Über das Buch

Ein weltberühmter Dichter erinnert sich an seine Kindheit und Jugend in Peking: »Bei Daos Leben und Werk sind der Inbegriff der Dichtung: zeitlos schimmernd.« Ocean Vuong

Der weltberühmte Dichter Bei Dao, der nach Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens des Landes verwiesen wurde, erinnert sich: an seine Kindheit in Peking und seine turbulente Jugend während der Kulturrevolution, an die berauschende und festliche Stimmung dieser Zeit, an die Roten Garden, denen er sich als Siebzehnjähriger anschloss. Das intim Familiäre und das lärmend Politische, die Begeisterung und die Ernüchterung, das Feiern, auf das die Hungersnot folgt: All dies erzählt Bei Dao in seinem einzigartigen Erinnerungsbuch, in dem er seine verlorene Stadt mit all ihren Empfindungen, Gerüchen und Geräuschen aufleben lässt, »um das Peking von heute zu widerlegen.«

Bei Dao

Das Stadttor geht auf

Eine Jugend in Peking

Aus dem Chinesischen und mit einem Essay von Wolfgang Kubin

Hanser

Bei Dao im Schaffellmantel seines Vaters, 1970

Für Tian Tian und Duo Duo

Stadttor, Stadttor, wie hoch bist du denn?

Sechsunddreißigmal drei Meter!

Was für ein Schloss krönt dich denn?

Ein großes Eisenschloss mit einem Diamanten!

Stadttor, Stadttor, gehst du nun auf oder nicht?

Aus einem Kinderreim

Vorrede

Mein Peking

Ende 2001 kehrte ich nach Peking zurück. Dreizehn Jahre war ich von meiner Heimatstadt getrennt gewesen. Die schwere Erkrankung meines Vaters hatte mir die Rückkehr ermöglicht. Selbst wenn ich vorbereitet gewesen wäre, hätte ich nicht ahnen können, dass ich die Stadt kaum wiedererkennen würde. Peking war mir fremd geworden: Mit einem Male war ich ein Heimatloser in meiner eigenen Heimat.

Ich wurde in Peking geboren, wo ich die erste Hälfte meines Lebens, die Kindheit und Jugend, verbracht habe. Die Erfahrungen meines Heranwachsens sind mit Peking aufs engste verbunden. Doch sind sie zusammen mit dieser Stadt entschwunden.

In dem Moment hatte ich den Wunsch, dieses Buch zu schreiben: Ich würde das geschriebene Wort einsetzen, um eine andere Stadt, um mein Peking wiederaufzubauen. Ich würde mit meinem Peking das Peking von heute widerlegen. In meiner Stadt sollte die Zeit rückwärtslaufen, die verdorrten Bäume wieder grünen, die verschwundenen Düfte, Stimmen und Lichter zurückkehren. Die demolierten Hofhäuser, Gassen und Tempel sollten ihr altes Aussehen wiedergewinnen, die Reihen der Ziegeldächer wellengleich zum Horizont aufsteigen, der tiefblaue Himmel vom Pfeifen des Taubengefieders klingen. Die Kinder sollten wieder um den Wechsel der Jahreszeiten wissen, die Einwohner wieder ein Gefühl der Orientierung im Herzen tragen. So öffne ich denn das Stadttor und heiße die Dahintreibenden der vier Meere willkommen, heiße die einsamen Seelen willkommen, die kein Heim mehr haben, heiße alle neugierigen Reisenden willkommen.

Diese Art Bauprojekt zog sich dahin, es war schwieriger als gedacht. Erinnerung hat die Eigenart zu selektieren, zu verschwimmen, auszuschließen und kann gleichzeitig wie im Winterschlaf jahrelang überdauern. Das Schreiben dagegen ist der Weckruf der Erinnerung. Im Irrgarten des Gedächtnisses führt ein Tunnel zu einem weiteren Tunnel, eine Tür öffnet sich einer weiteren Tür.

Kindheit und Jugend sind im Leben eines Menschen so prägend, dass sich fast alles, was danach kommt, in dieser Zeit herausgebildet hat. Der Rückblick ist wie eine prähistorische Ausgrabung, bei der man Freud und Leid im Nachhinein wiederentdeckt. Wenn es heißt, Aufbruch und Heimkehr seien die zwei Enden eines Weges, dann ist man der Kindheit umso näher, je weiter man geht. Ja, es war gerade dieser Ruf der Vergangenheit, der mich Richtung Himmel und Meere zog.

Mein besonderer Dank gilt Cao Yifan, meinem Nachbarn, Kumpan und Mitschüler. Er spielt nicht nur im vorliegenden Buch eine wichtige Rolle, mehr noch ist es seine erstaunliche Erinnerungsgabe, die mir half, eine Fülle wichtiger Details zu rekonstruieren. Natürlich habe ich auch dem Literaturkritiker Li Tuo und meiner Frau Gan Qi zu danken. Sie sind die zwei kritischen Leser, die mir das Gefühl gaben, beim Schreiben gleichsam auf dünnem Eis unterwegs sein.

Licht und Schatten

I

Ende 2001 kehrte ich in meine Heimat zurück, von der ich dreizehn Jahre getrennt gewesen war. Als sich das Flugzeug zur Landung anschickte, quollen tausend Lichter, die wie Tropfen zu wirbeln schienen, gleichsam in das Bullauge ein. Ich war wirklich erschrocken: Peking gab sich wie ein riesiges Fußballstadion im Flutlicht. Es war ein Abend im tiefen Winter. Hinter der Passkontrolle erwarteten mich drei Unbekannte mit einem Schild hoch in den Händen, auf dem »Herr Zhao«, mein eigentlicher Familienname, geschrieben stand, um mich willkommen zu heißen. Obwohl von ungleicher Gestalt, ähnelten sie einander sehr. Das einsame Licht diente ihnen als Folie und machte sie zu Schatten aus einer anderen Welt. Die Begrüßungszeremonie war kurz und bündig, danach Schweigen. So ging es in eine schwarze Limousine. Da erst begannen die drei Herren zu sprechen. Schwer zu sagen, ob es sich um Höflichkeitsfloskeln handelte oder um Einschüchterungsversuche, so sehr war ich von den vorbeiströmenden, auf mich einstürzenden Lichtern abgelenkt.

