K-Ming Chang erzählt in ihrem elektrisierendem Debüt von queerer Liebe, Migration
und Familie entlang von drei Generationen taiwanisch-amerikanischer Frauen in den
USA.
Eine Familie gräbt im Garten nach Gold. Es soll der Türöffner sein, um ihr altes Leben
in Taiwan hinter sich zu lassen. Doch der verheißungsvolle Traum vom Leben in Arkansas
kann die Familie nicht vor den Traumata bewahren, die sie stets mit sich trägt. Eine
Generation später in Kalifornien gräbt eine Tochter nach den Geschichten ihrer Herkunft
und findet anarchische Briefe ihrer Großmutter. Die Figuren in K-Ming Changs Roman
feiern die Kraft des Erzählens: Wild entschlossen spinnen sie die Mythen ihrer Vergangenheit
fort und erschaffen sich so neue Wurzeln und eine ganz eigene Identität. Bestiarium
pulsiert vor Lebendigkeit. Ein elektrisierendes Debüt!
K-Ming Chang
Bestiarium
Roman
Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
Hanser Berlin
Für MaMa
Wie der Fluss heißt, erzählt er dir selbst.
Li-Young Lee
Hier bestehen weitverzweigte Zweifel.
Maxine Hong Kingston
Reise nach Westen (I)
Ba weiß nicht mehr, wo er das Gold vergraben hat. Ma scheucht ihn umher und haut mit der Suppenkelle auf ihn ein. Du warst noch nie auf einer Beerdigung, aber so in etwa sieht es aus: Wir stehen zu viert im Garten und graben, dort wo unsere Schatten gestorben sind. Eine Schaufel für Ba, eine Suppenkelle für Ma, für Jie und mich zusammen einen Löffel. Wir graben mit allem, was wir nicht wollen — mit Nachttöpfen, einem geklauten Pümpel und den Händen, mit denen wir beten. Sogar mit den Pfannenwendern, die uns die Frauen von der Kirche geschenkt haben, nach tagelangen Diskussionen darüber, ob Asiaten so was überhaupt benutzen. Nein, hieß es letztendlich, aber es wäre zu wünschen. Daher unsere riesige Sammlung von Pfannenwendern, in verschiedenen Größen und Farben und aus unterschiedlichen Metallen. Ma hielt sie für Fliegenklatschen. Sie wählte je nach Schwere unseres Vergehens eine aus und versohlte uns damit den Hintern. Sei froh, dass ich bei dir nur meine Hände nehme.
Du trägst deine Hände ganz sorglos, das sehe ich, aber eines Tages werden sie irgendetwas vergraben. Eines Tages schnappt diese Geschichte auf wie ein Springmesser. Dann hecken deine Hände ihre eigenen Löcher aus, und wenn es so weit ist, werde ich nicht kommen und dich retten.
Du warst noch nie in diesem Jahr, also lebe ich es einmal für dich: 1980 dauert so lange, wie es regnet. Der Regen durchsiebt den Boden wie Geschützfeuer, es ist Arkansas-Regen. Jahre nach dieser Geschichte wirst du im genauen Gegenteil einer Stadt geboren werden, einer Stadt, in der der einzige verlässliche Regen deine Pisse ist. Du fragst, warum dein Großvater das Gold irgendwann mal vergraben und dann vergessen hat, und ich sage dir, weil er statt Hirnwindungen Schlangen im Schädel hat. Aller Erinnerungen entledigt. Einmal pinkelt er den ganzen Garten voll, und wir folgen seinen Pisseströmen durch den Boden. Beten, dass sie sich an der Grabstätte des Goldes versammeln. Dass uns das Gold in seiner Blase den Weg zu seiner vergrabenen Sippe weist. Aber sein Fluss strömt geradewegs ins Haus und flutet es mit fermentiertem Sonnenlicht.
Als die Kirchenfrauen uns Zuckerschalen und ein Glas pissdunklen Honig bringen, sagt ihnen meine Ma, dass Asiaten ihren Tee nicht süßen. Und auch sonst nichts. Wir bevorzugen Salziges, Saures und Bitteres, die Wirkstoffe von Blut, Sperma und Galle. Die Aromen des Körpers.
Ba sagt, bald findet er das Gold. Ma feuert ihm noch eine, diesmal mit einem Paar Stöckelschuhe (ebenfalls ein Geschenk der Kirchentanten). Ba sagt, die Vögel verraten ihm, wo er es vergraben hat. Ma schleudert ihm einen Blumentopf an den Kopf (Samen von den Kirchenfrauen). Bas Schaufeltanz geht zu tief und trifft auf Wasser. Nur dass es kein Wasser ist, sondern eine Abwasserleitung, und der Vermieter sagt, wir sollen den Schaden bezahlen. Für den Rest des Monats waten wir durch einen Kackefluss, immer noch fest überzeugt, dass Ba sich erinnert, überzeugt, dass Erinnerungen überspringen können. Wenn wir uns nur dicht genug neben ihn stellen, bekommen wir zu fassen, was ihm entkommen ist.
Ba hatte das Gold vom Festland mit auf die Insel gebracht. Damit bestachen die Soldaten das Meer, das ihre Körper rauben wollte. Er bezahlte seine Überfahrt mit einem Barren Gold, so breit wie sein kleiner Finger, und schluckte den Rest, der von der Säure in seinem Bauch danach silbern war.
In Kriegszeiten bemisst sich der Wert von Land an der Menge von Knochen, die sich darin begraben lassen. Ein Haus ist nur so viel wert wie die Bombe, die es plattmacht. Gold dagegen lässt sich in jedem Land, jedem Jahr, jedem Nachleben ausgeben. Die Sonne scheißt es jeden Morgen. Ma liest sogar das Motto hinten auf den amerikanischen Münzen falsch: IN GOLD WE TRUST. Deshalb glaubt sie, dass dieses Land und wir zueinander passen. Sie glaubt immer noch, wir könnten uns sein Vertrauen erkaufen.
Nach zwanzig Jahren auf der Insel hatte Ba das ganze Gold verzockt und versuchte, es doppelt und dreifach wieder reinzuholen. Als Ma und er sich kennenlernten, hatte Ma schon drei Kinder und einen toten Ehemann, der Woche für Woche in Form von milchweißem Regen zurückkehrte. Für die Männer im Dorf war sie von der Taille abwärts ruiniert, aber alles darüber sei noch ganz annehmbar, hieß es. Sie trug einen schweren Rock, irgendwas zwischen Nonnengewand und Abdeckplane. Ma verschenkte ihre drei Töchter an ihre Eltern und bekam mit Ba zwei neue.
