Über das Buch

»Tobi Müller schreibt über Popmusik mit dem gebotenen Ernst und der notwendigen Lust, ohne die Kunst sinnlos ist.« Sophie Hunger

Pop und seine Geräte prägen uns alle. Vom Lieblingstape im Walkman zur passenden Playlist für jede Stimmung per Streaming-App — wir alle können unser Leben entlang popmusikalischer Highlights und dem dazugehörigen Abspielgerät erzählen. Doch was, wenn wir das Wechselspiel von Musik und Technik anders, abseits von reiner Unterhaltung betrachten? Tobi Müller widmet sich diesem komplexen Gefüge und zeigt, dass Pop als Phänomen schon da war, bevor es Popmusik gab. Denn erst im Zusammenspiel mit technologischer Innovation entfaltet sich seine produktive Wirkung. »Play Pause Repeat« eröffnet einen radikal neuen Blick auf Pop — persönlich, musikalisch versiert und technologisch inspiriert.

Tobi Müller

PLAY | PAUSE | REPEAT

Was Pop und seine Geräte über uns erzählen

Hanser Berlin

Inhalt

Einleitung

1 | Tape

2 | Verstärker, Rekorder

3 | Kopfhörer, Kopierer

4 | Walkman, Synthesizer

5 | MTV, Live Aid, CD

6 | Techno

7 | mp3, Loudness

8 | iPod, Google, iPhone

9 | Berlin: Software, Clubs, Mieten

10 | Streaming

Epilog

Dank

Playlist

Literatur

Einleitung

Eines meiner Lieblingslieder ist TRAVELIN’ LIGHT von J. J. Cale. Gekühlter Bluesrock, etwas Funk in der Gitarre, ruhige Stimme, sparsames Arrangement. Die Musik vermittelt mühelos, wovon der Song handelt — vom befreienden Gefühl, mit leichtem Gepäck loszuziehen. J. J. Cale meint wohl beides: sinnbildlich den unbeschwerten Aufbruch ohne die Last der Vergangenheit, wörtlich die kleine Reisetasche. Letzteres gelingt mir nie. Ich packe immer zu viel ein. Und ich brauche lange, bis die Kleider, die Bücher und die Dokumente beisammen sind. Kaum denke ich, es geschafft zu haben, fällt mir die wichtigste Frage ein: Welche Musik kommt mit? Es hat mich schon halbe Nächte gekostet, im letzten Moment die richtigen Tapes für den Walkman aufzunehmen. Später gab es für die Compact Disc Albummappen aus dünnem PVC, in die man die Discs schieben konnte, die Verpackungen aus Hartplastik waren zu sperrig für den Koffer und gingen schnell kaputt. Als man mit Programmen wie iTunes endlich auch CDs brennen konnte, wurden die Nächte noch länger. Welche Musik passt zur Reise, welche Songs in welcher Reihenfolge? Welche Mischung stellt möglichst alle Mitreisenden im Mietauto zufrieden?

Heute reisen alle leicht, zumindest was die Musik betrifft, die in der Streaming-App bereitsteht. Das Gepäck wäre bedeutend schwerer, wenn das unfassbar große Musikarchiv ein messbares Gewicht hätte, vom CO2-Verbrauch der Serverfarmen einmal abgesehen. Heute braucht es aber keinen feierlichen Grund mehr wie eine Urlaubsreise oder ein Geschenk für Freund:innen, um eine besondere Liste zusammenzustellen. Playlists, nach Stil oder nach Stimmung gruppiert, laufen täglich bei rund einer Milliarde Menschen, beim Kochen, beim Entspannen, beim Sport.

Richtig leicht bewege ich mich nur, wenn ich die Laufschuhe schnüre und losrenne. Im Park begegne ich Läufer:innen, die DJs und Tänzer:innen ähneln. Die Bewegungen wirken geschmeidig, rhythmisch. Die Mehrheit ist mit Kopfhörern unterwegs. Wahrscheinlich hören sie Musik von einer Liste — von ihnen selbst zusammengestellt, von einem Algorithmus oder von einer Fachkraft bei Spotify und Co. Ein eleganter Laufstil hat viel mit Tanzen gemeinsam, die federnden Bewegungen im Takt und den Schweißfilm auf der Haut sieht man so ähnlich auch im Club. Nur weiß ich auf der Laufstrecke nicht, was die anderen hören. Wie interessant es wäre, sich in ihre Smartphones einklinken zu können! Oder wenn in der Mitte des Parks riesige Lautsprecher stünden, die auf die Playlists der Läufer:innen zugreifen könnten. Vielleicht würde aus dem einsamen Individualsport ein spontaner, kollektiver Rave entstehen, wie sie unter schattigen Bäumen und hinter blickgeschützten Gebüschen manchmal morgens in die Verlängerung gehen. Ich freue mich immer, drehe eine kleine Runde um die ausglühenden Partys und dehne in Hörnähe die Beine. In den letzten Jahren haben Outdoorworkouts, angeleitet von hochmotivierten Trainer:innen, die Raves im Park verdrängt. Ob Party oder Fitnesstraining, die Musik unterscheidet sich dabei nicht grundlegend.

Musik und ihre Geräte greifen auf unsere Körper zu, etwa beim Bewegen im Freien oder bei der gespannten Vorfreude auf den Urlaub. Sie sind auch der Soundtrack auf dem Weg, eine Persönlichkeit zu entwickeln und dabei Autonomie zu gewinnen. Später helfen sie, unsere Erinnerung zu organisieren, bieten uns akustische Reize, die ganze Szenerien der Vergangenheit heraufbeschwören können. Sie prägen unsere Biografien. Diese Beziehungen — zwischen Musik, Geräten und Körpern — nennt dieses Buch Pop. Denn Pop ist nie nur Musik, sondern eine Erlebnisweise, die erst mit dem Einsatz von Technologie möglich wird. Die Aufnahmetechnik, die Wiedergabegeräte, der Konsum zu Hause, unterwegs oder beim Konzert: Das ist mindestens so wichtig wie die Musik selbst. Im Pop bestimmen die Geräte, wie wir hören. Und oft bestimmen sie auch, wie wir uns sehen — wer wir sind, wer wir sein könnten oder möchten.