Zur Zeit meiner Kindheit waren die Abende und Nächte in Peking allzu finster, allzu duster. Im Vergleich mit heute um ein Hundertfaches dunkler. Führen wir ein Beispiel an: Unser Nachbar Zheng Fanglong bewohnte mit seiner Familie zwei Zimmer. Da gab es insgesamt drei Neonlampen: acht Watt in der Diele, drei Watt im Schlafzimmer, Toilette und Küche nutzten gemeinsam drei Watt (das Licht hing in einem kleinen Fenster dazwischen). Mit anderen Worten, wenn die Familie Neujahr feierte oder sich an einem einzigen Tag auslebte, verbrauchte sie nur vierzehn Watt Strom. Das entsprach noch nicht einmal der Helligkeit, die heute ein moderner Ankleidespiegel mit seinen kreisförmigen Birnen spendet.

Dies ist vielleicht für die Gasse Sanbulao Nr. 1 ein extremes Beispiel, doch der Rest von Peking, so befürchte ich, blieb weit unter diesem Standard. Meine Mitschüler hatten sich oftmals in einem einzigen Raum eine einzige Lampe zu teilen. Dem Familienoberhaupt oblag die Aufgabe der »Lichtkontrolle«. Kaum war die Lampe an, hieß es schon: »Und die Hausaufgaben? Red nicht so viel! Morgen ist auch noch ein Tag.« 

Glühbirnen hatten normalerweise keinen Lampenschirm. Die Dunkelheit war sanft. Ein Schirm erzeugte einen geheimnisvollen Lichthof, aus dem ein hoher Lichtpunkt hervorsprang, der alle Einzelheiten der Finsternis auslöschte. Damals machten sich die jungen Damen noch nicht zurecht, sie waren über die Maßen schön. Sicherlich hatte das etwas mit dem Licht zu tun. Das Aufkommen der Neonlampe war ein Desaster. Das Licht blendete uns, es überwarf Himmel und Erde, nichts konnte es aufhalten. Ganz wie in einer Hühnerfarm, wo es des Nachts hell bleibt, damit die Hennen mehr Eier legen, schuf die Neonlampe die Illusion des Tages. Der Mensch legt keine Eier und so kommt er noch weniger zur Ruhe. Nervosität ist sein Schicksal. Schade nur ist, dass die Schönen nicht mehr wiederkommen. Ihre Gesichter wirken heute fahl, Puder und Schminke sind ohne Gewinn. Am schlimmsten sind die Kinder dran. Unter dem Neonlicht können sie sich nirgendwo mehr verstecken, sie sind der Fantasie beraubt. Zu früh hat man sie auf die offenen Plätze der Barbarei entlassen.

Unser Physiklehrer meinte, wenn jemand einen finsteren Raum betritt, dann nehme seine Sehfähigkeit innerhalb kürzester Zeit um ein Vielfaches zu. Augenscheinlich lässt Dunkelheit den Menschen besser sehen. Das Licht sei urtümlich eines der Zeichen menschlicher Evolution, doch kaum des Guten zu viel, bringe die Evolution Tagesblindheit mit sich. Aus damaliger Perspektive betrachtet, waren wir scharfsichtig wie die Wölfe, die ihr Auge je nach Situation schnell und präzise ausrichten können: zack, da der Feuerschein, zack, da die Schafherde, zack, da die schönste aller Wölfinnen.

Damals gab es »Brillenschlangen« zuhauf. Das hatte zunächst mit dem Lampenlicht zu tun, aber mehr noch mit den Studiengewohnheiten. Was die Mitschüler am hitzigsten diskutierten, war die Frage, warum es bei all der Finsternis auf dem Lande kaum Brillenschlangen gab. Zwar boten die Schulen abends Klassen zum Selbststudium an (einschließlich hinreichend beleuchteter Räume), doch wer die Nacht zum Tag machte, noch mehr wer neben dem Pflichtprogramm noch leichte Lektüre verschlang, wie zum Beispiel Yifan, der unter der Bettdecke mit einer Taschenlampe den Roman Der Traum der Roten Kammer las, der zog bald in die Reihen der Brillenschlangen ein.

Das Peking jener Jahre hatte nur wenige Straßenlampen, viele Gassen kannten so gut wie keine. Selbst wenn es welche gab, standen diese im Abstand von 35 Metern. Sie beleuchteten lediglich ihren eigenen Bereich. Um uns einzuschüchtern, gaben Erwachsene Geschichten zum Besten. Da fassten sich Bettler an die Stirn und ließen Wunderkräfte spielen, um Kinder entführen und verkaufen zu können. Dies alles verwirrte uns, wir blieben im Dunkeln. Was sollte es nur mit der Stirn auf sich haben, an die geklopft wurde, so dass wir bereit gewesen sein sollten, uns mit den Bösewichtern einzulassen? Wäre Taiwan nicht flugs befreit, wenn man dieses Wundermittel einsetzen würde? Welche Vergehen auch immer vor 1949 passiert sein mochten, ließen sich nicht sicher eruieren. Mündlich wurden sie aber von einem zum anderen dick aufgetragen, mit den alten Gassen gelangten sie direkt in meine Kindheit.

Für den Nachtschwärmer waren Straßenlampen zur Beleuchtung da, sie hatten weniger für den Nervenkitzel herzuhalten. Jemand mochte mit dem Rad, ein Liedchen auf den Lippen, unterwegs sein und die Schelle bedienen. Kaum, dass die Lichter ausgegangen oder von Kindern abgeschossen waren, geriet er in Verwirrung, begann zu schimpfen und es den Ahnen über acht Generationen anzurechnen.

Bei so wenigen Laternen bedurfte es, falls man tatsächlich mit dem Rad fuhr, vorsorglich eines Lichts. Ende der 50er Jahre führten Radfahrer noch Lampions mit sich. Das beweist der Sketch »Nachts unterwegs« des Bänkelsängers Hou Baolin. Damals benutzten die meisten eine viereckige Lichtvorrichtung, die an der Lenkstange angebracht wurde. Als Steigerung kam danach das von einem Dynamo erzeugte Licht. Da ein jedes Rad unterschiedlich schnell fuhr, war die Beleuchtung mal hell, mal dunkel. So sah die Nachtlandschaft von Peking aus.

Ende der 50er Jahre erhoben sich an der Straße Ewiger Frieden moderne Lampen, bunte Lampen, die einen besonders gern mit glänzenden Augen stolzieren ließen, als ob man den Kommunismus bereits fest im Blick gehabt hätte. Im Vergleich dazu lagen die Gassen, wenn es denn überhaupt Laternen gab, noch dunkler. Verließ man die breite und flache Prachtstraße, so geriet man wieder in den endlosen Irrgarten von Pekings Gassenverlauf.