Ich bin die zweite der neuen. Wir sind die beiden, die sie behalten, mit hierhergebracht und verdroschen hat.
Als Ma ihn heiratete, war er zwanzig Jahre älter. Nimm die Anzahl von Jahren, die du schon außerhalb meines Körpers lebst, und säe sie aus, damit sie sich verdoppeln: Dieses Dickicht von Jahren liegt zwischen deiner Großmutter und deinem Großvater. Nur dass Ma ihr Leben nicht in Jahren, sondern in Sprachen zählt. Atayal und Yilan Kreol auf den Indigofeldern, wo sie mit Fischaugen und blauem Hintern geboren wurde, Japanisch während des Kriegs und Mandarin in der Stadt, die sich die Nationalisten einverleibt hatten. Sie trug alle diese Sprachen außerhalb ihres Körpers, wie einen Kragen um den Hals geknöpft. Als Ba sie einmal bat, ihm das Atayal-Alphabet beizubringen, das sie von den Missionaren gelernt hatte, sagte sie, seine Hände taugten nicht zum Schreiben: Sie waren für den Krieg gemacht, konnten nur Waffen und seinen eigenen Schwanz anpacken. Jie fand das lustig, aber ich lachte nicht. Ich habe diese Hände. Als du geboren wurdest, entdeckte ich in dir zu viel von deinem Großvater: einen Haaransatz, der sich auf seinen reimte, und Angelhakenfinger, die in meinen Haaren, meinem Schatten, im Himmel hängenblieben. Jedem Mann, der dich in einem Topf Erde begraben wollte, um dich als Baum wiederauferstehen zu lassen, hast du mit einer mondgroßen Faust gedroht, sogar deinem Bruder. Du glaubst, ein Begräbnis beendet, was gestorben ist. Doch ein Begräbnis ist ein Beginn: Damit etwas wachsen kann, muss man zuerst seinem Samen ein Grab schaufeln. Bereit sein, dem, was geboren wird, einen Namen zu geben.
Jahrzehnte zuvor in Yilan kackte Ba seinen letzten Goldbarren aus, mit einer Schärpe aus Meerwasser und Schlick. Er vergrub ihn hier, in diesem Garten, der uns nie gehört hat und der weit weg liegt vom Ort deiner Geburt. Ma mochte Arkansas, weil es wie Ark klang, Ark wie Noahs Arche. Mas Wörter kommen alle aus der Bibel. Die meisten haben nur zwei Silben: Hiob, Arche, Sünde, Schicksal, Plage.
Eigentlich haben wir nur eine Möglichkeit, das Gold zu finden — wir müssen Ba den Schädel aufschießen und die Erinnerung, wo er es vergraben hat, freilegen. Ma hat es einmal versucht. Sie hat mit der Schrotflinte auf Bas Kopf gezielt, auf die Bodendielen gestampft und dabei Peng! gerufen in der Hoffnung, die Erinnerung würde aus seinem Kopf ins Freie flüchten. Stattdessen hat sich Ba in die Hose gepinkelt, und Jie musste den Boden wischen. Wie es aussieht, braucht Ba einen Krieg als Motivation. Er gräbt nur was aus, wenn es darum geht, sich eine Überfahrt auf einem Boot zu kaufen und zu heiraten. Wir haben genau eine Woche Zeit, um einen Krieg zu rekrutieren. Wenn er bis dahin nicht vor der Tür steht, sagt Ma, bleibt das Gold vergraben und wir haben alles, was wir besitzen, an die Bäume verfüttert, denen Moos wächst wie Schamhaare.
Jie schlägt vor, dass wir Ba an den Füßen aufhängen, verkehrt herum, damit all seine Erinnerungen stromaufwärts fließen und sich in seinem Schädel sammeln. Dann müssten wir ihm nur noch irgendwie den Kopf aufschrauben. Ich sage ihr, das funktioniert so nicht, aber Jie hat auf der High School im Nachbarort Anatomie, deshalb kann sie auch eine Skizze von einem Körper zeichnen. Mir hat sie schon mal einen Penis mit Adern und allem Drum und Dran aufgemalt und mir ein, zwei Löcher gezeigt, in die er reinpassen würde. Sie zieht die Hose runter, damit ich sie sehe. Ich bitte sie, mir zu zeigen, wohin alle meine Löcher führen, und sie sagt, wenn ich in der Dunkelheit zwischen meinen Beinen grabe, finde ich dort ein Baby, das wie ein Rübchen darauf wartet, gepflückt zu werden. (Keine Sorge, nach dir habe ich nicht gewühlt. Du wurdest auf Fleischfresserart gezeugt.)
Ma schabt den Bast von unserer Birke, bespritzt die Locken in Stinktiermanier mit Parfüm und verbrennt sie dann büschelweise. Der Rauch hält Moskitos davon ab, mit uns allen eine Bluthochzeit zu feiern.
Wir beten zu Gott und Guanyin, in dieser Reihenfolge. Wir beten, Bas Gold möge wie Regen vom Himmel fallen oder als Metallgestrüpp aus dem Boden wachsen, hunderte von bebenden, klirrenden Ästen.
Wir denken auch über andere Möglichkeiten nach: Wenn wir uns eine Planierraupe leihen würden, könnten wir den gesamten Garten einmal umdrehen wie einen Penny. Aber dazu bräuchten wir Geld, und unseres ist vergraben wie eine Leiche.
Unten am Bach bringt mir Jie das Bibellesen bei. Wir sitzen unter ein paar Bäumen, an denen Apfelglocken schwingen. Wenn die Zweige im Wind applaudieren, prasseln sie fausthart auf uns runter. Letzte Woche hat der Regen ein Loch in unser Dach gefräst und alles stand unter Wasser, deshalb trocknen wir die Bibel auf einem Ast, und die Seiten flattern wie Motten. Ich kann nur einfache Wörter aussprechen, keine Eigennamen und keine Verben. Jie sagt, was flüssig kommt, vergisst man. Sagt, ich muss meinem Mund die Namen nehmen und die Zunge wie eine Peitsche schwingen. Wenn ich das Wort Zunge zweisilbig ausspreche, drückt sie mich mit dem Gesicht in den Schlamm.
Wenn ich vom Ufer aufstehe, schlucke ich den Schlamm auf meiner Zunge. Jie behauptet, sie hätte im Bach einmal zwei Geistermädchen beim Knutschen beobachtet. Ich höre sie nicht richtig und verstehe, beim Putzen. Warum?, frage ich. Jie sagt, Weil ein Gott ihnen das Verlangen, aber kein Wort dafür gegeben hat. Ich glaube, Ma ist genauso, nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse auszudrücken.
