»Orska: Es war mir eine Freude, ich sollte lieber sagen: Es war mir ein Glück.«
FRANK WEDEKIND
DIE
SCHAUSPIELERIN
»Mit jedem Menschen verschwindet ein Geheimnis aus der Welt.«
Vorwort
»Lulu war das Höchste des Abends.«
Prolog. Berlin. 1916. Ein fulminanter Einstand. Und ein Sieg.
»Übermut, Leichtigkeit und ein bezauberndes Lebensgefühl.«
Odessa. 1900 bis 1909. Leuchtende Metropole an der Schwarzmeerküste.
»Ich liebe Puschkin!«
Sankt Petersburg. 1909. Ein Vorsprechen mit Folgen.
»Unsere Russin ist ein kapriziös schillerndes Temperament.«
Wien. 1909 und 1910. Lehrzeit. Nathan Cohn. Aufbruch.
»Talent und Lebenstrieb in der hochbürgerlichen Zone.«
Mannheim. 1910 und 1911. Das Nationaltheater. Neue Möglichkeiten.
»Dieses seltsame Mädchen besitzt eine ganz außergewöhnliche, eine geniale Begabung.«
Hamburg. 1911 bis 1914. Frischer Wind. Bürgertum und Arbeiter.
»Die Taten des Hauses in der Königgrätzer Straße beginnen buchenswert zu werden.«
Berlin. 1914. Endlich in der Hauptstadt des Theaters.
»Bürgerlich im besten Sinne des Wortes.«
Berlin. 1914. Salonkultur. Grunewald. Verliebt in einen Casanova.
»Wedekinds schönstes Tier.«
Berlin. 1916 und 1917. Durchbruch mit Lulu.
»Mondänste Schauspielerin des Berlins von heute.«
Stummfilm. 1915 bis 1923. Zwischen Kintopp und Theater.
»Die schrecklichste Jahreszahl der deutschen Geschichte.«
Berlin, Frankfurt, Wien, München. 1918. Weitgespannte Tournee. Enttäuschungen und Rückschläge.
»Geistreich und prickelnd. Phantastische Aufmachung, geheimnisvolle Töne.«
Berlin. 1919. Aufbruch, neue Freiheiten, experimentelle Kunst.
»Flimmerhumor und witziger Widersinn, Geblitz und Magie.«
Berlin. 1920 bis 1922. Die glücklichen Jahre. Die Welt sehen.
»Sie ist ein Begriff, eine Welt.«
Berlin und Wien. 1923 und 1924. Krankheit und Krisen. Geplatzte Träume und ein Neubeginn.
»Die interessante Frau der Gegenwart. Vielfach schillernd.«
Wien 1925 und 1926. Ein neues Heim. Das Ende einer Ehe. Die Tragödie der Schwester.
»Sie bietet das Höchste, was sie geben kann: ihre ganze Menschlichkeit.«
Berlin und Wien. 1927 und 1928. Kein Glück in der Liebe. Entfesseltes Schauspiel. Auf dem Gipfel.
»Die Welt wird nicht so bald eine zweite Orska finden.«
Überall und nirgends. 1929 und 1930. Schlussvorhang.
»Vor ihrem Ende stehen die Männer ratlos.«
Epilog. Wien 1930. Nachrufe. Deutungsmuster. Irrtümer.
»Man überlebt den Tod, wenn etwas von der Lebensarbeit bleibt.«
Nachwort
Anhang
Editorische Notiz. Anmerkungen. Literatur. Register.
Vorwort
Der 16. Mai 1930 ist in Wien ein sonniger Frühlingstag. An diesem Freitag melden fast alle großen Zeitungen in Österreich und in Deutschland, manche von ihnen auf der Titelseite in fett gedruckten Schlagzeilen, den Tod von Maria Orska. In der Nacht zuvor ist sie mit nur siebenunddreißig Jahren im Allgemeinen Jüdischen Krankenhaus in Wien gestorben.
Die 1893 in der Nähe von Odessa geborene Schauspielerin1 fällt bereits in ihrer Jugend durch eine außergewöhnliche Spielfreude und schauspielerische Begabung auf. Sie umarmt das Theater – und das deutschsprachige Theater gibt ihr die Bühne, die sie braucht. Nach ersten Erfolgen in Wien und Mannheim geht sie 1911 nach Hamburg und wechselt im Sommer 1914, unmittelbar vor Kriegsausbruch, nach Berlin. Die Reichshauptstadt gilt als Deutschlands tonangebende Theaterstadt und ist das begehrte Ziel aller Schauspieler, die auf die große Bühne drängen und eine große Karriere anstreben. Es gibt über zwanzig etablierte Theater, die die gehobene klassische und moderne expressionistische Dramatik (Georg Kaiser, Ernst Toller) im Programm haben, daneben spielen auch zahlreiche kleine Saisonbühnen. Als bedeutender Intendant und Regisseur hat sich Max Reinhardt durchgesetzt. Mit Theater ist in der sich rasant entwickelnden Hauptstadt Geschäft zu machen. Da kommt die ehrgeizige und bezaubernde Maria Orska wie gerufen.
Mit ihrer aufregend modernen Darstellung weiblicher Hauptrollen in den Stücken der Dramatiker August Strindberg und Frank Wedekind beeindruckt sie von Beginn an die Intendanten, Regisseure und Zuschauer. Nur wenige Jahre später, in der Weimarer Republik, gehört sie zu den bekanntesten Bühnenkünstlerinnen, ist gefeierter Star und Liebling des Publikums. Aufsehen erregen aber nicht nur ihr außergewöhnliches Talent und die geradezu visionär auf sie zugeschnittenen Rollen, sondern auch ihre extrovertierte Persönlichkeit und temperamentvoll sprühende Lebensart, ihre Turbulenzen und Affären, ihre Heirat mit einem Aristokraten und stadtbekannten Lebemann sowie die bald folgende und skandalumwitterte Scheidung.
In den zahllosen Nachrufen, die in diesen Maitagen des Jahres 1930 in den seriösen und auch weniger seriösen Blättern erscheinen, wird nicht nur an ihre großen nationalen oder internationalen Erfolge erinnert. Nein, die Redakteure vergessen nicht, den Lesern noch einmal die Schattenseiten ihres kurzen Lebens vor Augen zu führen: die schon länger bestehende Suchterkrankung der Schauspielerin, genauer ihre verhängnisvolle Abhängigkeit von Tabletten und Opiaten, die letztlich mit zu ihrem frühen Tod geführt haben.
