Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert

Tim Marshall

Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert

10 Karten erklären die Politik von heute
und die Krisen der Zukunft

Aus dem Englischen
von Lutz-W. Wolff

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Tim Marshall

Tim Marshall, geboren 1959, ist ein weltweit führender Experte für Außenpolitik mit Sitz in London. Er arbeitete als Politikredakteur für die BBC und Sky News, berichtete aus 40 Ländern und wurde vielfach ausgezeichnet. Auf seiner Website TheWhatandtheWhy.com schreibt er zu aktuellen Themen. Bei dtv sind u. a. erschienen: Die Macht der Geographie (2015), Im Namen der Flagge (2017) und Abschottung (2018). Seine Bücher sind internationale Bestseller.

 

LUTZ-W. WOLFF übersetzte u. a. Werke von George Orwell, Robert Littell und Jack London.

 

 

Von Tim Marshall ist bei dtv außerdem lieferbar:

Im Namen der Flagge

Abschottung

Die Macht der Geographie

Über das Buch

Die großen internationalen Konflikte des 21. Jahrhunderts sind heute bereits angelegt. Mit bestechender Klarsicht identifiziert Tim Marshall, welche zehn Regionen die größten Krisenherde der nächsten Zukunft darstellen. Er erklärt, welche geographischen Faktoren diese Krisen bedingen und verschärfen, wer die Konflikte anheizt und welche Lösungsszenarien trotz aller Dramatik denkbar sind. So ist Australien, das bislang in den USA einen engen Verbündeten hatte, im Pazifik zunehmend mit der aggressiv-expansiven Supermacht China konfrontiert und Griechenland wird sich mit der Türkei, die ihr »blaues Vaterland« einfordert, um große und rohstoffreiche Gebiete im Mittelmeer streiten. Aus der krisengeplagten Sahelzone wird ein neuer Flüchtlingsstrom nach Europa drängen und der Wettlauf um die besten Positionen im Weltraum die Großmächte in den nächsten Jahrzehnten in Atem halten.

 

Tim Marshall eröffnet spannende Einblicke in die gereizte Gemengelage einer multipolaren Welt und schärft mit seinen Analysen den Blick für die großen geopolitischen Hotspots der kommenden Jahre.

Impressum

 

Deutsche Erstausgabe 2021

Copyright © Tim Marshall 2021

Titel der englischen Originalausgabe: The Power of Geography,

Ten Maps That Reveal the Future of Our World

First published by Elliott and Thompson Limited

www.eandtbooks.com

Karten: JP Map Graphics Ltd

© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe:

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

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eBook-Herstellung: Fotosatz Amann, Memmingen (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43951-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28301-4

ISBN (epub) 9783423439510

Für die Jugend der Generation Covid,

die ihren Beitrag geleistet hat.

Jetzt kommt eure Zeit!

VORWORT

Der Falke hört den Falkner nicht;

Die Dinge zerfallen; die Mitte hält nicht mehr stand.

The Second Coming, W.B. Yeats

 

 

Im Nahen OstenNaher Osten stehen sich die gewaltige Festung des IranIran und seine Nemesis Saudi-ArabienSaudi-Arabien am Persischen GolfPersischer Golf gegenüber. Im Indo-PazifikIndo-Pazifik sieht sich AustralienAustralien gefangen zwischen den beiden stärksten Nationen unserer Zeit: den Vereinigten Staaten und ChinaChina. Im MittelmeerMittelmeer befinden GriechenlandGriechenland und die TürkeiTürkei sich in einem Konflikt, der bis in die Antike zurückreicht und jederzeit gewaltsam ausbrechen kann.

Willkommen in den Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts! Die Ära des Kalten Kriegs, in der die USAUSA und die SowjetunionSowjetunion die Welt beherrschten, gerät zunehmend zu einer entfernten Erinnerung. Wir betreten ein neues Zeitalter der Rivalität zwischen diversen Großmächten, in dem verschiedene Akteure, darunter auch kleinere Mitspieler, heftig ins Rampenlicht drängen. Und das geopolitische Drama wächst bereits über die Erde hinaus, weil die unterschiedlichsten Länder Ansprüche jenseits unserer Atmosphäre anmelden, bis hin zum MondMond und darüber hinaus.

Wenn eine Ordnung ins Wanken gerät, die für mehrere Generationen fest etabliert schien, wird man leicht nervös. Aber so etwas hat es schon früher gegeben, so wie es jetzt geschieht und auch in Zukunft geschehen wird. Seit einiger Zeit bewegen wir uns wieder in Richtung einer »multipolaren« Welt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war eine bipolare Ära entstanden, mit einem von AmerikaAmerika geführten kapitalistischen System auf der einen und dem kommunistischen System auf der anderen Seite, das vom alten russischen Reich und ChinaChina geführt wurde. Diese Ära dauerte je nachdem, wo man die zeitlichen Einschnitte setzt, etwa fünfzig bis achtzig Jahre. In den Neunzigerjahren gab es nach Ansicht einiger Beobachter eine kurze »unipolare« Dekade, in der die Macht der USAUSA praktisch unangefochten war. Aber jetzt ist es offensichtlich, dass wir uns wieder auf eine Situation zubewegen, die für den größten Teil der Menschheitsgeschichte die Norm war: den Wettstreit verschiedener Machtansprüche.

Wann genau der erneute Wandel begonnen hat, ist schwer zu bestimmen; es kann kein einzelnes Ereignis ausgemacht werden, das die Veränderung ausgelöst hat. Aber manchmal gibt es Augenblicke, in denen man spürt, dass da etwas passiert, und die Nebelschleier der Machtpolitik plötzlich aufreißen. Ein solches Erlebnis hatte ich an einem nassen Sommerabend des Jahres 1999 in Pristina, der maroden Hauptstadt des KosovoKosovo. Das Auseinanderbrechen der Bundesrepublik JugoslawienJugoslawien im Jahre 1991 hatte zu jahrelangen kriegerischen Handlungen und Blutvergießen geführt. Jetzt hatten die Bombenangriffe der NATO die Serben gezwungen, das Kosovo aufzugeben, und die KFOR-Truppen standen bereit, die Region von AlbanienAlbanien aus zu besetzen. Aber schon während des ganzen Tages hatte es Gerüchte gegeben, dass eine russische Militärkolonne der in BosnienBosnien stationierten SFOR im Anmarsch sei, um die serbischen Interessen zu wahren.