Jie und ich klettern in den Bäumen herum, spielen Affen und klauen schaukelnd bei der Nachbarin Aprikosen, als wären wir Sun Wukong, der aus dem Garten der Götter einen Pfirsich der Unsterblichkeit stibitzt. Er wurde bestraft, aber wir haben vergessen, was die Strafe war, deshalb verschlingen wir die Aprikosen gnadenlos und im Ganzen. Die Kerne kacken wir aus, und wenn wir spülen, klackern sie in den Abflussrohren. Wenn wir aus dem Garten reinkommen, sagt Ma, wir sind schmutzig, aber für sie, die versucht, blaue Knie zu bleichen, ist auch der Himmel ein Schmutzfleck.
Vor zwei Monaten haben die von der Kirche bei uns eine Toilette einbauen lassen. Beim allerersten Mal haben wir uns draufgehockt, die Füße auf dem Sitz. Jie hat uns dann gesagt, dass wir es falsch machen: Unser Hintern gehörte in den Ring, bekam einen Heiligenschein. Lach nicht — es gab eine Zeit, da wusstest du auch nicht, wie das geht, und ich konnte dir erzählen, die Toilette wäre ein Ohr, mit dem das Meer hören kann, und ich sehe dich auch heute noch manchmal mit dem Kopf in der Schüssel, ins Gespräch mit einem anderen Land vertieft.
Ein Junge im Old Colonial Diner zeigt Jie, wie man aus einem Radio, einem Besenstiel, Pappe und Kupferdraht einen Metalldetektor baut. Alle Details verrate ich dir nicht, für den Fall, dass du selbst mal einen bauen willst. Zum Dank für diese Anleitung lässt sich Jie hinten in der Küche von ihm fingern. Sie steht an der Spüle, wäscht Teller, und er dahinter, seine Finger drei Spinnenbeine auf Erkundungskurs in ihr. Er bleibt mit den Nägeln in ihrem Schamhaar hängen, und sie zischt, dreht den Wasserhahn heißer und verbrüht sich die Schwielen.
Wir gehen mit dem Metalldetektor in den Garten hinterm Haus und suchen das Gold. Jie hält den Besenstiel, ich das Radio. Der Kupferdraht ist um beide Enden des Besenstiels gewickelt, an einem ist mit Klebeband das Radio befestigt. Ein Wust aus überschüssigem Draht schleift wie ein Schwanz auf dem Boden. Jie schaltet das Radio auf AM, und die Morgennachrichten klingen, als würde jemand erwürgt, ein einziges Gurgeln und Rauschen.
Wir bringen dem Boden Zucht und Ordnung bei. Harken Reihe um Reihe und schreiten sie ab. Ich wärme das Radio an meiner Haut, während es das Wetter ansagt: Am Nachmittag schickt der Himmel Regenflüche und gerät morgen Vormittag noch mehr in Rage. Jie lässt das splitterige Ende des Besenstiels in Halbkreisen über den Boden schwingen und mahnt mich zur Ruhe, obwohl ich gar nichts sage. Wenn wir in die Nähe von Metall kommen, wimmert das Radio mit einer anderen Stimme, ein Lied in der Frequenz von Gold. Erst höre ich nichts, bis sich das Rauschen in etwas Raueres, Gereizteres verwandelt, fast wie Mas Stimme. Grab mal hier, sagt Jie. Wir stehen auf einem Stück Land, auf dem Schatten offenbar nicht überleben. Wir buddeln mit bloßen Händen, aber als wir gerade mal eine Faust tief sind, finden wir ein altes Rasenmähermesser. Das Radio singt noch an drei anderen Stellen, aber je schneller wir graben, desto eher geben wir uns unserem Verdacht geschlagen — dass das Gold nicht mehr da ist. Stattdessen: fünf verschossene Pistolenkugeln, eine Hundepfeife, ein Sägeblatt, ein paar Pennys, eine Fahrradkette, ein Schneebesen und eine Hundemarke, blanko. Die Kugeln glänzen wie Hundeaugen, und meine Zehen erinnern sich daran, wie sie abgeschossen wurden; ihr Schmerz ist verklungen und wohnt jetzt in meiner Wirbelsäule.
Jie findet noch zwei Kugeln und wirft sie auf unseren Schrotthaufen. Wir haben das Gold selbst nie gesehen, und keine von uns beiden spricht es aus, aber hier ist nichts, das wissen wir. Das Radio spielt immer noch den Sopran des Bodens, das Rauschen ein Crescendo an der Stelle, wo wir nichts als Dunkelheit ausgegraben haben. Jie wirft den Besenstiel weg und trampelt mit beiden Füßen darauf herum. Er zerbricht leicht. Hoffentlich gibt es hier wirklich nichts zu finden, sagt Jie, auch wenn ich da anderer Meinung bin. In meinen Augen ist es besser, man hat etwas zu verlieren, selbst wenn das Gold jetzt zusammen mit den Knochen und den Kugeln weiter im Archiv des Bodens ruhen wird. Aber Jie meint, das Gold bleibe besser vergraben, sicher im Mutterbodenleib, während wir unser Leben mit dem Warten auf seine Geburt verbringen. Jie und ich buddeln alles wieder ein, was wir finden. Es fühlt sich an, als hätten wir die Ruhe auf einem Friedhof gestört, in fremden Leben herumgeschnüffelt, die uns nichts angehen. Ich behalte die Blanko-Hundemarke und schwöre mir, einen Namen einzugravieren, der das Mitnachhausenehmen wert ist.
Wir finden Ba im Schlafzimmer, bäuchlings auf der Matratze, das Gesicht so glänzend vor Spucke, dass er wie kandiert aussieht. Jie sagt, wir sollten mit dem Metalldetektor auch mal über ihn drübergehen, während er schläft. Vielleicht ist das Gold ja noch in ihm versteckt. Vielleicht hat er vergessen, es auszukacken, nachdem er vom Boot gegangen ist. Ich lasse den Besenstiel über seinen Bauch, seine Hände, seinen Kopf, seine Hüften und Füße schweben. Ich weiß noch, wie er uns zum ersten Mal die Stickerei aus Granatsplittern auf seinem Rücken gezeigt hat. Einige sah man, aber die meisten waren unter der Haut eingeschlossen. Wenn er schlief, haben wir manchmal draufgedrückt, um zu sehen, ob sie wehtun, aber er rührte sich nie. Er war zu einem schuppigen Mischwesen mutiert, gegen Ma gepanzert.
