Impressum
Mit 53 Abbildungen
Alle Bilder aus dem Archiv des Historischen Arbeitskreises Gerabronn
außer S. →, →, →, →, → (u.), → (4), → (4), →, → Archiv Gottfried Aigner
S. → Kartenausschnitt aus Württembergischer Schulatlas für höhere Schulen auf Grundlage von Diercke, ausgeführt in der Kartographischen Anstalt von Georg Westermann in Braunschweig, 1939
S. → (o.) Vlasto Kopač, Black Command Dachau: 1944-1945. Ljubljana: National Museum of Contemporary History of Slovenia (R1 5310). Reproduced with permission of Ms. Mojca Kopač
Titelidee: Gregor Aigner
Umschlaggestaltung: BoD - Books on Demand GmbH
Lektorat und Layout: Nana Claudia Nenzel
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2021 Gottfried Aigner
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-753-48635-2
Teil eins (1939-1943)
Mein erster Schultag
Mein ärmliches Zuhause
Boxer unter sich
Pädagogik mit dem Rohrstock
Dunkle Wolken des Krieges
Der Brotkorb wir höher gehängt
Soldatenlieder für Schüler
>Deutschland, Deutschland über alles…<
Hitlers Freundschaft mit Mussolini
Tante Sandel und das Krippenspiel
Neue Schrift und neue Siege
Kampf dem Knollenkiller
Görings Luftwaffe greift ein
Die Ruhe vor dem Sturm
Fleisch für den Mann
Neuer Lebensraum im Osten
Literatur für junge Nationalsozialisten
Verschüttete Milch und Altes Testament
Ich bin der >Mann im Haus<
Der Kuhhirte und der Altbauer
Der größte Heroenkampf beginnt
Sem, Ham und Jafet
Kalter Winter mit drastischen Folgen
Schicksalskampf Stalingrad
Wahrheit oder Lügen
Hoffnung und Verzweiflung
Bomben auf deutsche Städte
Teil zwei (1943-1944)
Endlich Dienst in Uniform
Endlich marschieren und Lieder singen
Hart sein, Schmerzen ertragen
Stark durch Lieder
Mutprobe mit Wichse
Sommerferien. Von wegen...
Das Theaterstück
Bestrafung in der Schule
Strafdienst beim Jungvolk
Gymnasium mit zackigen Lehrern
Hilfskräfte statt Lehrer
Ich bin Arier, na also
Arier, da bist du was!
Die Pimpfenprobe
Gestreckte Arme ragen in den Himmel
Kinofilm für brave Hitlerjungen
Stadtkinder aufs Land
Flakhelfer an die Kanonen
Das vergessene Leningrad
Das Gerücht vom Lebensborn
Verräter am Werk
Widerstand ein Fremdwort?
Die im Keller versteckte Jüdin
Lügen und Geldgeschäfte
Der Feind sieht dein Licht
Die Sprache der Juden
Letzte Reserve Volkssturm
Durchhalten, nicht verzagen
Der Feind rückt immer näher
Rettung durch die Wunderwaffe
Teil drei (1944-1946)
Hitler verspricht den Endsieg
Obergefreiter Aigner macht Station
Vorbereitung auf schlechte Zeiten
Fliehende und verwundete Soldaten
Ein strenges Regiment
Bomben fallen überall
Spiel mit den Jagdbombern
Feindliche Panzer in unseren Gassen
Schutz in sicheren Kellern
Ein ganzes Bauerndorf verhaftet
Ein schwarzer Freitag
Bittere Tage, kein Aprilscherz
Allein im Grau der Welt
Ende des großdeutschen Traums
Besatzer oder Befreier?