Zu diesem Zeitpunkt war RusslandRussland verarmt, verunsichert und nur noch ein Schatten seiner selbst. Es hatte ein Jahrzehnt lang zusehen müssen, wie die NATO auf seine Westgrenze vorrückte, weil eine osteuropäische Nation nach der anderen Regierungen wählte, die der Europäischen UnionEuropäische Union und/oder der NATO beitreten wollten. Auch in LateinamerikaLateinamerika und im Nahen OstenNaher Osten war der russische Einfluss geschwunden. Aber nun, im Jahr 1999, hatte MoskauMoskau wohl eine Entscheidung gegenüber den westlichen Mächten getroffen – bis hierhin und nicht weiter. Und das – KosovoKosovo war die rote Linie. Präsident JelzinJelzin, Boris befahl der russischen Armee einzugreifen, und manche Leute glauben, dass der aufstrebende nationalistische Politiker Wladimir PutinPutin, Wladimir dabei eine Hand im Spiel hatte.

Ich war in Pristina, als die gepanzerte russische Kolonne in den frühen Morgenstunden über die Hauptstraße zum Flugplatz hinausrumpelte, wo sie drei Stunden vor den KFOR-Truppen der NATO eintraf. Ich habe später gehört, dass US-Präsident ClintonClinton, Bill erst durch meinen Bericht »The Russians rolled into town, and back onto the world stage« von dem Ereignis erfahren hat. Es war nicht gerade Pulitzer-Preis-Material, aber als erste Skizze von Zeitgeschichte erfüllte es seinen Zweck. Die Russen hatten klargemacht, dass sie beim großen geopolitischen Ereignis des Jahres mitspielen und einen Gezeitenwechsel in der historischen Entwicklung herbeiführen wollten, die sich so lange gegen sie gerichtet hatte. Ende der Neunzigerjahre schienen die Amerikaner keine Gegenspieler mehr in der Welt zu haben, der Westen triumphierte auf ganzer Linie. Aber nun hatte der Gegenstoß begonnen. RusslandRussland war nicht mehr die ängstliche Macht, die es gewesen war, eine von vielen, sondern es würde kämpfen, um sich zu behaupten. In GeorgienGeorgien, in der UkraineUkraine, in SyrienSyrien und anderswo sollte sich das bestätigen.

Vier Jahre später war ich in der irakischen Stadt KerbelaKerbela, dem heiligsten Ort der Schiiten. Saddam Hussein war von der amerikanisch-britisch geführten Koalition gestürzt worden, aber der eigentliche Machtwechsel stand noch bevor. Unter dem Sunniten Saddam waren viele religiöse Rituale der Schiiten verboten worden, dazu gehörte auch die öffentliche Selbstgeißelung. Jetzt sah ich zu, wie mehr als eine Million Schiiten aus dem ganzen Land an einem glühend heißen Tag in Kerbela zusammenströmten. Viele von ihnen peitschten sich den Rücken oder zerschnitten sich mit Messern die Stirn, bis der Staub auf den Straßen blutrot war. Für mich war klar, dass der IranIran, der schiitische Gottesstaat jenseits der östlichen Grenze, jetzt alles tun würde, um eine von Schiiten beherrschte Regierung im IrakIrak zu errichten, damit eine Brücke zu den schiitischen Kräften in SyrienSyrien und im LibanonLibanon zu schlagen und seine Macht bis zum MittelmeerMittelmeer auszudehnen. Das war geopolitisch fast unvermeidlich. Ich dachte: »Das sieht religiös aus, aber es ist auch politisch, dieser Fanatismus wird Wellen bis an die Küste des Mittelmeers schlagen.« Das politische Gleichgewicht hatte sich verändert, und Teherans zunehmende Macht in der Region stellte die Vorherrschaft der Amerikaner im Nahen OstenNaher OstenNahen Osten infrage. Kerbela war nur die Kulisse für diese Entwicklung – und leider war sie blutrot gefärbt.

Das waren nur zwei der Schlüsselmomente, die dazu beitrugen, die komplizierte Welt entstehen zu lassen, in der wir uns heute bewegen und in der unzählige Kräfte in einem großen Spiel zusammenstoßen, sich schieben und ziehen. Aber sie gaben mir einen kurzen Einblick in die Richtung, in die wir uns bewegen. Das Bild wurde nach 2010 noch klarer, als die Ereignisse in ÄgyptenÄgypten, LibyenLibyen und SyrienSyrien ins Rollen kamen. Der ägyptische Präsident MubarakMubarak, Husni wurde durch einen Putsch der Militärs gestürzt, die ein gewalttätiges Straßentheater benutzten, um ihre Pläne verborgen zu halten. In Libyen wurde Oberst GaddafiGaddafi, Muammar al- gestürzt und ermordet, und in Syrien konnte sich Präsident AssadAssad, Baschar al- nur noch mit letzter Kraft an der Macht halten, ehe die Russen und die Iraner ihn retteten. In allen drei Fällen ließen die Amerikaner durchblicken, dass sie keinen Finger krumm machen würden, um die jeweiligen Herrscher zu schützen, mit denen sie jahrzehntelang gute Geschäfte gemacht hatten. In den acht Jahren der Präsidentschaft von Barack ObamaObama, Barack zogen sich die Vereinigten Staaten langsam von der internationalen Bühne zurück, und in den vier Jahren unter Präsident TrumpTrump, Donald beschleunigte sich diese Entwicklung noch. Unterdessen sind andere Länder mit raschem Wirtschaftswachstum wie IndienIndien, ChinaChina oder BrasilienBrasilien zu neuen Weltmächten aufgestiegen und haben ihren Einfluss auf die Weltpolitik zu vergrößern versucht.

Auch wenn es vielen Leuten nicht gefiel, dass die USAUSA in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Rolle eines »Weltpolizisten« übernommen hatten, kann man darin ebenso viel Positives sehen wie Negatives. Man kommt letztlich nicht umhin, festzustellen, dass in Abwesenheit eines solchen Weltpolizisten viele verschiedene Länder und Interessengruppen versuchen, ihre jeweilige Nachbarschaft unter Kontrolle zu bringen. Und je mehr verschiedene Parteien dabei am Werk sind, desto größer wird die Gefahr, dass die Stabilität darunter leidet.

Weltreiche wachsen und brechen zusammen. Bündnisse werden geschmiedet und lösen sich auf. Die europäische Ordnung nach den napoleonischen Kriegen hielt ungefähr sechzig Jahre; das »Tausendjährige Reich« nur etwas länger als ein Jahrzehnt. Niemand weiß, wie schnell sich das Gleichgewicht der Kräfte in den nächsten Jahren verändert. Ohne Zweifel wird es weiter ökonomische und geopolitische Riesen geben, die großen Einfluss auf die Weltpolitik haben: die USAUSA und ChinaChina, RusslandRussland, die Europäische UnionEuropäische Union mit ihren vielen Nationen, das wirtschaftlich aufsteigende IndienIndien. Aber auch die kleineren Nationen zählen. Zur Geopolitik gehören auch Bündnisse, und gerade weil die Weltordnung gegenwärtig im Fluss ist, brauchen die Großmächte ebenso kleinere Staaten an ihrer Seite wie umgekehrt. Länder wie die TürkeiTürkei, Saudi-ArabienSaudi-Arabien oder das Vereinigte Königreich können sich durch solche Bündnisse für künftige Machtpositionen in Stellung bringen. Gegenwärtig wird das Kaleidoskop noch geschüttelt, und die vielen bunten Glassteinchen sind noch nicht zur Ruhe gekommen.

