In die Fluten der Dunkelheit

Über Martin Michaud

Foto: © Julien Faugère

Martin Michaud hat als Musiker und Anwalt gearbeitet, bevor er zu schreiben begann. Heute ist er einer der erfolgreichsten Krimiautoren Kanadas.

Seine Reihe um Victor Lessard wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Arthur Ellis Award und der Prix Saint-Pacôme für Kriminalliteratur. Martin Michaud lebt in Montreal.

 

Die Übersetzer

Anabelle Assaf, geb. 1986, hat Literaturwissenschaft in Berlin und Montreal studiert. Sie ist als Literaturagentin tätig und übersetzt Literatur aus dem Englischen und Französischen.

 

Reiner Pfleiderer, geb. 1954, hat Germanistik und Romanistik studiert. Er übersetzt Belletristik und Sachbücher mit Schwerpunkt Politik und Zeitgeschichte aus dem Englischen und Französischen.

 

Für Patrice und Julie.

Die folgenden dreißig Stücke gehören zu denen, die ich während der Arbeit an dem Roman am häufigsten gehört habe.

Sie finden sie auf dem Spotify-Account von Kennes (geben Sie in die Suchleiste »spotify:user:kennes-editions« ein).

 

Ein rechteckiger, fensterloser Raum mit holzverkleideten Wänden, darin ein Tisch, ein gerader Stuhl und ein Sessel mit Rollen. Die Tür geht auf, und eine Frau in den Vierzigern tritt ein. Groß, schlank, dunkelhäutig. Sie trägt ein figurbetontes, marineblaues Kostüm und hat ihr schwarzes Haar zu einem Knoten zurückgebunden. Der Mann, der ihr folgt, bleibt in der Tür stehen, und jemand nimmt ihm von hinten die Handschellen ab, mit denen seine Arme auf dem Rücken gefesselt waren.

Die Vernehmungsbeamtin deutet auf den Stuhl.

»Ich möchte Sie bitten, sich zu setzen.«

Der Mann gehorcht, und während sie auf dem Sessel Platz nimmt, massiert er seine schmerzenden Handgelenke und fährt sich mit den Händen übers Gesicht.

»Etwas zu trinken, zu essen?«

Sie legt die Hände vor sich hin. Er betrachtet ihre langen, verschränkten Finger, ihre sorgfältig lackierten Nägel. Dann mustert er seine Hände, die mit Schnittwunden und blauen Flecken übersät sind, und bemerkt, dass er Dreck unter den Fingernägeln hat.

Er hebt den Kopf.

»Ich hätte gerne einen Kaffee. Und meine Zigaretten.«

Sie zeigt ein krampfhaftes Lächeln.

»Wir werden Ihnen auch etwas bringen, damit Sie sich frisch machen und umziehen können.«

Er nickt. Die Frau deutet auf eine Kamera, die auf einem Stativ in der Ecke steht und auf sie gerichtet ist. An dem Apparat

»Ich weise Sie darauf hin, dass unser Gespräch aufgezeichnet und gefilmt wird.«

Wieder nickt der Mann und stößt einen Seufzer aus. Die Frau starrt ihn an.

»Fürs Protokoll: Ich bin Claire Sondos, Agentin des Service Canadien de renseignement de sécurité. Jetzt darf ich Sie bitten zu sagen, wer Sie sind.«

Er ruckelt sich kurz auf seinem Stuhl zurecht und sieht ihr direkt in die Augen.

»Mein Name ist Victor Lessard.«

Leere Versprechungen

Victor öffnete die Glastür und trat hinaus in die Kälte des Tages. Sein Herz pochte bis in die Schläfen, als er der Blutspur hin zum Ende des langen Gebäudevorsprungs folgte.

Der Mann lehnte mit aufgeschnittenen Pulsadern am Geländer und sah ihm entgegen. Der kupferfarbene Himmel rahmte seine schmächtige Gestalt. Das Messer, das er in der zitternden Hand hielt, blitzte in der Sonne, während er einen Blick über die Schulter warf. Sechs Stockwerke tiefer, auf dem überfüllten Parkplatz des Casino de Montréal, strömte eine Menge von Schaulustigen zusammen. Zwischen kurzen Atemstößen rief er Victor etwas zu. Seine helle, angsterfüllte Stimme hallte vom Beton wider.

»Ich springe, wenn du noch näher kommst.«

Victor blieb stehen und hob die Hände, zog seinen Ohrstöpsel heraus und ließ ihn am Kabel baumeln. Dann lockerte er seine Krawatte und streifte sie über den Kopf, ohne den Knoten zu lösen. Vier Meter und eine Mauer des Schweigens trennten die beiden Männer.

Victor musterte den anderen, der sich mit dem Unterarm die Stirn abwischte und dabei Blut ins Gesicht schmierte: Mitte fünfzig, graues Haar, eine hagere Gestalt in schlackernden, abgewetzten Jogginghosen. Der Mann sah ihn seinerseits prüfend an.

Victor kannte diesen Blick. Es war nicht nur der eines Spielers, der zu viele Stunden an den Casinotischen zugebracht hatte. Es war der erloschene Blick eines Menschen, für den gewinnen oder verlieren keinerlei Bedeutung mehr hatte.

»Ich will nur meine Zigaretten rausholen.«

Der andere nickte. Victor steckte sich eine an, dann hielt er ihm das Päckchen hin. Der Mann verzog angewidert das Gesicht und lehnte kopfschüttelnd ab.

Victor stieß den Rauch langsam aus und fuhr dabei mit der flachen Hand über seinen Bürstenschnitt. Der Anflug eines Lächelns kräuselte seine Augenwinkel.

»Sie haben recht, irgendwann bringt mich das noch um.«

Der Mann fand Victors Galgenhumor nicht witzig, wurde aber ein wenig lockerer.

»Das ist meine letzte. Versprochen.«

Der Spieler spähte traurig zum Parkplatz hinunter.

»Leere Versprechungen. Das ist das Problem.«

Er blickte wieder zu Victor und entzifferte das Namensschild an seinem Revers.

»Victor Lessard. Es ist das erste Mal, dass ich dich hier sehe …«

»Ich arbeite auch noch nicht lange im Casino.«

»Was hast du vorher gemacht?«

Victor strich über seinen dichten Bart und senkte den Blick seiner grünen Augen in die des Mannes.

»Polizei. Kapitalverbrechen. Und Sie? Wie heißen Sie eigentlich?«

In seiner Schwermut gefangen, ließ der andere die Frage unbeantwortet und spann seinen Gedanken weiter.