Kampf ums Überleben
Kohldampf schieben
Der kleine Krieg der Pimpfe
Neue Kampfstrategien
Der Güterwagen-Raub
Der zweite Blick
Der Job als Küchenhilfe
Spüldienst mit Folgen
Versuchung im Überfluss
Postraub mit Nervenflattern
Organisieren und Schwarzmarkt
Die verheerende Explosion
Unter Verdacht
Ärger mit der Hausdurchsuchung
Liebe gegen Schokolade
Gefahr für blonde Burschen
Das Schnaps-Abenteuer
Der einsame Heimkehrer
Suche nach einem Vorbild
Schlimmer geht’s immer
Mit Josef auf der Reeperbahn
Seltenheit: freudige Ereignisse
Freiheit ade, die Schule ruft
Jahrhundert-Rekord bei Minusgraden
>Fringsen< als Freibrief für Diebstahl
Weniger Kalorien
Frühlingsgefühle mit Eis
Teil vier (1946/47 )
Die Schlammlawine rollt an
Was damals geschah
Heil Hitler, Herr von Hohenlohe
Linientreue Bauern und Frauen
Der Beginn jüdischer Ausgrenzung
Ein Attentat und die Folgen
Persönliche Notizen des Großmauls
Judentransport nach Riga
Deutschland ist „judenfrei“
Judenvernichtung in besetzten Gebieten
Das Warschauer Ghetto
„Ein schnell wirkendes Mittel“
Vernichtung aller europäischen Juden
Teil fünf (danach bis heute)
Flucht in die Verdrängung
Kälte und Hunger
Demokratische Neuheiten: Streiks
Sammeln für den Winter
Währungsreform: die D-Mark kommt
Persilschein für Braungefärbte
Die Mittele Reife naht
Nachhilfe, nicht nur in Mathe
Mittlere Reife und Ende der Schule
Lebenskampf in der 50ern
Aufstand und Sieg
Von der Romantik bis zur Wehrpflicht
Die 50er, 60er und 70er Jahre
Bewegung im All und privat
Wechselhafte Zufriedenheit
Zwei Jahrzehnte Krisen und Attentate
Das vergessene Gewissen
Die brutale Wahrheit
Was wäre, wenn...
Holocaust: Mehr als drei Jahrzehnte nichts gewusst …
Epilog: Wehret den Anfängen
Ein Dankeschön
Das >Kärrele<, ein treuer Begleiter
An Hitlers 44. Geburtstag, am 20. April 1933, kam ich auf die Welt. Es war das Jahr der Machtübernahme. Schon 1939, in der Grundschule, wurde ich mit den großartigen Plänen des Führers konfrontiert, ständig bewacht von seinem in jedem Zimmer hängenden Bild. Der Schulanfang fiel mit dem Kriegsbeginn zusammen, eine Zeit, in der Hitler Helden brauchte. Die Ideale des Nationalsozialismus durfte ich dann mit zehn Jahren, 1943 beim Übergang in die Oberschule, als uniformiertes Zwangsmitglied im Jungvolk kennen lernen. Auch was Zucht und Ordnung bedeutet; wenn ich es nicht kapierte, setzte es Prügel. Weder Strafe noch Schmerzen konnten mich jedoch davon abhalten, mit Begeisterung die Befehle des Führers zu beachten. Umso mehr, nachdem ich im selben Jahr die >Feststellung der arischen Abstammung< ausgehändigt bekam. Andere Rassen raus? Kein Problem. Auch schwere Niederlagen hinderten mich nicht, an den Endsieg des Großdeutschen Reiches zu glauben. Selbst 1945, nach dem Einmarsch der Alliierten meinte ich, mit Sabotagen die Kapitulation verhindern zu können.
Mit Hitlers Tod brach für mich eine Welt zusammen. Denn diese Welt konnte ohne die Pläne unseres großen Heerführers nicht existieren. Sein mörderisches Treiben wollte ich lange nicht glauben. Wie konnten solche Verbrechen in meiner protestantischen Kleinstadt verborgen bleiben? Waren wir alle blind? Gab es Menschen, die von den Mordtaten in Konzentrationslagern wussten und schwiegen? Tiefe Nacht brach über mich herein, als sich der Mord von sechs Millionen Juden nicht mehr leugnen ließ. Und in diesem System wollte ich weit nach oben kommen? Als blonder SS-Mann die Regeln bestimmen? Bis heute bereitet es mir Schmerzen, wenn ich überlege, was bei einem Sieg Hitlers und Konsorten aus mir geworden wäre. Was hätte ich gemacht, wenn mir dann die Frau, mit der ich seit mehr als 40 Jahren verheiratet bin, begegnet wäre? Mit der Frau, die Jüdin ist?
