostlosigkeit. Es war nur einer da, den ich kannte, und der saß allein an einem Zweiertisch vor der Fensterfront zur Straße. Mark Arrowsmith. Nicht gerade meine erste Wahl für einen netten Plausch. Aber wie heißt es doch so schön? In der Not schmeckt jedes Brot. Dann eben Mark. Ich ging hinüber zu seinem Tisch und wartete, bis er von seinem MacBook aufsah.
„Calista“, sagte er. „Darling! Welch schöne Überraschung.“
„Darf ich?“
„Aber sicher doch.“
Er klappte den Laptop zu und räumte einige Papiere beiseite, um Platz für den Cappuccino zu schaffen, den ich mir bereits am Tresen geholt hatte.
„Entschuldige das Durcheinander“, sagte er. „Nächste Woche treffe ich mich endlich mit den Leuten von Film 4. Sie wollen einen Finanzplan sehen, was eigentlich nur bedeuten kann, dass sie jetzt doch ernsthaft interessiert sind.“ Er ordnete die letzten Unterlagen zu einem Stapel und verstaute ihn in einer Plastikmappe.
Mark musste inzwischen Ende sechzig sein. Obwohl er nicht annähernd so sportlich gebaut war, hatte er etwas von Burt Lancaster in Local Hero. (Wie gesagt, alles und jeder erinnert mich an einen Film.) Er hatte die Augen eines Träumers – oder zumindest hatte er sie früher einmal gehabt, denn inzwischen waren sie vom Scheitern getrübt. Mark versuchte seit mindestens fünfundzwanzig Jahren, ein und denselben Film auf die Leinwand zu bringen. Irgendwann in den Achtzigerjahren hatte er eine Option auf die Filmrechte an einem Roman von Kingsley Amis erworben – ein Name, der damals noch ein gewisses Prestige besaß. Eigentlich war das Vorhaben ganz realistisch gewesen, und Mark hatte sogar einen bekannten Regisseur und drei oder vier zugkräftige Schauspieler dafür gewonnen. Doch aus irgendeinem Grund war die Finanzierung im letzten Moment geplatzt, und dann war der Regisseur abgesprungen, und dann waren zwei der Schauspieler abgesprungen, und einer von den anderen sah inzwischen nicht mehr so zugkräftig aus, und ehe er sich’s versah, hatte das Projekt einen unguten Beigeschmack angenommen, den alle bemerkten, außer Mark. Als Produzent konnte er zwar schon ein paar recht erfolgreiche Produktionen für sich verbuchen – einen Spielfilm und ein Fernsehspiel für BBC Two –, aber seither hatte er nichts mehr gemacht, und das Bestreben, seine dämliche Kingsley-Amis-Adaption ins Werk zu setzen, war zu einer Obsession geworden. In der BAFTA-Bar gehörte er mittlerweile zum Inventar. Immerzu saß er allein mit seinem MacBook an einem Zweiertisch und wartete darauf, sich mit jemandem zu treffen, der die fünfzehnte Fassung des Drehbuchs gelesen hatte (oder nicht), oder der vielleicht jemanden kannte, der jemanden kannte, der für einen Hedgefonds arbeitete und eventuell am Ende des Steuerjahrs noch Geld übrig hatte und nichts Besseres damit anzufangen wusste, als es in die Filmversion eines unbedeutenden Romans von jemandem zu investieren, von dem niemand mehr sprach und der inzwischen so aus der Mode gekommen war, dass man genauso gut hätte versuchen können, die Gelben Seiten zu verfilmen. Aber noch immer weigerte sich Mark, aufzugeben, und inzwischen war sein Schnurrbart ergraut und ein Film triefäugiger Enttäuschung verschleierte seinen Blick.
Das Merkwürdige war, dass er trotz allem noch ein Haus in Südfrankreich besaß und seine beiden Kinder aus zweiter Ehe auf Privatschulen schickte, und niemand wusste, woher er das Geld dafür nahm. Aber so etwas war mir bei den Briten schon öfter begegnet, daher vermutete ich, dass er aus einer Familie stammte, die seit Generationen ein beträchtliches Vermögen besaß und ein Händchen dafür hatte, es zusammenzuhalten. Bei diesem Gedanken tat er mir gleich nicht mehr so leid. Außerdem fiel mir ein, dass ich seit über zehn Jahren selbst keine richtige Arbeit mehr vorweisen konnte und es gerade nötig hatte, ihn zu bedauern.
„Hast du in letzter Zeit viel gearbeitet?“, fragte Mark prompt und mit einer Direktheit, auf die ich hätte verzichten können.
„Eigentlich nicht“, gab ich zu. „Hast du *** gesehen?“
Ich nannte einen britischen Film, der ein paar Monate zuvor ein bescheidener Kinoerfolg gewesen war.
„Allerdings“, sagte Mark. „Das warst du? Ich dachte, es sei *** gewesen.“
Er nannte einen jungen britischen Komponisten, der Film- und Produktionsmusik schrieb und wachsendes Ansehen genoss.
„Ein Teil davon stammt von ihm. Eigentlich war ich nur für die Orchestrierung zuständig. Erinnerst du dich an die kleine Marimba-Figur, die immer kommt, wenn die beiden im Auto unterwegs sind?“
Ich summte ihm die schlichte Melodie vor.