Maria Orska wird in ihrer Wiener Wohnung in der Maria-Theresien-Straße aufgebahrt, wo sich Verwandte und Freunde versammeln, um von ihr Abschied zu nehmen. Die Beerdigung findet drei Tage später, am 19. Mai 1930, auf dem Friedhof im Stadtteil Hietzing statt. Maria wird in der Familiengruft beigesetzt und findet neben ihrer Mutter Augusta Frankfurter ihre letzte Ruhe. In unmittelbarer Nähe liegen zwei andere prominente Wiener begraben: Österreichs bedeutendster Architekt Otto Wagner und der Maler Gustav Klimt sind beide im letzten Kriegsjahr 1918 gestorben.
Unter den Trauergästen, die der Schauspielerin das letzte Geleit geben, ist neben den Familienangehörigen auch der geschiedene Ehemann Hans von Bleichröder, der am Vortag mit Marias Bruder Edwin aus Berlin angereist ist. Ein Meer von Blumen und Gebinden bedeckt die Grabstätte. Die Wiener Kammerspiele und das Berliner Theater in der Königgrätzer Straße, die beiden wichtigsten Bühnen der Schauspielerin, haben aufwändig geschmückte Kränze geschickt. Marias Onkel ist mit seiner Ehefrau da, Bruder Edwin folgt mit der kleinen Nichte Tamara, der Tochter ihrer vier Jahre zuvor verstorbenen Schwester. Ein Heer von Schaulustigen versucht einen Blick zu erhaschen. Der von der Familie bestellte Sicherheitsdienst hat alle Hände voll zu tun, um die sensationslüsternen Zuschauer zurückzudrängen und des Platzes zu verweisen. Angesichts der Unruhe und der kaum erträglichen Neugier fasst sich der Geistliche kurz und hält die Aussegnung am offenen Grab in gebührender Kürze ab.2
Die Wiener Presse zeigt sich nicht nur über die Umstände des tragischen Todes gut informiert, sondern auch über die Verfügungen, die Maria Orska zu Lebzeiten getroffen hat. Es wird berichtet, dass sie 1925, im Jahr ihrer Scheidung, bei einem Berliner Justiziar ein Testament aufgesetzt hat, das ihren Bruder Edwin Blindermann und ihre Nichte Tamara als Erben bestimmt. Als Testamentsvollstrecker und Nachlassverwalter wird ein Onkel aus der mütterlichen Linie der Familie Frankfurter eingesetzt.3
Er wird vier Monate später dabei helfen, den letzten traurigen Akt des Dramas zu schreiben. Schauplatz des Geschehens ist Maria Orskas Wohnung in der Maria-Theresien-Straße 5 im neunten Wiener Bezirk Alsergrund. Das Auktionshaus Albert Kende ruft am 17. September 1930 den Nachlass der Verstorbenen zu einer öffentlichen Versteigerung auf.4 Der Andrang ist gewaltig, durch die große Eingangstür drücken Hunderte. Auch hier muss ein Ordnungsdienst bestellt werden, um den Besucherstrom zu lenken.
Fünf Jahre zuvor hat Maria Orska diese Tür geöffnet, um einem Reporter des Magazins Die Bühne ihr privates Reich zu zeigen, in das sie erst vor kurzem eingezogen war. Der gefeierte Bühnenstar erweist sich bei diesem Termin als erfahrene und geschickte Selbstdarstellerin, sie hat es schon immer verstanden, mit Interviews, etwas gezielt gestreutem Klatsch und »Home Stories«, die oft zeitgleich zu einer ihrer Premieren erscheinen, das Interesse des Publikums anzufachen.
Maria führt den Reporter stolz durch ihre Wohnung, es werden Fotos gemacht. Der Bericht »Die Orska in ihrem neuen Heim«5 erscheint im Sommer 1925 und bietet den Lesern des Blattes einen Blick in die große, herrschaftlich ausgestattete Wohnung mit Musikzimmer, Bibliothek und Boudoir, mit einem chinesisch ausgemalten Speisezimmer und einem Empfangsraum, wie es dem Geldbeutel und Geschmack der Reichen entsprach. Von den hohen Flügelfenstern ihres Salons sieht man auf die Wasagasse mit der Neuen Wiener Bühne, eine von Marias wichtigen Spielstätten.
An diesem Septembertag nur einige Jahre später wird alles, was Maria Orska besessen hat, an die Höchstbietenden verkauft. Die für die Auktion erstellten und vorab ausgegebenen kleinen Kataloge verzeichnen ein umfangreiches Inventar und kostbare Sammlungen von Kunst- und Gebrauchsgegenständen. Zum Aufruf kommen auch antikes Mobiliar im Barock- und Rokokostil, französische Gobelins und einzigartige Aubusson-Teppiche. Dazu Lüster und Uhren, Fayencen, Services und Figuren aus Meißner Porzellan, böhmisches Kristall, Bronzen, Gemälde, Miniaturen. Ob sich auch jemand für das Porträt des Dichters Frank Wedekind interessiert, das in einem schlichten Rahmen auf ihrem antiken Sekretär steht? Trophäenjäger, die jeweils nur nacheinander in kleinen Gruppen eingelassen werden, streifen durch die weitläufigen Räume, begutachten und schätzen mit Kennerblick das Mobiliar. Damen liefern sich leidenschaftliche Bieterkämpfe vor allem bei den Pelzen (Hermelin, Blaufuchs, russischer Zobel) und den kostbaren Textilien wie einem edlen Brokatmantel, Seidenroben und einem antiken Mandaringewand, das vielleicht einmal die zarte und grausame Prinzessin Turandot schmückte.6 Am Ende findet jedes Stück einen neuen Besitzer. Die Räumung der Etage wird amtlich geschlossen. »Und über allem ruhte ein Hauch von Bizarrerie und Erotik, der Duft, der jede schöne Frau begleitet«, notiert ein Beobachter mit einer Mischung aus Wehmut und Sarkasmus.7
Mit dem Erlös aus dem Auktionstag von geschätzten zweihunderttausend Schilling ist der Onkel und Nachlassverwalter mehr als zufrieden. Im Katalog nicht aufgelistet sind die ganz persönlichen Dinge von Maria Orska. Was mit ihnen geschieht, bleibt zunächst im Dunkeln. Dazu gehören handschriftliche Aufzeichnungen, private wie geschäftliche Korrespondenzen mit Verwandten, Freunden, Kollegen, Regisseuren, Postkarten aus der Sommerfrische, Telegramme, Kalender, Tagebücher. Notizen zu Proben, Aufführungen, Tourneen, mit ihren Anmerkungen versehene Rollenbücher und Typoskripte, Reisedokumente, Familienfotos. Alles vermutlich in ihrem Sekretär oder einem eigens dafür angeschafften Schränkchen gut verwahrt – und lange Zeit wird man nichts über den Verbleib dieser Zeugnisse eines kurzen und bewegten Lebens erfahren. Mit der Schließung ihrer Wohnung und der Aufteilung des Inventars unter den verschiedenen Bietern endet schon bald die Erinnerung an eine der interessantesten und faszinierendsten Schauspielerinnen ihrer Zeit.