Was damals war…
Bereits Januar 1933 ernannte Reichspräsident Hindenburg den Nationalsozialisten Adolf Hitler zum Kanzler, im März fanden die Reichstagswahlen statt, bei der Hitlers Partei, die NSDAP, die Mehrheit erhielt. Der Kanzler setzte schnell das Ermächtigungsgesetz durch, das alle anderen Parteien verbot. Im November durften die deutschen Wähler die Alleinherrschaft bestätigen, gleichzeitig kam der Austritt aus dem Völkerbund zur Abstimmung. 89 Prozent der Wahlberechtigten nahmen teil, 92 % von ihnen stimmten für die Nationalsozialisten, 95 % befürworteten den Austritt aus dem Völkerbund. Bei solchen Zahlen war es leicht, im Volk den Hitlergruß >Heil Hitler< im Alltag durchzusetzen. Hitler und der Reichsführer SS Heinrich Himmler führten den Gruß auf „altgermanische“ Vorformen zurück. Hitler soll geäußert haben, er betrachte ihn lediglich als Demonstration der Waffenlosigkeit, während Himmler ihn als Variante der Schwurgeste mit emporgehobenem Speer angesehen habe.
Mit einem alten Schulranzen auf dem Rücken, einer neuen Schiefertafel als Inhalt, dazu Schreibgriffel (griech. grapheion, Schreibgerät), Griffelkasten und Trockentuch, den mit einer Schnur an der Tafel befestigten Schwamm draußen pendelnd, betrete ich im April 1939 das Schulhaus. Am Portal steht der Rektor mit mürrischem Gesicht und zieht seine Taschenuhr aus der Stiefelhose. Ich bin spät dran, das Pausenbrot wurde nicht fertig, der Deckel am Marmeladenglas war verklemmt. Lautes Geschrei, das im Treppenhaus sphärisch hallt, weist mir den Weg zum Klassenzimmer. Ich pralle an der Tür fast mit der Klassenlehrerin zusammen. Sie fordert Ruhe, klopft energisch mit dem Rohrstock auf das Pult. „Heil Hitler, Kinder“. Ich habe schon den Mund zum Grüß Gott gespitzt, die anderen Kinder sind besser informiert: „Heil Hitler, Fräulein Wiedenbauer“. An der Wand hängt ein Bild von Adolf Hitler, der wohlwollend auf die Klasse herabschaut. Wir werden über den nächsten Tag informiert. Es ist der 20. April 1939, Adolf Hitlers Geburtstag, antreten auf dem Schulhof. Ich wedle aufgeregt mit dem gestreckten Finger. Auch ich habe am Zwanzigsten Geburtstag. Bewundernd drehen sich die Mitschüler nach mir um. Ich gehöre zu den Kleinsten, deshalb sitze ich in der hintersten Bank. Aber ich passe voll in das Bild, das sich Hitler von einem deutschen Jungen macht: schlank, strohblond und blaue Augen. Ich spüre den Neid der anderen ABC-Schützen.
Als Geschenk des Führers muss die Klasse am nächsten Tag erst eine Stunde später in der Schule sein. Zeit für mich, durch die Straßen zu schlendern. Ich bewundere die vielen Flaggen mit dem Hakenkreuz. Die seien alle für mich, hatten die Eltern verschmitzt behauptet. Ich glaubte das zwar nicht, bin aber trotzdem stolz. Am Abend sollen die Erstklässler als Zuschauer beim Treffen der Pimpfe 1) sein. Bei diesem Aufmarsch werden die Zehnjährigen in das Jungvolk, Vorstufe der Hitlerjugend, aufgenommen. Ich zähle an den Fingern ab, wie viele Jahre ich noch bis zu diesem Tage warten muss. Ich will schnell Fähnleinführer werden, der arme Junge aus der Grabenstraße, Hitler würde sich bestimmt freuen.