Von klein auf habe ich mich mit den Geschwistern bei Schattenspielen vergnügt. Zwei Hände einander überlappend wandelten sich dank des Lampenlichts an der Wand in jedwede Tiergestalt, mal zahm, mal wild, auf der Jagd nacheinander. Niemand wollte den Hasen machen, sein zartes Fleisch mochte keiner einem Stärkeren zum Fraß anbieten. Selbst Schattenspiele also kannten versteckt den Willen zur Macht: Wer alles in Händen hielt, sah sich als Herrn der Dinge.

Für uns Kinder bestand der größte Vorteil der Dunkelheit im Fangspiel. Kaum hatte man sich aus dem Lichtbereich begeben, konnte man sich überall verstecken, besonders in den Ecken und Winkeln. Als wir gerade in die Gasse Sanbulao Nr. 1 gezogen waren, gab es im Hof noch künstliche Felsen, die grotesken Steine vom Taihu-See bereiteten des Nachts Gänsehaut. Mit unseren Worten verwandelten sie ihre Erscheinung. Da machte das Fangspiel erst richtig Spaß. Alle zitterten vor Angst. Wer mochte schon garantieren, nicht in die Geister des Seefahrers Zheng He und seiner Zofe hineinzurennen? Vernahmen wir trillergleich Rufe, so gingen sie mitten durch unser Herz: »Ich habe dich längst gesehen, verdammt, stell dich nicht so dumm, komm schnell heraus.« Wenn dann plötzlich von hinten ein schriller Schrei ertönte, hatten wir bereits am ganzen Leib eine Gänsehaut.

Geschichten brauchen Dunkelheit, insbesondere Gespenstergeschichten. Alte erzählen sie den Kindern, Kinder erzählen sie untereinander weiter. In einem Land, wo man nicht an Götter glaubt, bedarf man der Geister, um Kinder zu erschrecken, und wenn man sich dabei auch noch selbst in Schrecken versetzt, dann stärkt das die konfuzianische Orthodoxie. Zur Zeit der Mittelschule rief Mao Zedong dazu auf, nur noch Geschichten zu erzählen, die niemanden zur Furcht vor Geistern verführten. Für eine gewisse Zeit blickten wir nicht mehr richtig durch. Zunächst war einzuräumen: Mutige sind selten. Des Weiteren: Wer ohne Furcht vor Geistern war, brachte alle Welt in Erklärungsnot. Man hat nämlich zuerst die Existenz von Geistern zu beweisen, um dann zu zeigen, die Angst vor ihnen sei unnötig.

Während der Kulturrevolution betrieben wir bei Tag Revolution, nachts erzählten wir uns große Gespenstergeschichten, ganz so als ob Geister und die Kulturrevolution in keinem Widerspruch zueinander stünden. Ich wohnte im Schlafsaal der Mittelschule Nr. 4. Erst das Licht ausmachen, dann durch Stimmenimitation eine gruselige Stimmung erzeugen. Im entscheidenden Moment stößt dann jemand beiläufig mit der Hand die Stütze eines Bettgestells oder ein altes Lavoir um. Bei besonders geglückter Offensive bekamen selbst die Wagemutigsten Angst.

Neonlampen wurden seit Anfang der 70er Jahre in großem Umfang genutzt, so dass Peking mit einem Male hell wurde. Selbst die Geister hörten auf, ihre Macht unter Beweis stellen zu wollen. Glücklicherweise fiel oft der Strom aus. Kaum, dass die Elektrizität unterbrochen war, flammten in allen Häusern und Wohnungen die Kerzen auf. Das war nichts anderes als eine Art Gedenkfeier, eine Art Trauerfeier für die vergangene Kindheit.

II

Ich erwache. Die Zimmerdecke liegt im Widerschein des Schnees. Die Heizung lässt die Vorhänge flattern. Der verschwommene Fensterrahmen beginnt sich mit der Sonnenflut zu bewegen. Wie ein langsam eintreffender Zug, der mich in die Ferne trägt. Ich liege träge im Bett, bis die Eltern mich drängen aufzustehen.

Starker Schneefall gibt das Trugbild einer Stadt ab so wie ein Spiegel, in dem man sich mustert. Sehr schnell gerät dieser Spiegel aus den Fugen. Im Nu spritzt überall Schlamm herum. Auf dem Weg zur Schule trage ich einen Parka, ich greife eine Handvoll feuchten Schnee und forme sie zu einem Schneeball. Das Geschoss werfe ich in Richtung des alten Schnurbaums am Eingang der Gasse. Doch schade, ich treffe mein Ziel nicht. Ich stürze ins Klassenzimmer, die Klingel läutet schon zum Unterricht. Die Fenster erscheinen wieder wie ein Zug, der eilend einen Bahnsteig verlässt und immer schneller wird. Im Raum ist es dunkel, der Schatten des Lehrers bewegt sich hin und her, Kreidestummel fliegen in die Höhe, Zahlen erscheinen und verschwinden auf der Tafel. Der Lehrer hebt plötzlich den Zeigestock und weist auf mich. Er ruft: »Ich frage dich, hast du verstanden?«

Die Glocke läutete das Ende des Unterrichts ein, und da kam schon der Frühling. Die Feuchtigkeit, die sich übermäßig in den Dachvorsprüngen abgesetzt hatte, wechselte ihre Farbe: Aus Weiß wurde Schwarz. Der Himmel beugte sich, von unzähligen Zweigen begrünt; Bienen spielten summend die Herrinnen des Sonnenlichts; die Schatten junger Mädchen im Lauf glichen Drachen; niemand vermochte ihre Schnur zu fassen; Weidenkätzchen schwirrten durch die Lüfte und machten jeden unruhig. Ich begann Aufsätze zu schreiben, und so kopierte ich zunächst die Essaysammlung Roter Achat von Liu Baiyu, dann Wer ist der Liebenswürdigste? von Wei Wei. Der Erste hatte geschrieben, dass er im Flugzeug über Moskau den Sonnenaufgang gesehen habe. Es gelang mir offenbar nicht, diesen Abschnitt zu kopieren. Denn ich wunderte mich damals: warum Moskau? Ich bummelte ja lediglich zum Hinteren See, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Wo wäre da irgendetwas wie ein roter Achat gewesen? Die Abendsonne glich einem Fruchtbonbon für zwei Nickelstücke. Ein paar Schwalben flogen über den See, die Westberge zeichneten sich am Horizont ab. Die Wellen warfen einen lichten Schein, auf ihnen eine Schaumschicht, die Fischgeruch verströmte.