„Natürlich“, sagte Mark. „Die hat es ja herausgerissen. Die ist beim Publikum hängengeblieben.“
„Die ist von mir.“
„Aber er hat die Oscar-Nominierung bekommen.“ Mark schüttelte den Kopf, wie immer bestürzt über den Lauf der Dinge. „Du bist so begabt, Cal. Würdest du die Musik für meinen Film schreiben? Sag Ja. Du bist die Einzige, die dafür infrage kommt.“
Natürlich sagte ich Ja, aber ich nahm das Angebot nicht ernst. Genauso gut hätte Mark mir anbieten können, meine Hypothek abzuzahlen, falls er je im Lotto gewänne. Egal. Es war eine nette Geste und er meinte es ernst und es war nicht seine Schuld, dass er bestimmt auch noch den kläglichen Rest seines Arbeitslebens auf dieses zum Scheitern verdammte Projekt verwenden würde.
„Dame Judi hat ein Auge auf die Rolle geworfen, stell dir vor“, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen und wollte mir versichern, dass er kein weltfremder Spinner war.
„Ich dachte, sie wäre längst im Boot“, sagte ich und meinte mich zu erinnern, dass wir schon einmal über Judi Dench gesprochen hatten. Es schien Jahrzehnte her zu sein.
„Sie war im Boot, und dann war sie nicht mehr im Boot, und jetzt ist sie wieder im Boot“, erklärte er. „Nur dass sie jetzt die Großmutter spielen wird, nicht die Mutter.“
Das leuchtete ein. In Marks Vorstellung war die Besetzung des Films mehr oder weniger gleich geblieben, die Darsteller rückten lediglich von Zeit zu Zeit in die nächste Generation vor. Sollte der Film je zustande kommen, würde der ehemals scharfe junge Hauptdarsteller den Part des Großvaters übernehmen und mit Rollator am Set auftauchen.
„Außerdem“, sagte ich, vielleicht einen Tick zu defensiv, aber ich wollte nicht, dass er dachte, ich würde den ganzen Tag zu Hause sitzen, Däumchen drehen und darauf warten, dass das Telefon klingelte (obwohl ich genau das tat), „schreibe ich auch noch meine eigene Musik.“
„Konzertmusik?“, fragte er.
„Etwas in der Art. Es hat mit Film zu tun, ist aber nicht für einen Film gedacht. Es ist eine kleine Suite für Kammerorchester. Ich nenne sie ‚Billy‘.“ Und auf Marks fragenden Blick hin fügte ich hinzu: „Wie ‚Wilder‘.“
„Das ist ja eine hübsche Idee. Ich wusste gar nicht, dass du ein Fan von ihm bist.“
„Ich liebe seine Filme. Tut das nicht jeder?“
„Keine Frage. Es ist wirklich unglaublich, wenn man sich das vorstellt: ein Meisterwerk nach dem anderen. Ich meine, wie schafft man das in dieser Branche? Frau ohne Gewissen – ein Meisterwerk. Boulevard der Dämmerung – ein Meisterwerk. Er hat sie nur so rausgehauen. Manche mögen’s heiß, Das Appartement …“
„Was ist mit denen danach?“ fragte ich.
Mark runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht … Hat er denn danach noch viele Filme gemacht?“
„Oh ja. Ungefähr zehn.“
Er dachte angestrengt nach und sagte: „War da nicht einer mit Sherlock Holmes …?“
„Hast du mal Fedora gesehen?“, fragte ich.
Mark schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Und wenn, habe ich ihn vergessen.“
„Also, ich habe ihn nicht vergessen“, sagte ich, „weil ich dabei war, als er ihn gedreht hat.“
Seine Augen wurden groß. „Wirklich?“ Er runzelte wieder die Stirn und murmelte, „Fedora, Fedora … Worum geht’s da?“
Und ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen: „Um viele Dinge. Aber hauptsächlich … hauptsächlich geht es um einen alternden Filmproduzenten, der versucht, einen Film zu machen, der völlig aus der Zeit gefallen ist.“
Das schien die Unterhaltung zu beenden, denn kurz darauf packte Mark seine Sachen zusammen und ging. Durch das Fenster sah ich, wie er die Piccadilly überquerte und nach Norden Richtung Regent Street zog. Der Himmel verdunkelte sich und es begann zu regnen.