2015 habe ich ein Buch mit dem Titel Die Macht der Geographie geschrieben, mit dem ich zeigen wollte, wie die Weltpolitik und die Handlungsoptionen der Nationen und ihrer Führer von geographischen Gegebenheiten bestimmt werden. Dabei habe ich untersucht, worin die geopolitischen Besonderheiten Russlands, Chinas, Europas, der USAUSA, des Nahen OstenNaher Ostens, AfrikasAfrika, Indiens, Pakistans, Japans, KoreasKorea, Lateinamerikas und der ArktisArktis bestehen. Ich wollte mich auf die größten Spieler, die großen geopolitischen Blöcke und Regionen beschränken, um einen globalen Überblick geben zu können. Aber die Geschichte geht weiter. Die USA sind zwar nach wie vor das einzige Land, das sowohl im AtlantikAtlantik als auch im PazifikPazifik militärische Stärke entfalten kann, der HimalajaHimalaja trennt nach wie vor IndienIndien von ChinaChina, und Russlands Schwachpunkt bleibt auch weiterhin die nordeuropäische Tiefebene. Und dennoch werden täglich neue geopolitische Risiken sichtbar. Neue Akteure verdienen unsere Aufmerksamkeit, weil es gut möglich ist, dass sie unsere Zukunft bestimmen könnten.

Ebenso wie das erste Buch fasst auch das vorliegende Gebirge und Flüsse, Meere, Straßen, Brücken, Flugplätze, Pipelines und Eisenbahnen ins Auge, um die politische Realität zu beschreiben. Die Geographie ist ein entscheidender Faktor, weil sie bestimmt, was der Mensch erreichen kann und was nicht. Ja, Politiker sind wichtig, aber die Geographie ist noch wichtiger. Die Entscheidungen, die Menschen treffen, lassen sich weder jetzt noch in der Zukunft völlig vom geophysikalischen Umfeld abtrennen. Der Ausgangspunkt eines Landes ist stets seine Lage im Verhältnis zu seinen Nachbarn, zu den Seewegen, Bodenschätzen und anderen Ressourcen. Sie leben auf einer windgepeitschten Insel am Rand des AtlantiksAtlantik? Dann werden Sie lernen müssen, mit Wellen und Wind umzugehen. Sie leben in einem Land, wo das ganze Jahr die Sonne scheint? Dann sind Fotovoltaik und Sonnenkraftwerke der Weg in die Zukunft. Sie leben in einer Gegend, wo man Kobalt im Boden findet? Das kann ein Segen sein – oder ein Fluch.

Nach wie vor betrachten manche Leute das geopolitische Denken mit Misstrauen, weil es ihnen zu deterministisch erscheint. Andere behaupten, unser Planet sei wieder zur Scheibe geworden, zu einer flat world, weil die Kommunikation und die finanziellen Transaktionen im virtuellen Raum die Entfernungen aufheben und Berge und Meere bedeutungslos werden. Diese »flache« Welt existiert aber nur für jenen Bruchteil der Weltbevölkerung, der sich zu Videokonferenzen zusammenfindet oder in den Flieger steigt, um auf einem anderen Kontinent einen Vortrag zu halten. Die große Masse der acht Milliarden Menschen auf dem Planeten macht völlig andere Erfahrungen. Die ägyptischen Bauern brauchen immer noch das Wasser aus den äthiopischen Bergen, und die Berge und Schluchten im Norden Athens behindern immer noch dessen Handel mit dem Rest der EUEuropäische Union. Die Geographie muss kein Schicksal sein – die Menschen haben da durchaus Spielraum –, aber sie spielt eine wichtige Rolle.

Es gibt viele Faktoren, die unseren Übergang in eine ungesicherte und tief gespaltene Dekade bestimmen und mitbestimmen: Globalisierung und Antiglobalisierung, Covid-19, neue Technologien, Klimawandel und anderes zeigen Wirkung, sie alle kommen in diesem Buch vor. Es untersucht einige der Ereignisse und Konflikte des 21. Jahrhunderts, die weitreichende Folgen in einer multipolaren Welt haben können.

Der IranIran zum Beispiel gestaltet die Zukunft des Nahen OstenNaher Ostens. Ein Schurkenstaat mit einer nuklearen Agenda, der seinen Einfluss darauf gründet, dass er einen »schiitischen Korridor« zum MittelmeerMittelmeer über BagdadBagdad, DamaskusDamaskus und BeirutBeirut offenhält. Sein regionaler Rivale Saudi-ArabienSaudi-Arabien ist auf Öl und Sand gebaut und hat sich immer auf die Vereinigten Staaten, gestützt. Aber die Ölnachfrage lässt nach, weil die USAUSA ihre Energie wieder selbst erzeugen, und ihr Interesse am Nahen Osten wird langsam nachlassen.

An anderer Stelle löst das Wasser Konflikte aus. Als »Wasserturm AfrikasAfrika« hat ÄthiopienÄthiopien einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Nachbarn, besonders ÄgyptenÄgypten. Das ist einer der wichtigsten Schauplätze der möglichen Wasserkriege in diesem Jahrhundert. Gleichzeitig kann man hier die Wirkmacht der Technik beobachten, denn Äthiopien benutzt das Wasser zur Stromerzeugung, die sein Schicksal verbessern soll.

In großen Teilen von AfrikaAfrika wie der SahelzoneSahelzone, dem Buschland am südlichen Rand der SaharaSahara, gibt es diese Möglichkeit nicht. Dieser Landstrich ist von Krieg und Gewalt zerrissen. Er umfasst alte geographische und kulturelle Gegensätze, und deshalb konnten sich al-Qaida und der Islamische StaatIslamischer Staat hier ungehemmt ausbreiten. Ein Teil der Flüchtlinge strebt immer auch nach EuropaEuropa, und was heute schon eine große humanitäre Krise ist, könnte noch schlimmer werden.

Als Einfallstor nach EuropaEuropa gehört GriechenlandGriechenland zu den Ländern, die jede neue Welle von Migration als erste zu spüren bekommen. Ohnehin liegt es an einem der geopolitischen Brennpunkte der kommenden Jahre: dem östlichen MittelmeerMittelmeer. Zusätzlich haben die neu entdeckten Gasfelder in der ÄgäisÄgäis den EU-Mitgliedsstaat Griechenland auch noch mit der immer aggressiver auftretenden TürkeiTürkei in Konflikt gebracht. Die Muskelspiele AnkarasAnkara beschränken sich aber nicht allein auf das östliche Mittelmeer. Die türkischen Ambitionen sind weitaus umfassender. Nicht nur die neoottomanische Agenda, die sich aus der imperialen Vergangenheit herleitet, sondern auch die Lage am Kreuzweg von Ost und West hat in AnkaraAnkara das Bedürfnis geweckt, die Türkei zu einer globalen Großmacht werden zu lassen.