»Ich hatte gesagt, dass damit Schluss wäre. Sechs Monate ist das jetzt her.«

Seinem kreidebleichen Gesicht und der Blutlache nach zu urteilen, die sich zu seinen Füßen sammelte, schätzte Victor, dass der Mann nur noch eine Stunde zu leben hatte, wenn er nicht schleunigst ins Krankenhaus gebracht wurde, vielleicht weniger.

»Leere Versprechungen?«

Der Mann schlug die Augen nieder.

Victor zuckte mit den Schultern und beäugte einen Moment lang seine Zigarette.

»Es ist eine Sucht.«

Er nahm noch einen Zug, dann zerdrückte er die Kippe mit dem Schuh. Der Mann sprach weiter.

»Das wird mir mein Sohn niemals verzeihen. Diesmal nicht. Ich kann nicht länger lügen.«

Zehn Meter hinter Victor flog die Glastür auf, und heraus stürmte ein athletisch gebauter Mann mit kahl rasiertem Schädel, der einen weinroten Anzug trug.

Bei seinem Anblick kletterte der Verzweifelte auf das Geländer.

»Wer bist du? Verzieh dich!«

Victor beschwichtigte ihn mit ruhiger Stimme.

»Ich regle das. Einen Moment bitte.«

»Ich springe, wenn er nicht verschwindet!«

Ein Passagierflugzeug durchschnitt mit lautem Getöse den Himmel. Ohne sich umzudrehen, gab Victor seinem Vorgesetzten, dem Sicherheitschef, ein Zeichen, stehen zu bleiben.

»Alles in Ordnung, Dionne. Wir unterhalten uns. Sorg dafür, dass wir nicht mehr gestört werden.«

Dionne nickte, als er die Situation erfasst hatte, machte nach kurzem Zögern kehrt und entfernte sich. Victor wartete, bis die Glastür sich wieder geschlossen hatte, dann setzte er das Gespräch behutsam fort.

»Ihr Sohn wird Ihnen verzeihen, ganz gleich, was Sie getan haben.«

»Nein! Es gibt Dinge, die sind einfach unverzeihlich.«

Victor zupfte an seiner Krawatte.

»Sie können sich ändern. Man kann sich immer ändern.«

»Wenn du dich splitternackt ausgezogen hast, weißt du, wer du wirklich bist.«

Er bedachte Victor, dessen Handy in diesem Moment in der Tasche vibrierte, mit einem zerknirschten Lächeln.

»Aber danke, dass Sie mir zugehört haben.«

Dann ging alles ganz schnell. Während Victor seine Einsneunzig in Bewegung setzte und nach vorn hechtete, schloss der Mann die Augen und ließ sich in die Tiefe fallen.

 

Die Spätnachmittagssonne hüllte ihre vollschlanke Gestalt in goldenes Licht, und während sie von einem Bein auf das andere trat und an die Scheibe trommelte, hielt sie die linke Hand weiter ans Ohr gedrückt.

Ihr Blick strich über das Stadtzentrum weit unten, in dem es wimmelte wie in einem Bauch, der von Maden aufgefressen wird, wanderte die Rue University hinauf, mäanderte durch das McGill-Ghetto und verlor sich dann am Mont Royal. Der Hügel trug bereits sein Herbstkleid. Durch das Loch, das die Kugel in die Scheibe gebohrt hatte, hörte sie das Rauschen des Verkehrs und das Hupen der Taxis.

Stöhnend vor Ungeduld wartete Jacinthe Taillon, bis Victors Stimme verstummte und der Piepton erklang, dann sprach sie ins Handy:

»Hallo, mein Lieber. Tja, ich bin’s schon wieder. Äh … entschuldige, ich weiß, ich sollte dich eigentlich nicht bei der Arbeit stören …«

Sie musste grinsen.

»He, ich stelle mir gerade vor, wie du ganz entspannt mit deiner kleinen Thermoskanne Kaffee im Casino sitzt und dir die Bilder deiner Überwachungskameras anschaust …«

Sie wurde wieder ernst. Der Anblick ihres Gesichts, dessen

»Jedenfalls würde ich gern mit dir über etwas reden. Über etwas anderes …«

Die Frau, die im Kollegenkreis »die dicke Taillon« genannt wurde, drehte sich in den Raum um, in dem Techniker von der Spurensicherung um eine Leiche herumwuselten.

»Und übrigens, ich langweile mich null. Natürlich wirst du jetzt sagen, das liegt daran, dass meine neue Partnerin viel sexyer ist als du …«

Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Nadja Fernandez, die junge Ermittlerin südamerikanischer Abstammung, die gerade mit Jacob Berger, dem Pathologen, sprach. Ihr schwarzes Haar brachte ihre makellosen Züge und ihre Lippen noch besser zur Geltung.

»Ruf mich aber auf jeden Fall zurück.«

Sie legte auf. Trotz des Spotts in ihrer Stimme ging ein Ausdruck tiefer Traurigkeit über ihr Gesicht. Mit wenigen Schritten trat Nadja zu ihr. Sie hielt ein Notizbuch in der Hand.

»Mit wem hast du gesprochen?«

»Äh … mit der Leichenhalle. Sie kommen.«

Die junge Frau sah sie an, halb verdutzt, halb amüsiert.

»Na klar. Ich habe sie ja angerufen …«

Jacinthe überging die Bemerkung und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Jacob Berger, der zu ihnen herüberkam. Ein verschmitztes Lächeln spielte um ihre Lippen.

»Hallo, Burgers!«

Der Pathologe verdrehte die Augen. Er wusste, dass sie seinen Nachnamen mit Absicht verballhornte, aber es nervte ihn immer wieder aufs Neue, als wäre es das erste Mal.

Ohne die Handschuhe auszuziehen, griff Jacinthe in die Tasche ihrer Cargohose, brachte eine Handvoll

»Delaney ist wieder da, Burgers …«

Tatsächlich war der Commandant der Abteilung Kapitalverbrechen soeben von einer mehrwöchigen Reise mit seiner unheilbar krebskranken Frau zurückgekehrt.

Berger zeigte ihr offen seine Verachtung.

»Ich sehe da keinen Zusammenhang, Taillon.«

»Ach nein? Du wirst ihn anrufen und dich beschweren, falls du auf dem Fußboden Sonnenblumenkerne findest.«

 

Auf dem Casinoparkplatz waren alle Blicke auf die beiden Gestalten gerichtet, die sich sechs Stockwerke höher am Rand des Gebäudevorsprungs damit abmühten, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Dem einen, der versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, war der Schrecken am Gesicht abzulesen.