Als ich den Besenstiel schwenke, ihn vom Kopf bis zum Hintern und wieder zurück scanne, singt Ba am ganzen Körper. Die Drähte rauchen, das Radio jault in sämtlichen Tönen, hoch und tief, und transkribiert die Splitter unter seiner Haut in ein Lied, von dem er wach wird. Er schlägt die Augen auf, und die Granatsplitter, plötzlich magnetisch, ziehen ihn hoch zu unseren Händen. Ich überlege, ob ich ihn mit dem Besenstiel hauen soll, ihn weichklopfen wie Pfirsichfleisch und seine vogelscheuen Knochen zerlegen, um das Gold aufzuspüren, das vielleicht noch in seinem Bauch herumkraucht. Aber da ist nichts in ihm, was wir ausgeben könnten, jedenfalls nicht, solange Kummer keine Währung ist.
Ma hat angefangen, Sachen aus dem Fenster zu werfen, und sucht das Gold jetzt im Haus. Wir nehmen alle Fensterscheiben raus, damit sie nicht mehr mit den Fäusten dagegenhämmern und dem Himmel dahinter blaue Flecken verpassen kann. Nur weiß der Regen jetzt nicht mehr, dass er draußen bleiben muss. Die Flut kommt immer so plötzlich, dass wir nicht wissen, ob sie von außen oder aus uns herauskommt, ob es regnet oder wir uns einnässen.
Das Einzige, was Ma nicht rausschmeißt, ist der dreibeinige Spieltisch in der Küche, auf dem ein einzelnes Foto meiner Halbschwestern steht, noch auf der Insel, sowie ein Taschentuch mit brünett gealtertem Blutfleck und ein Stück weiße Jade, so groß wie mein Daumen. Ich hielt ihn für einen Altar, aber Jie meint, Altare sind nur für Tote, und die Schwestern sind so lebendig wie die Fliegen, die sich an unseren Popeln laben, wenn wir schlafen. Eine von ihnen könnte inzwischen verheiratet sein, oder wenigstens schwanger. Eine lebt immer noch bei meinen Tanten. Du hast deine Großtanten nie kennengelernt, weil sie schneller sterben, als ich mir ihre Namen merken kann: Der Ältesten hat ein Taifun die Beine ausgerissen, sodass sie von morgens bis abends huckepack getragen werden musste, und unsere jüngste Großtante pflückte Chilis, bis sie die Samen an den Händen trug und jedem die Haut versengte, den sie berührte.
Auf dem Foto auf dem Spieltisch ist Ma gerade mit Jie schwanger und hält zwei Babys, als wären es Handgranaten mit rausgezogenem Zünder. Sie wartet darauf, dass das Foto gemacht wird, damit sie sie wegwerfen kann, weit raus aus dem Rahmen. Vor ihr steht ein drittes Mädchen in einem weißen Kleid. Das Foto ist zu verkrumpelt, um darauf Gesichter zu erkennen, und die Älteste ist unscharf, ein Strich wie ein Baum. Ma schenkt dem Foto oder dem Tisch nie Beachtung, weshalb sich die Gegenwart der drei erst recht wie eine Strafe anfühlt. Einmal beim Abendessen fragte Jie, wie sie heißen. Ma schmiss sie die Nacht über raus, und am Morgen lag Jie zusammengerollt wie eine Streunerin auf unserer Fußmatte, einen Arm im Briefschlitz, als hätte sie versucht, sich zu einer Papiertochter zusammenzufalten.
Ma steht an dem Nicht-Altar, das Taschentuch in der linken Hand und den Jade in der rechten. Es gibt keinen Gott, den wir besser kennen als ihre Faust. Das Foto sieht Ma nie an. Sie dreht den Kopf zum Küchenfenster und sieht die Moskitos zu Monden anschwellen, sämtliche Falten in ihrem Gesicht gesalzen mit Licht. Sie betet zu den Schwestern, deren Namen ich nicht kenne. Gebete, die eines Gottes beraubt sind.
Jie und ich wurden als Diebinnen geboren. Haben unsere Schwestern zu Waisen gemacht, indem wir unsere Mutter in dieses Land hineingeboren haben. Du hast keine Ahnung von Gold, von der Trauer um etwas, das du hättest besitzen können. Die Trauer deiner Großmutter hat einen eigenen Körper bekommen. Sie zieht sie groß wie ein weiteres Kind, eins, das sie mehr liebt als meine Schwester und mich und das sie niemals verlassen kann.
Heute beklagt sie sich, dass sie mit einem Gullyloch verheiratet ist, einem Schacht, in dem Erinnerungen einfach verschwinden — mit einem Mann, der nichts sieht außer dem Himmel über sich. Aber Ba ist klüger, als ihr klar ist. Das eine Mal, als wir Einbrecher hatten, wussten sie nicht, dass man graben musste. Fanden nichts, was sich zu stehlen gelohnt hätte. Nur unsere Tür war nicht mehr da. Wir waren uns zwar sicher, dass sie noch irgendetwas anderes aus dem Haus mitgenommen hatten, aber wir wussten nicht, wonach wir suchen sollten. Wie nach etwas Ausschau halten, das fehlt.
Wenn Ma unsere geklauten Aprikosen dünstet, fragt sie nie, wo wir sie herhaben. Sie weiß, dass uns nichts gehört, deshalb dürfen wir uns erst auf Stühle setzen, wenn sie sie mit Mull umwickelt oder uns gründlich abgeschrubbt hat. Wir könnten auch keine Bilder an die Wände hängen, wenn wir welche hätten, oder alle Kisten auspacken — Ma glaubt immer noch, dass wir eines Tages alles wieder zurückgeben müssen. Jies Lippen liebäugeln immer noch oft mit dem Wort Schwester, aber außerhalb ihrer Träume fragt sie nicht mehr nach Namen. Jie geht zur Kirche, und ihr Englisch ist inzwischen so gut, dass sie angefangen hat, die Reklametafeln vor unserem Haus laut vorzulesen. Auf einer steht die Telefonnummer von einem Scheidungsanwalt. Auf einer anderen Werbung für Bürgschaftsscheine. Eine ist für ein Casino, und Ba würde am liebsten sofort hinrennen, aber Ma wirft mit ihrem Handarbeitskorb nach ihm und sagt, er soll gefälligst die Füße stillhalten, sonst schneidet sie ihm die Eier ab und näht sie an seine Ohrläppchen. Jie und ich bekommen das Bild nicht mehr aus dem Kopf, wie Ba seine Eier als Ohrringe trägt, und lachen, bis wir uns in die Hose machen, die Flecken in unserem Schoß symmetrisch.