Manche Erfindungen, die für Pop prägend werden, kommen selbst in popfernen Haushalten an. Meine Eltern mögen weder die Musik noch das Verhalten von Popfans. Sie sind Teil des Wirtschaftswunders und steigen aus bescheidenen Verhältnissen in die Mittelklasse auf. In den Sechzigerjahren müssen sie schnell erwachsen werden. Das erste Auto ist schon da, als der erste Kassettenrekorder angeschafft wird, noch vor meiner Geburt. Mit Kassetten lernen meine Eltern Fremdsprachen, Englisch, Italienisch. Das Gerät ist wie eine Bildungsmaschine für sie, ein Stück Empowerment. Beim Kauf des Rekorders gab es ein Tape umsonst dazu, Folk aus den Anden. Wenn ich heute EL CONDOR PASA höre, sehe ich Gletscher auf Schweizer Pässen und erinnere lange Diskussionen während ruckeliger Autofahrten, ob wir die Kassette ein zweites (oder drittes) Mal hören dürfen. Pop fand seinen Weg in unseren Haushalt, als Geschenk eines Geräteherstellers.

Die Technologie des Tonbandes geht dieser Szene aus den Siebzigern zeitlich weit voraus. Erst das bis zu einer halben Stunde rollende Band schaffte Platz für Experimente, davor waren Tonaufnahmen auf wenige Minuten am Stück begrenzt. So kann etwa der Schwarze Sänger Lead Belly 1948 in aller Ruhe Dinge ausprobieren, die nicht abgesprochen waren. Leadbelly singt BLACK BETTY ohne Begleitung, zwischen den Stücken erzählt er entspannt, wie er auf die Songs gestoßen ist. Die Rolling Stones entdecken 1968 den blechernen Klang eines billigen Kassettenrekorders als Soundquelle für Hits wie STREET FIGHTING MAN. Und die Beatles spielen ebenfalls ausgiebig mit Tape. Sie begreifen die Aufnahme als eigene Kunstform und das Studio als Instrument.

Auch die Achtzigerjahre beginnen mit Tapes, als der supermobile Walkman die Musik auf die Straße bringt und Pop dadurch mehr Sichtbarkeit erlangt. Kein anderes Gerät hat mir je mehr Vorfreude und sehnsüchtiges Warten beschert als mein erster Walkman. Die Musik lernt endgültig laufen. Und der eigene Soundtrack im Ohr ermöglicht mir neue Erfahrungen im öffentlichen Raum. Im Bus, auf dem Weg zur Schule, beim Herumwandern in der Kleinstadt: Die Umgebung wird zur Kulisse für meine eigenen Wünsche, zu meinem eigenen Film. Doch auch die Musik selbst hat auf den Walkman reagiert, mit britischem Synthiepop, der sich melancholisch nach innen richtet, und dennoch nach außen drängende Energie verleiht. Songs wie SMALLTOWN BOY von Bronski Beat und HERE COMES THE RAIN AGAIN von Eurythmics fassen diesen Zustand zwischen Melancholie und Euphorie in epochale Popsongs.

Mit der teuren CD ist die Zeit der selbst gestalteten Mixtapes vorerst vorbei. Denn lange lässt sie sich nur unter erheblichem Aufwand kopieren und neu zusammenstellen. Aber mit der CD tritt Pop Mitte der Achtzigerjahre dennoch ins Zeitalter der Digitalisierung ein, die Ende der Neunzigerjahre mit der Erfindung des mp3-Formats den Markt revolutioniert. Digitale Formate und Aufnahmeverfahren öffnen den Popmarkt für Personen mit weniger Kapital. Top-Produzent:innen sitzen von nun an nicht mehr nur in Großbritannien oder den USA, sondern zum Beispiel auch in Schweden. In Stockholm lanciert Denniz PoP in den frühen Neunzigerjahren mit neuer digitaler Studiotechnik eine Welle von Popwundern wie Dr. Alban und Ace of Base, Boy Bands wie die Backstreet Boys und *NSYNC. Und am Ende des Jahrzehnts ist es auch für Popfans möglich, direkt an der Digitalisierung teilzuhaben, wenn Musik im mp3-Format über das Internet geteilt werden kann. Die alte Tonträgerindustrie hat ihr Geschäftsmodell verloren. Bis eine damals kleine Firma namens Apple einen Laden für digitale Musik aufmacht und einen handlichen Player vorstellt: iTunes und iPod. Erst jetzt steigt Apple zum größten Konzern der Welt auf. Mit iTunes, Youtube, dem iPhone und schließlich mit Streamingdiensten hören alle so viel verschiedene Musik wie nie zuvor. Pop gerät in eine Spirale der verfeinerten Personalisierung, die Sammlungen wachsen exponentiell, die Auswahl scheint grenzenlos zu sein.

Hören wir also alle etwas Anderes und sitzen vereinzelt unter Hörglocken? Die Geschichte von Pop und seinen Geräten gibt darauf ambivalente Antworten. Denn Pop erreicht unsere Haut und tritt in unser Innerstes ein, verbindet uns aber dennoch mit anderen, manchmal mit Massen. Zum einen erzählt Pop von einer fortschreitenden Individualisierung der Lebensentwürfe, Wünsche und Möglichkeiten, die mitunter tatsächlich Züge der Vereinzelung trägt. Zum anderen geht diese Individualisierung mit demokratisierender Technologie einher. Es wurde und wird einfacher, Zugang zur Musik zu erhalten oder selbst welche zu produzieren. Sozialer Fortschritt und individuelle Vereinzelung sind im Pop nicht immer leicht voneinander zu unterscheiden.