Eine andere Nation, deren Empire weitgehend verloren gegangen ist, wohnt auf einer Gruppe frostiger Inseln am westlichen Ende der europäischen Tiefebene. Das Vereinigte Königreich befindet sich gerade auf der Suche nach einer neuen Rolle. Seit dem Brexit ist es eine europäische Mittelmacht, die auf der ganzen Welt politische und ökonomische Bündnisse sucht. Die Herausforderungen, denen sie gegenübersteht, kommen aber nicht nur von außen, sondern auch aus dem Inneren. So muss man sich im Vereinigten Königreich unter anderem mit der Frage eines unabhängigen SchottlandSchottland befassen.

Auch SpanienSpanien, einer der ältesten europäischen Staaten, droht auseinanderzubrechen. Die EUEuropäische Union kann den katalanischen Unabhängigkeitsdrang nicht unterstützen; aber die Zurückweisung eines womöglich entstehenden neuen Staates könnte dem Einfluss der Russen oder Chinesen die Tür öffnen. Die Auseinandersetzungen in Spanien zeigen recht deutlich, wie verletzlich manche Nationalstaaten und supranationalen Bündnisse im 21. Jahrhundert geworden sind.

Die vielleicht faszinierendste Entwicklung der Gegenwart ist allerdings, dass sich die geopolitischen Machtkämpfe derzeit ihrer irdischen Fesseln entledigen und in den WeltraumWeltraum ausdehnen. Wem gehört der Raum um uns herum? Wie soll man in diesen Konflikten entscheiden? Eine letzte Grenze wird es womöglich nie geben, aber der Weltraum kommt dem schon ziemlich nahe, und Grenzen haben eine Neigung zur Gesetzlosigkeit und Verwilderung. Jenseits von einer gewissen Höhe gibt es keine territoriale Souveränität mehr. Wenn es mir in den Sinn kommt, direkt über Ihrem Land einen Satelliten mit Laserwaffen zu stationieren, haben Sie keine gesetzliche Handhabe, um sich dagegen zu wehren. Gegenwärtig findet ein Wettlauf um die Vorherrschaft im Weltraum statt, an dem sich sogar private Firmen beteiligen. Ein gefährlicher Rüstungswettlauf bereitet sich vor, den wir nur aufhalten können, wenn wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und die vielen Vorteile der internationalen Zusammenarbeit zu nutzen verstehen.

Aber beginnen wir unsere Geschichte auf einem Kontinent hier auf der Erde, der jahrhundertelang abgeschieden und unbekannt blieb und sich jetzt plötzlich zwischen ChinaChina und den USAUSA in der Lage befindet, die Zukunft im indo-pazifischen Raum als entscheidender Spieler mitzubestimmen: AustralienAustralien.

ERSTES KAPITEL

AUSTRALIEN

Ihr müsst knallhart sein. Spielt sie in Grund und Boden!

Don Bradman, australischer Kricketspieler

 

 

 

AustralienAustralien war früher am Ende der Welt, wurde dann ein großes Ding, und heute steht es im Rampenlicht. Wie ist es dazu gekommen? Das Land down under ist eine Insel, aber eine Insel wie keine andere. Sie ist gewaltig, so riesig, dass sie als eigener Kontinent mit üppigen tropischen Regenwäldern, brennend heißen Wüsten, ausgedehnten Savannen und schneebedeckten Bergen gilt. Auf der Fahrt von BrisbaneBrisbane im Osten nach PerthPerth im Westen durchquert man nur ein einziges Land, aber die Entfernung entspricht der von LondonLondon nach BeirutBeirut (eine Reise, auf der man durch FrankreichFrankreich, BelgienBelgien, DeutschlandDeutschland, ÖsterreichÖsterreich, UngarnUngarn, SerbienSerbien, BulgarienBulgarien, die TürkeiTürkei und SyrienSyrien käme).

Dass AustralienAustralien mal am Ende der Welt lag, merkt man daran, dass zwischen BrisbaneBrisbane und den USAUSA 11500 Kilometer Pazifischer OzeanPazifischer Ozean liegen, bis nach ChileChile sind es 13000 Kilometer. Von PerthPerth am Indischen Ozean nach AfrikaAfrika sind 8000 Kilometer zurückzulegen. Australiens nächster Nachbar – NeuseelandNeuseeland – ist 2000 Kilometer entfernt, und bis zur AntarktisAntarktis sind 5000 Kilometer Wasser und Eis zu durchqueren. Erst wenn man nach Norden blickt, erkennt man Australiens Lage im geopolitischen Sinn; und man sieht: Da befindet sich eine westlich orientierte, fortgeschrittene Demokratie mit einem riesigen Territorium unmittelbar südlich von der wirtschaftlich und militärisch mächtigsten Diktatur der Welt: ChinaChina. Wenn man das alles zusammenführt, ergibt sich ein Bild von Australien als einem riesigen Nationalstaat/Kontinent mitten im Indischem und Pazifischem Ozean – dem wirtschaftlichen Kraftzentrum des 21. Jahrhunderts.

Die Geschichte fängt damit an, dass die Briten im 18. Jahrhundert ihre Strafgefangenen deportierten. Sie wollten sie außer Landes schaffen und nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Gab es da einen besseren Platz als jenen am anderen Ende der Welt, von dem aus sie nicht mehr zurückkommen konnten? Sie wurden weggesperrt und der Schlüssel im Meer versenkt. Dann aber begann diese weit entfernte Welt sich zu verändern, die geographischen Gefängnisgitter wurden allmählich durchlässig, und AustralienAustralien spielte auf der globalen Bühne mit. Allerdings war es eine lange und höllische Reise dahin.

Das Zitat am Anfang dieses Kapitels bezieht sich auf den Nationalsport Kricket, aber die Worte Don Bradmans sind tief in der australischen Seele verwurzelt, die von der Geographie des Landes geprägt wurde. Die volkstümliche Vorstellung vom unverwüstlichen, egalitären, geradlinigen, nüchternen Geist der Aussies ist vielleicht ein Klischee, entspricht aber durchaus der Wirklichkeit. Dieser Geist entspringt einem riesigen, glutheißen Land, unbewohnbar in großen Teilen, aus dem eine blühende moderne Gesellschaft erwachsen ist, die anfangs nahezu monokulturell war und jetzt zu den multikulturellsten der Welt zählt.

Heute schaut sich AustralienAustralien in seiner Nachbarschaft um und fragt sich, welche Rolle es spielen soll, und vor allem mit wem.