Ich bin ein widersprüchlicher Mensch, das gebe ich offen zu. Unser letztes gemeinsames Abendessen als vierköpfige Familie verlief vollkommen harmonisch und fröhlich, aber genau das deprimierte mich daran. Davon wird es so schnell keine mehr geben, dachte ich bei mir, als ich hinterher die Spülmaschine einräumte. Die Mädchen waren nach oben in ihre Zimmer gegangen, um dort wer weiß was zu machen. Ich beschloss, einen Film anzuschauen, um mich abzulenken. Die Saison der Preisverleihungen würde bald losgehen, und als Mitglieder der BAFTA-Jury mussten Geoffrey und ich uns durch circa dreißig DVD-Screener hindurcharbeiten, die man uns zur Begutachtung zugesandt hatte. Wir legten einen amerikanischen Actionfilm mit einem kakofonen Soundtrack ein, bei dem die Geräusche von Explosionen, Schießereien und Auto-Crashs mit einer dröhnenden orchestralen Daueruntermalung wetteiferten. Nach ungefähr zehn Minuten schlief Geoffrey tief und fest auf dem Sofa und schnarchte so laut, dass er sogar den Lärm des Films übertönte. Ich schaute ihn bis zum Ende an, ohne dass er mich auch nur im Geringsten interessierte oder mitriss. Alles daran war schablonenhaft, und ich fragte mich, wie man so viel Zeit, Energie und Geld auf etwas verschwenden konnte, das die Welt binnen weniger Monate vergessen haben würde (und der Zuschauer schon in dem Moment, in dem er das Kino verließ). Im Anschluss an den Actionfilm sah ich mir eine britische Komödie an, in der zwei quirlige alte Schachteln einen Roadtrip nach Südfrankreich unternahmen und dabei in allerlei Verwicklungen gerieten. Der Film sollte wahrscheinlich komisch und aufbauend sein, aber mich erfüllte er mit einem tiefen Gefühl von existenzieller Verzweiflung. Immer wenn gleich etwas Lustiges passieren sollte, versetzte der Filmkomponist den Zuschauern augenzwinkernd einen kleinen Rippenstoß, indem er die Streicher pizzicato spielen ließ. (In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wäre ein Fagott für den Rippenstoß zuständig gewesen.)
Nachdem ich den beiden reizenden Rentnerinnen dreißig Minuten lang dabei zugesehen hatte, wie sie in der Provence herumalberten, hatte ich Lust, sie beide umzubringen. Ich machte den Fernseher aus und ging – noch deprimierter als zuvor – in die Küche zurück.
Wenn ich derart verzweifelt bin, gibt es nur eins, was mich tröstet. Für Notfälle habe ich immer mindestens drei verschiedene Sorten Brie auf Lager. Manche Leute trinken, um zu vergessen; ich esse Brie. Zum fraglichen Zeitpunkt befanden sich ein guter Coulommiers (eigentlich kein richtiger Brie, aber das spielte keine Rolle) und eine hochwertige, wenngleich für den Massenmarkt produzierte Supermarkt-Marke in meinem Kühlschrank, aber die Situation duldete keine Kompromisse: Nur ein erstklassiger Brie de Meaux fermier würde es an diesem Abend tun.
Natürlich hätte man ihn erst ein paar Stunden chambrieren müssen, doch dafür war jetzt keine Zeit. Ich löffelte einen ordentlichen Schlag aus der Packung und schmierte ihn auf einen Cracker. Köstlich, wie sich die feinen nussig-pilzigen Aromen auf meiner Zunge entfalteten. Die Konsistenz war fest, aber cremig. Eine Wonne. Ich schabte noch etwas heraus, und dann noch etwas, und bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich innerhalb von zehn Minuten glatt den halben Käse verdrückt.
„Oje“, sagte Geoffrey. Er war aufgewacht und stand jetzt in der Küchentür. „So schlimm?“
„Du wirst nie verstehen“, sagte ich mit halbvollem Mund, „wie tröstlich ein guter Brie sein kann. Du bist ein Käse-Banause.“
Geoffrey mochte Cheddar und zur Not auch Red Leicester. Von Käse hatte er keine Ahnung.
Er setzte sich mir gegenüber und schenkte sich ein halbes Glas Laphroaig ein.
„Alles wird gut“, sagte er.
Ich packte Käse auf einen weiteren Cracker und verschlang ihn mit zwei Bissen.
„Wie denn?“, fragte ich.
„Einfach so. Das Leben geht weiter.“
Ich dachte über diese Antwort nach und fand sie unzulänglich.
„Unsere Töchter sind jetzt also erwachsen“, fuhr er fort. „Das ist doch wunderbar. Aus ihnen sind zwei schöne junge Frauen geworden.“
„Es ist nicht nur das“, gab ich gereizt zurück.
„Was ist denn sonst noch?“
„Ist dir die Musik in den beiden Filmen aufgefallen?“
„Nicht so richtig.“
„Nein, natürlich – du hast das einzig Vernünftige getan und bist eingeschlafen.“
„Wieso, was ist damit?“
„Das war keine Musik, es war einfach nur … eine Geräuschkulisse. Nach Schema F zusammengestellt. Keine einzige Melodie, keine einzige neue Idee. Und das ist es, was die Leute heutzutage wollen. Sie wollen nicht das, was ich schreibe. Herrgott noch mal, seit fünfzehn Jahren hat niemand mehr eine Filmmusik bei mir in Auftrag gegeben.“
„Die Filmindustrie ist nicht mehr das, was sie mal war, das ist kein Geheimnis. Aber jetzt hast du ja Zeit für andere Dinge.“
„Andere Dinge? Zum Beispiel?“
„Ich dachte, du wolltest etwas Neues komponieren. Dein Billy-Wilder-Stück.“
Das stimmte natürlich, aber es war nicht genug.
„Was soll aus mir werden, Geoff?“, fragte ich, legte den Cracker auf den Tisch und umfasste Geoffreys Hände. „Ich habe zwei Begabungen. Zwei Dinge, die meinem Leben einen Sinn geben. Ich bin eine gute Komponistin und ich bin eine gute Mutter. Musik schreiben und Kinder großziehen, das kann ich. Und jetzt teilt man mir praktisch mit, dass keine dieser Fähigkeiten mehr gefragt ist. Ich habe an beiden Fronten ausgedient. Erledigt, fertig, das war’s. Und ich bin doch erst siebenundfünfzig! Gerade mal siebenundfünfzig.“ Ich griff nach seinem Whiskyglas und nahm einen tiefen Schluck. Großer Fehler. Whisky und Brie passen nicht zusammen. Überhaupt nicht. „Was soll aus mir werden?“, wiederholte ich.