»Höre nur, was du willst, wo immer du willst«, heißt es in einer Werbung für In-Ear-Kopfhörer der Marke Teufel. Die Website wirbt mit dem Slogan »Deine Musik nur für dich« und beschreibt mit dieser Ich-Zentrierung keine Ausnahme, sondern eine längst etablierte Norm. Das erste Modell der neuerdings bunten Computerreihe von Apple erscheint 1998 und trägt das Ich schon im Gerätenamen: iMac, die Ich-Maschine. Jeder Mensch ein Markt. Das ist die kapitalistische Seite von Pop. Doch alle Technologien, mit denen Pop seit den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts immer weiter in die Welt vordringt, tragen die Möglichkeit der Veränderung und der Emanzipation in sich. Die Vervielfältigung von Schallplatte, CD oder Audiofile ermöglicht den Musikkonsum außerhalb von Konzertsälen, die oft soziale Schranken sind. Und die Abspielgeräte sind eng mit den Verfahren der Tonaufnahme verknüpft, aus Hörer:innen werden Produzent:innen, die Mixtapes, Hörspiele oder Sendungen anfertigen. Aufnehmen, abspielen, anhören: die Bedeutungen dieser Verben gehen ineinander über.

Weil seine Technologien so weit in unseren Alltag, zu unseren Körpern und Gefühlen reichen, wirkt Pop manchmal wie eine Prophezeiung. Pop und seine Geräte stecken ein Testfeld ab, auf dem gesellschaftliche Erschütterungen früh gespürt und geprobt werden. Der Walkman zum Beispiel übt ab 1979 scheinbar gegensätzliche Zustände der Achtzigerjahre ein: die Betonung der Leistungsbereitschaft im neoliberalen Jahrzehnt, wenn fitte Körper sich die Stadt zu ihrem eigenen Soundtrack aneignen, sowie zeitgleich der Rückzug in innere, melancholische Erlebnisräume, während das Außen von Bedrohungen wie Aids, atomarer Aufrüstung und Umweltkatastrophen bestimmt ist. Testfelder für neue Erfindungen besitzen nur dann Aussagekraft, wenn sie groß genug sind. Deshalb kommt die Mehrheit der Pop-Technologie ursprünglich aus dem Krieg: der Kopfhörer, der Rundfunk, die Stereophonie, das Tonband, der Vocoder, die Tonbandmaschine. Im zivilen Leben und in Friedenszeiten ist es die Massenkultur, die neue Technologien als Erstes testet.

PLAY PAUSE REPEAT verbindet die Felder der Technologie mit jener der Musik. Das Buch zeigt, wie Technologie und Pop sich wechselseitig bedingen und beeinflussen. Wenn die Testfelder so groß sind wie Pop und Technologie, reicht es nicht, sich auf geschmackvolle Beispiele zu beschränken. Hier kommt auch Musik zur Sprache, die im Pop-Kanon als uncool gilt, Musik von Mike Oldfield oder Keith Jarrett etwa. Ihre berühmtesten Alben hatten jedoch den größeren Fiebermesser, um den frühen Siebzigerjahren die Temperatur zu nehmen, als die kleineren Bands, die nur in Manhattan bekannt waren (und später in allen Punkgeschichten plötzlich weltberühmt). Und so werden auch im Kapitel über die frühen Achtzigerjahre Eurythmics, Depeche Mode und Simple Minds ausführlicher behandelt als Gary Numan oder Joy Division. Noch ein Geständnis: Auch U2 kommen vor, Dire Straits und Sting. PLAY PAUSE REPEAT ist in diesem Sinne keine Popgeschichte, obwohl das Buch linear durch die Jahrzehnte schreitet. Es beleuchtet dabei wichtige Stationen in der Entwicklung von Pop und Technologie und kreuzt biografische Wegmarken. Denn die eigene Erfahrung ist insofern wichtig, als das Buch mit dem Einsatz der Geräte zeigen will, wie konkret Pop in Biografien eingreift. In meinem Fall, und bestimmt auch in vielen anderen, trägt Pop in den zurückliegenden Jahrzehnten die Zeichen transatlantischer Verbindungen. England, USA und Deutschland sind die Territorien, die dieses Buch hauptsächlich beobachtet (viel weniger die Schweiz, obwohl ich da herkomme). Rückblickend erscheint heute vieles globaler, etwa dank der zentralen Rolle der japanischen Unterhaltungselektronik von Sony, Roland oder Yamaha. Ganz nah an meine biografischen Stationen rückt das Buch, wenn ich die Geschichte der Dance Music von Detroit aus erzähle. Dabei bleibt der abschließende Beobachtungspunkt die Gegenwart, in der Pop mit Streaming in ein radikal neues Zeitalter eintritt. Darauf läuft das Buch zu. Und ich laufe noch einmal los …

Je nachdem, zu welcher Tageszeit und wo ich durch die Stadt jogge, beobachte ich unterschiedliche Verhaltensweisen, Körper und Moden, die in einem Kontinuum des Pop stehen. Zum Beispiel sehe ich junge Männer, die sich hier mit breitbeinigem Gang durch die Stadt bewegen und dort einen Kinderwagen vor sich herschieben. Und junge Frauen tragen ähnliche Kleidung wie Männer oder umgekehrt. Seit ein paar Jahren gibt es in Berlin eine neue Rapszene, die sich endlich von ihrer frauenfeindlichen Tradition distanziert. Die Rapper heißen Pashanim oder Symba, ihre Videos verzeichnen Views im zweistelligen Millionenbereich auf Youtube oder TikTok. Während ich den mit Kriegsschutt erhöhten Berg im Park hochlaufe, denke ich, dass im Streamingzeitalter tatsächlich sozialer Fortschritt erkennbar wird. Bei der Arbeit an diesem Buch fiel mir auch auf, wie zufällig die Geschichte von Pop und seinen Geräten zuweilen verlief: Tonbänder und digitale Audiodateien hätten den Massenmarkt schneller erreichen können, der Walkman hieß beinahe »Stereobelt« und wäre woanders erfunden worden. Und erste Ideen für zentrale Musikdatenbanken, im Grunde nichts Anderes als Streaming, gab es schon in den frühen Achtzigerjahren. Auch die Technologie der Aufnahme und der Wiedergabe kam nicht als Schicksal in die Welt, ihre Geschichte wurde und wird gemacht — erst vom Militär und von Regierenden, dann von Musiker:innen und Fans. Veränderung ist möglich, auch das zeigt die Geschichte von Pop und seinen Geräten. Und wir sind mittendrin.