Ich leide darunter, zur untersten Schicht zu gehören, der Vater Fabrikarbeiter, die Mutter Hausfrau. Knecht und Magd steht in den Papieren, die sie 1936 vor der Heirat vorlegen mussten. Auch in der Schule bilden sich schnell zwei Gruppen: die einen aus den Armenvierteln Grabenstraße und Brühl, die Reichen aus der Oberstadt, Kinder von Abteilungsleitern und Prokuristen. Ich wage es nicht, Mitschüler einzuladen. In der Wohnung riecht es das ganze Jahr nach Bohnen, Rosenkohl und anderem Gemüse, im Winter nach aufgetauten Zwiebeln. Die Familie muss zum kargen Lohn des Vaters in Heimarbeit zuverdienen. Für die Nährmittelfabrik säckeweise im Wohnzimmer Gemüse schälen und schnippeln. Der Geruch bleibt auch in den Kleidern hängen.
Die Küche ist eng und dunkel, eine Ecke wurde für die Toilette ausgespart. Hinter der Holztür gibt es einen Donnerbalken mit freiem Fall in die Sickergrube, an einem Haken hängt zurecht geschnittenes grobes Zeitungspapier. Die Morgenwäsche wird im Spülbecken neben dem Holzherd erledigt. Ich habe nach langem Kampf wenigstens eine eigene Zahnbürste bekommen. Wenn die Klo-Grube voll ist, stellt der benachbarte Bauer ein Güllefass auf vier Rädern vor das Haus. Der Vater ist bei der Arbeit, später im Krieg, dann muss ich eben mit dem an einer drei Meter langen Holzstange befestigten Gülleschöpfer die Toilettengrube leeren. Weil die Öffnung weit oben ist, läuft mir die Brühe über die Arme. Ich lege die Scheißaktion stets so, dass niemand unterwegs ist - ein Nervenspiel.
Im Sommer können sich die Männer immerhin am Gassenende am Schwengelbrunnen ordentlich waschen. Einmal im Monat wird beim Bäcker, der immer warmes Wasser hat, für 50 Reichspfennig ein Vollbad genommen. Im Winter muss ich, mein Bett steht in der Dachkammer, erst die harte Eisdecke in der Waschschüssel durchschlagen, eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht soll gut sein für die männliche Schönheit, erzähle ich den Schulkameraden. Die mangelhafte Hygiene war wohl auch Fräulein Wiedenbauer aufgefallen. Meinen Ehrgeiz lobt sie zwar mit fabelhafter Beurteilung: „Er hat gute geistige Anlagen und kommt zu seinen guten Leistungen ohne besondere Anstrengung“. Dann aber die Einschränkung: „Im Schreiben muss er recht pünktlich sein und bei sich selber mehr auf Reinlichkeit halten“.
Ich habe bald gelernt, von meiner Armut abzulenken, suche Aufmerksamkeit durch allerlei Streiche und Kraftmeiereien. Beim Hitlergruß flüstere ich meinem Nachbarn immer „Dreiliter“ zu. Bei körperlichen Auseinandersetzungen wiederum setze ich gerne die nackten Fäuste ein und ich schlage manche Nase blutig. Mein Sportlehrer kennt sich in Sportgeschichte aus und erzählt vom legendären, starken John L. Sullivan (1858-1918), dem letzten Boxweltmeister ohne Handschuhe. Und schon habe ich meinen Spitznamen, der bald in John L. und später in Johnny umgeformt wird. Viel lieber wäre ich aber Max Schmeling gerufen worden. Noch nach Jahren spricht ganz Deutschland vom Schwergewicht-Boxweltmeister (von 1930-32), vor allem aber von dem sensationellen K.O.-Sieg über den >schwarzen Bomber< Joe Louis am 19. Juni 1936. Die Überraschung bezeichnete die NS-Propaganda lauthals als „Beweis für die Überlegenheit der arischen Rasse“. Ziemlich schweigsam ging es allerdings zu, als Max im Juni 1938 von Louis schon in der ersten Runde nach mehreren Kopftreffern auf die Bretter geschickt wurde. Also doch lieber John L. beziehungsweise Johnny.