Knapp drei Jahre nach Maria Orskas Tod wird Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die nationalsozialistische Machtergreifung am 30. Januar 1933 bedeutet das Ende der Weimarer Republik und die Beseitigung der bundesstaatlichen Ordnung des Reiches zugunsten eines zentralistischen Einheitsstaates. Die neue Regierung nimmt den Brand des Reichstagsgebäudes am 27. Februar 1933 zum Anlass, um am darauffolgenden Tag den Grundrechtekatalog der Weimarer Verfassung mit Hilfe einer »Notver-ordnung zum Schutz von Volk und Staat« außer Kraft zu setzen. Damit ist der Weg für Hitlers Willkürherrschaft frei. Es ist der Beginn einer beispiellosen Terrorwelle und einer gezielten Jagd auf die Gegner des Regimes, auf kommunistische und demokratische Oppositionelle. Auch eine erste Verhaftungswelle kommt in Gang. Jüdische Bürger werden in Schutzhaft genommen, wie die zynische Bezeichnung der neuen Machthaber lautet, und in Gefängnisse oder provisorisch errichtete Lager gebracht. Der Gleichschaltung des öffentlichen Lebens fällt auch die demokratische (und jüdische) Kultur von Weimar zum Opfer. Die Stücke des Dramatikers Frank Wedekind, dem Maria Orska ihren Durchbruch in Berlin und ihre einzigartige Lulu sowie weitere große Erfolge verdankt hat, gelten nach der NS-Ideologie als »entartet«. Missliebige Künstler erhalten Aufführungs- oder Auftrittsverbote. Viele von ihnen versuchen der Bedrohung und Verfolgung durch Hitlers Schergen zu entkommen und über die Grenze ins rettende Ausland zu fliehen. »Die Wunde des Jahrhunderts«8 wird geschlagen, der Geist und die Kultur von Weimar gehen unwiederbringlich verloren.
»Mit jedem Menschen verschwindet ein Geheimnis aus der Welt, das vermöge seiner besonderen Konstruktion nur er selbst entdecken konnte.« Friedrich Hebbel, von dem diese Worte stammen, ist der ursprüngliche Namensgeber des Theaters in der Königgrätzer Straße in Berlin, das Eingeweihte seit 1916 auch als »Orska-Bühne« betrachten. Was ist Marias Geheimnis gewesen, mit dem sie das Theater prägte? »Dieses kleine, züngelnde, schillernde Geschöpf« war für den Kritiker Adolf Stein »die beste Lulu, die je in Wedekinds Erdgeist über die Bretter gegangen« ist – und »der letzte Vamp« Berlins.9 Sicher ist: Mit ihrer genialen Begabung und ihrem untrüglichen Gespür für Frauenrollen hat sie traumwandlerisch sicher die atmosphärischen Spannungen, den Geist und das Tempo ihrer Zeit eingefangen. »So gesehen«, kann man Arnold Zweig zitieren, »wird das Urteil über eine hochbegabte, sehr geschmeidige, sehr fessellose Schauspielerin zum Urteil über eine Epoche.«10
Und jetzt? Über ein Jahrhundert nach ihrem fulminanten Einstand in Berlin, wo sie das Publikum im grauen und trostlosen Kriegswinter 1916 mit einer umwerfenden Lulu von den Sitzen gerissen, tosende Begeisterung entfacht und die Herzen im Sturm erobert hat, ist sie wieder da. Der radikale »Ausverkauf«, der im September 1930 in der Wiener Maria-Theresien-Straße stattfand, hat nicht alle Spuren verwischen und tilgen können. Es sind Quellen und Nachrichten erhalten geblieben, die ein außergewöhnliches Leben zu rekonstruieren und zu erzählen helfen. »Von der Leistung am Theater bleibt nichts«, hat Fritz Kortner einmal bedauert, der in Wien und Mannheim Maria Orskas kongenialer Bühnenpartner und (was er gern verschweigt) glückloser Verehrer gewesen ist, der ihre Anfänge als Schauspielerin direkt und hautnah miterlebt hat. Und er präzisiert: »Sie [die Leistung] ist, wie keine andere, vergänglich. Also will man das Geleistete, solange es lebt, erhalten.«11 Diese Biografie über Maria Orska ist der Versuch, das Geleistete über den Moment hinaus, in dem »es lebte«, zu erhalten. Daraus ergibt sich aus vielen Puzzleteilen die Geschichte einer mutigen und ehrgeizigen jungen Frau, die im Frühsommer 1909 als Sechzehnjährige aus ihrem großbürgerlichen und behüteten Elternhaus an der russischen Schwarzmeerküste aufbricht – mit nicht viel mehr als einem unbändigen Wunsch: eine berühmte Schauspielerin zu werden. Es ist die Epoche eines einzigartigen gesellschaftlichen und kulturellen Aufblühens, die Maria Orska ebenfalls aufblühen lässt. Sie nutzt die Zeit und verschwendet ihre ganze Energie und Leidenschaft für ihren Traum vom Theaterspielen. Es ist ein Privileg, ihrem Weg durch die Theaterstädte Europas und durch ihr ganz eigenes persönliches Labyrinth zu folgen, und dass man das mit Neugier und Bewunderung, mit Spannung, Ergriffenheit und Staunen macht, ist ganz allein ihr Verdienst.
Prolog
Berlin. 1916. Ein fulminanter Einstand. Und ein Sieg.
Im Herbst 1916 dauert der Krieg, der inzwischen fast ganz Europa gefangen hält, schon über zwei Jahre. Nach dem Überfall auf das neutrale Belgien und dem Einfall in Frankreich ist der deutsche Vormarsch im Westen schon nach wenigen Wochen im Herbst 1914 in der Schlacht an der Marne zum Stillstand gekommen. Es folgt ein jahrelanger zermürbender Stellungskrieg in Nordfrankreich und Flandern, der vor allem für immer mit dem Namen Verdun verbunden bleibt. Verdun wird zum Menetekel und zu einer der verlustreichsten und verheerendsten Schlachten des Ersten Weltkriegs. Die genaue Zahl der Opfer ist bis heute unbekannt, Schätzungen zufolge gibt es bis zu siebenhunderttausend Tote und Verwundete. An der Ostfront wird der Krieg in diesem Jahr von sogenannten »Materialschlachten« sowie von mehreren großen russischen Offensiven geprägt, die keiner Seite irgendeinen faktischen Gewinn, sondern nur hohe Verluste bringen und die Armeen entscheidend schwächen.