Wenn es um Außenpolitik und Verteidigung geht, darf man nicht fragen, was ein Land tun will, sondern wozu es fähig ist; und das wird häufig von der Geographie bestimmt. Australiens Lage und Größe sind seine Stärke und Schwäche zugleich. Sie schützen es vor einer Invasion, behindern aber gleichzeitig seine Entwicklung. Sie machen einen extremen Fernhandel notwendig, was wiederum eine starke Marine erfordert, um die Seewege offen zu halten. Und sie isolieren AustralienAustralien auch von seinen wichtigsten Verbündeten in der Welt.

Eine Insel wurde AustralienAustralien vor ungefähr 35 Millionen Jahren, als es sich von der AntarktisAntarktis löste und sachte nach Norden trieb. Es liegt gegenwärtig auf Kollisionskurs mit IndonesienIndonesien, aber die Bewohner beider Staaten brauchen sich deswegen nicht zu sehr zu beunruhigen, denn die Geschwindigkeit, mit der sie sich aufeinander zubewegen, beträgt nur sieben Zentimeter im Jahr, und so können sie sich noch einige Hundert Millionen Jahre auf den Zusammenprall vorbereiten.

AustralienAustralien umfasst 7,7 Millionen Quadratkilometer und ist damit das sechstgrößte Land der Erde. Die Fläche verteilt sich im Wesentlichen auf sechs Bundesstaaten, der größte davon ist Western Australia, der ungefähr ein Drittel des Kontinents ausmacht und größer als ganz Westeuropa zusammen ist. Dann folgen der Größe nach: QueenslandQueensland, South AustraliaSouth Australia, New South WalesNew South Wales, VictoriaVictoria und die Insel TasmanienTasmanien. Es gibt außerdem noch mehrere Territorien, davon sind das Northern TerritoryNorthern Territory und das Australian Capital Territory die größten, es gehören aber auch die KokosinselnKokosinseln und die WeihnachtsinselWeihnachtsinsel dazu.

Das Leben in AustralienAustralien steckt voller Herausforderungen. In der Zeit nach der Trennung von der AntarktisAntarktis und vor der Ankunft der Menschen vor etwa 60000 Jahren hatte die Natur reichlich Gelegenheit, sich zu entfalten. Gemessen daran, dass einen viele der dabei entstandenen Tiere beißen, stechen, totpicken oder vergiften wollen, ist es erstaunlich, dass sich die Menschen innerhalb von 30000 Jahren über den ganzen Kontinent verbreitet haben.

Dem schwierigen Gelände und dem Klima kann man kaum ausweichen. Der größte Teil der Landschaft besteht aus riesigen flachen Ebenen, und nur 6 Prozent davon liegen höher als 600 Meter über dem Meer. Die Temperaturunterschiede und die topographischen Gegensätze sind gewaltig, sie reichen von Wüsten über tropische Regenwälder bis hin zu schneebedeckten Bergen. Aber der größte Teil besteht aus dem sogenannten Outback, das ungefähr 70 Prozent von AustralienAustralien einnimmt und größtenteils unbewohnbar ist. Die großen Ebenen und Wüsten im Inneren, die im Sommer 38 Grad Celsius heiß werden, erstrecken sich über große Entfernungen. Man findet kaum Wasser oder Schatten und niemanden, der einem helfen kann, wenn man ein Problem hat.

Im Jahre 1848 scheiterte ein Versuch, den gesamten Kontinent von Osten nach Westen zu durchqueren. Der Brandenburger Ludwig Leichhardt, der Leiter dieser Expedition, seine sieben Männer, darunter zwei AboriginesAborigines, fünfzig Zugochsen, zwanzig Maultiere und Berge von Ausrüstung verschwanden einfach, als sie versuchten, von BrisbaneBrisbane nach PerthPerth zu gelangen. Das große Outback enthält viele Geheimnisse, darunter auch das Schicksal von Ludwig Leichhardt. Es wird bis zum heutigen Tage nach ihm gesucht.

Das Innere Australiens ist weitgehend unbewohnbar; der größte Teil der australischen Bevölkerung lebt in einem Siedlungsstreifen entlang der Südostküste.

Jahrtausendelang haben Klima und Landschaft bestimmt, wo es überhaupt zur Besiedlung kam. Während die AboriginesAborigines stets ihr traditionelles nomadisches Walkabout im Landesinneren unternahmen, klammern die europäischen Siedler sich heute noch an die Küsten des Landes. Ein halbmondförmiger Siedlungsgürtel erstreckt sich entlang der Ostküste über BrisbaneBrisbane, SydneySydney, CanberraCanberra und MelbourneMelbourne nach AdelaideAdelaide an der Südküste. Hinter den Küstenstraßen und Eisenbahnen ziehen sich Vororte und Satellitenstädte ins Landesinnere. Sie erreichen eine Breite von bis zu 320 Kilometern, ehe sie allmählich auslaufen, wenn man über die Berge in abgelegene Gebiete kommt. An der gegenüberliegenden Westküste liegt PerthPerth und an der Nordküste DarwinDarwin, aber auch hier klammert sich die Besiedlung an die Küste. Es sieht so aus, als ob das so bleiben würde.

Thomas Griffith TaylorTaylor, Thomas Griffith, der erste Geographieprofessor an der Universität SydneySydney, löste vor hundert Jahren große Empörung aus, als er erklärte, die Bevölkerung Australiens werde bis zum Jahr 2000 nicht wesentlich über zwanzig Millionen anwachsen, weil die Topographie dies nicht zulasse. Er wagte es, den Australiern zu sagen, dass die Wüste nahezu unbrauchbar für eine dauerhafte Besiedlung sei, was man damals für sehr unpatriotisch hielt. Die Presse heulte, und die Politiker schimpften über den angeblichen »Umwelt-Determinismus«. Sie stellten sich eine konstante Expansion von einer Küste zur anderen wie in den USAUSA vor. Aber Professor Taylor hat recht behalten: Auch heute beträgt die australische Bevölkerung nicht mehr als 26 Millionen. Auch heute noch kann man die 3200 Kilometer von Sydney nach DarwinDarwin oder nach PerthPerth fliegen, ohne unterwegs eine andere Stadt zu sehen. Fast 50 Prozent der Bevölkerung leben in nur drei Städten: Sydney, MelbourneMelbourne und BrisbaneBrisbane. Es ist kein Zufall, dass sie alle in der Nähe des Murray-Darling-Beckens liegen.