Bei den Mädchen prahle ich gerne mit meinen Muskeln, was vor allem der blonden Dora gefällt. In meinem Überschwang laufe ich eines Tages nach vorne und küsse die Blondine auf die Wange. Dieser unerhörte Vorgang missfällt Fräulein Wiedenbauer total und sie greift nach dem Rohrstock. Tatzen geben, Hiebe mit der Rute auf die Innenseite der Hand, gehört bei Lehrkräften zum Ausdruck ihrer unangefochtenen Autorität. Ich stehe also vor der Klasse und soll die linke Hand in Hüfthöhe nach vorne strecken. Beim ersten Hieb ziehe ich die Hand zurück und habe damit nach Ansicht nationalistischer Pädagogen einen Mangel an Willenskraft und Selbstdisziplin bewiesen. Zur Strafe gibt es dann vier statt zwei Tatzen, die Handfläche schwillt entsprechend an, für mich als Noch-Linkshänder ein besonderer Effekt - womit die Umerziehung auf die rechte Schreibhand ihren Anfang nimmt. Als geübter Gezüchteter verstecke ich bald eine Tüte Salz in der Hosentasche, spucke unbemerkt in die geschlagene Hand und reibe das Mineral in die Striemen. So erreiche ich, dass sich die Eltern vielleicht gegen die Misshandlung beim Rektor beschweren. Doch Beschwerden werden nicht gerne gesehen. Ich soll mich anständig benehmen.
Was damals war …
Am 1. September 1939 begründete Adolf Hitler vor dem Deutschen Reichstag den Angriff auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann. Die Wehrmacht wolle „nicht den Kampf gegen Frauen und Kinder“ führen, außerdem wolle sich die Luftwaffe auf militärische Ziele beschränken. Polen solle daraus aber keinen Freibrief ableiten. Zitat: „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten! Wer mit Gift kämpft, wird mit Giftgas bekämpft. Wer selbst sich von den Regeln einer humanen Kriegsführung entfernt, kann von uns nichts anderes erwarten, als dass wir den gleichen Schritt tun. Ich werde diesen Kampf, ganz gleich, gegen wen, so lange führen, bis die Sicherheit des Reiches und bis seine Rechte gewährleistet sind.“ Deutschland sei deutlich besser auf den Krieg vorbereitet als 1914, und man werde niemals kapitulieren. Weiter: Er werde siegen oder das Kriegsende nicht erleben.
Im Laufe des Frühsommers 1939 ballen sich dunkle Wolken am Himmel zusammen. Die Stimmung ist überall gedrückt, sei es zu Hause, beim Schwatz im Geschäft oder bei den Klugscheißern am Biertisch. Der Donner eines Krieges ist zu hören, die Stimmen der NS-Politiker krächzen aufgeregt aus dem Volksempfänger. Den kleinen schwarzen Bakelit-Kasten, den der Vater verächtlich >Göbbelsschnauze< nennt, hat er für 35 Reichsmark erstanden. Immer wenn die Siegesfanfare ertönt, versammeln sich die Menschen am Deutschlandsender. Für mich ist das zunächst weniger interessant, habe ich doch keine Ahnung, was es bedeutet, dass Hitler acht Tage nach dem gemeinsamen Geburtstag den deutschpolnischen Nichtangriffspakt kündigt. Eher geht in mein Köpfchen der Aufschrei, Deutschland brauche im Osten mehr Lebensraum, um die Ernährung des Volkes sicherzustellen. Daher sei Polen, dessen Kapital vollständig in jüdischer Hand sei, jetzt an der Reihe. Schlimm waren ja die polnischen Überfälle an der Grenze, vor allem aber die Übergriffe auf die deutsche Minderheit. Ganze Familien haben die Deutschenhasser mit der Zunge am Esstisch festgenagelt. Als ich das höre, kriecht Gänsehaut über meinen Rücken, das kann sich der Hitler doch nicht gefallen lassen. Und so nicken alle brav mit dem Kopf, als der Führer am 1. September 1939 in seiner Rede vor dem Deutschen Reichstag verkündet, es werde Bombe mit Bomben vergolten, Gift mit Giftgas bekämpft und schließlich der entscheidende Satz: „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“
Dies erledigt das vor Danzig liegende deutsche Schlachtschiff Schleswig Holstein mit Schüssen auf das polnische Munitionsdepot auf der Westerplatte. Der Zweite Weltkrieg hat begonnen.