Wir graben unter so vielen Bäumen, dass wir ihnen Spitznamen gegeben haben: Der Kniende. Der Torkelnde. Der mit den Weiberhüften. Das Gold finden wir unter keinem. Erst das Erdbeben reißt schließlich eine Wunde zu ihm auf: Ich verschlafe es, aber Jie behauptet, es hätte sich angefühlt, als würde sich die ganze Erde selbst operieren, sich die Haut wegschaben und die Organe neu anordnen.
Auf unserer Veranda bricht eine der Bodendielen auf und schüttelt ihren Moosschorf ab. Der Riss speit Licht, und wir umschwirren es wie Motten. Dort unter der Veranda liegt rücklings auf einem Stück Wachspapier ein längliches Stück Gold, blind vor Fliegen. Ma tanzt eine Stunde lang auf dem Küchentisch; die Schwerkraft schert ihre Füße einen Dreck. Sie stellt das Gold auf den Nicht-Altar, links neben das flache, fade Foto in seinem Rahmen. Das Gold wirkt irgendwie zu nackt, als würde man jemandem direkt auf die Knochen schauen. Wir alle sehen jetzt hin, auf das Gold und das Foto, und die Blicke gehen zwischen dem Glanz und seinem Schatten hin und her, der Bezahlung und dem Preis.
Hu Gu Po (I)
Viele Mütter zuvor gab es einmal einen Tigergeist, der in einer Frau leben wollte. Eines Nachts, als der Mond braun wie eine Brustwarze war, flocht sich der Tigergeist ein Tau aus Licht, stieg in den Mund einer Frau, seilte sich in ihrem Hals ab und nannte sich fortan Hu Gu Po. Aber der Preis dafür, einen Körper zu besitzen, ist Hunger. Hu Gu Po konnte als Untermieterin im Körper der Frau leben, aber sie musste jagen. Beim Geruch schweißmarinierter Kinderzehen verhärtete sich ihr Bauch zu einem gierigen Käfer und krabbelte aus ihrem Hals, um nach Salz zu spähen. Getrieben von der Lust auf ihre Zehen, kletterte sie nachts in die Zimmer kleiner Kinder. Mit den Zähnen schraubte sie die Zehen schlafender Töchter ab, lutschte das Fleisch von den Knöcheln und nannte sie fortan Erdnüsse.
Jeden Morgen streifte Hu Gu Po über den Markt und besah sich die Fische, die man aus dem Fluss gezogen hatte, ihre Leiber wie geölte Opale. Die Frau eines Fischers nahm die Rauchnarben in der Luft wahr und fragte Hu Gu Po, was sie da esse.
Erdnüsse, sagte Hu Gu Po und schälte mit den Zähnen Nussknöchlein ab.
Die Frau des Fischers fragte, ob Hu Gu Po ihr welche abgeben würde.
Hu Gu Po lachte. Wie viel würdest du für eine bezahlen?
Die Frau des Fischers nannte einen Preis.
Hu Gu Po häutete eine weitere Nuss und sagte, Das reicht nicht, davon kann ich nicht leben. Sie lachte, und dabei löste sich ihr schwarzer Zopf, zerfiel zu Asche und verrußte die Luft.
Als die Kinder im Dorf am nächsten Morgen aufwachten, fehlte ihnen an jedem Fuß ein Zeh. Jedes fand eine Fünf-Cent-Münze auf seinem Kissen, rostbraun wie ein Blutfleck.
Die Frau des Fischers hatte keine Kinder, aber als sie hörte, was passiert war, erinnerte sie sich an die Frau auf dem Markt, die mit den Zähnen Erdnussschalen gespalten hatte. Als sie ihre Haustür öffnete, lag davor ein Säckchen aus Haut. Sie schlitzte es auf, und heraus fielen Dutzende von Zehen, entbeint und mit Salz bestäubt.
Als meine Mutter mir diese Geschichte zum ersten Mal erzählte, zog sie das Bettlaken über uns beide, beugte sich über meine Füße, packte sie mit den Fäusten und schob sie in ihren Mund. Meine Zehen zappelten in ihrem Schlund wie Elritzen, schwammen gegen die Strömung ihres Speichels. Im Halbdunkel vor mir richtete sich die Geografie ihres Gesichts neu aus: der Gebirgszug aus Leberflecken auf ihrer Stirn, der Haken ihrer Lippe, den sie herabließ, um eine Geschichte aus der Tiefe zu angeln. Als ich sie anflehte, meine Füße nicht zu fressen, ließ sie los, aber eines Abends beendete sie die Geschichte mit einem Biss in meinen großen Zeh. Ihre Zähne umschlossen ihn wie eine Krone, blieben auf der Haut, ohne sie zu verletzen, aber ich spürte, dass sie zitterte, dass ihr Kiefer von etwas gezügelt wurde, das ich nicht sah. Am nächsten Morgen hatte ich einen kleinen weißen Ring um den Zeh, der noch monatelang nicht durchblutet wurde.
Nachts wachte ich manchmal davon auf, dass der Finger meiner Mutter in meinem Ohr herumbohrte, dass der hakenförmige Nagel ihres kleinen Fingers mir das Ohrenschmalz herauspulte. Sie sagte dann gern scherzhaft, sie grabe nach Gold. Sie hob ihr Fingernagelkanu, voll beladen mit meinem Kies, und führte es zu ihrem Mund. Ich zerrte an ihrem Handgelenk, sagte, Nein, nein, nein nein nein. Aber sie steckte es trotzdem hinein und lachte, wenn ich sagte, das sei eklig. Ich habe früher immer mein Ohrenschmalz gegessen, wenn ich Hunger hatte, sagte sie. Meine Ohren waren immer blitzsauber. Deshalb höre ich jedes Wort. Meine Mutter sagte, wenn ich das Ohrenschmalz einfach in mir leben lasse, wachsen ihm eines Tages Käferbeinchen, und dann krabbelt es mir ins Gehirn und setzt sich dort fest wie ein Granatsplitter. Sie sagte, sie würde mich davor bewahren, indem sie meine Gehörgänge befreie, sodass die Sonne bis in meinen Schädel vordringen und alle meine Erinnerungen beleuchten könne.