In der Hauptstadt des Deutschen Reiches ist der Krieg weit weg. Das Elend in den Schützengräben und das Sterben an der Front sind für die Berliner, die ihren alltäglichen Pflichten und Geschäften nachgehen, ein entferntes, wenn auch bedrückendes Geschehen. Die Sorge um das eigene Überleben ist größer, die vielen Meldungen der Heeresleitung sind weniger wichtig als die durch den Krieg bedingte Mangelwirtschaft. Doch niemand mehr kann die täglich länger werdenden Listen der Gefallenen ignorieren. Wer nicht selbst den tragischen Verlust eines Angehörigen zu betrauern hat, kennt doch wenigstens eine Familie, die die Meldung vom Tod des Vaters, Bruders oder Sohnes in Ohnmacht und tiefste Verzweiflung gestürzt hat. Zu den düsteren Nachrichten kommen Gerüchte über Missernten auf dem Lande und eine drohende Knappheit von Kartoffeln, dem wichtigsten Nahrungsmittel. Sie verstärken in der Bevölkerung die Angst vor einem nahenden Hungerwinter.
Was ist wohl in dieser beklemmenden Lage besser geeignet als ein unterhaltsamer Theaterabend, um den Menschen ein wenig Ablenkung zu verschaffen und Trost zu geben? Auch Berlins Theater haben durch den Kriegsausbruch zunächst erhebliche Einschränkungen erlitten, finanzielle Mittel sind knapp oder gar gestrichen. Schauspieler und andere Bühnenarbeiter, die zum Kriegsdienst einberufen worden sind, fallen für die Aufrechterhaltung des Betriebs aus. Manche Spielstätten mussten aufgrund von Personal- und Geldmangel in den ersten Kriegsmonaten ihr Programm deutlich schmälern. In der Provinz waren kleinere Theater sogar gezwungen, vorübergehend ganz zu schließen.
Als fatal für die Spielpläne haben sich auch die nationalistische Übersteigerung und die Kriegseuphorie an manchen Theatern erwiesen, die dazu führten, dass Intendanten ein nationales Repertoire forderten und ausländische Autoren aus den »Feindstaaten« zunächst von der Bühne verbannten. Doch nach der anfänglichen Krise im Spätsommer und Herbst des Jahres 1914 ist die Lage an den Theatern wieder erstaunlich stabil. Noch im ersten Kriegswinter flaut der patriotische Jubel ab, als erkennbar wird, dass der erhoffte Sieg so bald nicht kommen wird und man sich auf eine lange und entbehrungsreiche Zeit einzustellen hat. »So ergibt sich das erstaunliche Phänomen«, schreibt der Autor Hans-Peter Bayerdörfer, »dass in den Jahren 1914–18 eine hohe Kontinuität der Theaterspielpläne festzustellen ist und dass Entwicklungstendenzen, die bereits ab 1910 einsetzen, nicht abbrechen. Zu keiner Zeit während des Krieges, die ersten Monate ausgenommen, reißt die Bemühung um anspruchsvolle Uraufführungen und Neuerungen in der Regie ab.«12
Der 4. November 1916 ist ein Samstag, das Wetter in Berlin ist trübe und nasskalt. Obwohl die seit Kriegsbeginn herrschende Zensur schlechte Nachrichten unterdrückt, ist die Niederlage der Deutschen bei Fort Vaux, das Teil der Festung von Verdun ist, durchgesickert. Von dort waren die deutschen Truppen zwei Tage zuvor durch eine französische Offensive zurückgedrängt und zur Aufgabe der Kampfhandlungen gezwungen worden. Der neuerliche Fehlschlag der Deutschen verbreitet sich in Berlin trotz der Nachrichtensperre wie ein Lauffeuer und die Menschen begreifen, dass ein Sieg und das Ende des Krieges in unerreichbare Ferne rücken.
Der teils pessimistischen Stimmung zum Trotz ist an diesem Abend ein festlich gekleidetes und erwartungsvoll gestimmtes Publikum auf dem Weg zu einer Aufführung im Theater in der Königgrätzer Straße. Die bekannte Spielstätte ist hell erleuchtet. Vor dem Eingang fahren in einer langen Reihe die Droschken vor. Dienstbeflissen reißen die Chauffeure vor den Herrschaften den Schlag auf. Herren in Cut und Zylinder reichen den Damen, die sich mit Pelzstola und Muff gegen die herbstliche Kälte geschützt haben, galant den Arm. Gemessenen Schrittes geht es ein paar Stufen hinauf. Am Eingangsportal zeigen sie ihre Billets für den Premierenabend vor, der ein Ereignis zu werden verspricht. Auf dem Programm steht Frank Wedekinds Erdgeist. Das umstrittene und berühmt-berüchtigte Stück ist die Geschichte einer kindlich-naiven, gewissenlosen und männermordenden Kokotte. Die sinnlich triebhafte Lulu ist die begehrenswerte Femme fatale, die die Phantasien und Lüste der Männer weckt, um sie kalt lächelnd von sich zu stoßen und in den Abgrund zu stürzen. Eine geborene Verführerin, die ihre Erotik kühl berechnend einsetzt, um den Mann zum Spielball ihrer Begierde und Objekt ihrer Lust zu machen. Wedekinds Stück ist die endgültige Absage an das Sittengesetz und die Moral des Bürgers. Radikal vollzieht es den Bruch mit der gesellschaftlichen Norm. Lulu ist eine Provokation und ein Abgesang auf die tradierten Geschlechterrollen. Seit Jahren hat der Autor an seinem unerhörten und dabei immer vertrackter gewordenen Werk gearbeitet, das er unter wechselnden Titeln (Büchse der Pandora / Lulu / Erdgeist) wiederholt umgeschrieben hat: um den eigenen literarischen Ansprüchen zu genügen, aber auch, um der staatlichen Willkür und der Zensur zu entgehen, die schon 1898 erstmals in Wien die Aufführung verhindert hat. 1905 wurde er vor dem Königlichen Landgericht in Berlin wegen der Verbreitung unzüchtiger Schriften angeklagt. Der Prozess, der sich durch drei Instanzen gezogen hat, führt am Ende zu seiner Freisprechung. Doch schränken danach gerichtliche Auflagen und neue Verbote die Möglichkeiten der Veröffentlichung und Aufführung weiter ein, so dass sich der Autor und seine Fürsprecher zeitweise mit Lesungen und szenischen Ausschnitten in geschlossener Gesellschaft begnügen müssen.