1 | Tape

Auf dem Plattenspieler drehen sich die Beatles um ihre eigene Achse und spielen die Musik ihrer Jugend. Das Doppelalbum ROCK AND ROLL MUSIC bedient 1976 einen nostalgischen Markt, sechs Jahre nach der Auflösung der Band. Meine Patentante schenkt mir die Platte gegen Ende des Jahrzehnts. Ich bin Grundschüler und verstehe weder das Wort Nostalgie noch die englischen Texte. Das hindert mich nicht daran, laut mitzusingen, in einer Sprache, die nur ich für Englisch halte. Hauptsache, die Stimme klingt heiser wie jene von John Lennon, der den Klassiker von Chuck Berry hart am Anschlag singt. It’s gotta be rock and roll music / Any old way you choose it. Mein Bruder drückt, ohne dass ich es merke, die Aufnahmetaste des Kassettenrekorders, während ich den Lennon mache. Als er später das Tape abspielt, erkenne ich meine eigene Stimme nicht. Keine Ahnung, wer da so schief und unverständlich singt! Erst allmählich spüre ich die Kränkung, dass es mein eigener dilettantischer Gesang auf der Aufnahme ist. Und doch hält das Tape eine Ermächtigung bereit: Immerhin bin ich auf demselben Tonband wie John Lennon!

An den ersten Blick in den Spiegel kann sich niemand erinnern, an den Schock über das fragmentierte Ich, das jede Illusion der Ganzheit zerstört. Doch für viele Menschen hat sich der Moment eingeprägt, in dem sie die eigene Stimme zum ersten Mal auf Band hörten. Wer mit digitalen Medien groß geworden ist, kennt diesen Audioschock vielleicht nicht mehr in seiner ganzen Tragweite, Sprachaufnahmen sind alltäglich geworden. So dachte ich jedenfalls. Doch das erste Mal vor dem akustischen Spiegel löst scheinbar noch heute eine wohlige Irritation aus. Neulich nahm ich mit dem jüngsten Kind ein Stück auf mehreren Tonspuren auf. Der Neunjährige spielte Klavier, ich Gitarre, dann nahmen wir nacheinander die Gesangparts auf, die in den letzten Durchgängen der gut drei Minuten einsetzten. Als ich meinem Sohn das fertige Stück abspielte, ließ ihn das instrumentale Thema im ersten Drittel unbeeindruckt. Auch beim Anhören seiner nachfolgenden Improvisation blieb er cool. Der Schrecken kam erst, als er gegen Ende seine Stimme hörte. »Was? Klinge ich in echt auch so?«

Jede Aufnahme befriedigt den narzisstischen Wunsch, sein Ich verdoppelt und somit als wirkmächtig zu erfahren. Gleichzeitig löst das Erlebnis der vom Körper abgespaltenen Stimme einen Schock der Selbstentfremdung aus. Bin das noch ich? Meine Sprache, getrennt von mir, nun aus dem Lautsprecher einer Maschine vernehmbar? Darin liegt aber auch ein emanzipatorisches Potenzial. Die Technologie, in diesem Fall Tape, ermöglicht ihren Nutzer:innen, ihre alltäglichen Rollen für einen Moment abzulegen und jemand anders zu sein: Künstlerin, Rockstar, Fremde. Etwas freier von den Zuschreibungen, die das Leben früh für einen bereithält, selbst für einen Grundschüler. Pop erfindet diese Befreiungstechnik nicht, macht sie aber im Zusammenspiel mit Technologie zugänglicher für die Massen. Jeder Entwicklungsschritt der Popmusik selbst hat direkt mit der Erfindung und Weiterentwicklung des Tonbands und seiner Geräte zu tun. Man kann es schneiden, neu kleben, montieren, die Aufnahme lässt sich sofort anhören. Und später, wenn das Tonband kleiner wird und Kassette heißt, kommt es in jeden Haushalt. Doch damit das Tape rollt, braucht es erst die Technologie der Aufnahme.

Die erste Aufnahme-Maschine wurde 1877 von Thomas Edison im US-Bundesstaat New Jersey erfunden, er nannte sie Phonograph (ein Jahr nachdem Alexander Graham Bell einen Apparat namens »Telephone« hatte patentieren lassen). Speichermedium von Edisons Phonograph war eine zylinderförmige Walze, die teuer herzustellen und schwer zu tragen war. Die Maschine war schlicht unhandlich, es gab also Bedarf für Verbesserungen. Emil Berliner, in Hannover geboren und in die USA ausgewandert, erfand zehn Jahre später das Grammophon und die runde Scheibe mit den Rillen, die Berliner auf Deutsch »Schallplatte« nannte. Im Logo der Plattenfirma Deutsche Grammophon Gesellschaft, die Berliner 1898 gründete, saß lange ein kleiner Hund vor einem Schalltrichter. Das Hündchen hört »His Master’s Voice«, die Stimme seines verstorbenen Herrchens. Diesen Werbespruch ließ Berliner patentieren. Er könnte wahrer und abgründiger nicht sein: Die Technologie der Aufnahme ermöglicht es erstmalig, die Stimmen der Toten zu hören. Sprache wurde »unsterblich«, wie Edison sagte.