»Ich will nicht sterben!«

Der Mann baumelte über dem Abgrund und hielt mit blutleeren Fingern die Krawatte umklammert, die Victor, gegen das Geländer gestemmt, mit beiden Händen festhielt.

Dann sah Victor, wie die Finger des Mannes an dem Stoff entlang nach unten glitten. Sein Gesicht wurde puterrot, und die Adern an seinem Hals traten noch stärker hervor, als er in einem letzten verzweifelten Versuch die Muskeln anspannte und mit aller Kraft zog, um ihn zu sich hochzuhieven.

In der Ferne begann eine Sirene zu heulen, doch sie klang wie aus einer anderen Welt. Und selbst wenn man gegen Angst und Einsamkeit nie etwas tun kann, so verschmolzen jetzt die Blicke der beiden Männer und wurden eins.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Zwei Stunden später parkte Victor den grauen Saab 900 Turbo, den er gebraucht gekauft hatte, in der Avenue des Canadiens-de-Montréal. Seine Geliebte, Nadja Fernandez, kannte sich mit Autos aus und hatte ihn vor der zweifelhaften Technik dieses alten Modells von 1993 gewarnt, dem Jahr, in dem die Montréal Canadiens letztmals den Stanley Cup gewonnen hatten. Doch Victor hatte der Patina der braunen Ledersitze einfach nicht widerstehen können.

Er stieg aus dem Wagen und inspizierte seine Kleidung. In einer perfekten Welt wäre er schnell nach Hause gefahren und hätte sich umgezogen. Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Die Augen mit einer Hand beschirmend, spähte er an dem Wolkenkratzer nach oben. Die blendenden Strahlen der untergehenden Sonne umschlangen den Glastower wie die Tentakel eines Kraken.

Er hatte Lust auf eine Zigarette, widerstand aber dem Verlangen und ging zum Eingang, wo ein Streifenpolizist wartete, der ihn zum Aufzug brachte. Allein in dem Stahlkäfig, drückte er auf den Knopf der vierundvierzigsten Etage. Während die Kabine gen Himmel schwebte, nahm er die rechte Hand in die linke, um das Zittern, das sie schüttelte, zu stoppen.

Ein uniformierter Polizist hielt auf dem Flur Wache. Sie kannten sich vom Sehen und grüßten sich. Dann hob der Ordnungshüter das gelbe Plastikband an, und Victor schlüpfte gebückt darunter durch. Vor der Tür zögerte er. Er hatte Angst davor, in das Grauen einzutauchen, das er unweigerlich dahinter vorfinden würde. Doch

Die Scheinwerfer blendeten ihn, und so kniff er die Augen zusammen, um das vertraute Ballett, das in der Wohnung aufgeführt wurde, besser sehen zu können. Kriminaltechniker in weißen Overalls tänzelten durch den Raum, als ob sie imaginären Strichlinien auf dem Boden folgten.

Er warf einen Blick in die Runde: Er befand sich in einem dieser Luxuswohntürme, die rund um das Centre Bell, zugleich Biertempel der Brauerei Molson und Hockeyarena der Canadiens, wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Der offene Wohnraum beherbergte links von der Eingangstür eine umgekehrt l-förmige Theke aus schwarzem Granit, die eine hochmoderne Küche umschloss. Dahinter bemerkte Victor einen Korridor, der zur Toilette und den Schlafzimmern führen musste.

Der Wohn- und Essbereich, der sich zu seiner Rechten erstreckte, war minimalistisch eingerichtet und endete an einem freihängenden Gaskamin mit einem Brenner aus schwarzem Stahl. Die Glaswand gegenüber ging auf einen Wald aus Wolkenkratzern hinaus.

Victor registrierte die unverputzten Betonwände, die klaren Linien, die klinische Nüchternheit der Einrichtung, doch in erster Linie beschäftigte sich sein Gehirn mit dem Blut auf dem Fußboden nahe dem Kamin, einer großen Lache, dunkel und glibberig, deren metallischer Geruch ihm den Magen umdrehte.

Das Blut. Das war es, was er betrachtete, noch vor der Leiche. Einmal, weil dieses Blut das ausgelöschte Leben symbolisierte. Und dann, weil sich der Hergang des Geschehens daraus ableiten ließ. Es war tragisch, wenn ein Mensch das Leben verlor, und noch tragischer, wenn er es durch Mord verlor.

In einem ersten Schritt galt es die Angehörigen aufzusuchen und sich ihren Gefühlen zu stellen: ihrer Sprachlosigkeit, ihren Fragen, ihren Schreien, ihren Tränen, ihrer Fassungslosigkeit. Und

Victor näherte sich dem Toten. Es handelte sich um einen blonden Mann mit widerspenstigen Strähnen, der mit dem Gesicht nach unten in der Blutlache lag. Nach der sichtbaren Hälfte des bleichen Gesichts zu urteilen, zwischen dreißig und fünfundvierzig Jahre alt.

Victors Blick wanderte zu der Eintrittswunde, die auf Höhe des linken Schulterblatts deutlich zu erkennen war. Das Projektil hatte das T-Shirt zerfetzt. Ursprünglich grau, hatte das besudelte Textil eine goldbraune Farbe angenommen.

Um seine aufsteigende Übelkeit niederzukämpfen, atmete Victor tief durch. Kurz glaubte er, an die Luft zu müssen, doch das Unwohlsein verflog gleich wieder. Er ging zu der Glaswand, wo ein Kriminaltechniker Proben sammelte, und nahm das Loch in Augenschein, das die Kugel in Kopfhöhe in die Scheibe gerissen hatte. Es weitete sich kegelförmig nach innen, und an seinen Rändern entsprangen feine Risse wie in einer geborstenen Eisdecke. Kein Zweifel, der Schuss war von draußen abgegeben worden.

Victor drehte sich um und blickte zur gegenüberliegenden Wand, an der unten mit roter Kreide ein Loch im Beton umkringelt war. Dort hatte die Kugel ihren Flug beendet, nachdem sie das Opfer durchbohrt hatte. Verwundert nahm er zur Kenntnis, dass das Projektil mehr als einen Meter unterhalb des Lochs in der Scheibe eingeschlagen hatte. Nur ein Einschlag.