Wedekinds erste bedeutende Lulu wird Gertrud Eysoldt, die 1902 am Kleinen Theater in Berlin für ihre Darstellung der »perversen Buhlerin und lockenden Tanzmänade in einer Person« von der Presse sehr gelobt wird.13 Heinrich Stühmke rühmt die Schauspielerin in der Zeitschrift Bühne und Welt. Sie sei »in hundert Farben schillernd, ganz die faszinierende Verkörperung der Mignon, Lulu und Eva, das ungezogene Kind, die launische Despotin.« Auf der anderen Seite gibt es deutliche Kritik an ihrer Interpretation. So sah Alfred Polgar die von ihr dargestellte Lulu als »ein Produkt vollendeter Kunstfertigkeit«. Er schreibt: »Man sah eine schauspielerische Aufgabe und sah deren tadellose, interessante, sauberste Erledigung. […] Leider hatte all diese Vollkommenheit einen trockenen, kühlen Zug, der recht konservierend auf den Gleichmut der Zuhörer wirkte. […] Das ist die Kunst der Frau Eysoldt, die überall am Platze sein mag, nur nicht in der Darstellung des Unbewussten.« Sie spielt die begehrte Rolle noch in weiteren Inszenierungen, wobei sie sich bemüht, Wedekinds Vorgaben besser und genauer zu erfüllen. Trotzdem kann sie der Herausforderung, die diese einzigartige literarische Figur an eine Schauspielerin stellt, nicht vollkommen gerecht werden. Das beweist eine Besprechung der Frankfurter Aufführung von 1916, in der es heißt: »Sie war selbst ganz untragisch, manchmal fast liebenswürdig-komisch.« Damit scheint das Wesen der unverschämt lüsternen Lulu geradezu konterkariert. Insgesamt gelingt es Gertrud Eysoldt nicht, das Gewissenlose und Launische der Verführerin überzeugend zu verkörpern. Ihre Kollegin Tilla Durieux gibt eine andere Lulu, der die Kritik immerhin eine gelungene Mischung aus »Verdorbenheit und Kinderunschuld« bescheinigt. Allerdings spielt sie die Lulu nur in je einer Aufführung in München und in Basel, so dass sich eine weitere Entwicklung mit dieser prächtigen Rolle bei ihr nicht verfolgen lässt.
Der Schriftsteller Frank Wedekind, den Konservative zum »Bürgerschreck« abstempeln, hat mit seinem Erdgeist Lulu eine einmalige und spektakuläre Figur erschaffen. Mit ihrer Unmoral und dem Aufsehen, das sie durch die Zensur und Verbote entfacht, muss sie für jede begabte und ehrgeizige Schauspielerin zu einer Herausforderung und zum Glücksfall werden. So auch für die junge Tilly Newes, die am Theater ihrer Heimatstadt Graz Schauspiel studiert hat und im Mai 1906 Wedekinds Frau wird. Zwei Monate nach ihrer Hochzeit spielt sie den Erdgeist am Münchner Schauspielhaus. Die Rolle des Dr. Schön übernimmt der Ehemann selbst. Das Urteil über Frau Wedekinds Darstellung fällt ernüchternd aus. Der Kritiker Richard Braungart von der Münchener Zeitung zieht einen Vergleich und kommt zu dem Schluss: »Sie ist keine Eysoldt.« Was aber ist sie dann? »Sie ist für die glitzernde Bestie Lulu zu normal, zu bürgerlich, zu weich. Sie lächelt, wo sie lauern sollte, und niemals wagen sich die Krallen aus den Samtpfötchen dieses allzu feinen und süßen Hauskätzchens hervor.« Ein mit verhaltener Ironie gespickter Verriss. Tilly Wedekind erntet in der Folgezeit auch günstigere und durchaus freundliche Besprechungen, die ihre Empfindungskraft loben und ihr Bemühen würdigen, die Rolle durch temperamentvollere Akzente weiterzuentwickeln. Dennoch wird ihre Darstellung in der Regel als zu harmlos und banal verworfen. Ihr Spiel zeige, so heißt es, nichts Unerwartetes oder Elektrisierendes. Allgemein wird sie das Attribut des »süßen Hauskätzchens«, das man ihr einmal angehängt hat, nicht mehr los. Es beweist, dass sie den künstlerischen Absichten ihres Mannes mit ihrem allzu schlichten, eher kunstlosen Spiel nicht gerecht werden kann. Nach diesen sehr unterschiedlichen Besetzungen einer außergewöhnlichen, ja einzigartigen Rolle dauert es dann nur noch kurze Zeit, bis eine Lulu auf der Theaterbühne erscheint, die wie ein Feuersturm die Gemüter erhitzt, die den Vorgängerinnen kalt lächelnd die Schulter zeigt und diese mit einem Schlag blass aussehen lässt.
Zehn Jahre nach Tillys erstem Auftritt als Lulu kommt es im Jahr 1916 in Berlin zu einer Machtprobe zwischen zwei aufstrebenden Kandidatinnen, die sich in Sachen Ehrgeiz und Eitelkeit in nichts nachstehen. Sie belauern und umkreisen einander wie zwei unnachgiebige und routinierte Rivalinnen. Tilly wagt sich als Erste aus der Deckung und macht die Vorgabe. Im Juni spielt sie die Lulu in Max Reinhardts Kammerspielen. Im Publikum sitzt auch Ludwig Sternaux von der Täglichen Rundschau. Ihm fällt unter den Zuschauern eine besonders aufmerksame Besucherin ins Auge. Es ist Maria Orska, elegant gekleidet mit einem »Mäntelchen von starrer Seide« und dazu »mit glitzerndem Gestein« im Haar. Sternaux beobachtet sie verstohlen und entdeckt an ihrer Seite einen stadtbekannten Casanova: Hans von Bleichröder, Nachkomme einer alteingesessenen Berliner Finanzdynastie. Allerdings macht der Baron weniger durch gelungene Transaktionen von sich reden als durch seine Vorliebe für das schillernde Nachtleben, für ausschweifende Vergnügungen und attraktive Damen in seiner Gesellschaft.
Wie Berlins Zeitungen genüsslich verbreiten, tritt der adlige Lebemann und Partylöwe seit Kurzem in der Öffentlichkeit als ständiger Begleiter der Schauspielerin Maria Orska in Erscheinung. Damit nicht genug: Seine attraktive neue Freundin trägt besonders auffälligen Schmuck, deren Herkunft und Wert Anlass für mancherlei Spekulationen ist. Maria Orska, so erinnert sich Ludwig Sternaux, verliert an jenem denkwürdigen Abend in den Kammerspielen Tilly Wedekind, die Darstellerin der Lulu, keinen Moment aus den Augen. Mit gebeugtem Oberkörper sitzt sie angespannt in ihrem Theatersessel, als wollte sie jeden Augenblick nach vorn schnellen, verfolgt jede Bewegung, jede kleine Geste der Rivalin. Sternaux vernimmt in seiner unmittelbaren Nähe raunende Stimmen. »Das müsste mal die Orska spielen«, flüstert sein Sitznachbar ihm zu.14 Der Blick des Journalisten geht im Halbdunkel des Theatersaals zu Maria Orska. Hat sie das auch gehört? Zieht sie Vergleiche? Ist sie in Gedanken schon bei ihrer eigenen Lulu?