Das Bild des Hündchens vor dem Schalltrichter lässt zwei Interpretationen zu, die für Pop eine entscheidende Rolle spielen. Horchen der Hund und die Zuhörer:innen nur auf das, was aus dem Trichter schallt? Oder sprechen und singen sie selbst etwas hinein? Die Grundfrage ist: Bist du schon Produzent:in oder noch Konsument:in? Doch dafür ist es 1898 zu früh. Pop und seine Technologien werden die Trennung in klar unterschiedene Gruppen, wer aufnimmt und wer nur zuhört, erst rund fünfzig Jahre später überwinden. Die Technologie der Aufnahme ist dazu aber die zentrale Bedingung. Jede und jeder kann produzieren. Die Aufnahme und ihre Vervielfältigung sind Technologien der Demokratisierung, zumindest in der Theorie. Dieses Potenzial teilt die Erfindung der Tonaufnahme mit einer viel älteren Technologie, mit dem Buchdruck.

Der Buchdruck, sagt Michel Foucault in seinem Vortrag Was ist Kritik?, ermöglichte nicht nur viel mehr Gläubigen den Zugang zur Bibel, sondern leitete auch die Bibelkritik und die Reformation ein. Die Folgen: die Erschütterung eines Kontinents. Doch Bibelkritik und Reformation wurden ihrerseits zu einer Kunst, die Menschen zu regieren, wie Foucault es nennt. Keine Technologie ist an und für sich gut oder schlecht, revolutionär oder bewahrend. So wie der Buchdruck die Kunst hervorgebracht hat, »nicht derart regiert zu werden«, wie Foucault erklärt, war er später ein Medium, mit dem sich während der Reformation und der Gegenreformation genauso herrschen ließ. Diese Ambivalenz neuer Technologien wohnt den Erfindungen, die Pop später ermöglichen, von Anfang an inne.

Schon Edisons Phonograph zeigt diese Doppeldeutigkeit: Einerseits machte er Musik mehr Menschen auch außerhalb des Konzertsaals zugänglich und trug somit einen ersten Schritt zur Demokratisierung der Hörsituation bei. Andererseits bestand kein Zweifel, wem der Phonograph als Instrument des Regierens dienen sollte. 1889 sprach Reichskanzler Otto von Bismarck auf eine Walze aus Wachs. Wenig später ließ sich der junge Kaiser Wilhelm II. die amerikanische Maschine persönlich erklären und führte sie dem Hof anschließend selbst vor.

Die Tragweite einer Innovation zeigt sich oft erst im weiteren Verlauf der Geschichte. Als Edison 1877 in den USA den Phonographen entwickelte, forschten andere in Europa an einer Technologie, die weiter fortgeschritten war. Der Däne Valdemar Poulsen beschichtete bereits 1878 Drähte und nutzte sie als magnetische Datenträger. Das war noch kein Tonband, aber eine Art Tondraht. Im Unterschied zu Edisons Phonographen hätte die Aufnahme von Poulsens zehn Jahre später patentiertem »Telegraphon« sogar bearbeitet werden können, im wahrsten Sinne des Wortes »geschnitten«, mit Zange, Schweißbrille und Lötkolben. Aber niemand kam auf den Gedanken, damit Sprache aufzunehmen, die Telegraphendaten wurden allein für die Schifffahrt gespeichert. Es brauchte etwas Größeres, um das Potenzial der Tonaufnahme zu erkennen und großflächig zu testen. Dieses Testfeld für Unterhaltungselektronik war der moderne Krieg.

Im deutschen Sprachraum hat niemand umfassender und erhellender über die Beziehung von Medien, Technologie und Militär nachgedacht als der Germanist und Medientheoretiker Friedrich Kittler. Kittler argumentiert mit Friedrich Nietzsche, dass Technologie immer mitbestimmt, wie wir die Welt erfahren, und dadurch unser Wissen prägt. »Unser Schreibgerät schreibt mit an unseren Gedanken«, hält Nietzsche in einem Brief an seinen Freund Peter Gast fest und meint damit noch die Schreibmaschine. Diese Idee lässt sich gut auf den Phonographen übertragen. Denn auch dieses Gerät spielt uns vor, wie wir die Welt hören und wie wir sie zu hören haben. Aber die Welt, und besonders Pop, wird im Umkehrschluss ebenso versuchen, wie die Technologie zu klingen. Wir sollen die Nadel auf Vinyl hören, das Rauschen des Bandes, den blechernen Klang aus dem Kassettenrekorder oder das Stottern der frühen digitalen Soundfiles. Technologie ist nie nur Hilfsmittel im Pop, sondern selbst wichtiges Instrument. Und den Großteil der poprelevanten Technologie führt Friedrich Kittler auf ihre Ersteinsätze zurück: als Mittel der modernen Kriegsführung.

In Grammophon Film Typewriter schreibt Kittler, Rockmusik sei, wie jede Unterhaltungselektronik, »Missbrauch von Heeresgerät«. Dieses berühmte Bonmot, in dem Kittler den Zusammenhang von Krieg und Pop auf den Punkt bringt, ist in Wahrheit ein Zitat, das auf eine deutsche Kommandostelle im Ersten Weltkrieg zurückgeht. Der AEG-Ingenieur Hans Bredow baute für die demoralisierte Truppe im Grabenkrieg mit Röhrenverstärkern einen mobilen Radiosender, den auch der Feind im nahen Schützengraben schätzte, wenn das Feuer ruhte. Als die Kommandostelle davon Wind bekam, verbot sie den »Missbrauch von Heeresgerät und jede weitere Übertragung von Musik und Wortsendungen«. Ziviles Radio gab es damals noch nicht. Nach dem Krieg dann schon: Hans Bredow, eben noch Piratenradio-DJ an der Front, wurde 1920 der erste Staatssekretär des deutschen Rundfunks. Nach dem Krieg stand die militärische Funktechnologie ungenutzt in Zeughäusern herum, bevor der Staat sich ihrer annahm und sie für einen neuen Zweck einsetzte. Kittler verweist auf die Möglichkeit, dass die neue Kommunikationstechnologie für unautorisierte Zwecke hätte entwendet werden können: »Einfach um anarchischen Missbrauch von Heeresfunkgerät zu verhindern, erhielt Deutschland seinen Unterhaltungsrundfunk.«