Vor dem nächsten Morgen hatte ich mich richtig gefürchtet. Die Post kam ungewöhnlich früh, während Geoffrey und ich noch beim Frühstück saßen. Ariane war oben und packte die letzten Sachen zusammen. Fran war unter der Dusche. Als sie herunter in die Küche kam, hatte sie es eilig. Sie jobbte im Café Nero, und in einer halben Stunde würde ihre Schicht beginnen. Ein Brief mit dem Logo des National Health Service auf dem Umschlag war für sie gekommen. Sie öffnete ihn und sagte:
„14. Januar. Montag in einer Woche.“
Damit meinte sie den Termin für den Eingriff, der ihre Schwangerschaft beenden sollte.
Sie gab mir den Brief und ich las ihn, wusste aber nicht, was ich sagen sollte.
Geoffrey sagte: „Das ist doch gut. Je eher es vorbei ist, desto besser.“
Ich stand auf und ging auf Fran zu, um sie in den Arm zu nehmen, aber sie merkte, was ich vorhatte, und wich mir rechtzeitig aus.
„Ich bin spät dran“, sagte sie, biss von einem Toast ab und kippte ihren Espresso in einem Zug hinunter. „Bis später.“
„Hast du dich von deiner Schwester verabschiedet?“
„Oh – das habe ich ganz vergessen“, sagte sie und rannte wieder nach oben.
„Sie wird sie monatelang nicht sehen“, sagte ich zu Geoffrey. „Wie konnte sie das vergessen?“
„Teenager sind eben seltsam“, antwortete er.
Sie war eine oder zwei Minuten oben, kam dann wieder herunter, zog ihren Mantel an und steuerte auf die Haustür zu, scheinbar völlig unbeeindruckt von der Aussicht, längere Zeit von ihrer Zwillingsschwester getrennt zu sein.
„Es ist also okay für dich?“, fragte ich, als sie schon halb zur Tür hinaus war. „Der Termin, meine ich.“
„Klar.“
„Und du willst es definitiv durchziehen?“
„Nicht jetzt, Mum, okay? Ich bin spät dran. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden.“
„Es scheint nie der richtige –“
Aber Fran eilte bereits den Weg zur Straße hinunter. Ich sah ihr mit einem Gefühl von Hilflosigkeit hinterher, schloss die Haustür und ging wieder hinein.
Geoffrey mampfte ein Toastbrot und las den Guardian.
„Bin ich der einzige Mensch in dieser Familie, der etwas empfindet?“, fragte ich. „Eine unserer Töchter ist schwanger und die andere fliegt nach Australien. Wieso lässt mich das als Einzige nicht kalt?“
„Das liegt an deiner mediterranen Herkunft“, sagte Geoffrey – eine Antwort, die mich auf die Palme brachte.
„Athen liegt nicht am Mittelmeer!“, rief ich. „Und meine Mutter kam aus London, mein Vater war halber Slowene, und ich bin genauso emotional verklemmt wie ihr alle.“
Das Einzige, was ihm dazu einfiel, war: „Jeder geht eben anders mit den Dingen um“, noch einer seiner nichtssagenden Gemeinplätze, die mich zur Weißglut trieben.
„Du hältst es nicht mal für nötig, mit uns zum Flughafen zu kommen“, sagte ich, was ungerecht war.
„Ich muss heute unterrichten“, sagte er. „Das steht seit Monaten fest. Ich werde mich jetzt von ihr verabschieden.“
Er ging nach oben. Genau wie ich hatte Geoffrey in letzter Zeit Schwierigkeiten, eine auskömmliche Arbeit im Filmgeschäft zu finden, mit dem Ergebnis, dass er jetzt immer öfter an der National Film and Television School in Beaconsfield unterrichtete. Natürlich wäre er mit zum Flughafen gefahren, wenn er an diesem Tag keine Kurse gehabt hätte. Das war mir klar. Ich ließ nur meinen Frust und meine Trauer an ihm aus. Wenn man seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet ist, kann man sich das hin und wieder erlauben, finde ich.
Ich ging hinüber zu dem französischen Fenster, das die Küche mit dem Garten verbindet.