Nur sehr wenige Flüsse des Landes führen ganzjährig Wasser, weshalb die Binnenschifffahrt keine große Rolle bei der Entwicklung Australiens gespielt hat. Die jährliche Wassermenge aller australischen Flüsse zusammen ist kleiner als die Hälfte der Wassermenge des JangtseJangtse in ChinaChina. Wenn wir TasmanienTasmanien einmal beiseitelassen, liegen alle australischen Flüsse, die ständig Wasser führen, im Osten oder Südosten des Landes. Die größten davon sind der Murray und sein Zufluss, der Darling River. Der Murray wird vom Schnee der australischen Alpen gespeist und führt genug Wasser, um die 2500 Kilometer zur Südküste ohne Unterbrechung zurückzulegen. Teile davon sind sogar schiffbar, und so stellt er das Kronjuwel der australischen Flüsse dar. Vom Meer aus ist der Murray allerdings nicht zugänglich, sodass der Warentransport deutlich eingeschränkt ist. Im 19. Jahrhundert wurde der Fluss noch als Verkehrsweg zur Entwicklung des Handels benutzt, aber auch die kleineren Schiffe hatten Probleme mit dem fehlenden Regen und blieben flussaufwärts und in den Nebenflüssen oft stecken. Andererseits umfasst das Murray-Darling-BeckenMurray-Darling-Becken viel fruchtbares Land, das Generationen von Australiern ernährt hat. Ohne dieses Gebiet wären sie vom Strand vielleicht niemals weggekommen.

Die Landwirtschaft im Murray-Darling-BeckenMurray-Darling-Becken ernährte die frühen europäischen Siedler im Südosten Australiens.

Es lohnt sich, die Geschichte Australiens mit der eines anderen kolonialen Experiments zu vergleichen, den USAUSA. Auch die amerikanischen Kolonien entstanden aus Siedlungen an einer fruchtbaren Ostküste und wuchsen dann ins Innere des Landes hinein. Aber nachdem sie den Kamm der AppalachenAppalachen überwunden hatte, konnte sich die junge amerikanische Nation in eins der flächenmäßig größten und vielleicht auch fruchtbarsten Flussgebiete der Erde ausdehnen – das MississippiMississippibecken. Das Murray-Darling-BeckenMurray-Darling-Becken ist zwar von vergleichbarer Größe, erlaubte aber keine Binnenschifffahrt, nur wenig Ackerbau und keine dauerhafte Ansiedlung. Obendrein war es viel weiter von den internationalen Handelsrouten und -zentren entfernt. Zurück nach EnglandEngland waren es von hier aus 19000 Kilometer, während die dreizehn Kolonien, aus denen die Vereinigten Staaten entstehen sollten, nur 5000 Kilometer von EuropaEuropa entfernt lagen.

Es gehört zu den verbreiteten Irrtümern, dass der englische Kapitän James CookCook, James AustralienAustralien im Jahre 1770 entdeckt habe. Ganz unabhängig von dem problematischen Ausdruck »entdeckt«, muss man nämlich wissen, dass der holländische Kapitän Willem Janszoon und seine Mannschaft von der Duyfken (»Täubchen«) die Küste von Nordaustralien schon im Jahre 1606 betreten haben. Janszoon glaubte allerdings, dass er auf der Insel NeuguineaNeuguinea gelandet sei, und reiste nach einer kurzen, feindseligen Begegnung mit den Einheimischen rasch wieder ab. Einige weitere europäische Expeditionen kamen und gingen, aber keine von ihnen machte sich die Mühe, das Innere des Landes genauer zu untersuchen.

Als Cook schließlich eintraf, war bereits klar, dass er die fabelhafte Terra australis incognita vor sich hatte. Der Begriff war bereits 1600 Jahre alt und ging auf die Berechnungen des griechischen Mathematikers ClaudiusPtolemäus, ClaudiusPtolemäusPtolemäus, Claudius zurück, der zu dem Ergebnis gekommen war, dass es auf der Südhalbkugel eine gewaltige Landmasse geben müsse, damit die Erde nicht umkippte. Zumindest im Ansatz war das goldrichtig. Auch heute wird AustralienAustralien in EuropaEuropa immer noch als down under gesehen.

Cooks Seekarten waren genauer als die Karten des Ptolemäus. Er war der erste Europäer, der an der Ostküste Australiens landete. Die Botany BayBotany Bay ist heute ein Teil von SydneySydney, und CookCook, James blieb dort sieben Tage mit der Endeavour. Die ersten Begegnungen seiner Mannschaft mit den Leuten, die damals dort lebten, mögen wie unbedeutende Zwischenfälle erschienen sein, aber im Nachhinein wirken sie wie bedrohliche Vorzeichen. In seinem Tagebuch schrieb der mitreisende Botaniker Joseph Banks: »So leben diese, ich hätte fast gesagt, glücklichen Menschen, zufrieden mit wenig, nein, eigentlich gar nichts; weit entfernt sind sie von der Sorge um Reichtümer oder Dinge, die wir Europäer als unentbehrlich bezeichnen … Bei ihnen erkennt man, wie gering die wahren Bedürfnisse des Menschen eigentlich sind, die wir Europäer bis zu einem Exzess aufgebläht haben, den diese Menschen wohl völlig unglaublich fänden, wenn man ihnen davon erzählen würde.«

Diese Begegnung mit einer anderen Kultur hinderte Banks aber nicht, die Botany BayBotany Bay später als Standort für eine Strafkolonie zu empfehlen, mit der man die Lage in den überfüllten Gefängnissen Englands verbessern und die Strafgefangenen ein für alle Mal loswerden könne. Natürlich fanden auch die strategischen Vorteile reichlich Erwähnung, die entstehen würden, wenn man 17000 Kilometer entfernt von LondonLondon die britische Fahne aufpflanzte.

Es wurden Schiffe vorbereitet, Strafgefangene zusammengezogen, Vorräte eingeladen. Die First Fleet (»Erste Flotte«) verließ PortsmouthPortsmouth am 13. Mai 1787 und traf Mitte Januar 1788 in der Botany BayBotany Bay ein. Die elf Schiffe hatten etwa 1500 Seelen an Bord, davon 730 Strafgefangene (570 Männer und 160 Frauen). Der Rest bestand vor allem aus Seeleuten.

Nach wenigen Tagen beschloss Gouverneur Arthur Phillip, der für das Unternehmen verantwortlich war, dass die Botany BayBotany Bay zur Besiedlung vollkommen untauglich sei, und zog mit Sack, Pack und Sträflingen ein paar Kilometer weiter nördlich zur SydneySydney Cove um, die nach dem damaligen britischen Innenminister benannt wurde. Hier, im heutigen Sydney Harbour, in einem Land, das er für die britische Krone beanspruchte, hielt er eine Rede, in der es nach den Aufzeichnungen des Schiffsarztes George Worgan hieß, »dass die Eingeborenen auf keinen Fall beleidigt oder belästigt werden dürften. Sie sollten mit Freundschaft behandelt werden.« In Wirklichkeit kam es ganz anders. Nach dem ersten Kontakt mit den Stämmen der Eora und Darug entwickelten sich bald Handelsbeziehungen, aber was die Eora und Darug nicht wussten: Diese fremden, neuen Menschen wollten nicht handeln, sie wollten ihr Land!