An windstillen Tagen hielten die Wolkenschatten über dem Sportplatz inne, manchmal regungslos, manchmal nicht. Die muskulösen Schüler der Oberstufe schwangen ihre Leiber mechanisch am Barren, ihre Schatten erweckten den Eindruck eines Taktmessers. Ich befand mich am Reck, bewegte die Füße, nahm Atem und wollte mich emporziehen. Die Anforderung lautete, man müsse sich sechsmal hochziehen, dann erst habe man bestanden. Nach dem zweiten Klimmzug war ich schon mit meinen Kräften am Ende. Ich begann zu strampeln. Meine Stirn stieß gerade einmal an die Stange. Ich schien mit aller Kraft den Himmel erreicht zu haben, wo ich heimlich die weißen Wolken schaute, die sich, ganz sie selbst, türmten und zerstreuten.

Im Sommer teilte die Sonne die Straßen in zwei Teile. Im Schatten war es erfrischend. Ich folgte der Menge wie in einem Fischschwarm. Plötzlich änderte ich meine Meinung: ab in die Sonne, sich den unbarmherzigen Strahlen aussetzen. Allein und stolz schritt ich, auf meinen Schatten tretend, dahin. Der Schweiß rann mir von oben nach unten, schließlich war ich klitschnass. Am Zielort kaufte ich mir zur Belohnung ein Eis.

Ich liebe es, müßig Hauptstraßen entlangzuschlendern. In der Welt der Erwachsenen gibt es ein Sicherheitsgefühl, dem wenig Beachtung geschenkt wird. Wenn man nicht aufschaut, liegt alles, was man sieht, unterhalb der Brust. Keine Not, wegen hässlicher Menschen traurig zu werden oder sich von Freude und Leid anderer ablenken zu lassen. Kaum taucht man in den Menschenstrom ein, ist der Himmel verschleiert, wird alles luftdicht. Nur mit aller Kraft entrinnt man der Einkreisung. Zum Vorteil gerät diese Eigenart des Blickwinkels, wenn man klein ist: Das eigene Gesicht deformiert in einem Türgriff, angehäufte Menschenschatten in Schaufensterscheiben, Zigarettenstummel, von unzähligen Füßen zertreten, ein Bonbonpapier, das am Bordstein auf und ab schwebt, das Sonnenlicht in Fahrradspeichen, das aufleuchtende Rücklicht der Busse.

Ich mag, wenn es regnet. Die Grenzen von Licht und Schatten sind dann verwischt. Wasser und Milch vermengen sich wie auf der Palette eines Sonntagsmalers. Dunkle Wolken nähern sich tief bis auf die Höhe von Blitzableitern. Rabennester, leer in den Zweigen großer Bäume, zufällige Begegnungen von farbenprächtigen Regenschirmen, Spuren von Wassertropfen auf Glas, Anzeigetafeln mit verschwommenen handschriftlichen Gerichtsurteilen, im Gegenlicht Bodenvertiefungen, mit einem Tritt übersprungen.

Yifan und ich machten oftmals Ausflüge zum Markt Östlicher Frieden. Anfang der 60er Jahre war dieser Markt in ein Einkaufszentrum umgestaltet worden. So wechselte auch sein Name zu Markt des Ostwindes. Damit war der ursprüngliche Charakter endgültig zerstört. Jeder kleine Laden hatte Stände, die zwar verstreut, aber hübsch anzusehen waren. Alles gab es in Hülle und Fülle. Meiner Erinnerung nach war der Ort ein Irrgarten des Lichts. Elektrisches Licht, Gaslaternen, Petroleumlampen und Kerzen spiegelten einander wider, ohne von sich lassen zu können. Unter allen Arten von Strahlen erschienen die Gesichter der Ladenbesitzer und der Kunden geheimnisvoll und unergründlich. Man brauchte nur diesen Moment festzuhalten, dann ergab sich ein langes Rollbild zum volkstümlichen Leben. Drang zufällig ein Sonnenstrahl herein und bewegte sich ein wenig, so zeigte sich der allerälteste Stundenzeiger.

III

Jedes Kind bringt von Natur aus viele Illusionen mit. Sie stehen mit Licht und Schatten, mit den Räumen der Vorstellung, ja sogar mit den Befindlichkeiten des Körpers in Verbindung. Wenn Kinder herangewachsen sind, mögen sie das meiste vergessen haben. Die Zeiten, gesellschaftliche Sitten, Wissenssysteme erzwingen das Vergessen, als wäre es die Bedingung für den Eintritt in die Erwachsenenwelt.

Die Zeit zwischen meinem zehnten und dreizehnten Lebensjahr war schwierig. Mein Körper und Geist begannen zu reifen: Der Anfang der Pubertät, ein Wendepunkt. Hunger war damals der Normalzustand. Ein Foto zeigt mich mit dem Ausdruck eines hungernden Kindes in Afrika, die Augen ganz hell, geradezu starr, die Mundwinkel ein arglistiges Grinsen.

Ich befand mich offensichtlich gerade in einem Zustand tiefster Halluzinationen. Im Auge seltsame Baumformationen, prächtige Blumen, die tropften, Rauch in den Lüften, Wasser, das zurückflutete, Häuser, die schräg standen, Treppen, die rollten, Wolken, die zu Monstern mutierten, Sterne, mal groß, mal hell … Später sah ich den Sternenhimmel von van Gogh, das war nichts Überraschendes mehr. Meiner Ansicht nach alles Visionen, die jeden Hungernden umtreiben.

Ich starrte vor mich hin, sprach mit mir selbst, ging immer nur geradeaus. Besonders schlimm war es im Unterricht, versunken in meine Vorstellungswelt, verstand ich überhaupt nicht, was der Lehrer sagte. Er stellte Fragen, ich antwortete, was gar nicht gefragt worden war. Elternabend: Der Lehrer gab seine Bedenken an meine Eltern weiter. Das Gute war, Mutter ließ sich als Ärztin nicht aus der Fassung bringen, aber ich stand seitdem unter strenger Aufsicht.