Wir wohnten (und wohnen immer noch) in einem Fünf-Zimmer-Reihenhaus in Hammersmith. Billig, als wir es kauften, inzwischen irrsinnig überteuert. Das ist nebenbei noch so etwas, das ich an den Briten nie ganz verstanden habe: wie versessen sie darauf sind, ihre vier Wände als Wertanlage zu betrachten, nicht als das Heim ihrer Familie. Geoffrey verfolgte ständig den steigenden Marktwert unseres Hauses auf irgendwelchen Immobilien-Webseiten, aber für mich war es vor allen Dingen unser Zuhause, und ich hoffte, dass es unseren Töchtern genauso ging. Als ich an jenem Morgen aus dem französischen Fenster in den Garten schaute, sah ich eine Karte von Arianes Kindheit vor mir. Einen Atlas der Erinnerungen. Da war der Apfelbaum, auf den sie immer geklettert war. Der lange dicke Ast, an dem Geoffrey eine Schaukel angebracht hatte. Sie hing immer noch dort, und wenn man genau hinsah, konnte man sie hinter dem unkontrolliert wuchernden Blattwerk des Lorbeerbusches entdecken. Die Rasenecke, wo die Mädchen im Sommer gerne gepicknickt hatten und wo sie in einem der seltenen Winter, in denen es schneite, einmal versucht hatten, einen Schneemann zu bauen. Der schmiedeeiserne Tisch, an dem Ariane so oft gesessen und gezeichnet hatte, die Stirn vor Konzentration gerunzelt, die Zunge zwischen die Lippen geschoben. Ihre Bilder bewahrte ich immer noch zusammengefaltet in einem Karton unter unserem Bett auf, obwohl sie unbedingt wollte, dass ich sie wegwarf.
Erinnerte sie sich ebenfalls an diese Dinge, oder waren sie ihr inzwischen gleichgültig?
Sie würde glücklich sein in Sydney, da war ich mir ziemlich sicher. Das Konservatorium hatte ihr ein Stipendium bewilligt – eine fantastische Gelegenheit, wie man so sagt. Und dass Fran im Herbst nach Oxford gehen würde, war ebenfalls eine fantastische Gelegenheit, wenn sie es sich nur nicht dadurch vermasselt hätte, dass sie schwanger geworden war. Der Schwangerschaftsabbruch war vermutlich die richtige Entscheidung. Allerdings machte sie nicht den Eindruck, als ob sie froh darüber wäre, aber wie sollte man über so etwas auch froh sein. Der Vater (Vater! Er war noch ein Junge) wollte nichts damit zu tun haben, auch nichts mit ihr, von seiner Seite war also keine Unterstützung zu erwarten. Es wäre unvernünftig von ihr, das Kind zu bekommen. Und sie war, so hoffte ich zumindest, dazu erzogen worden, vernünftige Entscheidungen zu fällen.
„Das wäre erledigt“, sagte Geoffrey, der zurück in die Küche gekommen war. Er schnappte sich den Hausschlüssel vom Schlüsselbrett an der Wand, küsste mich auf die Wange, und dann war er ebenfalls weg. Womit nur noch Ariane und ich übrig waren, zum letzten Mal miteinander allein.
Heathrow, Terminal 3. Ein abscheulicher Ort, wenn man sich dort von jemandem verabschieden muss. Ariane hatte im Auto munter drauflosgeplaudert, über ihre Freunde getratscht, von dem Buch erzählt, das sie gerade las, und ich fragte mich, ob sie wirklich so fröhlich war oder nur versuchte, ihren Abschiedskummer zu überspielen. Ich persönlich bin nicht besonders gut darin, meine Gefühle zu verbergen. Ich hatte beiläufig genickt und die eine oder andere Bemerkung eingeworfen, aber innerlich war mir elend zumute, und ich war mir sicher, dass sie das wusste.
Kurz bevor sie sich in die Schlange vor dem Abflugbereich einreihte, sagte sie:
„Du fängst jetzt aber hoffentlich nicht an zu weinen oder so.“
„Ach wo“, sagte ich. „Ich freue mich doch für dich. Das wird bestimmt ein ganz tolles Abenteuer.“
„Ich hoffe, Fran bekommt das alles geregelt.“
„Das hoffe ich auch. Es ist ein Alptraum. Aber Daddy und ich werden sie … unterstützen, wo wir nur können.“
Ariane zögerte. Es war, als wollte sie etwas Bedeutsames sagen. Vermutlich „Leb wohl“.
„Übrigens werde ich euch von jetzt an ‚Mum‘ und ‚Dad‘ nennen. Sonst klingt es so … ich weiß nicht. Es hört sich an, als wären wir noch kleine Kinder.“
„Gute Idee“, meinte ich und schluckte schwer. Woraufhin betretenes Schweigen herrschte.
Ariane machte den ersten Schritt und legte die Arme um mich.
„Also, wir sehen uns in ein paar Monaten.“
„Genau“, sagte ich und erwiderte ihre Umarmung. „Ist überhaupt nicht lang.“
Aber mein Körper wurde von einem Schluchzer geschüttelt. Sie hielt mich fest und rieb mir den Rücken und sagte: „Komm schon, Mum. Mach es dir doch nicht so schwer.“
Noch ein wortloses Schütteln.
„Hat deine Mutter das auch getan?“
„Was hat meine Mutter damit zu tun?“, brachte ich hervor.
„Na ja, schließlich hat sie das Gleiche durchgemacht“, sagte Ariane. „Sie hat dich doch damals auch zum Flughafen gebracht, oder? Als du nach Amerika gegangen bist.“
„Das war etwas anderes“, sagte ich.
„Was war daran anders?“
„Das war nur eine Reise.“
„Dann stell dir einfach vor, das hier wäre auch bloß eine Reise.“
Sie gab mir einen Kuss, drückte mich ein letztes Mal und löste sich dann aus meiner zu festen, überbehütenden Umarmung. Ich sah zu, wie sie sich in der langen Schlange Richtung Sicherheitsbereich schob, und schließlich wandte sie sich noch einmal um, lächelte und winkte, und dann öffnete sich die Glastür, und sie ging hindurch, bog um eine Ecke und verschwand aus meinem Blickfeld.