Obwohl die AboriginesAborigines lange als ein einziges Volk betrachtet wurden, gibt es viele verschiedene Völker und Sprachen, zum Beispiel die Murri in QueenslandQueensland, die Nunga in South AustraliaSouth Australia, die Palawa auf der Insel TasmanienTasmanien, die wieder alle in Untergruppen eingeteilt werden können. Man vermutet, dass die Zahl der Ureinwohner im Jahre 1788 etwa 250000 bis 500000 betrug, einige Schätzungen liegen höher. In der folgenden Zeit starben Zehntausende in einem Frontier War, der bis ins 20. Jahrhundert andauern sollte.

Als sich die Siedlungen um SydneySydney ausdehnten und weitere britische Niederlassungen in MelbourneMelbourne, BrisbaneBrisbane und Tasmania entstanden, dehnte sich auch der »Grenzkrieg« aus. Die Historiker streiten sich über das Ausmaß der Gewalt und die Zahl der Opfer, aber man schätzt, dass etwa 2000 Siedler und ein Vielfaches an Ureinwohnern getötet wurden. Die AboriginesAborigines fielen dabei oft großen Massakern zum Opfer. Es ist eine traurige Geschichte. Die Siedler waren der Ansicht, die Ureinwohner hätten keinerlei Rechte, und viele von ihnen bezweifelten, dass sie überhaupt Menschen seien.

Bereits 1856 wurde die Zerstörung der Kulturen der AboriginesAborigines von dem Journalisten Edward WilsonWilson, Edward in einem Artikel der Zeitschrift Argus aus MelbourneMelbourne beklagt: »In weniger als zwanzig Jahren haben wir sie hinweggefegt. Wir haben sie niedergeschossen wie Hunde … und ganze Stämme einem qualvollen Tod ausgeliefert. Wir haben sie zu Säufern gemacht und mit Krankheiten infiziert, die den Erwachsenen die Knochen zerfressen und die wenigen Kinder, die noch geboren werden, vom Tag der Geburt an furchtbarem Elend und Schmerzen aussetzen. Wir haben sie zu Ausgestoßenen im eigenen Land gemacht und verurteilen sie jetzt zur völligen Ausrottung.«

Das Elend dauerte das ganze 19. und auch noch im 20. Jahrhundert an, auch nachdem das unmittelbare Töten schon aufgehört hatte. Seit 1910 wurden Familien der überlebenden AboriginesAborigines-Völker Tausende Kinder weggenommen und in weiße Familien oder in Heime gesteckt, um die Assimilation zu erzwingen. Diese Praxis wurde erst 1970 beendet. Zu diesem Zeitpunkt betrug die Zahl der Betroffenen bereits 100000, sie werden die »gestohlene Generation« genannt. Die Aborigines erhielten nicht vor 1962 das Wahlrecht, und erst 1967 wurden sie offiziell als Teil der Bevölkerung anerkannt. Mit einer Volksabstimmung wurde die Verfassung dahin gehend geändert, dass Aborigines bei der Volkszählung mitgezählt wurden und dadurch leichteren Zugang zu staatlichen Mitteln erhalten konnten. Noch 1965 hatte die Bürgerrechtsaktivistin Faith Bandler beklagt: »Die Australier müssen jeden Hund und jedes Stück Vieh registrieren lassen, aber wie viele Ureinwohner im Land leben, wissen wir nicht.«

Die Verfassungsänderung von 1967 erreichte bei der Volksabstimmung eine Mehrheit von 90 Prozent bei einer Beteiligung von 93 Prozent. Dieses beeindruckende Ergebnis betrachten viele Australier als Wendepunkt: Auch wenn die praktischen Auswirkungen eher gering waren, zeigte es doch, dass die Australier nach mehr Gleichberechtigung strebten. Dabei ist der Kampf noch längst nicht zu Ende. AboriginesAborigines besuchen mittlerweile erfolgreich die Universitäten, gehören zur Mittelklasse des Landes und bevölkern alle Aspekte des modernen Australiens; aber ihre Lebenserwartung ist noch immer niedriger als der australische Durchschnitt, chronische Krankheiten, Kindersterblichkeit und Gefängnisaufenthalte sind häufiger. In einigen Gemeinden sind Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Krankheit ein Dauerproblem. Der seit fünfzig Jahren anhaltende Trend zur Verstädterung führt zu Entfremdung und Depressionen.

Die Einstellung zu den AboriginesAborigines hat sich sehr langsam verändert, aber es gab einige symbolische Wegmarken. In den Neunzigerjahren wurde zum Beispiel der riesige rostfarbene Wüstenmonolith Ayers Rock in »Ayers Rock/UluruUluru« umbenannt. Uluru war der ursprüngliche Name des Felsens in der Sprache des Anangu-Volkes, für das er ein heiliger Ort ist. Im Jahr 2002 wurde dann »Uluru/Ayers Rock« daraus. 2008 sprach Premierminister Kevin RuddRudd, Kevin in Anerkennung der fortdauernden Verantwortung für zweihundert Jahre ungerechter Behandlung, Repression und Vernichtung eine offizielle Entschuldigung gegenüber den Aborigines-Völkern aus.

Trotz all der Benachteiligung wuchs die Zahl der AboriginesAborigines im 20. Jahrhundert wieder. Während man in den Zwanzigerjahren schätzte, dass womöglich nur noch 60000 Nachkommen der Ureinwohner in AustralienAustralien lebten, gibt es heute etwa 800000 Aborigines und Torres-Strait-Insulaner (die sich ethnisch von den Aborigines unterscheiden), vor allem in QueenslandQueensland, New South WalesNew South Wales, Western Australia und dem Northern TerritoryNorthern Territory. Von den Hunderten Sprachen der Aborigines sind allerdings die meisten verloren gegangen, und es gibt höchstens 50000 Personen, die überhaupt noch eine davon beherrschen.

Das Vordringen der Siedler, das zu dieser Zerstörung geführt hatte, war langsam und unbarmherzig. Es kamen mehr und mehr Schiffe aus EnglandEngland, vorwiegend mit Strafgefangenen, und die weiße Bevölkerung wuchs jährlich um mehrere Tausend. Im Jahre 1825 hatte ihre Vorhut bereits erste Wege durch die Blue Mountains westlich von SydneySydney gefunden, die bis dahin als unpassierbare Barriere gegolten hatten, und das dahinterliegende Outback entdeckt. Damals betrug die Bevölkerung der Kolonie 50000, sechsundzwanzig Jahre später gab es schon 450000 weiße Siedler im Land. Der Transport von Strafgefangenen hatte nahezu aufgehört; die Neuankömmlinge waren vor allem Einwanderer, die sich in einer neuen Welt ein neues Leben aufbauen wollten.