Im Theater in der Königgrätzer Straße, das seit zwei Jahren in Anzeigen, auf Theaterzetteln und Plakaten mit seiner interessanten neuen Schauspielerin Maria Orska im Ensemble wirbt und dabei einen sensationellen Zulauf erfährt, haben zur gleichen Zeit die Proben für die neue Saison begonnen. Im Programm der Winterspielzeit steht Wedekinds Lulu. Und diese Lulu wird keine andere spielen als Orska, die Schauspielerin mit der angespannten Haltung und dem glitzernden Gestein in den schwarzen Locken.
Berlin ist nicht nur die Hauptstadt des Deutschen Reiches, Berlin ist auch das Zentrum des deutschen Theaters. Mit einer beinahe unüberschaubaren Fülle an Bühnen, die mit ihren unterschiedlichen Ausrichtungen und Programmen für jeden Geschmack etwas bieten, hat sich die Stadt seit der Jahrhundertwende zum erklärten Mittelpunkt der Kunst und Kultur entwickelt. Eine der modernen, neuen Bühnen ist das ehemalige Hebbel-Theater in der Nähe des Potsdamer Platzes. Im Jahr 1911 haben es die aus Österreich stammenden Schauspieler Rudolf Bernauer und Carl Meinhard übernommen. Als Volontäre hatten beide ihr künstlerisches und technisches Handwerk bei Max Reinhardt am Deutschen Theater gelernt und mit dem Kabarett Die bösen Buben zunächst ein flottes kleines Programm auf die Beine gestellt. Inzwischen leiten sie ihr eigenes Theater, das sie gleich nach der Übernahme zielbewusst auf den Namen Theater in der Königgrätzer Straße umgetauft haben. In Berlin war das Hebbel-Theater eine eher unbedeutende Spielstätte gewesen. Mit dem neuen Namen wollen die beiden Direktoren sichergehen, dass künftig kein Droschkenkutscher mehr den Weg zu ihnen verfehlen wird. Ihre Geschäftstüchtigkeit geht so weit, dass sie inzwischen sogar ihren ehemaligen Lehrmeister überflügelt haben. Mit dem Theater in der Königgrätzer Straße als ihrem Stammhaus, dazu mit dem Berliner Theater und dem 1913 eröffneten Komödienhaus am Schiffbauerdamm verfügen sie über ein solides Fundament und ein regelrechtes kleines Imperium. Drei Theater im eigenen Besitz zu halten, das ist ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt. Fast ein kleines Wunder haben die beiden Direktoren hier vollbracht. So etwas hatte selbst der Hexenmeister Reinhardt bisher nicht geschafft.
Mit seiner modernen Ausrichtung, bei der die Werke von Arthur Schnitzler, August Strindberg und Frank Wedekind das Programm dominieren, macht sich das Theater in der Königgrätzer Straße rasch einen Namen und erarbeitet sich einen Ruf, der beinahe jeden Abend für ausverkaufte Vorstellungen sorgt. Dazu haben Meinhard und Bernauer das unverhoffte Glück, dass ihnen im passenden Augenblick eine junge und begabte Schauspielerin in die Arme gelaufen ist, die mit ihrer auffallend manierierten Darstellungsweise und spritzigen Ausstrahlung wie geschaffen ist für ihr Theater und ihnen von Beginn an Zuspruch und wachsende Einnahmen beschert.
Entsprechend groß ist der Andrang der Besucher auch an diesem 4. November. Ludwig Sternaux beschreibt die prickelnde Atmosphäre des Premierenabends: »Die Iltiskragen kuscheln sich aneinander, die goldenen Taschen blinken, die Brillanten flirren, die Seidenkleider rascheln: ›Gott, wird sie entzückend sein, Gott, wird sie himmlisch sein, denk nur: Lulu‹! Berlin W. fährt, sich Wedekinds schönstes Tier anzusehen.«15 Der Theatersaal ist fast vollständig besetzt, als noch zwei verspätete Besucher eilig, etwas atemlos und erhitzt zu ihren Plätzen im Parkett streben. Köpfe, die eben noch über ein Heftchen oder einen Theaterzettel gebeugt waren, schnellen in die Höhe, und ein Wispern, Raunen und Erkennen gehen durch die Reihen. Tatsächlich, bemerken einige Zuschauer überrascht, das sind sie: Frank Wedekind, der berühmte Autor des ebenso populären wie umstrittenen Stücks, und seine Frau Tilly, die Schauspielerin, die, wie gelegentlich kolportiert wird, ihren Mann mit Wünschen und Launen beständig unter Druck setzt. Hier in Berlin haben sie vor zehn Jahren auf dem Standesamt Moabit geheiratet. Wedekind ist zweiundfünfzig Jahre alt, seine Frau Tilly gut zwanzig Jahre jünger. Wo immer die beiden in Erscheinung treten, ist die Aufmerksamkeit dem ungleichen Paar gewiss. Zur Premiere der Lulu im Theater in der Königgrätzer Straße sind Wedekinds an diesem Tag extra aus dem heimatlichen München angereist. Im Vergleich zur Aufführung der Kammerspiele im Juni sind die Rollen an diesem Novemberabend vertauscht. Diesmal ist es Tilly, die sich mit der Partie der Zuschauerin begnügen muss. Sie erlebt Maria Orska als skandalöse Lulu. Die Figur, die Tilly als Ehefrau des Erfinders gern exklusiv für sich beanspruchen möchte, hält nun die Rivalin besetzt. Wer von den Zuschauern die Vorgeschichte weiß, kann die Brisanz dieses Aufeinandertreffens erahnen.
Gut ein Jahr zuvor hat Alfred Kerr, der unangefochtene Doyen der Theaterkritik, den Berlinern anlässlich einer Aufführung von Strindbergs Vater künftige Sensationen prophezeit, als er schrieb: »Die Taten des Hauses in der Königgrätzer Straße beginnen buchenswert zu werden. Die zwei Abende waren von sehr, sehr hohem Rang. Nach dem Unvergeßbaren, was an Strindberg die Bertens [Rosa Bertens] getan hat, stabilisiert hat: nachdem kommt nun der Nachwuchs. Die Triesch [Irene Triesch] gehört hierzu. Dann Fräulein Orska. Nein: die Orska. […] Diese Schauspielerin, die mitunter noch eine Macherin ist, hat etwas Königliches.«16
Auf den schwierigen, unerbittlich eifernden August Strindberg, einen wahren Theaterberserker, folgt nun Frank Wedekind als ein nicht minder radikaler Zertrümmerer von Konventionen. Maria Orska eröffnet ihr Spiel mit dem für sie typischen, aggressiv geschraubten Tempo. Sie zeigt sich in einer Form, in der sie ihr ganzes Können und ihre sprühende Virtuosität ausleben kann. Punktgenau, bis ins kleinste Detail, entspricht sie der Figur, die Karl Kraus im Mai 1905 in der Vorrede zu einer privaten Vorstellung der Büchse der Pandora wie folgt beschrieben hat: »Eine Frau, die die Männer zu ›haben‹ glauben, während sie von ihr gehabt werden, eine Frau, die Jedem eine andere ist, Jedem ein anderes Gesicht zuwendet.«17 Für die Einfühlung in diese Rolle braucht die Schauspielerin ein Höchstmaß an Wandlungsfähigkeit. Maria Orska erfüllt die Vorgabe mit ihrer lasziven Darstellung und verausgabt sich mit ihrem verführerisch leichten, spritzigen und eindringlichen Spiel, das immer wieder neue Facetten hervorbringt. Mit Wendigkeit und List umgarnt Lulu die Männer. Raffiniert wirft sie ihre Netze aus und schaut am Ende kalt lächelnd zu, wie sich die Opfer darin verstricken und hilflos zappeln. Ihr kongenialer Bühnenpartner ist der fast vierzigjährige Ludwig Hartau, der nach beruflichen Umwegen vor nicht langer Zeit zum Theater gekommen ist und nun an der Seite der Orska mit der Rolle des Doktor Schön seinen späten Durchbruch erlebt.