Ich wischte mir mit dem Mantelärmel die Tränen aus dem Gesicht, drehte mich um und machte mich auf den langen, einsamen Weg zurück zum Parkplatz. Ich dachte darüber nach, was Ariane gesagt hatte, und fragte mich, ob sie recht hatte.
War es für meine Mutter auch so schwer gewesen, damals, 1976? Seit ihrem Tod war kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht an sie gedacht hatte. Aber merkwürdigerweise war mir diese Frage nie in den Sinn gekommen.
Um Arianes Frage zu beantworten: Nein, meine Mutter weinte nicht, als ich mich in der ersten Juliwoche des Jahres 1976 am Flughafen von Athen von ihr verabschiedete. Das glaube ich zumindest. Und wenn doch, hätte ich es überhaupt bemerkt? Meine Tochter hatte recht: Wenn man jung ist, nimmt man die Gefühle seiner Eltern nicht wahr; meistens ist einem gar nicht bewusst, dass sie überhaupt Gefühle haben. Man lebt in einem seligen Zustand der Soziopathie, was die Emotionen der Eltern betrifft.
Überhaupt war ich viel zu aufgeregt, um auf solche Dinge zu achten. Ich war gerade einundzwanzig geworden, aber praktisch noch nie allein gereist, und in den Sommerferien drei Wochen lang mit dem Rucksack quer durch Amerika zu ziehen war ein großer Schritt für mich. Auf dem Flug nach New York ignorierte ich das Bordkino (wenn ich mich recht erinnere, wurde eine Krimiparodie namens Eine Leiche zum Dessert gezeigt, aber ich kann es nicht beschwören, weil mich Filme damals nicht interessierten) und vertiefte mich stattdessen in meinen Reiseführer und den Greyhound-Fahrplan. Es war ein langer und ungemütlicher Flug. Eine Weile hörte ich das klassische Musikprogramm, das die Fluggesellschaft den Passagieren anbot. Natürlich gab es in den Siebzigern noch keine tragbaren Audiogeräte, daher war man dem Musikgeschmack anderer Leute ausgeliefert, und irgendjemand hatte eine ausgesprochen fade Auswahl von Beethoven, Mozart und so weiter zusammengestellt, noch dazu in einer miesen Klangqualität. Musik war bereits meine Leidenschaft, aber die Komponisten, die ich liebte – Satie, Debussy, Ravel, Poulenc, zufällig alles Franzosen –, hatten an Bord keine Chance. Die Stunden zogen sich endlos hin und meine Nervosität stieg. Aus unerfindlichen Gründen war ich im Raucherbereich gelandet, und der Typ mittleren Alters, der neben mir saß, qualmte ungemein beißende Zigarillos. Als wir auf dem John F. Kennedy Airport landeten, war mir richtig schlecht, und an diesem ersten Abend setzte ich vor lauter Übelkeit und Müdigkeit keinen Fuß vor das Hostel; ich lag nur im Bett und fragte mich, worauf ich mich da bloß eingelassen hatte.
Im Anschluss an New York verbrachte ich mehr als eine Woche damit, einen Bus nach dem anderen an die Westküste zu nehmen. Chicago – Springfield – St. Louis – Oklahoma City, dann weiter durch New Mexico nach Vegas und L.A. Anfangs war ich ziemlich allein, aber nach ein paar Tagen bereitete eine glückliche Fügung diesem Zustand ein Ende.
Als ich an der Greyhound-Station in Springfield eintraf, stellte ich fest, dass es die Busverbindung, die ich gebucht hatte, gar nicht gab. Offenbar lag der Fehler nicht bei mir, denn mehrere Passagiere hatten dasselbe Problem, darunter auch ein britisches Mädchen, das ungefähr so alt war wie ich, mit aschblonden Haaren und einem bleichen, sommersprossigen Teint. Sie hieß Gill. Wir mussten vier Stunden auf den nächsten Bus warten – genügend Zeit also, um ins Gespräch zu kommen und obendrein Freundschaft zu schließen. Wie sich herausstellte, hatten wir eine Menge gemein: Keine von uns war besonders selbstsicher, im Gegenteil, wir waren beide eher schüchtern. Genau wie für mich war diese Reise das größte Abenteuer, das Gill je unternommen hatte. Im Gegensatz zu mir hatte sie noch nicht mit dem Studium begonnen, meinte aber, sie würde im Herbst nach Oxford gehen. Sie lebte am Stadtrand von Birmingham, einem Ort, über den ich nichts wusste, außer, dass es eine große Industriestadt irgendwo mitten in England war. Ich habe schon lange keinen Kontakt mehr zu Gill, aber trotz allem, was in Los Angeles passierte, habe ich sie in bester Erinnerung. Während ich das hier schreibe, liegt sogar ein Foto von uns vor mir auf dem Tisch, das an einem Spätnachmittag am Strand von Santa Monica aufgenommen wurde. Wenn ich es mir so anschaue, würde ich ohne Anmaßung behaupten, dass ich die Hübschere von uns beiden war – Gill hatte ein langes, eckiges Gesicht und eine unvorteilhafte Zahnstellung –, aber aus irgendwelchen Gründen hängt die Anziehungskraft auf das andere Geschlecht ja nicht unbedingt von einem anziehenden Äußeren ab, und so kam es, dass Gill diejenige war, deren Roadtrip durch Amerika in einer Urlaubsromanze mündete.