Erneut zeigt sich: Geräte sind gefährlich. Die herrschenden Eliten versuchen, ihren Gebrauch zu kontrollieren und den Zugriff auf die Technologie dahinter zu beschränken. Der Rundfunk mag zwar ab 1920 in staatlicher Hand sein, doch die Radiowellen reichen weit darüber hinaus. Sie treffen auf Hörende zu Hause, weitaus mehr Menschen als vormals Soldaten in den Schützengräben. Damit ist der Weg hin zur Massenkommunikation geöffnet — eine grundlegende Voraussetzung für die Entstehung von Pop gut dreißig Jahre später.

Doch der Zweite Weltkrieg ist das Testfeld für eine weitere Technologie, die die Genese von Pop vorbereitet: das Tonband. Friedrich Kittler zeichnet dessen Entwicklung bis in die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte nach. Damals wunderten sich britische und US-amerikanische Geheimdienste über das deutsche Radioprogramm. Wie schaffte es Hitler, auch nach Mitternacht noch live Sinfonieorchester zu übertragen? Um Schallplatten konnte es sich wohl nicht handeln, kein Kratzen, viel zu gute Tonqualität. Der Grund für die hohe Klangtreue: stark verbesserte Tonbandmaschinen. Die Öffentlichkeit sah das erste dieser Geräte bereits 1935 während der Rundfunkausstellung in Berlin, als das »Magnetophon« präsentiert wurde. Fritz Pfleumer, im Übrigen Erfinder des Trinkstrohhalms, fand heraus, wie man Papier anstelle von Drähten beschichten konnte. Die Klangtreue verbesserte sich sofort. »Tönendes Papier« nannte Pfleumer das, was später Tonband heißen sollte. Nun reichte die Schere, um zu schneiden, der Schweißbrenner konnte im Schuppen bleiben.

Die Entwicklung des Tonbands fand nicht allein in Deutschland statt, sie wurde unter anderem auch in den USA in den Bell Labs vorangetrieben. Dennoch, nirgends gelang die Verbesserung der Tonqualität so rasch wie in Deutschland. Techniker der Badischen Anilin- und Sodafabrik (BASF) und der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) machten im Krieg schnelle Fortschritte. Entscheidend für den Qualitätssprung: Die deutschen Maschinen arbeiteten nun auch mit Wechselstrom statt nur mit Gleichstrom. Dadurch wurden die Partikel auf dem Magnetband bis in viel höhere Frequenzbereiche hinausgeschüttelt und genauer gruppiert. Die Aufnahmetechnik erreichte damit eine ungekannte Qualität, die im Rundfunk sogar für eine Liveübertragung gehalten wurde. Die neuen, verbesserten Tonbandmaschinen erlaubten schnelle, unhörbare Schnitte und eine höhere Tonqualität. Die Kriegsberichterstattung von der Front ging nun rascher über den Sender. Lange Zeit waren die Nachrichten der Deutschen früher on air als die der Alliierten. Erst im Herbst 1944 fielen letzteren die deutschen Tonbandmaschinen in die Hände. »Am 11. September befreiten amerikanische Panzerspitzen Stadt und Sender Luxemburg«, schreibt Kittler. »Radio Luxemburg kehrte zu seiner Vorkriegswahrheit zurück: als größter kommerzieller Plattenwerbeträger in einem Kontinent der Staatsmonopole auf Post, Telegraphie und Rundfunk.« Später wurde daraus RTL, der erste europäische, nicht von Besatzungstruppen betriebene Popsender, als die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten noch jahrzehntelang fremdelten mit der Idee eines durchgehenden Popprogramms. Es liest sich wie ein Drehbuch, dass die Alliierten bei RTL die tönende deutsche Wunderwaffe fanden, das sogenannte Magnetophon. »Das Mysterium wurde gelöst«, schreibt Kittler, das Geheimnis der Klangtreue im Reichsfunk gelüftet. Allein, es waren die bereits bekannten Magnetophone, die von den Alliierten in großer Zahl und in vielen Studios gefunden wurden und deren Technologie nicht ganz so geheim war. Auf der Rundfunkmesse 1935 hatte sich die Welt davon bereits ein Bild machen können. Was die US-Truppen in Luxemburg fanden, waren gerade nicht die stark verbesserten Geräte, die nachts den guten Sound ins Reich sendeten.

Der historischen Wahrheit näher kommt wohl der US-amerikanische Autor Greg Milner, der mit Perfect Sound Forever The History of Recorded Music eines der wichtigsten Bücher über die Geschichte der Aufnahme geschrieben hat. Auch Milner beschreibt, wie das verbesserte Magnetophon von einem amerikanischen Offizier entdeckt wurde, allerdings erst kurz nach dem Krieg. Offizier Jack Mullin fand das Gerät in einem gut gesicherten Palast in der Nähe von Frankfurt am Main, von wo aus die Reichsrundfunkgesellschaft sendete. Es war das erste mit Wechselstrom ausgestattete Magnetophon K4. Mullin war nicht nur an Sinfoniekonzerten interessiert. Das Rätsel der deutschen Klangqualität zu lösen, hatte auch handfeste militärische Gründe. Denn der Reichsfunk hatte die neuesten Zusammenschnitte der Reden von Hitler, Churchill und Roosevelt stets früher gesendet als die Alliierten. Sie klangen nicht nur besser, sondern ließen auch keine Schnitte hören. Radio war als politisches Instrument nun noch einfacher zu manipulieren, mit einer Technik, die auch nach dem Krieg von großem Nutzen sein konnte.