Jubelschreie, Bravorufe und nicht enden wollende, minutenlange Beifallsstürme, als der Vorhang schließt. Die Zuschauer hält es nicht länger auf den Sitzen. Sie springen auf, und die ungeheure Spannung explodiert in einer tosenden Begeisterung. Maria Orska und Ludwig Hartau werden wieder und wieder gerufen. Sie tritt mit ihm nach vorn an den Bühnenrand und verbeugt sich viele Male. Sie ist erschöpft und tief bewegt, mancher sieht Tränen der Rührung in ihren Augen. Der Abend gehört ihr, er ist ihr persönlicher Erfolg. In diesem Moment weiß sie, dass sie es geschafft hat. Niemand wird ihr diesen Sieg streitig machen. Wirklich niemand?
Das führt zu der Frage, wie Frank Wedekind den rauschenden Abend im Theater in der Königgrätzer Straße erlebt. Natürlich muss ihm die Inszenierung der Lulu, »seiner« Lulu, deren gemeines Wesen die Orska instinktiv erfasst und auf den Punkt genau umgesetzt hat, eine Bestätigung und tiefe Genugtuung sein. Gleichzeitig mag er enttäuscht sein und sich gekränkt fühlen, dass er als Autor des Stücks zum Schlussapplaus nicht auf die Bühne geholt wird und dass es um ihn selbst erstaunlich ruhig bleibt. Was seine Frau Tilly denkt und wie es in ihr aussieht, können die Besucher ahnen, die beim Verlassen des Theaters einen flüchtigen Blick in ihr nahezu versteinertes Gesicht werfen. Tilly ist niedergeschlagen, mehr noch: geschlagen. Auf dem Heimweg in ihr Hotel am Potsdamer Platz bleibt die Stimmung des Ehepaares frostig. Wedekind hat guten Grund, vorsichtig zu sein, denn die Gefühlsausbrüche seiner Frau sind gefürchtet und fast schon legendär. In Berlin erinnern sich Kollegen an den gefährlichen »Ausraster« von Fräulein Tilly Newes, die im Winter 1906 nach einem Streit mit Wedekind in die eiskalte Spree sprang und vor dem Ertrinken gerettet wurde. (Zwei Tage später gab das Paar zur Überraschung der Öffentlichkeit seine Verlobung bekannt.)
An diesem Abend versucht Wedekind auf dem Rückweg vom Theater, die angespannte Atmosphäre zu mildern und seine Frau von ihrer Enttäuschung abzulenken, indem er das Gespräch vorsichtig auf neue Möglichkeiten und Projekte lenkt. So schlägt er Tilly vor, dass er für sie noch einmal die Rolle der Leona in seinem neuen Stück Oaha, einer Eulenspiegel-Parodie, umschreiben könnte. Aber Tilly ist frustriert und jetzt für neue Ideen nicht empfänglich. So kontert sie nur gereizt, dass er schon Monate auf die Umarbeitung dieser Komödie verwandt habe und alle Änderungen reine Kosmetik geblieben seien. Tatsächlich entsteht aus der weiteren Bearbeitung später nur ein schwacher Aufguss, der in München nach vier Abenden wieder abgesetzt wird.
Am Morgen nach der Lulu-Premiere erwacht Berlin im Orska-Fieber. Die kunstsinnige und gebildete Öffentlichkeit kann beim Lesen der Tagespresse die helle Freude über etwas vollkommen Neues miterleben. Keine namhafte Zeitung, die nicht eine Besprechung der überragenden Aufführung bringt, das Feuilleton kennt an diesem Tag nur einen Namen: Maria Orska. Ihre umwerfende Lulu ist mit einem Schlag in aller Munde. Der Durchbruch ist ihr gelungen und die Begeisterung des Publikums grenzenlos. Die Kritiker übertreffen sich gegenseitig mit ihren Lobeshymnen. Allen voran ist es Alfred Kerr, der bewunderte und gefürchtete Stilist, der sich von Maria Orskas Darstellung zutiefst beeindruckt und geradezu überwältigt zeigt. Sein Beitrag im Tag ist keine der üblichen Besprechungen, sondern gerät zur Huldigung einer Königin. Aber auch die anderen bekannten Kritiker bleiben mit ihrer Bewunderung nicht hinter ihm zurück.
Mehr kann eine Schauspielerin nicht verlangen. Das uneingeschränkte, überragende Lob der Kritik manifestiert den Klassenunterschied der beiden schärfsten Konkurrentinnen um eine der begehrtesten Rollen, die das moderne Theater in dieser Zeit einer Darstellerin zu bieten hat. Das Kriterium, das für die Orska spricht, ist ihre ungezügelte und aggressive Energie, mit der sie der Lulu die entscheidende Stoßkraft gibt. Gegen die wilde Gier der »triebhaften Bestie« kann sich das »süße Hauskätzchen« Tilly nicht behaupten. Fritz Engel attestiert der Orska eine »Schlangenpracht«, Alfred Klaar spricht von ihrem »Raubtierinstinkt«. Mit unerhörten Zuschreibungen, wie sie noch keine Schauspielerin erfahren hat, geht sie als unangefochtene Siegerin aus dem Wettstreit hervor.