Um Mitternacht erwacht, sah ich meine Schuhe sich fortbewegen, sie drehten eine Runde und kehrten an ihren ursprünglichen Platz zurück. Ein riesiges Schiff stieß plötzlich durch das Fenster herein, im Glas erschienen fremde Gesichter, die Bäume im Gegenlicht brannten …

Eines Abends kehrte ich allein nach Hause zurück und entdeckte eine weiße Wolke über dem Eingang der Gasse Sanbulao Nr. 1 ruhen. Sie war nicht groß, aber sehr rund. Sie wirkte wie ein großer Regenschirm, kaum zu glauben, wie tief sie lag, tiefer als der dritte Stock, in dem wir wohnten. Erst als ich später vage von UFOs hörte, ging mir ein Licht auf. Unter dieser Wolke war ich wie verzaubert, das Herz rumorte mir im Leibe, meine Glieder versteiften sich. Die Zeit schien stillzustehen. Schließlich tat ich einen Schritt vorwärts und jagte flugs ins Haus.

Gerüche

I

Was Peking betrifft, so denke ich zuerst an seine Gerüche, die mit den Jahreszeiten wechseln. In dieser Hinsicht ähneln die Menschen den Hunden. Wie sonst wäre zu erklären, dass Auslandschinesen, die nach vielen Jahren heimkehren, sich überall staunend umsehen, mit offenem Mund hier und da schnüffeln, auf der Suche nach dem Geruch Pekings in ihrer Erinnerung.

Der Geruch von Kohl. Im Winter gelagert. Vor oder nach Winterbeginn fand sich vor jedem Lebensmittelladen eine zeitweise errichtete Ablage für Chinakohl, wo dieser zu Bergen aufgetürmt wurde. Von morgens bis abends stapelte er sich da zuhauf. Jede Familie kaufte wenigstens ein paar hundert Pfund. Mit allen Arten von Fahrzeugen, von einfachem Dreirad bis Kinderwagen, ging es heim. Den Kohl hatte man für den Transport entsprechend umgelagert. In der Nachbarschaft half man sich untereinander, besonders den alleinstehenden, alten Leuten, die nicht so beweglich waren. Der Kohl war zunächst zu entblättern und zu trocknen, dann auf dem Balkon, unter dem Fenster, neben der Tür oder im Gang zu stapeln und schließlich mit einem Strohvorhang oder mit einer Steppdecke zu schützen. Im Winter wüteten Wind und Schnee besonders grausam. Der Kohl trocknete wie eine Mumie aus. Das ist seine Art von Metamorphose. Er ist zäh und verströmt einen fauligen Geruch, um auf sich aufmerksam zu machen. 

Der Geruch von Ruß. Um es warm zu haben und um Essen zu machen. Ob groß oder klein, die Öfen für Eierbricketts und Lochbricketts ähnelten Kettenrauchern, sie steckten ihre Schornsteine zur Tür oder zum Fenster hinaus, sprühten Wolken, spuckten Rauch. Der Kohlenteer aber, kaum dem Schornstein entronnen, fiel auf die Erde und formte Klumpen von schwarzem Eis. Ging ein Wind, musste man flugs die Öffnung des Schornsteins verstellen, sonst würde der Rücklauf des dichten Rauches einen jeden reizen: laufende Nasen, tränende Augen, Husten ohne Unterlass. Nicht zu reden vom heimtückischen Kohlenmonoxid, das einen unvorbereitet trifft und, während es einem gemütlich warm ist, zum Tod führt.

Der Geruch von Staub. Auf das Dunkelgrau ein wenig Rot geben, das macht die Grundfärbung der Winter in Peking aus. Der Staub ist der Oberbefehlshaber aller Gerüche, er lässt die Münder ausdorren, legt die Zungen trocken, veranlasst die Kehle zu qualmen und lässt das Herz sich elend fühlen. Mit Hilfe des Nordwestwindes gewinnt der Staub noch mehr an Schrecken: Tausend Heere, zehntausend Pferde füllen den Himmel, bedecken die Erde. Er dringt an den Fensterritzen, den Türritzen vorbei in die Häuser, beweist so sein großes Talent. Man kann ihm nicht entkommen. Sich vor ihm verbergen? Zwecklos! Damals trug man Mundschutz, hauptsächlich, um ihn abzuwehren, andernfalls hatte man den Mund voll davon, wenn man auf die Straße ging.

Es versteht sich, dass die Pekinger ungeduldig waren, sobald ein starker Schneefall wie im Fluge die gesamte Stadt zudeckte. Er trug aus den Wolken einen Pfefferminzgeruch herbei, insbesondere der erste Atemzug, wenn man zum Haus heraustrat, war frisch und feucht. Kinder eilten jauchzend nach draußen, sie rissen den Mundschutz ab, warfen die Handschuhe fort, verströmten weißen Atem, während sie eine Schneeballschlacht machten oder einen Schneemann bauten. Bis die Straßen schlammig wurden und sich auf ihnen schmutziges Eis bildete, dann rutschten die Blagen die Straße entlang, schnell bis zu ihrem Ende. Träge rollten sie rücklings ein paar Meter, blieben bedeckt im Schnee liegen, wie ein alter Mann unter seiner Steppdecke.

Unser Haus befand sich nicht weit vom Hinteren See entfernt. Wir Kinder liefen dort oft »wild Eis«. Wir hatten unsere selbstgefertigten Schlittschuhe, Schlitten und Ski dabei und bildeten eine johlende Gemeinschaft inmitten des stiebenden Pulverschnees, des Windes, der uns über das Gesicht strich, des weißen Streuzuckers, den wir leckten und leckten, als ob seine Süße aus dem Himmel käme. Arbeiter am See stachen Eis und hakten es fest. Mit Hilfe eines Holzsteges transportierten sie es ans Ufer und weiter in den Eiskeller im Norden der Li-Guang-Brücke. Wenn niemand aufmerkte, schlüpfte ich mit den Klassenkameraden in den Keller. Da war es dunkel und kalt. Der Fischgeruch mischte sich mit dem Geruch von Heu. Die Eisblöcke waren auf Holzgestellen gestapelt, getrennt durch Strohmatten. Zu guter Letzt wurde das Ganze mit Ballen, Brettern und Erde verschlossen. Wenn dann der Sommer kam, benutzte man die Eisblöcke zur Kühlung frischer Lebensmittel, zum Beispiel Speiseeis. Im Eiskeller kam ich mir nach kurzer Zeit wie ein tiefgefrorener Fisch vor.

Die Winter gingen zu langsam dahin, Überdruss war die Folge. Wir Kinder erwarteten ungeduldig den Frühling und zählten bis zum »Ende der Eiszeit«. Da grünten mit einem Male die Weidenzweige entlang der Ufer am Hinteren See, die Welt wurde weich, sie verströmte einen herben Wohlgeruch. Tauwetter setzte ein, die Eisfläche brach hell singend auf, das Schneewasser lief an den Dachvorsprüngen hinunter, Eisklumpen klecksten wie Tinte. Unsere Stoffschuhe änderten gänzlich ihre Form. Sie wurden flach wie eine Kröte, zogen einen Flunsch und stanken wie Pökelfisch.