Sein Name war Stephen. Gill und ich hatten es inzwischen an die Westküste geschafft und unterwegs noch den Grand Canyon, Las Vegas und andere Sehenswürdigkeiten mitgenommen, aber allmählich fanden wir das ganze Herumreisen und Sightseeing beschwerlich, und zu dem Zeitpunkt, da wir in L.A. eintrafen, war unsere Energie weitgehend erschöpft. Daher verliefen unsere ersten beiden Tage in der Stadt eher ereignislos. Wir wohnten downtown in einem Hostel, das ich in finsterer Erinnerung habe. Es gab dort keine Verpflegung und wir ernährten uns ausschließlich von dem, was wir im Drugstore zwei Blocks weiter kauften: abgepacktes Brot und Scheiblettenkäse, manchmal auch etwas Truthahnschinken oder Speck. Nach ein, zwei Tagen mit diesem Fraß fühlte ich mich elend. Wir unternahmen ein paar halbherzige Versuche, uns die Touristenattraktionen anzuschauen, aber es war viel zu heiß dazu, und mit öffentlichen Verkehrsmitteln kreuz und quer durch diese riesige Stadt zu fahren erwies sich als mühsam. Aber so richtig vertrackt wurde es erst am zweiten Abend, als Stephen in dem Hostel auftauchte, nachdem er per Anhalter von San Francisco runter nach L.A. gefahren war. Er war ebenfalls Brite, und vielleicht war das der Grund, weshalb Gill überhaupt mit ihm ins Gespräch kam, ich erinnere mich nicht mehr an die Einzelheiten, aber ich weiß noch, dass aus unserer kameradschaftlichen Zweisamkeit in den folgenden Tagen eine komplizierte Dreisamkeit wurde. Stephen hing wie eine Klette an uns, und allmählich beschlich mich das Gefühl, das fünfte Rad am Wagen zu sein. Als Erstes fiel mir auf, dass die beiden fast immer vor mir herliefen, während ich hinterdreintrottete. Dann hielten sie auf einmal Händchen, und dann küssten sie sich, wann immer sich eine passende Gelegenheit dafür bot (oder nicht). Nach ein paar Tagen stand fest, dass ich zur unfreiwilligen Zeugin einer ausgewachsenen Liebesgeschichte geworden war.
Wie ernst die Sache war, wurde mir allerdings erst am Abend von Stephens Abreise klar. Er hatte einen Platz in einem Nachtbus von L.A. nach Phoenix, Arizona, gebucht, wo er einen anderen Backpacker, einen Schulfreund aus England, treffen wollte. Zufällig war es derselbe Abend, an dem Gill irgendeinen Freund ihres Vaters zum Dinner in Beverly Hills treffen sollte. Sie wirkte nicht sonderlich erfreut über die Einladung, nahm es ihrem Vater sogar ein bisschen übel, dass er das Ganze arrangiert hatte – wobei ich mir sicher bin, dass er es in bester Absicht getan hatte –, und sie hatte mich bereits eingeladen, mitzukommen, gewissermaßen zur moralischen Unterstützung. Doch nun, da dieses Dinner mit dem Abschied von Stephen zusammenfiel, war sie richtig wütend darüber. Ich persönlich konnte die ganze Aufregung nicht verstehen – schließlich hatten die beiden bereits vereinbart, sich gleich nach Gills Rückkehr in London zu treffen. Sie würden nur zehn Tage voneinander getrennt sein – war das denn so schwer auszuhalten? (Wie man merkt, war ich zu diesem Zeitpunkt noch nie verliebt gewesen.)
Am Nachmittag fuhren wir drei noch zusammen an den Strand von Santa Monica. Ich verbrachte die meiste Zeit damit, allein zwischen den Vergnügungsbuden und Souvenirshops auf dem Pier herumzuschlendern, am Strand zu sitzen und aufs Meer hinauszuschauen, während Gill und Stephen Hand in Hand die Strandpromenade rauf und runter spazierten und herumknutschten, bis ihre Lippen wund waren. Irgendwann musste Stephen dann den Bus zurück zum Hostel nehmen, um seine Sachen zu holen und sich auf den Weg zur Greyhound-Station zu machen. Ich hatte angenommen, dass Gill in Tränen aufgelöst sein würde, aber zu meiner Überraschung (und Erleichterung) wirkte sie vollkommen gefasst. Nachdem sie sich an der Bushaltestelle von Stephen verabschiedet und dem Bus hinterhergeschaut hatte, bis er in der Ferne verschwunden war, kam sie zu mir an den Strand.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich, als sie sich neben mich setzte.
„Ja, klar.“
Damals wusste ich noch nicht, wie zwanghaft die Briten ihre Gefühle verbergen, daher nahm ich ihr das ab und beschloss, das Thema zu wechseln, indem ich ihr eine Frage stellte, die mir durch den Kopf gegangen war, seit sie mir erzählt hatte, dass wir an diesem Abend mit einem alten Freund ihres Vaters essen gehen würden. Etwas an dieser Einladung verwirrte mich, denn nach allem, was ich gehört hatte, war Gills Vater ein ganz normaler Büromensch, der nichts mit dem Filmgeschäft zu tun hatte.