Schweren Herzens griff er nach den Zigaretten in seiner Jackentasche. Obwohl er schon vor längerer Zeit den festen Vorsatz gefasst hatte, sich von seiner Abhängigkeit zu befreien, blieb der Tabak ein treuer Verbündeter im Kampf gegen die Finsternis.

Und er wollte nie wieder seine Lieben vernachlässigen.

Sein Sohn Martin, der seine eigenen Probleme hatte, war noch nicht aus Saskatchewan zurückgekehrt, wo er auf der Farm seines Onkels arbeitete. Und seine Tochter Charlotte, aus der eine hübsche junge Frau geworden war, intelligent, zielstrebig und gebildet, studierte erfolgreich Journalistik. Im Moment weilte sie in Paris, wo sie ihre letzten Prüfungen ablegte.

Auch wenn er sich selbst die Schuld an den Schwierigkeiten gab, die Martin hatte, so wäre er andererseits nie auf die Idee gekommen, den Erfolg seiner Tochter an die eigene Fahne zu heften. Er wollte sich die nötige Zeit nehmen, um die Erwachsenen, zu denen seine Kinder geworden waren, besser kennenzulernen, damit er in dem Leben, das sie sich aufbauten, kein Fremder wurde.

Das war alles.

Victor wandte sich wieder der Glaswand zu. Im Spiegelbild der Scheibe begegnete sein Blick dem eines Technikers, der ihn grüßte. Als Schicksalsgenossen waren sie sich schon hundertmal begegnet, hatten aber keine zehn Worte gewechselt. Er nickte ihm zu und versuchte dann anhand der Einschlagspuren zu bestimmen, wo der Schütze gestanden haben könnte.

Er überlegte einen Moment, dann kehrte er zu dem Toten zurück. Als er sich über ihn beugte, spiegelte sich sein Gesicht in der Blutlache. Er sah aus wie ein alter Löwe, der über das Leid der Welt grübelte.

Er schloss die Augen. Alte Erinnerungen stiegen in ihm auf. Bilder der Opfer. Gesichter des Todes. Die Gespenster, die ihn verfolgten. Er hatte so viele Leichen gesehen, so viele zerstörte Leben, so viel heimtückische Gewalt. Er hatte Mitleid mit diesen

Und deren Schmerz im Verlauf jeder Ermittlung sein eigener wurde. Häufig auf Kosten seiner körperlichen und geistigen Gesundheit.

Möglicherweise lag das auch ein wenig an dem Schicksalsschlag, den er selbst in seiner Kindheit erlitten hatte. Mit Gewissheit würde er das nie sagen können.

Um die düsteren Gedanken zu verscheuchen, pumpte er seine Lunge voll Luft und atmete langsam durch den Mund wieder aus. Nach und nach verblassten die Bilder. Doch mit jedem Tag schleppte er schwerer an dieser Last, die ihn zu erdrücken drohte. Und ganz gleich, was ihm noch widerfahren, was das Leben noch für ihn bereithalten mochte, er würde sie niemals abwerfen können, so wie er niemals von seiner Alkoholsucht loskommen würde. Bestenfalls konnte es ihm gelingen, Zeit zu gewinnen, den Ablauf der Frist hinauszuschieben, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Nun aber genug davon.

Er öffnete die Augen, als eine Stimme in seinem Rücken ihn veranlasste, sich umzudrehen.

»Na, so was! Wen haben wir denn da?«

Jacinthe kam den Flur herunter und blieb zwei Meter vor ihm stehen. Mit spöttischer Miene musterte sie ihren Expartner eingehend von Kopf bis Fuß und stieß dann einen Pfiff aus.

»Na ja, nicht übel, der Anzug … Ist der geliehen?«

Victor grinste.

»Sagen wir, ich habe mir eine Kaufoption gesichert.«

»Cool. Und die roten Flecken, waren die schon drauf?«

Er brauchte nicht nachzusehen: Auf Jacke und Hemd war Blut von dem Mann, den er gerettet hatte. Er zuckte lässig mit den Schultern.

»Das ist Ketchup. Ich muss besser aufpassen.«

»Du bist echt bescheuert, Lessard!«

Nachdem sie sich herzhaft gedrückt hatten, trat Jacinthe einen Schritt zurück, und beide lachten, um ihre Nervosität und Verlegenheit zu überspielen. Denn sie hatte ihm zwar viele SMS geschickt, die im Übrigen unbeantwortet geblieben waren, und mehrmals vorgeschlagen, »zusammen essen zu gehen«, doch dies war ihr erstes Wiedersehen, seit er nach Abschluss des Sprayer-falls bei Marc Piché, dem Direktor des Montréaler Polizeidienstes SPVM, seine Kündigung eingereicht hatte.

»Was außer faulenzen hast du eigentlich gemacht, bevor du in deinen neuen Job eingestiegen bist?«

Victor überlegte, während er die Gummihandschuhe nahm, die sie ihm hinhielt. Abgesehen von seinen häufigen Besuchen im Hospiz, wo er an Ted Rutherfords Bett gesessen hatte, verschwamm alles in seiner Erinnerung.

Er hatte sich wohl zum x-ten Mal die Kämpfe Muhammad Alis auf seinem Blu-Ray-Player angesehen, außerdem Tierfilme, und er hatte Blumen auf das Grab seiner Familie auf dem Friedhof Notre-Dame-des-Neiges gelegt, aber die übrige Zeit hatte er nur im Sessel gehangen und zwischen Schüttelfrost und Schweißausbrüchen im Halbschlaf dahingedämmert, in dem er von albtraumhaften Bildern verfolgt wurde, ehe er keuchend hochschreckte, um dann, nachdem er sich beruhigt hatte, in einen tieferen Schlaf zu sinken.

Tatsache war, dass er diese Zeit für sich gebraucht hatte, um sich zu entwöhnen. Denn für Victor Lessard war die Jagd nach Mördern eine Sucht, eine harte Droge. In der Hinsicht war er ein Junkie der schlimmsten Sorte.

»Ground control to Major Tom. He, Lessard?«

Jäh in die Gegenwart zurückgeholt, stammelte Victor los.

»Äh … nicht viel … relaxt.«

Lieber hätte er geantwortet, er hätte regelmäßig Nadja bekocht, wenn sie von der Arbeit kam. Aber dazu hatte ihm die Kraft gefehlt. Abgesehen von seltenen Ausflügen ins Lebensmittelgeschäft Akhavan, wo er sich mit Pizzen, Hummus und mariniertem Huhn eindeckte, hatte er sich unter dem Vorwand, die Restaurants im Viertel ausprobieren zu wollen, das Essen ins Haus liefern lassen. Nadja respektierte zwar sein Bedürfnis, mal total abzuschalten, hatte sich deshalb aber nichts vormachen lassen.