Beeinflusst von den vielen Reden um >mehr Lebensraum< können die Nationalsozialisten zunächst mit großer Zustimmung der Bevölkerung rechnen. Auch wenn mir bei den vielen ungeahnten Ereignissen der Kopf schwirrt, so habe ich doch Verständnis dafür, dass Tage vor den Schüssen auf Danzig Lebensmittelkarten den Einkauf von Brot, Fleisch, Fett, Eier, Marmelade und Zucker regeln. Endlich kann ich meine Note „gut“ im Rechnen einsetzen: 9,6 Kilo Brot im Monat, das sind am Tag 320 Gramm, sechs Scheiben oder Brötchen, das muss doch reichen. Oder 1.600 Gramm Fleisch, das sind vier winzige Sonntagsbraten, bekommt sowieso der schwer arbeitende Vater, wir Kinder haben uns längst an die nackte Soße auf den Nudeln gewöhnt. Niederschmetternd sind dann aber doch die Kürzungen im April 1942: 6,4 Kilo Brot, 1.200 Gramm Fleisch, 825 Gramm Fett. Ausgleich bringen das Gemüse im Schrebergarten, die Hühner und Kaninchen in den kleinen Ställen.
Unterstützt wird der Polenfeldzug von allen Seiten. So erhalten die Schulen eine Anweisung des Reichspropagandaministeriums, das der wohlgenährte Rektor mit wichtiger Miene den Lehrern aushändigt. Ich hatte den Wisch in der Pause vom Lehrerpult geholt. Zusammen mit ein paar Schulkameraden lesen wir ganz leise: „Es muss auch der letzten Kuhmagd in Deutschland klargemacht werden, dass das Polentum gleichwertig ist mit Untermenschentum. Polen, Juden und Zigeuner stehen auf der gleichen unterwertigen Stufe.“ Die jungen Schüler kratzen sich am Kopf, schauen sich fragend an, wollen die Eltern fragen, ob sie den Inhalt verstehen.
Zu Hause ist wenige Tage später Besuch vom Onkel mit Familie. Das mit dem Krieg sei nicht so schlimm, meint der kluge Mann, jetzt machen ja auch die Katholiken mit. Im Städtchen sind 99 Prozent Protestanten, da kommt natürlich die Frage auf, was das denn für Menschen seien, die Katholiken. Die Erklärung geht dann gerade noch in meinen Brummschädel. Als dann vom Reichskonkordat 2) die Rede ist, fallen mir vor Müdigkeit die Augen zu.
Am nächsten Morgen steht der Vater in Uniform vor der Familie: grün-brauner Kampfanzug, genannt feldgrau, derbe Stiefel, auf dem Kopf das >Schiffchen<, in der Hand der Einzugsbefehl. Die Mutter hängt weinend an seinem Hals. Der Rekrut beruhigt: Er komme schnell wieder, beim Einmarsch in Österreich ein Jahr zuvor (März 1938) sei er auch schon nach vier Wochen wieder zu Hause gewesen. Und er schwärmt noch, wie jubelnd die deutschen Soldaten begrüßt worden seien.