In dem Zimmer, das ich mir mit meinem Bruder teilte, erzählte uns unsere Mutter Geschichten über Arkansas/den Regen, ihre Schwester/meine Tante, ihre Ma/meine Ama, ihren Ba/meinen Agong. Wie mein Großvater einmal zwei Goldbarren vergraben hatte, die ihnen ein Erdbeben zurückgab, und wie sie das Gold zu Geld machten, um nach L. A. zu kommen. Meine Geburt war das Ergebnis eines Bruchs: Meine Mutter ließ Ama und Agong in L. A. zurück und zog sechs Stunden weiter nach Norden, pflanzte meinen Bruder und mich in einen Boden, der noch nicht von Erinnerungen versalzen war. Sie fasste ihr Leben in Schrägstrichen zusammen, alles war eine Entscheidung: Gehen/Bleiben. Mutter/Tochter. Lieben/Leben.
Sie erzählte mir die Geschichte ihrer Hände: Ihren ersten Job hatte sie zusammen mit Jiejie auf einer Hühnerfarm. Es gab dort keine Fenster, und die Küken schlüpften mit Augen so leer wie Knopflöcher. Sie brauchten nicht zu sehen und hatten auch kein Licht, um es zu lernen. Meine Mutter hatte die Aufgabe, jede Woche das Sägemehl zusammenzufegen und eine neue Schicht auszustreuen. Aber Sägemehl setzt sich nicht: Es kroch ihr in die Augen, die Ohren, die Nasenlöcher und den Po. Ihre Kacke war mit Sägemehl gezuckert, und wenn sie sie rausdrückte, blutete sie. Das Sägemehl schmirgelte ihr sogar die Innenwände des Unterleibs ab, sodass es wehtat, mich zur Welt zu bringen. Außer in ihren Körper konnte es nirgendwo hin, sagte meine Mutter. Wenn sie den Boden fegte, stob es um sie herum auf wie Asche. So als würde man seine eigene Einäscherung miterleben. Sie trat mit den Füßen nach den Hennen, bis ihre Schwester sagte, dass davon die Eier in ihrem Bauch kaputtgehen und sie nie mehr ein ganzes legen können.
Einmal kickte meine Mutter ein Brett aus der Stallwand, sodass das Sägemehl einen Weg nach draußen fand. Eins der augenlosen Hühner entkam durch den Spalt und rannte in den Wald, und sie log und behauptete, ein Waschbär hätte das Brett aus der Hütte gerissen.
Ich hab zu meiner Ma gesagt, ist doch egal, wie viele Hühner weggelaufen sind, erzählte sie mir. Ich hab gesagt, wir vergraben einfach alle Eier und dann wachsen neue Hühner nach. Später in diesem Sommer sahen meine Mutter und ihre Schwester die vermisste Henne aus dem Wald aufflattern, mit den Flügeln die Bäume streifen und gerade so über das Scheunendach hinwegschrappen. Meine Mutter sagte, sie hätte schon immer den Verdacht gehabt, dass Hühner nur so taten, als könnten sie nicht fliegen, und die Flügel wegsteckten wie Waffen. Sie meinte, die entflohene Henne hätte es sicher mit einem Rotschwanzbussard getrieben und eine eigene Spezies begründet. Die Bussardhennen pickten rings um das Wäldchen hinterm Haus am Fuß der Bäume, groß und zottelig wie Hunde. Einmal beobachtete sie, wie eine ganze Schar von ihnen eine Schlange überwältigte und am Boden festhielt. Ich dachte immer, nur Götter könnten eine neue Art erschaffen, sagte ich. Dann waren wir wohl Götter, sagte sie. Ich stellte mir vor, wie sie als Henne über Kalifornien flog, glänzend wie ein Flugzeug und schwanger, auf der Suche nach einem Ort, um uns zu legen.
Meine Mutter sagte, Hühner fressen ihre eigenen Eier, wenn man sie zu lange mit ihnen allein lässt. Ich war morgens immer schon wach, wenn der Himmel noch die Augen zu hatte, sagte sie. Wenn sie länger schlief als die Sonne, gab es keine Eier mehr einzusammeln. Meine Mutter öffnete den Mund, nahm meine Finger und schob sie so tief in ihren Hals, dass ich das Heft einer Feder spürte und sie herauszog. Sie steckte in einer Scheide aus Speichel, und als ich sie abstreifte, hustete meine Mutter. Ich fragte sie, was das jetzt bewirkte. Alle Stimmen haben Flügel, sagte sie, auf diese Weise reisen sie. Ich sagte ihr, das sei eine Feder von einem stinknormalen Huhn, flugunfähig, aber sie meinte, es wäre ganz leicht, eins mit der Luft zu werden. Du musst dir einfach nur vorstellen, du hättest hohle Knochen — kein Mark, keine Mutter, keine Erinnerungen.
Meine Mutter trug immer weiße Socken mit Spitzenkragen, und als ich sie fragte, warum, sagte sie, Meine Füße halten Winterschlaf. Als ich meinen Bruder fragte, meinte er, wahrscheinlich hätte sie keine Füße, sondern Fischflossen, und um der Sache auf den Grund zu gehen, schnitten wir ihr Löcher in die Socken, während sie schlief. Wir schlitzten sie der Länge nach auf und zogen sie auseinander, sodass ihre steinharten Fußsohlen zum Vorschein kamen. Links fehlten die drei kleinsten Zehen. Keine Wunde, keine Narben und auch keine Überreste von Stichen, nur Stümpfe mit Ringen wie von einem Baum. Überreste eines Orts, an dem drei Zehen aufgewachsen sein könnten, Namen bekommen haben könnten. Mein Bruder und ich rannten zurück ins Bett und versteckten die Schere unter der Matratze. Am Morgen trug unsere Mutter ein neues Paar Socken.
Was ist mit ihnen passiert?, fragten wir, aber unsere Mutter antwortete nicht. Ich fragte, ob Hu Gu Po sie ihr geraubt hatte, und sie sagte, nicht alles sei erfunden. Wochen später fanden wir eine Keksdose, hinter der anderen Keksdose, in der meine Geburtsurkunde und ihr Nähzeug lagen, beide in der Vorratskammer, in der meine Mutter alles nicht Essbare aufbewahrte: Decken, Batterien, ausgediente Messer, einen Baseballschläger aus Titan. Auf dem Deckel war ein eingeprägter Zeichentrickbär, und die blaue Farbe war abgestoßen.