Tilly Wedekind hallt der tosende Beifall für die Orska noch in den Ohren, als sie in ihrem Hotelzimmer wortlos den Koffer packt. Wedekinds reisen noch am selben Tag nach München zurück. Hans von Bleichröder fährt das Paar in seiner Limousine zum Anhalter Bahnhof, Maria Orska begleitet sie. Noch ein paar Minuten bleiben bis zur Abfahrt. Sie stehen auf dem Perron und warten auf die Einfahrt des Zuges. Da nutzt Wedekind den Moment des Abschieds, um Maria noch einmal seine Anerkennung und seinen Dank auszusprechen. »Ihr überragendes Spiel, … es war mir eine Freude, … mich so vollkommen verstanden …, von Ihnen verwirklicht zu sehen.« Tilly hält sich ein paar Schritte abseits und studiert irgendwie bemüht interessiert die in einem Schaukasten ausgehängten Tagesmeldungen. »Herr Wedekind, wir beide, Sie und ich, sollten doch einmal zusammen spielen«, hört sie jetzt die Orska antworten. »Ich werde darüber mit Ludwig Hartau sprechen. Mein Partner hätte sicher nichts dagegen, Ihnen für eine geraume Zeit den Platz zu überlassen.« Wedekind verschlägt es für einen Moment die Sprache. Das ist ja allerliebst und rührend, denkt er bei sich. Hat der Triumph des vorherigen Abends ihr zugesetzt? Ihr den Kopf verdreht? Aber die Orska fährt wie selbstverständlich und ganz ungeniert in ihren Überlegungen fort. »Kommen Sie im Frühjahr zurück nach Berlin«, schlägt sie ihm vor, »wir werden ein ideales Paar in Bernauers Theater sein.« Wedekind räuspert sich. »Darüber hat dann wohl Ihr Herr Direktor das letzte Wort zu sprechen«, wendet er ein. »Ach wo«, Maria Orska winkt ab, »Bernauer tut, was ich ihm sage«, erklärt sie vorwitzig. Sie wirft einen Blick auf Tilly, die jetzt zum Einstieg drängt. Zeit, Lebewohl zu sagen. Wedekind hält Orskas Hand und deutet eine Verbeugung an. »Sie haben einen Akzent und sollten noch an Ihrer Aussprache arbeiten«, empfiehlt er ihr beim Abschied. »Tatsächlich!?« Die Orska macht einen Schritt zurück und lacht herzhaft. »Mein Akzent gehört zu mir«, weist sie seine Bemerkung forsch zurück, »er kommt wie ich aus Odessa.« Die Türen des Waggons schlagen zu. Wedekind steht am Fenster seines Abteils, und der Zug nach München setzt sich stampfend und zischend in Bewegung.
Die Aufführung am 4. November 1916 im Theater in der Königgrätzer Straße wird Maria Orskas Durchbruch in Berlin. In acht Spielzeiten wird ihre Lulu mit dreihundertdreiundsiebzig Aufführungen ein größerer Serienerfolg als Frühlings Erwachen an Reinhardts Deutschem Theater.18 Die Tourneen eingeschlossen, wird sie die Rolle mehr als fünfhundert Mal spielen, so oft wie keine andere Schauspielerin.
Odessa. 1900 bis 1909. Leuchtende Metropole an der Schwarzmeerküste.
»Bernauer tut, was ich ihm sage«, und: »Mein Akzent kommt wie ich aus Odessa.« Die Worte und der forsche, freimütige Ton, in dem sie gesprochen worden sind, klingen Wedekind noch in den Ohren, als der Zug schon Berlins südwestliche Grenze erreicht hat, wo die grauen Mietskasernen allmählich zurückbleiben und seinem Blick entschwinden. Auf dem weiteren Weg rattert und schnauft die Lokomotive vorbei an brandenburgischen Dörfern, Weilern und Birkenwäldern. Wedekind muss sich unwillkürlich das Lachen verbeißen, wenn er jetzt an Maria Orska zurückdenkt. Wer ist sie denn, diese aufmüpfige junge Dame, die seine Kritik an ihrem Ausdruck ignoriert und ihm schlagfertig und charmant Paroli bietet? Er weiß die Antwort: Eine besonders begabte Schauspielerin ist sie, vielleicht die beste Lulu, die es für sein Stück überhaupt geben kann. Natürlich hat er beim Frühstück in seinem Hotel sofort nach den frischen Morgenzeitungen mit den Kritiken gegriffen, die die Herren des Feuilletons gleich am Abend nach der Vorstellung mit flinker Hand in ihre Notizhefte geschrieben und in der Nacht in die Redaktionen gebracht haben. Besonders eine von Alfred Kerr übertrifft alle anderen. Deren stärkste Worte wiederholt Wedekind in Gedanken wie eine Beschwörungsformel: »Ein Genie der Technik … Gipfel bewusster Kunst … Mirakel der letzten Stufung …« Aber dann stößt er sich doch wieder an diesem kleinen Akzent, der nicht zu überhören ist.
Die Aussprache mit dem etwas harten, rollenden »R« verrät ihre Herkunft, die sie nicht leugnet und auf die sie ganz selbstverständlich verweist. Was mancher ihr als Makel ankreiden möchte, formt sie zu ihrem Markenzeichen um. So nennt sie sich selbstbewusst »eine Schauspielerin aus Odessa«. Dabei ist die stolze und reiche Metropole an der russischen Schwarzmeerküste nicht einmal ihr verbürgter Geburtsort. Aber da sie eine erfindungsreiche Verwandlungskünstlerin ist, spielt es für sie keine Rolle, und es scheint vielmehr legitim, dass sie selbst an den Anfang ihrer Geschichte jene Stadt setzt, die sie am meisten liebt, die sie geprägt hat und der sie die entscheidenden Impulse für ihr weiteres Leben verdankt.
Die Namen von eigentlich zwei Städten markieren den Beginn dieser Geschichte, zwei Städte, die auf einer alten Karte des Russischen Reiches nur einen Daumenbreit auseinanderliegen: Odessa und Nikolajew. In der südrussischen Bezirksstadt Nikolajew wird Rahel Blindermann am 16. März 1893 geboren. Nikolajew befindet sich im Küstengebiet des Schwarzmeers. Hier mündet der Fluss Inhul in den Südlichen Bug und verbreitert den Strom, der in einem weiten Bogen die Stadt umschließt. Odessa liegt einhundert Kilometer westlich, die Hafenstadt Cherson etwa sechzig Kilometer südöstlich. Nikolajew, das in seinem Namen die Erinnerung an Zar Nikolaus I. verewigt, einen der reaktionärsten Despoten des Russischen Reiches, hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwa einhunderttausend Einwohner, eine für die damaligen Verhältnisse im Zarenreich durchaus beachtliche Zahl. Die Stadt verkörpert als Verwaltungszentrum am Rand der Steppe ein Stück des alten Russland mit seiner subalternen Beamtenschaft und seiner rückständigen Bürokratie. Allerdings ist auch hier der Fortschritt nicht aufzuhalten. Die strategisch günstige Lage an einer wichtigen Wasserstraße lässt Werften entstehen und den Handel aufblühen, sie treibt die wirtschaftliche Entwicklung voran und fördert den allgemeinen Wohlstand der Bewohner. Ein Zeichen für den Beginn des industriellen Zeitalters ist auch eine Straßenbahn, die im Jahr 1897 spektakulär ihre erste Fahrt antritt und den öffentlichen Verkehr in der Stadt für immer verändert.