„Wie kommt es eigentlich“, begann ich und wählte meine Worte sorgfältig, um nicht unhöflich zu erscheinen, „dass dein Vater einen Filmregisseur aus Hollywood kennt?“
„Keine Ahnung“, meinte sie. „Mein Dad ist ein ziemlich rätselhafter Typ. Er kennt einen Haufen Leute. Außerdem fährt er ständig ins Ausland und erzählt uns hinterher nie so genau, wo er eigentlich war. Aber die beiden müssen ziemlich gute Freunde sein, weil der Regisseur vor ein paar Jahren einen Film in England gedreht hat, und die Premiere war in London, und meine Mum und mein Dad waren eingeladen. Ich weiß noch, wie die Eintrittskarten mit der Post kamen. Die waren so richtig edel, aus dickem Papier mit Goldrand.“
„Und was war das für ein Film?“
Gill zuckte mit den Schultern. „Irgendwas mit Sherlock Holmes, glaube ich. Dad fährt total auf Sherlock Holmes ab.“
„Ist er berühmt?“, fragte ich. „Dieser Regisseur, meine ich.“
„Ich glaube nicht. Außerdem ist er schon siebzig oder so.“
Das war alles, was sie mir erzählte. Den Rest des Nachmittags verbrachten wir mit Sonnenbaden, und bei dieser Gelegenheit ist das Foto entstanden. Ich weiß nicht mehr, wer es aufgenommen hat. Wir müssen irgendjemanden darum gebeten haben. Es zeigt uns, wie wir eine halbe Meile vom Pier entfernt nebeneinander am Strand sitzen und zusehen, wie die Schatten länger werden und die tiefstehende Sonne ihr warmes, goldenes Licht über den Pazifik breitet, zwei junge Mädchen, Tausende von Meilen von zu Hause entfernt, Gills lange dünne Beine auf dem Sand ausgestreckt, daneben meine eigenen, kräftigeren, stämmigeren, die sich gleichmäßig zimtbraun von ihrer durchscheinenden englischen Blässe abheben. Ich gebe zu, dass ich selbstsüchtig erfreut darüber war, sie wieder zurückzuhaben, sie für den Rest dieser Reise für mich zu haben, sie nicht mehr mit Stephen teilen zu müssen. Und was das Dinner betraf, was war schon dabei, einen Abend mit fremden Leuten zu verbringen, noch dazu mit einem schönen großen Steak auf dem Teller, das mich für das ganze Junkfood der letzten Tage entschädigen würde? Wenn ich natürlich gewusst hätte, wie richtungsweisend dieses Essen für mein Leben sein würde, wäre ich wohl nicht so gelassen gewesen, aber das konnte ich ja nicht ahnen, und einstweilen brauchte ich nichts weiter zu tun, als dort am Strand zu liegen, mit meiner wiedergewonnenen Freundin an meiner Seite, dem Sonnenlicht auf dem Wasser, dem entfernten, fröhlichen Kreischen, das von der Achterbahn am Pier zu uns herüberklang, dem heißen Sand unter meinem Körper, der Aussicht auf eine Zukunft, die aus nichts als ungetrübten Möglichkeiten zu bestehen schien.
Man hatte Gill die Adresse eines Restaurants namens „Bistro“ auf dem North Canon Drive in Beverly Hills gegeben. Das war eine Gegend von Los Angeles, die wir noch nicht kannten, und sie hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Stadtteil, in dem wir wohnten. Die Abendsonne schien auf schicke Bars und Coffeeshops und Designer-Boutiquen, und aus jedem Gebäude, jeder Ritze im Asphalt, quoll förmlich das Geld hervor. Da wir die Anfahrtszeit unterschätzt hatten, trafen wir um 19 Uhr 50 – zwanzig Minuten zu spät – ein und standen außer Atem und reichlich nervös vor einem unscheinbaren dreistöckigen Gebäude mit einem Vorbau aus dunklem Holz, der völlig fehl am Platz wirkte, zumal in seinen altmodischen hohen Fenstern Spitzengardinen hingen. An dem geschmiedeten Vordach über dem Eingang stand „Restaurant“ und darüber hing ein Schild mit der Aufschrift „The Bistro“, das vom Stil her an ein Plakat von Toulouse-Lautrec erinnerte.
Natürlich ließ man uns zunächst nicht hinein. Der Türsteher musterte uns kurz und baute sich dann mit einem spöttischen Lächeln vor uns auf. Wir trugen beide die gleichen Klamotten: spottbillige T-Shirts mit irgendeinem Aufdruck auf der Brust, abgeschnittene Jeans, Sonnenbrille und Flipflops. Mit Restaurants kannte ich mich nicht so gut aus, aber ich hatte begriffen, dass wir uns in einem exklusiven Viertel befanden, und selbst mir war bewusst, dass wir underdressed waren.
„Wir sind mit Mr. Wilder zum Essen verabredet“, sagte Gill, als der Türsteher uns aufforderte, zu gehen.
„Ja, klar“, erwiderte er, wobei er an uns vorbeischaute und gelangweilt die Straße inspizierte. Er trug einen dunklen Anzug mit Krawatte, und sein Gesicht glänzte vor Schweiß, denn es war immer noch brütend heiß.
Miss-ter-Weihl-der