Die Begeisterung für Soldaten, die Freude, einmal für Führer, Volk und Vaterland kämpfen und sterben zu dürfen, liegt uns im Blut. Soldaten sind Helden, sie werden auch nach ihrem Tod geehrt. So singen wir ebenfalls in der Schule kämpferische Lieder. Ich dringe mit meiner hellen Stimme durch alle anderen. Das ist mir wichtig, denn ich will die Zeugnisnote >gut< halten. Damit alles noch wirksamer wird, lasse ich beim Nachbarn, dem Drechsler Knorp, an der Bandsäge aus einem Brett ein Holzgewehr schneiden. Den Klotz spannt der geschickte Handwerker in die Drechselbank, das rohe Flintenmodell dreht sich um die eigene Achse, mit dem Drechselmesser bearbeitet Knorp die vordere Hälfte, mit kreischenden Tönen fliegen die Späne durch die Werkstatt, bis der Gewehrlauf eine schöne runde Form hat. Im Schuppen finde ich ein altes Leder, das ich zurechtschneide, in das Holz nagle, bis der Schießprügel mit Schwung über der Schulter hängt. So marschiere ich zackig zum Unterricht, muss aber mein Kunstwerk unter der Schulbank verstauen. Verstohlen berühre ich meine Waffe, noch begeisterter klingt das Lied:
„Wer will unter die Soldaten,
der muss haben ein Gewehr,
der muss haben ein Gewehr,
das muss er mit Pulver laden
und mit einer Kugel schwer.“
Nach dem Unterricht schultere ich mein Spielgewehr und marschiere stolz nach Hause. Mit Liedern kann ich sogar bei Muttern punkten. Ihr Lieblingslied ist
„Wenn die Soldaten
durch die Stadt marschieren,
öffnen die Mädchen
die Fenster und die Türen.
Ei warum? Ei darum! Ei warum? Ei darum!
Ei bloß wegen dem Schingderassa, Bumderassa, Schingdara!
Ei bloß wegen dem Schingderassa, Bumderassasa!“
Wenn wir das Lied in der Schule üben, lassen wir die Mädchen weg und singen als dritte und vierte Zeile lieber:
„>laufen die Kinder / alle vor die Türen<.“
Bald haben wir Gelegenheit, mit Begeisterung weitere Marschlieder anzustimmen, der Krieg hat begonnen.
Der Blitzkrieg, wie Joseph Goebbels, der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, den Marsch durch Polen bezeichnet, ist am 6. Oktober 1939 erledigt. Singend marschiert die Hitlerjugend durch das Städtchen: „Deutschland, Deutschland über alles...“ Ich renne hinterher, will teilhaben am Triumph, versuche den Gleichschritt der älteren Kameraden nachzuahmen. Die Strophe „Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ macht mich neugierig. Im neuen Schulatlas will ich gleich prüfen, ob die Nationalhymne den Tatsachen entspricht. Auf den Seiten 14 und 17 prangt in knalligem Rot das >Großdeutsche Reich<, das Kernland mit dem zu uns gehörenden Österreich. Das deutschsprachige Sudetenland, Teil der Tschechei mit wichtiger Industrie, wurde schon am 2. Oktober 1938 dem Reich eingegliedert. Der britische Premierminister Chamberlain und Frankreichs Ministerpräsident Daladier haben beim >Münchner Abkommen< zugestimmt. Am 15./16. März 1939 marschieren deutsche Truppen im Stechschritt in Prag ein, die Tschechei heißt jetzt Protektorat Böhmen und Mähren. Kurz darauf wird die inzwischen von der Tschechei abgetrennte Slowakei Hitlers Satellitenstaat. Im Atlas schmiegt er sich etwas verfärbt an die Grenze. Jetzt werden aber alle in der Klasse neugierig, akribisch prüfen wir die Grenzen: Die Maas gehört noch nicht ganz ins Reich, der Strom fließt durch Frankreich, Belgien und die Niederlande. Auch die Memel ist zu kritisieren, sie durchfließt Weißrussland und Litauen. Und die Etsch? Auch hier Unzufriedenheit in der Klasse. Sie entspringt im deutschsprachigen Südtirol, ist aber im Atlas Teil von Italien. Die Lehrerin wird unsicher, will sich beim Rektor erkundigen, wann dieser Landesteil eingegliedert wird. Beim Belt ist die Zugehörigkeit unklar, die Meerenge liegt zwischen Deutschland und Dänemark.