Jacinthe musterte ihn mit durchdringendem Blick.

»Was ist? Hast du keine Lust, darüber zu reden?«

»Es hat nichts mit dir zu tun.«

Sie ging in Richtung Glaswand, machte dann kehrt, baute sich vor ihm auf, stemmte die Hände in die Hüften und knurrte:

»Ich habe dich angerufen, dir gesimst und Nachrichten hinterlassen. Du bist einfach abgetaucht, Lessard!«

Victor senkte den Kopf.

»Ich habe Zeit gebraucht. Ich musste einen Schnitt machen.«

»Ich wollte doch nur mit dir reden. Fünfzehn Jahre löscht man nicht einfach so aus. Mann, wir waren Partner!«

Er schaute wieder auf und sah ihr in die Augen.

»Du hast recht, ich weiß.«

»Heute habe ich dich zum ersten Mal wegen etwas angerufen, das mit dem Job zu tun hat. Und prompt stehst du auf der Matte. Erklär mir das.«

Victor quittierte den Vorwurf mit Schweigen. Er verstand es selbst nicht. Er schlüpfte gerade in die Gummihandschuhe, als Nadja zu ihnen stieß. Obwohl sie eine dienstliche Miene aufsetzte, verrieten ihre Augenwinkel, dass sie sich freute, ihn zu sehen.

Er lächelte und strich ihr über die Wange. Paul Delaney hatte beschlossen, Nadja so lange im Dezernat Kapitalverbrechen zu behalten, bis er jemand gefunden hatte, der die große Lücke, die Victor hinterlassen hatte, schließen konnte.

»Keine Sorge, ich hab verstanden.«

Nadja legte die Stirn in Falten, als sie die Flecken auf seinem Anzug bemerkte.

»Das ist doch Blut, oder? Ist alles in Ordnung?«

Er winkte ab.

»Alles okay. Ich erkläre es dir später.«

Sie stutzte, sah ihm prüfend ins Gesicht und nickte.

Jacinthe schob die Daumen in ihren Gürtel und zog ihre Hose hoch.

»Das reicht, ihr Turteltauben, ihr könnt euch nachher ein Zimmer suchen.«

Nadja begriff, dass dieses Wiedersehen für die beiden wie eine Art Stammesritus war, rang sich ein Lächeln ab und entschwand ohne ein weiteres Wort.

Jacinthe sah ihr nach, wie sie in den Flur einbog, der zu den Schlafzimmern führte.

»Mit ein bisschen Erfahrung wird sie fast so gut werden wie du.«

Victor sah seine Expartnerin ernst an.

»Wenn der Chef erfährt, dass ich an einem Tatort aufgekreuzt bin, kriegen wir Ärger …«

Er hatte vor Marc Piché keine Angst, aber er war lieber auf Abstand bedacht. Er hatte auch deshalb gekündigt, weil er sich außerstande gesehen hatte, weiter unter dem Mann zu arbeiten. Er war nämlich zu der Überzeugung gelangt, dass der Direktor des SPVM Tötungsdelikte eines hochrangigen Polizisten gedeckt hatte.

Jacinthe machte ein finsteres Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ach ja? Und die Streifenpolizisten? Die Kriminaltechniker? Alle haben mich gesehen. Irgendeiner wird es ausplaudern.«

Ein wildes Funkeln trat in Jacinthes Augen, und auf ihre Lippen das boshafte Grinsen eines Menschen, der sich wünschte, dass es genau dazu kam. Mit lauter Stimme rief sie drohend in die Runde:

»Der Erste, der redet, kriegt eins in die Fresse.«

Victor seufzte resigniert. Manche Dinge änderten sich eben nie. Die erlesenen Manieren seiner Expartnerin gehörten dazu.

»Für den Fall, dass es noch nicht bei dir angekommen ist, ich habe den Dienst quittiert, Jacinthe.«

»Du hast recht, genau da liegt das Problem: Es ist noch nicht bei mir angekommen. Ich war mir sicher, dass du zurückkommst, wenn du zehn Tage zu Hause Däumchen gedreht hast. Aber nein, der Herr muss sich einen anderen Job suchen. Scheiße, Lessard! Sicherheitsdienst im Casino … Ist das dein Ernst?«

Sie starrten sich einen Moment lang an. Doch in Jacinthes Blick lag kein Vorwurf. Nur die Ohnmacht und Enttäuschung einer Frau, die fest davon überzeugt war, dass ihr Freund gerade sein Leben gegen die Wand fuhr, und sich Vorwürfe machte, weil sie ihn hatte gewähren lassen. Sie wusste es! Sie brauchte ihn. Und er sie, davon war sie überzeugt. Lessard musste in seinen alten Job zurück. Er brauchte diese Arbeit. Daran würde sich nie etwas ändern.

Es war Victor, der die Augen niederschlug und das Schweigen brach.

»Ich gebe dir fünf Minuten. Wer ist das Opfer?«

Time to rock and roll

Eine Stunde vor dem Mord

Seit Tagesanbruch lauern die beiden Männer, mit schwarzen Overalls bekleidet und mit Knie- und Ellbogenschützern versehen, im dichten Gestrüpp auf einem Geländevorsprung. Der Schütze liegt auf dem Bauch, eine Sonnenbrille auf der Nase, das Präzisionsgewehr auf eine Unebenheit im Boden gestützt. Er lässt das Zielfernrohr von Stockwerk zu Stockwerk wandern. Der Beobachter, der rechts hinter ihm kniet, macht seine Messgeräte fertig.

»Ziel auf zwölf Uhr, Messiah. Gesehen?«

Der Schütze nickt, ohne den Blick zu heben. Der Beobachter zieht einen Militärcomputer zurate, der auf seinen Oberschenkeln liegt. Dann stellt er das Objektiv seines Fernrohrs ein.

»Okay. Sind wir so weit?«

Der Schütze dreht leicht an einer Stellschraube, um das Zielfernrohr scharfzustellen.

»Wir sind so weit, Black Dog.«

Der Beobachter fährt in roboterhaftem Ton fort.