In der Dose fanden wir verhärtete Ringe aus Asche und in der Mitte braune Steine. Zuerst dachten wir, es wären irgendwelche verpuppten Larven, mit Rinde bedeckte Röhren, die klapperten, als wollte irgendetwas daraus schlüpfen. Aber es wuchsen noch Nägel heraus, die in der Körperwärme der Dose karamellisierten.
Wir hatten ihre Zehen gefunden. Sie summten, als besäßen sie unsere Herzen, und wir glaubten, wenn wir sie wieder annähen würden, hätten sie vielleicht noch eine Chance. Als wir sie ihr zeigten, sagte sie, Ich will sie nicht zurück. Mein Bruder und ich hielten eine Beerdigungszeremonie ab und schrieben sogar eine kleine Grabrede: Hier ruhen fortan die Zehen unserer Mutter. Möge die Erde sie sich einverleiben und dann als wunderschöne Bäume, die nach unseren Füßen riechen, wieder auskacken.
Als unsere Mutter davon erfuhr, peitschte sie uns mit einem nassen Socken aus und ließ sich von uns die Stelle zeigen, und dann mussten wir die Zehen vor ihren Augen wieder ausgraben. Eine ganze Woche nicht geschnitten, waren die Fußnägel inzwischen fünfzehn Zentimeter lang, emaillierte Schwerter mit lebendig aufgespießten Würmern daran. Nachdem sie die Nägel mit der Feile kastriert hatte, legte sie die Zehen wieder in die Keksdose, verschloss den Deckel mit Klebeband und sagte, die werde sie später noch brauchen. Als ich sie fragte, wozu, sagte sie, alle Verluste hätten eine bestimmte Lebensdauer, stets länger, als wir glaubten, aber eines Tages würden ihre Zehen eine andere Blutquelle finden, einen neuen Mund, der sie nährt.
Mädchen im Kürbis
Ich kam mit einem Kopf wie ein Flaschenkürbis zur Welt: Meine Mutter knetete ihn wieder zu einer Kugel, solange meine Knochen noch aus Milch waren. Auf der linken Seite sieht man immer noch ihren Handabdruck. Hätte sie mich je fallen lassen, frotzelte meine Mutter gern, wäre ich in zwei symmetrische Hälften zerbrochen und überall hätten schwarze Samen verstreut gelegen.
Jeden Abend saß sie auf einem Stuhl — ich im Schneidersitz vor ihr auf dem Boden — und presste meinen Schädel in eine Form, die gut in der Hand lag. Mit den Fingern massierte sie mir Strähne für Strähne Pferdemark in die Haare. Wenn sie ihre Knie an meinen Schläfen rieb und Tränen aus mir herausmolk, schleckte sie sie mir wie eine Katze aus dem Gesicht und sagte, sie sei gleich fertig. Sie müsse dafür sorgen, dass mein Kopf rund genug sei, dass ich mich daran erinnere, wer mich liebte, und stabil genug, um die Geschichten zu tragen, mit denen sie mich krönen würde.
Irgendwann floss der ganze Kürbissaft aus mir heraus: Ich pinkelte doppelt so viel wie mein Bruder, in einem so kräftigen Strahl, dass meine Mutter sagte, wenn ich nur richtig zielen würde, könnte ich allein die kalifornische Dürre beenden. Ich schwitzte permanent; meine Haut wogte wie das Meer. Zweimal am Tag musste meine Mutter mich regelrecht auswringen. Damals, bevor wir in einem Haus wohnten, lag ich nachts zwischen meinem Vater und meiner Mutter auf einer Matratze, während mein Bruder auf einem ausklappbaren Futonbett am anderen Ende des Zimmers schlief. Jede Nacht breitete sich um mich herum eine Pfütze aus wie ein dunkler Rock, durchnässte die Matratze und weckte meine Mutter, die träumte, ein Taifun hätte mich von ihrer Brustwarze gerissen. Sie befürchtete, dass meine Adern voller Salz waren und meine Knochen Wasser produzierten statt Blut. Um sich zu vergewissern, dass ich blutete, stach sie einmal mit einer abgekochten Nähnadel eine meiner Adern an. Das Blut schoss spiralförmig heraus und bestätigte seine Farbe an ihren Händen.
Ich war eines Nachts während eines Platzregens gezeugt worden, deshalb wurde ich mit zu viel Wasser im Körper geboren: Der Regen hatte sich in meiner Mutter gesammelt wie in einer Rinne, und als sie ihn nicht mehr halten konnte, kam ich zur Welt. Nach meiner Geburt flehte sie meinen Vater an, in den wenigen Regennächten die Finger von ihr zu lassen, aus Angst vor dem Wetter, das sein Körper zeugen würde.
Mein Vater, Gott des Wassers, konnte alles zum Wachsen bringen. Bevor mein Bruder und ich geboren wurden, studierte er im Hauptfach Regen. Er hatte ein Faible für Bewässerungssysteme, Gräben und Schläuche — sämtliche Einwanderungswege für Wasser. Über Durst wusste er, dass man ihn auslagern musste. Bewässern ist wie Operieren. Als würde man Adern durch einen Körper ziehen, sagte er und demonstrierte mit den Armen, wie man sich durch alles hindurchschaufelte, die immer durstige, wasserversierte Erde aufbrach. Als meine Mutter sagte, Ich will eine Welt ohne Wasser, lachte er und sagte, sie habe Vorurteile gegenüber Flüssen, ob lebendig oder ausgetrocknet, weil sie einmal fast in einem ertrunken sei. Er dagegen fürchtete sich nicht vor Flüssen. Er führte sie. Damals hatte er immer zu meiner Mutter gesagt: Ich werde ein Gott sein, der Wüsten Flüsse spritzt, vertrocknete Landstriche mit See-Infusionen heilt und das Salz aus dem Meer extrahiert. Dann wurde mein Bruder geboren, und er brach die Uni ab, nahm einen Job auf einer Baustelle an und schleppte Kanthölzer. Eine Arbeit, die sämtliches Wasser aus seinem Körper wrang. Als zweite folgte ich, eine flutförmige Tochter, und zu dieser Zeit kam er jeden Tag spätabends nach Hause, wand sich aus seinem Schweiß und sprengte den Teppich, bis sein Flor mir bis über die Knöchel wucherte. Ich hockte mich unter den Küchentisch, entfloh dem Radius seines Regens und stutzte den Teppich mit einer Augenbrauenschere zurück.