Die schlagkräftige deutsche Wehrmacht regelt dann bald die noch offenen Fragen der Grenzziehung: Ohne ernst zu nehmende Drohungen aus Großbritannien, das Deutschland im Dezember 1939 den Krieg erklärt hatte, werden im April 1940 Dänemark und Norwegen ohne großen Widerstand besetzt, im Mai und Juni Frankreich, Belgien und die Niederlande. Der Siegeswille unseres Führers setzt sich durch. Im Osten ist allerdings etwas Stillstand eingetreten, den östlichen Teil Polens hat Stalin, der Chef der Sowjetunion, mit Hitlers Zustimmung im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt 3) in Anspruch genommen. Und im Süden? Die Lehrerin hat sich schlau gemacht. Dort ist eine Erweiterung des Reiches schlecht möglich, weil Südtirol zu Italien gehört. Und Italien wird von Benito Mussolini regiert, einem Freund von Adolf Hitler. Der wehrt sich gegen alle Versuche Hitlers, die deutschen Südtiroler dem Reich einzugliedern. Beide einigen sich dann auf eine Volksabstimmung, bei der 85 Prozent der Südtiroler Bevölkerung für eine Umsiedlung nach Großdeutschland stimmen 4).
Die Freundschaft unseres Führers mit dem Herrscher über Italien hat eine lange Geschichte. Um das wirtschaftliche, soziale und politische Chaos, vor allem die Arbeitslosigkeit nach Ende des Ersten Weltkriegs zu beseitigen, erreichte Benito Mussolini nach seinem >Marsch auf Rom< mit 40.000 Schwarzhemden die Macht über Italien. Der bis dahin regierende König Viktor Emanuel hatte Angst vor einem Bürgerkrieg und wählte im Oktober 1921 lieber den starken Mann, der Recht und Ordnung sowie die Zerschlagung des Kommunismus versprach. Adolf Hitlers Weg zur Macht hatte manche Ähnlichkeit mit jenem des Freundes im Süden. So wie unser Weg zu einem beherrschenden Großdeutschland Formen annahm, hatte auch Mussolini den Traum vom >Imperium Romanum<, der Vereinigung aller Länder rund um das Mittelmeer. Beeindruckende Eroberungen unterstrichen die Absichten des Duce, zu Deutsch Führer: 1934 wurde das nordafrikanische Libyen besetzt, 1935 begann der Eroberungsfeldzug des ostafrikanischen Kaiserreichs Abessinien, auch Äthiopien genannt. Die Zusammenarbeit beider mächtigen Europäer wurde 1936 mit der >Achse Rom-Berlin< gefestigt, 1939 mit dem >Stahlpakt<, einer Verpflichtung der militärischen Zusammenarbeit. Etwas verzögert trat Italien schließlich am 10. Juni 1940 in den bereits von deutschen Soldaten gewonnenen Krieg gegen Frankreich ein. Allmählich gestaltete sich die Zusammenarbeit allerdings etwas einseitig, musste Hitler doch im März 1941 Truppen nach Libyen schicken, um den Italienern zu helfen. Auch die Hilfe, vom besetzten Albanien aus das gemeinsame Ziel Griechenland zu erobern, hätte ohne den Eingriff deutscher Truppen zu einer peinlichen Niederlage geführt. (s. auch Kapitel >Neue Schrift und neue Siege<).
Ungeachtet des Kriegsdonners ist Tante Sandel, wie die Waldorfschule-Lehrerin von uns genannt wird, im Spätherbst zur Stelle, um mit einer ausgewählten Gruppe das Oberuferer Krippenspiel einzuüben. Der Gründer der Schule hat das Spiel, ursprünglich im donauschwäbischen Dialekt, zum besseren Verständnis leicht verändert. Hauptdarstellerin, die Maria, ist natürlich Eve, die Pfarrerstochter. Ihren Partner, den Josef, spielt Arztsohn Wolfgang Duvernoy. Den lustigen Teil, den der vor Bethlehem Schafe hütenden Hirten, dürfen Martin als Gallus, Albert