»Wenn es Probleme gibt, treffen wir uns am Treffpunkt. Rückzugsmöglichkeit über die Kuppe oder den Wanderweg. Verstanden?«

»Roger. Time to rock and roll.«

Im Glastower ziehen Bilder aus dem Bewohneralltag an den Augen des Schützen vorüber. Im sechsten Stock ist ein Paar im Aufbruch begriffen, zweifellos um zur Arbeit zu gehen. Im vierzehnten machen Teenager die Nacht zum Tag und lassen eine

Messiah atmet tief ein. Im einunddreißigsten verharrt er bei einem Mann, der einem kleinen Mädchen vorliest.

Black Dogs Stimme knistert in seinem Ohrhörer.

»Noch keine Bewegung im Sektor Bravo.«

Aber Messiah hört ihn nur wie durch Watte. Beim Anblick des Kindes hat sein Herz zu klopfen begonnen. Um seinen Atem und seine Angst wieder unter Kontrolle zu bringen, lässt er das Gewehr sinken und hält kurz inne. Und dann, emotional aufgewühlt, erinnert er sich.

Afghanistan, 2011. Er liegt auf dem Dach eines Hauses in Schussposition. Die sengende Sonne blendet ihn. Er muss in einer belebten Straße eine Zielperson erschießen. Seine Beobachterin, eine junge Frau namens Iba Khelifi, liegt neben ihm. Ohne das Auge vom Okular ihres Spektivs zu nehmen, nervt sie ihn.

»Die Typen, mit denen du zusammen bist, lachen dich doch bestimmt aus, wenn sie sehen, dass du mit einer Araberin zusammen arbeitest. Wie hältst du das aus? Warum hast du darum gebeten, mit mir zu arbeiten?«

Messiah antwortet im selben sarkastischen Ton.

»Weil du am besten einen bärtigen Taliban von einem anderen bärtigen Taliban unterscheiden kannst.«

Iba lächelt spöttisch.

»Das stimmt … Neulich mit Marchessault hast du danebengeschossen.«

Aber Messiah schaut weiter in sein Zielfernrohr.

»Ich schieße niemals daneben. Aber ich möchte nie wieder auf das falsche Ziel schießen, weil mein Beobachter Mist gebaut hat.«

»Gut. Ich schätze dich für deine Fähigkeiten. Du schätzt mich aus demselben Grund. Ich behandle dich mit Respekt … Ich überlasse es dir, die Gleichung zu vervollständigen.«

»Es wird im Sektor A passieren. Die vier Fenster oben rechts. Bezugspunkte 1, 2, 3 und 4. Im Uhrzeigersinn. Verstanden?«

Messiah bestätigt und ändert seinen Schusswinkel. Iba stellt ihre Geräte ein. Die Warterei geht weiter, unerbittlich. Die brütende Hitze setzt ihnen zu.

 

Seit Stunden liegen sie reglos da. Messiah ist schweißgebadet und dehydriert. Nicht mehr lange, und er wird kollabieren. Zwei amerikanische F-15-Jagdbomber donnern mit hoher Geschwindigkeit über sie hinweg. Der Lärm ihrer Triebwerke lässt seinen Brustkorb vibrieren und die Mauern erzittern. Dann ertönt Ibas Stimme in seinem Ohrhörer. Endlich ist der Befehl da.

»Der Mann im blauen Kaftan. Er ist gerade herausgekommen …«

Iba Khelifi nimmt mit einem ihrer Geräte eine Messung vor.

»Zielfernrohr auf 1,3. Elevation beibehalten. Spin-Drift 3,4 Zentimeter.«

Messiah nimmt die Korrekturen sorgfältig vor.

»Verstanden. Eingestellt.«

»Feuer frei.«

Der Scharfschütze wischt sich den Schweiß von der Stirn. Die Zielperson schlendert in einer dichten Menge. Er holt tief Luft, dann nimmt er das bewegliche Ziel ins Visier.

Ibas Stimme drängt.

»Der Mann im blauen Kaftan. Worauf wartest du, Messiah?«

Als sein Zeigefinger den Abzug berührt, bleibt die Zeit stehen. Die Detonation zerreißt die Stille, und die Kugel beginnt pfeifend ihren Flug in Richtung Ziel. Dann durchfährt ein Zucken den Mann im blauen Kaftan, seine Arme werden nach hinten gerissen, und sein Körper sackt leblos in die Knie.

Er schließt die Augen und beginnt wieder zu atmen. Doch Ibas Stimme holt ihn ans Zielfernrohr zurück.

»Oh nein! Scheiße!«

Die junge Frau bemüht sich um einen sachlichen Ton.

»Kollateralopfer …«

Machtlos beobachtet Messiah durch sein Zielfernrohr eine Szene schieren Grauens: Das Projektil hat die Zielperson durchschlagen und ein kleines Mädchen getroffen, das hinter ihr an einer Mauer gesessen hat. Jetzt liegt es auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten, den Kopf im Staub.

Iba wendet sich ihm zu.

»Das konnten wir nicht ahnen.«

Messiah steht bereits.

»Wir müssen runter. Nachsehen.«

Sie hält seinen Blick fest und schüttelt den Kopf.

»Das ist keine gute Idee. Hier wimmelt es von Taliban.«

Aber Messiah will nicht hören.

»Ich habe gesagt, wir müssen runter, Khelifi! Das ist ein Befehl.«

Messiah kehrt langsam in die Gegenwart zurück. Er zieht einen blauen, ins Violette spielenden Stein aus der Brusttasche, betrachtet ihn und legt ihn vor sich hin. Diese einfache Geste hilft ihm, sich zu beruhigen. Wieder gefasst und Herr seiner Gefühle, nimmt er seine alte Position ein und sucht weiter die Stockwerke des Glastowers nach seiner Zielperson ab.

Gleich darauf ertönt Black Dogs Stimme. Sie klingt wie ein Knattern in der Luft.

»Sektor Bravo. Die beiden Fenster links. Das Licht ist gerade angegangen. Gesehen?«

»Die beiden Fenster links, Sektor Bravo. Gesehen.«

Im vierundvierzigsten Stock erscheint ein Mann mit blondem

»Kontakt. Zielperson am ersten Fenster. Bewegt sich nicht. Gesehen?«

Messiah trommelt mit den Fingern der linken Hand auf den Gewehrkolben, um sie zu lockern.

»Gesehen.«

Sie beobachten den Mann eine Weile schweigend, dann sagt Black Dog:

»Ich sende die letzte Nachricht.«

Er tippt ein paar Wörter in seine Tastatur. Unterdessen behält Messiah die Zielperson im Auge. Hellwach und hochkonzentriert, hört er nur noch das regelmäßige Schlagen seines Herzens. Sein Atem geht langsam und tief.