Mutter kaufte fast jedes Jahr Narzissen, die sich zur Zeit des Frühlingsfestes sacht zu öffnen begannen. Sie strömten einen dunklen Duft aus, erhellten so die dumpfen Räumlichkeiten. Vor der Tür blühten die Aprikosenbäume zuerst, dann folgten die Birnenbäume, schließlich der Flieder und der Pfirsich. Der Wind wirbelte die duftigen Blüten auf, so dass man ganz benommen war und schlaftrunken wurde. In der Kindheit hieß es oft: »Im Frühjahr müde, im Herbst matt, im Sommer schläfrig, im Winter nie mehr wach drei Monate lang.« Damals wusste man noch nichts von Heuschnupfen.

Wenn die Schnurbäume erblühen, ist der Sommer da. Unser Schnurbaum hatte nordischen Charakter, er war von einer furchtbaren Schönheit, die auf nichts Rücksicht nahm. Im Gegensatz dazu öffneten sich seine mattgelben Blüten, ohne groß etwas herzumachen. Kam ein Wind, fielen sie wie Regen herunter. Ihr Duft war gewöhnlich, aber er drang so weit wie der Klang einer Flöte.

Den Duft eines solchen Baumes begleitet der schreckliche Hängegeist. Das sind Würmer, die ihre Fäden in der Luft spinnen, mal oben, mal unten versperren sie eines jeden Menschen Weg. An der Phalanx von Hängegeistern vorüberzugehen ist wie die Höllenpforte zu passieren. Sobald diese an Hals und Gesicht haften, gibt es kein Entrinnen. Gänsehaut ist angesagt, Schreckensschreie unvermeidbar.

Sommer ist die vergnüglichste Jahreszeit. Hauptgrund sind wohl die Ferien. Wir spazierten oft zum Trommelturm, zur Chinesischen Vereinigung zur Förderung der Demokratie, wo wir Fernsehen schauten und Tischtennis spielten, oder wir gingen zum Sportpalast am Shichahai schwimmen. Schwimmen, das war im Geruch von Formalin auf- und abzutauchen, im Geruch von Chloroform und Urin, so tauchten wir auf und ab in Höllenlärm und Stimmengewirr.

Wolkenbrüche entstammen, so scheint’s, inneren Zwängen. Wenn die Schwüle einen unerträglichen Punkt erreicht hatte, erschütterte eine Folge von Blitz und Donner Himmel wie Erde. Wir Kinder waren zappelig, bis wir endlich nach draußen konnten. Kaum hielt der Regen inne, stürzten wir auf die Straße zum Kanal. Wir tauchten ins Wasser ein und riefen mit heller Stimme: »Regne doch, lasst Luftblasen steigen, möge die Kröte einen Strohhut tragen …«

Ich weiß nicht, warum, aber der Herbst hat immer etwas mit Kummer zu tun. Vielleicht war der eigentliche Grund der Schulbeginn: Die Freiheit hatte ein Ende. Ja, Herbst, das war der monotone Rhythmus der Schule, er stand für Ordnung. Die Kreidestummel flogen über die Tafel, chinesische Schriftzeichen und Zahlen erschienen, um wieder zu verschwinden. Die Stinkefüße von uns Knaben, unsere zotige Redeweise, und da war noch der Duft der Mädchen, der uns Zug um Zug völlig betäubte.

Der Herbstregen fiel und fiel, die Bäume welkten, sie wurden feucht, anfangs mit bitterem Teegeruch, welcher mit der Zeit in den Geruch von Fäulnis umschlug, der sich vereinigte mit dem Geruch des Winterkohls, bis dieser jeden anderen Geruch allmählich ablöste.

II

Reden wir über Sinneseindrücke, so gibt es neben dem Geruchssinn natürlich auch den Geschmackssinn. Die Erinnerung an ihn ist noch tiefer und daher noch anhaltender.

Der Geruch von Lebertran weckte mich aus meinen frühesten Kindheitsträumen: In der Tiefe der scherenschnittartigen Türen und Fenster war ein Lampenlicht mit Fischgeruch. Die Lampe knüpft anscheinend an meine frühe Erfahrung mit Lebertran an. Zu Beginn nahm ich dank der strengen Miene von Vater und Mutter den Lebertran als Medizin ein, schluckte ihn mit einer instinktiven Wachsamkeit.

Wenn der Lebertran durch den Tropfenzähler auf die Zungenspitze tropfte, fühlte er sich kühl an, sehr schnell breitete er sich aus, bis der Mund voll Fischgeschmack war. Das Öl, vom Kabeljau extrahiert, hieß mich die tiefe Einsamkeit des Meeres kosten. Später fand ich dies von der Evolution bestätigt: Fische sind die Ahnen der Menschheit. Mit den Jahren wuchs meine Einsamkeit und wurde immer größer, sie ward zu einem inwendigen Pochen der Pubertät. Der Tropfenzähler wandelte sich zu einer Gelatinekapsel, somit sah ich den Lebertran als eine Art Bonbon, hatte also keinen Widerwillen mehr. Erst zerbiss ich die Kapsel, dann ergoss sich der Lebertran, danach kaute ich die Substanz, die den Geschmack einer klebrigen Masse annahm.

Der Geschmack von Karamell. Das war der Geschmack von Sahnebonbons. Der König des Zuckerwerks war der Große Weiße Hase. Bereits sein halbdurchsichtiges Reispapier, das auf der Zungenspitze schmolz, löste Vorfreude aus. Sein Milchgeschmack hatte es in sich. Dem Hörensagen nach entsprachen sieben Bonbons einem Becher Milch, der Sehnsucht eines unterernährten Kindes. Leider wurde aus besagtem »Hasen« wegen der Nöte der Zeit ein »Superbonbon«, volkstümlich gereimt: »Superküchlein, Superbonbon, Superalter geht aufs Klo.« Für Menschen wie du und ich war es also nichts. Viele Jahre später ließ mich ein französischer Freund in Paris nochmals den Großen Weißen Hasen probieren, was mich in freudige Erregung versetzte. Seitdem habe ich immer ein paar dieser Bonbons bei mir und gliedere mich in die Reihe der »Superalten« ein.