Im Deutschen Reich gab es damals nur zwei der neuen, mit Wechselstrom betriebenen Magnetophone. Beide fand Offizier Mullin außerhalb von Frankfurt. An einem Ort namens Bad Nauheim, der später noch größere popkulturelle Bedeutung erlangen sollte. Auch sie hat mit Tonband zu tun, wenn man genau hinhört. Denn Bad Nauheim ist einer der Orte in Deutschland, an denen Elvis Presley zwischen 1958 und 1960 als Soldat stationiert war, nachdem er bereits Weltruhm erlangt hatte. Und die unverwechselbare Stimme von Elvis erhielt ihren Klang nur aufgrund eines Tonbandtricks, der erst entdeckt worden war, nachdem es die Tonbandmaschine über den Atlantik geschafft hatte.

Offizier Jack Mullin zerlegte eines der verbesserten Magnetophone K4 in Bad Nauheim und ließ die Einzelteile nach Kalifornien verschiffen. Dort legte Mullin die Grundlage für die neue Tonbandtechnologie in den USA. Doch weder technologisch noch wirtschaftlich gelang ihm ein großer Erfolg. Erst der in Russland geborene Alexander Poniatoff schaffte es, die deutsche Technologie zufriedenstellend nachzubauen und dank der Hilfe einer beliebten Radioshow auch kommerziell zu lancieren. Seine Firma hieß Ampex und baute über mehrere Jahrzehnte hochwertige Bandmaschinen, die im Pop eine gewichtige Rolle spielen. Kurz darauf gab es dann günstigere Modelle, zum Beispiel das sogenannte Magnecord.

Im Herbst 1948 nahm der New Yorker Journalist Bill Ramsey den Schwarzen Sänger und Gitarristen Huddie William Ledbetter an drei verschiedenen Abenden in seiner Privatwohnung mit einem Magnecord auf. Lead Belly, wie er seit mehreren Jahrzehnten genannt wurde, starb ein Jahr darauf, die Aufnahmen erschienen erst viel später. Doch die Bedeutung dieser Aufnahmen und der Technologie dahinter war enorm. Denn sie trugen zur Entmystifizierung Schwarzer Stimmen in der weißen Vorstellung bei. Lead Belly hatte vor vielen weißen linken Folkenthusiast:innen und Bluesliebhaber:innen an Universitäten und in Cafés gesungen. Die meisten wollten in ihm die authentische Stimme des Schwarzen Arbeiters hören und seine Kunst als Ausdruck des Leids und der Unterdrückung verstehen. Dass Lead Belly genauso an schicken Anzügen, Popsongs, am guten Leben interessiert war, war für die linken Bohemiens unbegreiflich.

Die Magnecord-Bandmaschine setzte diesen künstlerischen Übergriffen ein Ende. Eine Tonbandspule lief dreißig Minuten lang. Lead Belly hatte somit viel mehr Zeit für eine Aufnahme als noch zuvor mit dem Phonographen. Er konnte etwas erzählen zwischen den Songs und spontan entscheiden, was er als Nächstes singen wollte. Dass Bill Ramsey und der Plattenlabelbesitzer Moe Ash sich als Dokumentaristen verstanden und nicht als Kuratoren, wie man heute sagen würde, half dem Sänger zusätzlich. Die Aufnahmen, erhältlich als LEAD BELLY’S LAST SESSIONS, fallen mit zwei Dingen auf. Erstens: die große Spontaneität. Das erste Drittel ist a cappella, weil Lead Belly von einer Essenseinladung ausging, nicht von einer Aufnahmesession; die Gitarre nahm er erst beim nächsten Mal mit. Zweitens: die gute Tonqualität. Die Stimme springt einen richtig an. Wie Greg Milner schreibt, wurde Lead Belly erst mit dieser Aufnahme zu seinem eigenen Produzenten. Sein Werk war nicht länger eine Projektion jener, die ihn aufnahmen. Leider hat er die Veröffentlichung nicht mehr erlebt, die Verehrung, die ihm fünfzehn, zwanzig Jahre später von Bands wie Led Zeppelin oder den Rolling Stones zuteilwurde, erst recht nicht.

Entscheidend für Lead Bellys Befreiung durch Technologie war auch, dass er jede Aufnahme auf der Stelle nachprüfen konnte. Kaum eingesungen, wurde zurückgespult und das Resultat begutachtet. Der einfache technische Vorgang erleichterte die Mitsprache. Lead Belly hörte seine Stimme nur mit kurzer Zeitverzögerung gleich noch einmal. Verzögerung, Verspätung, Englisch »delay«: Genau da liegt auch der Schlüssel zur seltsam aufschiebenden Erotik in der Stimme von Elvis Presley.

Zeitverzögertes Band, das ist das Geheimnis des betörenden Halleffekts, den der Toningenieur und Labelbesitzer Sam Philips in seinen Sun Studios in Tennessee auf die Stimme von Elvis legte. Wir hören den Effekt als Tiefe oder Echo, als räumliches Phänomen. In Wahrheit sind es nur zwei Tonbänder mit derselben Aufnahme, die mit minimaler Verzögerung laufen, so dass der Eindruck eines Halleffekts entsteht. Dieser Hall, das sogenannte Slap Back Echo, definiert Elvis auf Jahre. Als Elvis Ende 1955 zu RCA, einer großen Plattenfirma, wechselt, rätseln alle, wie Sam Philips das Echo produziert hat. Die Techniker von RCA stellen Elvis in den hallenden Flur des Aufnahmestudios und hoffen, auf akustischem Weg einen ähnlichen Effekt zu erzielen, wie es Philips mit dem Tonbandtrick schaffte. Die Aufnahme soll nicht wirklich Elvis’ Stimme abbilden, sondern die Technologie, die sie hervorgebracht hat.