Black Dog studiert Graphiken, die er auf seinen Bildschirm geladen hat.

»Wir haben Gegenwind aus Ost. Korrigiere auf 2.1

Messiah dreht an einem Rad am Gewehr. Zwei Klicks sind zu hören.

»Okay. Korrigiert.«

Das Auge am Fernrohr, murmelt der Beobachter:

»Sieht so aus, als ob er mit jemandem spricht.«

»Ich kann den hinteren Teil des Raums nicht einsehen.«

Black Dog späht noch eine Weile durchs Fernrohr.

»Ich auch nicht. Toter Winkel. Okay. Wir bleiben auf der Zielperson. Hast du sie noch?«

»Die ganze Zeit.«

Ohne ihn anzusehen, spricht Black Dog dann die schicksalhaften Worte.

»Feuer frei.«

Den Zeigefinger am Abzug, atmet Messiah tief ein und hält die Luft an.

Zurück in alter Spur

Jacinthe hatte ins Schwarze getroffen. Warum hatte er auf ihre Nachrichten nicht reagiert, war aber sofort zur Stelle, als ein Mord geschehen war? Woher dieses plötzliche Bedürfnis, die Glut des Schreckens neu zu entfachen? Wollte er sich bestätigen, dass das Feuer endgültig erloschen war und dass er der Versuchung widerstehen konnte?

Oder litt er, als Mensch ein Gewohnheitstier voller Widersprüche, im Gegenteil so unter Entzug, dass er hergekommen war, um sich einen Schuss zu holen?

Diese quälenden Fragen beschäftigten Victor, während er auf das Display des Handys in seiner Hand schaute, auf dem das Facebook-Profil eines Mannes zu sehen war: dunkle Augen, schüchternes Lächeln, Brille mit Stahlfassung, schütteres, blondes Haar.

Seit einigen Wochen wollte er daran glauben, dass er Fortschritte machte, brauchte er das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein und das Blatt wenden zu können. Wie dumm von ihm, dass er wie auf Kommando hier erschienen war, ohne vorher nachzudenken.

In diesem Moment, als er spürte, wie sich etwas in seiner Magengrube zusammenballte, drang leise Jacinthes Stimme zu ihm.

»Das Opfer heißt Guillaume Lefebvre, siebenunddreißig Jahre alt. Er war Investigativjournalist.«

Victor kämpfte gegen die Unruhe an, die ihn befiel, und betrachtete noch einen Moment lang das Foto des Mannes. Etwas Anrührendes ging von ihm aus, eine Art Melancholie, die Schwermut eines Menschen, der schwere Zeiten durchgemacht hatte.

»Er war nicht irgendwer. Philosophiestudium an der Universität Montréal, Diplom in Internationalem Journalismus, von 2008 bis 2010 Büroleiter der Nachrichtenagentur AFP im Sudan, 2011 und 2012 Korrespondent in Pakistan. Anfang 2013 wechselt er zum Journal de Montréal und arbeitet in der Rechercheabteilung, wo er für eine Reportage über die Flüchtlingskrise mit dem Judith-Jasmin-Preis ausgezeichnet wird.«

Victor nahm die Informationen unbewegt zur Kenntnis und näherte sich dem Toten. Lefebvre war ein Ausnahmejournalist gewesen, von Kollegen und Lesern gleichermaßen geschätzt.

Wie zu sich selbst sagte er mit leiser Stimme:

»Ein Scharfschütze tötet einen Journalisten. Das wird Staub aufwirbeln.«

Jacinthe, der keine Silbe entgangen war, nickte.

»Verstehst du jetzt, warum ich dich hergebeten habe?«

Victors Blick wanderte von dem Loch in der Glaswand zu dem mit roter Kreide umkringelten in der Betonwand.

»Weil du dir ein Bild verschaffen willst, bevor Piché einen Bericht von dir verlangt …«

»… und weil du die Ermittlungen geleitet hast, als ein Sniper den Paten getötet hat.«

Der Boss der italienischen Mafia war 2010 in der Küche seiner Luxusvilla von einem draußen lauernden Schützen erschossen worden.

»Du weißt, worauf man achten muss … Ich habe ja mit einem Gipsbein zu Hause gelegen.«

Jacinthe hatte sich damals bei einem Motorradunfall das Schienbein gebrochen und mehrere Wochen im Dezernat Kapitalverbrechen gefehlt.

»Und nicht jeder von uns ist bei der taktischen Eingreiftruppe gewesen, Monsieur.«

»Das ist lange her.«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Unser Ballistiker hat seine Schwester in Rimouski besucht. Er ist unterwegs, wird aber erst in ein paar Stunden hier sein.«

Auf einmal war es so, als hätte es die letzten Wochen gar nicht gegeben, als führten sie ein Gespräch, das nie unterbrochen worden war, und hätten in die alte Spur zurückgefunden.

Victor kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken.

»Okay. Dein Journalist, Guillaume Lefebvre, war er verheiratet?«

Jacinthe nickte.

»Seine Frau ist …«

Sie schaute in ihr Notizbuch, blätterte ungeduldig in den Seiten.

»… 2016 gestorben. An einer Lungenembolie. Sie hieß Constance Awa … Awashish.«

Trauer um eine geliebte Frau. Victor dachte bei sich, dass allein dieser frühe Tod ein hinreichender Grund für die Schwermut war, die Lefebvre auf dem Foto ausstrahlte.

»Awashish, das ist doch ein indianischer Name. Kinder?«

Jacinthe nickte und zog erneut ihre Notizen zurate.

»Eine Tochter, Emma. Zwölf Jahre alt. Im September in die siebte Klasse gekommen. Collège de Montréal.«

Er schluckte die Info kommentarlos. Jacinthe sprach weiter, doch er hörte nicht mehr hin. Zwölf Jahre alt. Genauso alt wie er, als sein Vater in einem Anfall geistiger Umnachtung zum Mörder geworden war.

»He, mein Bester! Bist du noch da?«

Victor fuhr aus seinen Gedanken hoch. Jacinthes Gesicht, nur zehn Zentimeter von seinem entfernt, nahm sein gesamtes Blickfeld ein.

»Nur ein bisschen zu nah … Was hast du gesagt?«

»Die Kleine ist zu einem dreiwöchigen Fahrradcamp in Vermont. Wir haben die Familie verständigt.«

Er biss die Zähne aufeinander. Er dachte an dieses Kind, dem man bald mitteilen würde, dass es seinen Vater nie wiedersehen würde. Eine Waise, deren Leben man zerstören würde, so wie sein Vater seines zerstört hatte.