In dieser entbehrungsreichen Zeit wuchs mein Körper. Ich begann heimlich, mir daheim alles Essbare einzuverleiben. Von Algen im Aquarium bis hin zu zähflüssigem Lezithin, das die Eltern austeilten, von Kalziumtabletten bis hin zu Bocksdorn, von Saurem bis zu Sojabohnenpaste, von Krabben bis zu Porree … Vater und Mutter fingen an, alles Hab und Gut zu verbergen, doch sie konnten nicht verhindern, dass meine Esslust von Tag zu Tag wuchs. Ich aß alles ratzekahl auf. Ich begann, Glutamat zu schlucken. Später, wenn ich in Amerika mit Freunden in ein chinesisches Restaurant ging, riefen sie »Bitte, kein Glutamat!«. Mich überkam dann eine große Gereiztheit. 

Ich schüttete eine Prise Glutamat aus der Flasche in meine Handfläche, zuerst leckte ich mit der Zunge daran. Die Geschmacksknospe entfaltete über die Nervenbahnen einen Reiz auf das Großhirn. Es war, als schmeckte ich das reine Meer. Es war köstlich. Ich begann allmählich, die Dosis zu verstärken, der Reiz stieg, bis der Geschmack schließlich verschwand. Zu guter Letzt schüttete ich mir den restlichen Inhalt der halbvollen Flasche in den Mund, erzeugte so ein Signal der Hirnrinde, das einem Kurzschluss gleichkam. Ich war völlig verwirrt, stürzte kopfüber aufs Bett. Ich vermute, diese Erfahrung kam einem Drogenrausch nahe.

Die Eltern zürnten. Wer hatte das Glas mit dem Glutamat umgestoßen?

Vor den Mauern des Sportplatzes fand sich oft ein Straßenhändler ein, der versuchte, mit seinen Rufen Seelen zu angeln. Wie ein Taschenspieler zauberte er alle Arten von Süßigkeiten aus seinem Rucksack. Durch die Empfehlung von Klassenkameraden verfiel ich der Zimtrinde, genauer der Rinde des Kassiabaums. Sie galt als chinesische Heilpflanze, scharf und doch süß. Für zwei Nickel konnte man ziemlich viel davon ergattern. Und vor allem hatte man länger etwas davon als von Fruchtbonbons. Ich verwahrte sie in einem Seidentuch. Während des Unterrichts lutschte ich daran. Ehrlich gesagt konnte kein Lernstoff es mit dem Geschmack der Kassiarinde aufnehmen.

Eines Abends kehrte ich mit Guan Tielin von der Schule heim. Ein Straßenhändler mit schwerer Last auf den Schultern rief unterwegs: »Stinkkäse mit Sojasoße«. Ich hatte noch nie stinkigen Bohnenkäse gegessen. Guan Tielin stachelte mich an. So kaufte ich für drei Nickel ein Stück. Ich würgte nur einen einzigen Bissen hinunter und warf den Rest weg. Kaum daheim, roch unsere Haushaltshilfe Tante Qian den Gestank und schnupperte an mir herum, um die Ursache zu erkunden. Ich stürzte in die Toilette, putzte die Zähne und spülte mir den Mund, kehrte danach in die Küche zurück und aß zwei Löffel Zucker. Doch unsere Haushaltshilfe hielt sich immer noch die Nase zu. Wie ein Wachhund suchte sie überall nach der Quelle des Geruchs.

III

Eines Sommermorgens brach ich mit Yifan von der Gasse Sanbulao Nr. 1 auf. Wir gingen zur Chinesischen Vereinigung zur Förderung der Demokratie, die sich am Trommelturm im Viertel Xin’anli Nr. 98 in einer ehemaligen Ziegelei befand. Da war die Arbeitsstelle meines Vaters. Während der Sommerferien gingen wir dort oft Tischtennis spielen. Auf dem Weg pflückten wir kleine saure Früchte von einem wilden Birnenbaum. 

Kaum lag die Gasse Sanbulao hinter uns, befanden wir uns schon auf der Inneren Straße zur Tugend. Gegenüber befand sich die Gasse zur Mehrung des Guten, wo auch meine Grundschule war. Der Gemischtwarenladen an der nordöstlichen Ecke sendete unsichtbare Signale aus. Mein Großhirn reagierte. Die Alarmglocken schlugen, mir lief das Wasser im Munde zusammen. Auf dem Weg zur Schule erstand ich oftmals für zwei Nickel Zuckerwerk, das ich in Maisfladen drückte.

Entlang der Inneren Straße zur Tugend gelangte man südlich nach mehr als hundert Schritten über die Kreuzung zum Lebensmittelladen in der Pony-Gasse. Da schlug man die Tomaten unter einem Dach vor der Tür verbilligt los. Vier Pfund für einen Zehner. Und da war noch Pökelfisch, drei Groschen acht plus Bezugsschein pro Pfund, welcher Schwärme von Fliegen anlockte, unmöglich, sie zu verscheuchen. Yifan und ich wollten zwei saftige Tomaten kaufen. Wir legten die Münzen in den Taschen zusammen, schluckten den Speichel hinunter und machten uns auf den Weg.

Wir folgten der Pony-Gasse Richtung Osten, im Kiefernweg bogen wir Richtung Norden ab, und als wir die Neue Gasse passierten, verrichteten wir in der öffentlichen Toilette am Wegesrand unser Geschäft. Der Alkaligeruch des Urinbeckens wehte uns so stark entgegen, dass wir die Augen nicht aufbekamen. Es war, als würden wir unter Wasser das Atemanhalten üben. Erst wenn wir weit genug entwischt waren, wagten wir, tief aufzuatmen. Der Blumenduft erquickte uns dann die Herzen, der Erdboden hatte sich mit den Blüten des Schnurbaums gefüllt. In der Nacht zuvor musste es geregnet haben, Pfützen brachen die Sonnenstrahlen und spiegelten die Baumschatten. 

Wir bogen in die Gasse der Weidenschatten Richtung Norden. Hier befanden sich überall stattliche Anwesen. Am Ende hinter einer hohen Mauer soll gerüchteweise die Bleibe des Feldmarschalls Xu Xiangqian gewesen sein. Unter dem Schatten der Bäume kauften wir zwei Eis am Stiel aus roten Bohnen. Fünf Nickelchen für zwei, so sparten wir einen Nickel. Doch das preiswert erworbene Eis begann zu schmelzen, es wollte auf der Stelle etwas anderes werden, ohne Rücksicht auf unseren Genuss. Zwei Happen und wir hatte es intus. Wir reckten die Hälse gen Himmel, im Magen rumorte es.