Am 12. Februar 1851 wurde in der Nähe von Bathurst in New South WalesNew South Wales erstmals Gold in AustralienAustralien gefunden. Hunderttausende strömten ins Land, um ihr Glück zu versuchen, und veränderten dadurch die Gesellschaft für immer. Viele kamen aus EnglandEngland, aber auch aus ChinaChina, KalifornienKalifornien, ItalienItalien, DeutschlandDeutschland, PolenPolen und verschiedenen anderen Ländern. Dank der Goldgeneration wuchs Australiens Bevölkerung bis 1870 auf 1,7 Millionen und wurde kulturell und ethnisch diverser. Der Goldrausch in seinem Irrsinn führte dazu, dass vor allem unverheiratete junge Männer die Küsten stürmten und eine Zeit lang eine Art Wildwest-Atmosphäre erzeugten. Erst allmählich veränderte sich das Wesen der Einwanderung, und es kamen auch ausgebildete Handwerker, Kaufleute, Händler, Buchhalter und Rechtsanwälte mit ihren Familien ins Land.

Sie alle haben zur Ausprägung des australischen Nationalcharakters beigetragen, aber es gibt die Theorie, dass es vor allem die Diggers, die Goldgräber, waren, die mit ihrem Einfallsreichtum, ihrem unverwüstlichen Optimismus und ihrer Freundlichkeit das Bild des Australiers geprägt haben, wie wir es heute kennen. Die Höflichkeiten der Alten Welt hatten in den rauen, schlammigen Goldfeldern wenig Bedeutung, und der unabhängige, aber solidarische Geist der Goldsucher führte zu einer rebellischen Identität mit weniger Respekt vor den britischen Autoritäten als früher.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde AustralienAustralien zwar ein modernes Land, aber die einzelnen Kolonien waren sehr mit sich selbst und ihren politischen und wirtschaftlichen Problemen beschäftigt. Die formalen Beziehungen untereinander waren noch kaum entwickelt. Vor allem die Entfernungen zwischen den Siedlungen waren eine Herausforderung. Die Flüsse waren für Handel und Warentransport ungeeignet, und da es nur wenige Zugtiere gab, mussten die Menschen große Lasten auf schmalen Karrenwegen selbst über Land ziehen. Das ursprüngliche Transportsystem bestand hauptsächlich darin, dass von jedem Hafen aus Waren ins Landesinnere gebracht oder ins Mutterland EnglandEngland verschifft wurden. Da jede Region eine eigene Kolonie war, schien es nicht vordringlich, sie zu verbinden. Die frühen Straßen führten daher ins Landesinnere, aber nicht (oder zumindest nicht über größere Strecken) entlang der Küste. Letztlich führte dies dazu, dass sich jede der sechs Kolonien als getrennte politische Einheit entwickelte.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die ersten Eisenbahnlinien gebaut, auch hier zunächst kurze Strecken von den Häfen ins Landesinnere. Verbindungen zwischen den Küstenstädten entstanden nur sehr allmählich und litten unter dem Problem verschiedener Spurweiten. In den Jahren 18981900 kam es zu einer Serie von Volksabstimmungen, aus denen gegen starke Opposition der Beschluss zur Vereinigung ganz Australiens hervorging, und am 5. Juli 1900 verabschiedete das britische Parlament in Westminster schließlich den Commonwealth of Australia Constitution Act, der vier Tage später von Queen Victoria unterschrieben wurde. Am 1. Januar 1901 entstand auf diese Weise ein australischer Bundesstaat, in SydneySydney waren 500000 Menschen auf den Beinen, um das Ereignis zu feiern. Ein souveräner Staat war AustralienAustralien damit noch nicht, sondern vorerst nur eine »sich selbst regierende Kolonie«, aber es war ein großer Schritt in Richtung Selbstbestimmung. Die volle Unabhängigkeit sollte erst der Australia Act von 1986 dem Land bringen.

Inzwischen gab es mehr als drei Millionen Australier, und die Gesellschaft wurde immer urbaner. Sowohl SydneySydney als auch MelbourneMelbourne zählten fast 500000 Einwohner. Die Mehrzahl der Einwanderer kam immer noch aus GroßbritannienGroßbritannien, aber auch die anderen waren nahezu ausschließlich weiß. Eines der ersten Gesetze der neuen Regierung war der Immigration Restriction Act mit seiner Politik eines »Weißen Australiens«. Diese Zielsetzung wurde zwar nicht explizit so benannt, aber sie war insofern deutlich, als jedem Zuwanderer, der »nicht in der Lage war, einen Text von fünfzig Worten in einer europäischen Sprache niederzuschreiben, den ihm ein Beamter diktierte«, der Zugang verwehrt bleiben sollte.

Für den eher ungewöhnlichen Fall, dass ein Bewerber aus ChinaChina zum Beispiel fünfzig Worte in portugiesischer Sprache zu schreiben vermochte, konnte man ihn immer noch auffordern, die Prüfung in flämischer Sprache zu wiederholen. Die Sprache bestimmte laut Gesetz der Beamte, und die Prüfung sollte meist nur eine vorgefasste Entscheidung juristisch bestätigen. Die meisten Zuwanderer, die man abwies, waren Nichtweiße. Das Gesetz enthielt auch die Bestimmung, dass nicht naturalisierte Einwanderer deportiert werden konnten, wenn sie eines Gewaltverbrechens für schuldig befunden wurden. Zu dem populären Lied Advance Australia Fair, das bei der Gründungszeremonie des Bundesstaates gespielt worden war und später die Nationalhymne wurde, passte das nicht so recht:

We’ve boundless plains to share;

With courage let us all combine

To Advance Australia fair.

Die vorherrschende politische und öffentliche Meinung war, dass die »grenzenlosen Ebenen« besser nur mit weißen Menschen, am besten Briten, geteilt werden sollten. Das neue Gesetz zielte vor allem auf Chinesen, Japaner, Indonesier und andere Nationalitäten aus der Nachbarschaft, die nicht nur die Löhne drücken, sondern auch die rassische »Reinheit« Australiens verwässern würden. Die Politik des weißen Australiens wurde bis in die Siebzigerjahre fortgesetzt. Von den asiatischen Nachbarn Australiens wurde sie stets negativ bewertet, besonders in den Staaten, die selbst aus Kolonien entstanden waren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg brach die Epoche der »Ten Pound Poms« an. AustralienAustralien brauchte Arbeitskräfte, und deshalb wurden Briten eingeladen, für schlappe zehn Pfund in ein neues Leben zu starten. Normalerweise war die Reise nach Australien viel teurer: Sie kostete 120 Pfund, was sechs Monatslöhnen eines Arbeiters entsprach. Das Angebot der australischen und neuseeländischen Regierungen konnte man eigentlich gar nicht ablehnen, wenn man dem trüben Nachkriegsengland und seiner Klassengesellschaft entkommen wollte. Zwischen 1947 und 1982 machten 1,5 Millionen sich auf den Weg nach down under1972SouthamptonSouthamptonLeedsLeedsMelbourneMelbourneEnglandEngland