»Wen hast du zu der Familie geschickt? Den Gnom?«

Gilles Lemaire, mit Plateauschuhen eins fünfundsechzig groß, hatte zusammen mit Jacinthe ein Team gebildet, bevor Victor in die Abteilung Kapitalverbrechen zurückgekehrt war.

»Nein, Loïc. Gilles ist in die Abteilung Computerkriminalität versetzt worden.«

»Auf eigenen Wunsch?«

Jacinthe zog einen Flunsch.

»Es war wohl eher der Wunsch eines Mannes, der versucht, die Ehe mit einer Frau zu retten, die sich scheiden lassen will, obwohl sie sieben Kinder unter sechzehn haben.«

Kopfschüttelnd näherte sich Victor dem Esstisch. Es tat ihm leid für seinen alten Kollegen, dessen Beharrlichkeit er ebenso schätzte wie seinen Sinn fürs Detail.

»Gilles … Ich muss ihn unbedingt mal anrufen.«

Er deutete auf das Computernetzkabel, das in der Wand eingesteckt war. Jacinthe kam seiner Frage zuvor.

»Den Computer haben wir noch nicht gefunden. Nadja hat bei der Zeitung angerufen. Sie sind am Suchen.«

»Und sein Handy?«

»Burgers hat es in einer seiner Taschen gefunden. Lefebvre hat zum Entsperren einen Code benutzt, also weder Fingerabdruck noch die bescheuerte Gesichtserkennung. Ein Techniker sitzt dran, aber das könnte knifflig werden.«

Sie sah ihn verschmitzt an.

Sie hatte eine merkwürdige Art, einem mitzuteilen, dass sie sich geärgert hatte, doch Victor kannte die Tour in- und auswendig und ließ sich nichts vormachen.

»Hör bloß nicht mit deiner Therapie auf, egal was passiert. Es ist superwichtig, dass man sozialen Umgang lernt. Du wirst es schaffen, Jacinthe. Du wirst es schaffen. Und was hat die Befragung der Nachbarn ergeben?«

Sie gluckste.

»Absolut nichts. Nada.«

Sie legte ihm, nun wieder ernst, eine Hand auf die Schulter.

»Nadja hat mir von Ted erzählt. Wie es aussieht, hat er nicht mehr lange.«

Victor erstarrte. Er war noch weit davon entfernt, sich einzugestehen, dass es mit Ted zu Ende gehen könnte.

»Hat sie das zu dir gesagt?«

Jacinthe erkannte ihren Fehler und korrigierte sich.

»Vielleicht habe ich sie falsch verstanden. Na jedenfalls, wenn ich etwas tun kann …«

Gerührt über die Anteilnahme, lächelte Victor traurig.

»Danke, Jacinthe.«

Bewegt schlugen sie die Augen nieder und schwiegen eine Weile. Der Techniker war in einem Nebenraum verschwunden. Victor drehte sich um, betrachtete den Toten, der in seinem Blut lag, dann das Loch in der Glaswand.

»Wer hat ihn gefunden?«

Jacinthe deutete auf ein paar Kleidungsstücke, die in einer durchsichtigen Schutzhülle an einem Haken neben der Tür hingen.

»Das Gebäude hat einen Concierge-Service. Als Lefebvre nicht geöffnet hat, ist der Angestellte eingetreten und hat die Sachen

Sie hatte die letzten Worte besonders betont, aber Victor war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um auf ihren Scherz einzugehen.

»Ich habe auf der Etage keine Überwachungskameras bemerkt. Habe ich sie übersehen?«

»Es gibt einen altmodischen Begriff, und der lautet Privatsphäre, mein Lieber. Unten im Eingangsbereich findest du zwei Türen mit Schlüsselkarte und Kameras. Nadja hat die Aufzeichnungen angefordert.«

Victor nickte, ganz in seine Überlegungen vertieft. Jacinthe schob die Hände in die Taschen.

»In einem Punkt sind wir uns jedenfalls einig: Der Journalist ist von draußen erschossen worden.«

Er murmelte beifällig.

»Die Kugel ist unweit vom Brustbein wieder ausgetreten, richtig?«

»Sie hat das Herz knapp verfehlt. Schwere innere Verletzungen. Burgers hat mir noch mal die Sache mit der temporären Wundhöhle verklickert. Mann, wie mich das nervt, wenn er mich wie seine Praktikantin behandelt.«

Bei jeder Schussverletzung sah es der Pathologe als seine Pflicht an, ihnen zu erklären, dass es durch die Energieabgabe des Projektils an das Gewebe zu einer Ausdehnung kam, die eine Schädigung der benachbarten Knochen und Organe hervorrufen konnte, selbst wenn diese nicht im Schusskanal lagen.

Victor näherte sich wieder der Leiche.

»Was schätzt du, wie groß war Lefebvre? Eins fünfundachtzig?«

»Ja. Ungefähr.«

Er ging zur Glaswand, blieb vor dem Schussloch stehen und untersuchte es.

»Glaubst du, der Schuss kam von dem Gebäude gegenüber?«

Sie deutete nach Westen auf einen noch im Bau befindlichen Wohnturm. Er war ähnlich hoch wie der, in dem sie sich befanden.

Victor schüttelte ohne Zögern den Kopf.

»Bei dieser Entfernung wäre der Höhenunterschied zwischen dem Loch in der Scheibe und dem in der Betonwand nicht so groß.«

Jacinthe schob sich eine Handvoll Sonnenblumenkerne in den Mund.

»Vielleicht wurde die Kugel im Körper abgelenkt, weil sie auf Knochen oder Organe getroffen ist.«

Er streckte ihr die gummibehandschuhte Hand hin.

»Ich würde dir gern ein paar abnehmen.«

»Ich wusste nicht, dass du ein Körnerfresser bist.«

Kurz entschlossen füllte sie ihm die hohle Hand bis zum Rand. Er schloss die Augen und schüttelte resigniert den Kopf.

»Ach ja, entschuldige, ich muss noch an meinen sozialen Kompetenzen arbeiten, richtig?«

Er verkniff sich ein Grinsen, schob ein paar Kerne in den Mund und den Rest in die Jackentasche.

»Die Kugel wurde nicht abgelenkt. Sieh dir das Loch in der Scheibe an. Er ist ungefähr auf meiner Schulterhöhe. Geschätzte eins siebzig vom Boden aus.«