Wenn er dann aus dem Zimmer ging, um stundenlang zu duschen, und so lange im Bad blieb, dass ich mich fragte, ob er vielleicht zu Wasser geworden und den Abfluss runtergegluckert war, krabbelte ich dorthin, wo er den ganzen Fußboden vollgeregnet hatte, berührte mit der Zunge seinen Schweiß und versuchte, anhand des Geschmacks zu erraten, wo sein Körper zuvor gewesen war. Er war am Strand, sagte ich zu meinem Bruder, und er hat das ganze Salz aus dem Meer gekidnappt, um es hier als Geisel gefangen zu halten.
Nach der Arbeit bewässerte mein Vater den Gemeinschaftsgarten unseres Wohnblocks, schaufelte Gräben, die für Adern zu gerade waren. Dann wird bei Regen nicht alles überschwemmt, sagte er. Die leiten das Wasser ab. Ich fragte ihn, woher er wusste, wohin es fließen muss, und er zeigte auf ein paar Büsche mit fingerförmigen Blüten. Wasser folgt dem Durst, sagte er. Wenn ein Körper wirklich vor allem aus Wasser besteht, wie kann er dann brennen?, fragte ich. Mein Vater erzählte mir irgendwas von Einzelteilen und Summen: Dass Wasser nur ein Teil ist und der Körper die Summe, aber auf Kopfrechnen hatte ich keine Lust und rannte wieder ins Haus.
Als ich ihn zum ersten Mal einen Wasserschlauch installieren sah, fragte ich ihn, was er da in der Hand halte, und um mir einen Schreck einzujagen, sagte er, eine Schlange. Als uns der Lehrer in der Schule erzählte, dass die Schlange für Verführung stehe und Eva böse sei, musste ich an meinen Vater denken, wie er liebevoll den grünen Schlauch gehalten hatte, um Büsche zu tränken, die nicht seine waren, und die Blütenblätter von einer Blume gezupft hatte, um sie wie Briefmarken anzulecken und mir auf die Wange zu kleben. Wenn er den Schlauch aufdrehte, spritzte Wasser aus dessen Maul, und das war ein Wunder. Ich weiß noch, wie er meinen Bruder mit diesem Schlauch peitschte und das Metallmaul zwischen seinen verdrehten Augen aufschlug. Tut mir leid, höre ich meinen Vater noch sagen, aber anders kannst du nicht wachsen.
Meine Mutter bekam eine Stelle in einer Firma, die Fotokopierer baute. Morgens fuhr sie nach Westen zu einem Gebäude, das oben den Himmel glattschmirgelte, so hoch war es. Dort saß sie den ganzen Tag an einem Schreibtisch und beantwortete mit ihrem Akzent Kundenanrufe. Dass Sie noch nicht gefeuert sind, liegt nur daran, dass Sie einer Minderheit angehören, sagte die Frau aus dem Marketing.
Nach ihrer Beförderung zur Empfangsdame hatte meine Mutter ganz offiziell Zugang zu einem Schwarz-Weiß-Kopierer, an dem sie Kopien handgeschriebener Zettel machte, die sie im Büro verteilte: Bitte keine Lufterfrischer benutzen. Bitte kein Essen mit Nüssen oder Schalentieren mit in die Gemeinschaftsküche bringen. Bitte keine Hygieneartikel in der Toilette runterspülen. Hygiene, bei ihr Hyäne.
An dem Tag, an dem sie gefeuert wurde, nahm sie sämtliche halb gegessenen Caesar Salads und angetrockneten Schinkensandwiches aus dem Gemeinschaftskühlschrank, packte sie in ihre Handtasche und vertilgte sie zum Abendessen, nachdem sie uns einen Topf Fischbällchen-Suppe gekocht hatte. Sie aß ausschließlich Reste, zog das angebrannte Spitzendeckchen vom Boden des Reiskochers und sog das Mark aus den Knochen, die ich nicht sauber abgegessen hatte. Ich bin auf Diät, scherzte sie. Eine Diät namens Leben.
An dem Tag, an dem sie gefeuert wurde, weil sie meine Geburtsurkunde kopierte, beobachtete meine Mutter den grünen Laser, der wie ein Fensterwischer über das Glas strich. Es war bläulich weiß und eiskalt. Die Wange meiner Mutter unter diversen Puderschichten glich einem angeschwollenen Kürbis. Nachdem sie beide Seiten meiner Geburtsurkunde fotokopiert hatte — sie war im Fernsehen auf einen Bericht über einen Brand in einem Archivgebäude gestoßen und hatte Staatsangehörigkeiten in Rauch aufgehen sehen —, drückte meine Mutter noch einmal auf Start, obwohl sie nichts mehr hatte, was sie von mir kopieren konnte. Sie drückte ihre heiße Wange auf das Glas, und der Laserstrahl huschte darüber. Aus dem Schlitz kam eine Landkarte ihrer rechten Wange, die geplatzten Äderchen wie Nebenflüsse, ein allmählich blau werdender Bluterguss von der Nase bis zum Ohr. Mit beiden Händen hielt sie die Fotokopie ins Neonlicht. Faltete sie. Sie berührte die Wange in ihrem Gesicht und dann die auf dem Papier. Wusste nicht mehr, welche das Vergehen war und welche das Beweisstück.
Unsere Vergehen vertuschte unsere Mutter immer: Als mir einmal eine kandierte Garnele aus dem Mund glitt und einen Fleck auf dem Teppich hinterließ, warf sie schnell eine Serviette darauf, damit mein Vater es nicht sah. Als ich schlief, rückte sie dem Fleck mit Bleiche zu Leibe, nur dass sie zu gut wirkte und die Stelle danach heller leuchtete als vorher, zu weiß, ein Lichtkegel da, wo mein Fleck gewesen war.
Beim Kochen erzählte meine Mutter Geschichten, die angeblich aus der Bibel stammten, auch wenn ich sie später in keiner Übersetzung fand. Als mein Vater meiner Mutter sagte, sie solle uns mal eine Geschichte vom Festland beibringen, erzählte sie uns die von Meng Jiang Nu, dem Mädchen, das von einem Kürbis geboren wurde.
Die Geschichte beginnt mit zwei Familien auf benachbarten Anwesen, die eine bekannt für ihr Obst, die andere für ihre Blumen. Zwischen ihren Gärten wuchs ein Kürbisbaum mit einem so dicken Stamm, dass sich nicht einmal der Wind um ihn herumwickeln konnte. Die Wurzeln des Baums bewohnten das Land der Familie Meng, aber die meisten der Äste — unter anderem der mit dem größten Kürbis, golden und so glänzend, dass er vorbeifliegende Vögel blendete — reichten bis in den Garten der Familie Jiang.