Wenn man aus der Gasse der Weidenschatten herauskommt, steht man vor dem Hinteren See. Plötzlich liegt alles klar und offen vor einem. Der Hintere See ist ein Teil des Shicha-Sees, ausgehoben vor siebenhundert Jahren zur Yuan-Zeit, als Peking die Große Hauptstadt wurde. Der Transport von Getreide aus dem Süden endete hier. Da ging es einmal hoch her. In jeder Einbuchtung boten sich dem Auge große Schnurbäume, die den Schachspielern Schatten stifteten. Ein paar halbstarke Burschen tauchten nach Muscheln. Sie schöpften tief Luft und stürzten sich ins Wasser. Ihre Füße schauten heraus und traten in der Luft. Am Uferrand häuften sich die Muscheln, manche so groß wie Topfdeckel. Ihr Geruch seltsam fischig, als ob sie der Welt eine letzte Warnung zukommen ließen.

Wir gingen am Hinteren See entlang Richtung Süden, mit Zweigenruten schlugen wir an die Eisengatter am See. Die weite Wasserfläche verengte sich mit einem Male, die beiden Ufer waren durch eine Brücke verbunden. Das war die Silberballen-Brücke. Sie war eine der acht Sehenswürdigkeiten des alten Peking. Von hier blickte man bis zu den Bergen. An der Brücke befand sich der Grill von Meister Ji. Dieses landesweit bekannte, hundertjährige Gasthaus stellte für meine Standkraft eine allerhöchste Prüfung dar: Der würzige Geruch von geröstetem Hammelfleisch und Holzkohle verteilte sich im Wind und fuhr uns in den Magen, er erinnerte uns daran, dass der Mittag nahte.

Sobald wir die Schiefe Straße für Pfeifen passiert hatten, erreichten wir die prachtvolle Hauptstraße Tor zum irdischen Frieden. Richtung Norden erblickten wir den Trommelturm. Über die Straße nach Süden erreichten wir via Lebensmittelladen den — nach der Hauptstraße benannten — Basar, wo wir auf eine Bekanntmachung stießen: »Billige Kuchenreste«, das heißt, es wurden übriggebliebene Reste von Süßem zum Verkauf angeboten. Wie der Wirbelwind stürzten wir hinein, wie der Wirbelwind stürzten wir wieder heraus. Kuchenrest bedeutet volkstümlich auch »begierig ein Liebchen suchen«. Doch leider waren unsere Bezugsscheine und Münzen zu begrenzt gewesen.

Von der Straße Tor zum irdischen Frieden ging es links in die Gasse der Ziegelsteinfabrik, dann weiter durch den Stadtteil Xin’anli, bis wir unser Ziel erreicht hatten. Vor unseren Augen prangte das Schild Chinesische Vereinigung zur Förderung der Demokratie. Ganz gleich, wie man es auch sehen mochte, so erschien es uns doch wie ein reaktionärer Slogan.

Yifan und ich spielten zunächst drei Runden Tischtennis, bis uns der Magen knurrte und wir uns entschlossen, ein paar saure Birnen zu pflücken, um den Hunger zu stillen. Der wilde Birnenbaum an der Ecke war alles andere als hoch. Drei bis fünf graue Birnchen hingen an der höchsten Astspitze. Auf den Schultern von Yifan gelang es mir, den Baum zu erklimmen und zu den hohen Ästen vorzudringen. Jeden Augenblick würde ich zu den Früchten gelangen, doch etwas stach mich in den Handrücken. Ich war Opfer eines Insektes, welches auf der Lauer gelegen hatte.

Kaum vom Baum herunter, saugte ich an der roten Wunde, erfolglos. Aus der Tasche angelte ich ein paar Birnchen, ich wischte sie an der Hose ab und biss in eines hinein, sauer und herb. Mein Mund war voll von dem schwer hinunterzuschluckenden Rest. Die Mensa läutete zum Essen, der Geruch von Schweinefleisch, geschmort mit Kohl, wehte herüber.

Klänge

I

Mit sechs oder sieben machte ich eine Erfindung. Sie hatte mit Musik zu tun. Ich summte eine Melodie im Kontrapunkt zum Gehupe der Autos. Diese beiden Geräusche, Ton für Ton, machten für mich damals das Wesen einer Metropole aus. Seitdem meine musikalische Vorstellung Wirklichkeit geworden ist, fühle ich mich durch jegliche Art von Großstadtlärm (besonders von dem der Presslufthämmer) gequält und in den Wahnsinn getrieben. Nach Nächten ohne Schlaf wurde mir klar, sogenannte Metropolen haben nichts mit der mündlichen Erfindungsgabe von Kindern in einer landwirtschaftlichen Großmacht zu tun.

Anfang der 60er Jahre glich Peking in seiner Gemächlichkeit einem Dorf. Morgens konnte man urplötzlich einen Hahn krähen hören. Es kam aus dem Parterre, wo Familie Gong in Anpassung an die lokalen Gegebenheiten ein kleines Stückchen Land innerhalb der Mauern des großen Hofes ihr eigen nannte. Außer dem Anbau von Gurken und Bohnen hielten sie einen Käfig mit Hühnern. Darunter befand sich ein stolzer Hahn, der täglich den Morgen ankündigte und uns aufweckte. Seine Stimme erinnerte an Gesangsproben. Seine Zuhörer folgten der Tonleiter mit klopfendem Herzen bis zu den Wolken, wo er unerwartet innehielt und sie in der Schwebe zurückließ. Familie Gong hatte auch einen Truthahn. Er schaukelte mit seinen Kehllappen am Hals und machte trötende Laute wie ein Alter, der an Asthma litt. Er war stark und zahm und erlaubte uns Kindern, im Wechsel auf seinem Rücken zu reiten, erhobenen Hauptes vorwärtsstolzierend.

Ich drehe mich im Bett um, will wieder einschlafen, da lässt sich ein Schwarm Spatzen flatternd auf dem Dach nieder, zwitschernd picken sie ans eiserne Abflussrohr, erzeugen ein hohles Echo. Unter ihnen ist einer mit schrillster Tonlage und lebhaftestem Flügelschlag. Winters pflegten die Arbeiter im Kesselraum mächtig einzuheizen. Das heiße Wasser floss dann gurgelnd und rauschend durch die Heizungsrohre, begleitet von zischendem Dampf und — wegen der Temperaturschwankungen — von einem Knall. Ich schien Platz in einem großen Verdauungssystem genommen zu haben.