Das durch Tape erzeugte Echo erzählt beim frühen Elvis auch von einer grundlegenden modernen Entwicklung. Der Sänger tritt mit sich in ein Gespräch, wenn zwei Versionen seiner selbst kurz nacheinander abgespielt werden. Es gab keine Chöre im Hintergrund, die damals typisch gewesen wären und die beim größeren Label kurz darauf eingesetzt wurden. Der frühe Elvis ist eine Einzelstimme, die mit sich selbst spricht. Sie vermittelt eine Ahnung vom Hyperindividualismus, der nach dem Zweiten Weltkrieg in westlichen Gesellschaften kontinuierlich zu mehr persönlichen Freiheiten führen wird, zu mehr Gestaltungsraum für Einzelne.

Das Echo, die spärliche Instrumentierung ohne Schlagzeug und der abwesende Chor signalisieren: Es gibt viel Platz. Platz, den Elvis auch mit Bewegung und seiner körperlichen Präsenz füllt. Bei manchen Konzerten in den Südstaaten versucht die Polizei sogar, Elvis’ Tanz zu unterbinden. Doch Elvis lässt sich seinen Raum, sein Echo nicht nehmen. Auf MYSTERY TRAIN, einer mythischen Elvis-Nummer, kann man das Echo besonders gut hören, nun auch auf der Gitarre von Scotty Moore. Bill Black bearbeitet den Kontrabass leicht, aber perkussiv, man hört, wie ein Fingerring auf die Saiten schlägt. Dieser Zug fährt in Richtung Zukunft. Doch am meisten verblüfft das Echo von Sam Philips auf einer alternativen Aufnahme eines Klassikers: Der neunte Take von BLUE MOON klingt, als würden Pferde durch die Aufnahme galoppieren, weil Scotty Moore die Gitarre mit der flachen Hand anschlägt. Das Echo auf Elvis’ Stimme ist kosmisch weit. Und in der zweiten Strophe geht er in das betörendste Falsett, das er je gesungen hat. Diese Wild-West-Fantasie könnte auch rückwärtsgewandt, ja reaktionär wirken. Hier klingt es wie aus der Zukunft, wie Satelliten im Weltraum. Hier ist Elvis ein Space Cowboy.

Scotty Moore, der etwas ältere, für viele Rockmusiker:innen später so einflussreiche Gitarrist des frühen Elvis, soll nach dieser Aufnahme gesagt haben: »Junge, du klingst wie ein Schwarzer.« Tatsächlich dachten das damals ziemlich viele Hörer:innen. Unsere Ohren erstaunt das heute. Elvis klang anders als alle anderen, und das genügte wohl bereits, um ihn als nicht weiß zu hören. So wie es viele Weiße nicht authentisch fanden, wenn der Schwarze Lead Belly Songs vom weißen Broadway singen wollte. Im Pop solche Grenzen aufzubauen, war schon immer unrealistisch. Und Tape war die Technologie, die sich mit solchen Mauern nicht mehr aufhielt, weil sie mehr Gestaltungsraum ermöglichte.

Du kannst klingen, wie du willst. Du kannst sein, wer du willst. Das war die Befreiung, die Tape eröffnete, und zwar nicht nur für die großen Musiker:innen, sondern auch im Kleinen für einen Jungen mit Kassettenrekorder. Das erste Kassettengerät in unserem Haushalt zeigt, wie diese Technologie selbst da ermächtigend wirkt, wo Popmusik nur indirekt ins Spiel kommt. Denn meine Eltern glauben, nichts mit Pop am Hut zu haben. 1964 schiebt meine Mutter meinen älteren Bruder im Kinderwagen durch die Kleinstadt und wundert sich über die vielen Plakate, die all diese Beat-Konzerte ankündigen. Beat war ein gängiger Vorname in der Schweiz — das führte zu Verwirrung. Denn der Stilbegriff »Beat« gehörte damals außerhalb der kleinen Zielgruppe nicht zur dominanten Kultur. Eine Tatsache, die nach einem halben Jahrhundert voller Bücher und Filme über die angeblich so popzentrierten Sixties oft untergeht.

Pop war meinen Eltern also fremd. Aber die Technologie schmuggelte seine Wirkungsweise dennoch in die Mietwohnung: Der erste Kassettenrekorder zu Hause hat nur zwei Knöpfe. Links leuchtet ein roter für Aufnahme. In der Mitte ist ein Schieberegler, der in drei Richtungen zeigt: nach oben, nach rechts und nach links. Meine Eltern kaufen das Gerät der Marke Philips 1968. Dazu gibt es ein Tape von der argentinischen, im Pariser Exil lebenden Folkgruppe Los Incas umsonst dazu. Meine Eltern verabscheuen die Panflöten, die akustischen Gitarren und die Charango, ein kleineres andisches Saiteninstrument. Sie mögen noch nicht einmal die Dramatik des klingenden Vogelfluges im instrumentalen EL CONDOR PASA, der peruanischen Nummer, die Los Incas später mit Simon & Garfunkel eingespielt und zum Welthit gemacht haben. Mein Bruder und ich dagegen lieben die einfachen Bässe, den Beat und die pfeifbaren Melodien. Wir können uns so weit durchsetzen, auf dem Weg in den alpinen Urlaub Los Incas im Auto zu hören, den Philips auf dem Schoß.

Mit Musikkassette ist das Tape noch nicht präzise beschrieben. Denn meine Eltern wollen mit dem portablen Kassettenrekorder vor allem Fremdsprachen lernen. Russisch der Vater, Italienisch die Mutter, selbst das mehr als passable Französisch, in der Schweiz eine wichtige Landessprache, wird aufgefrischt, später dann eifrig Englisch gelernt. Tape eröffnet Möglichkeiten zur Weiterbildung, die ihnen vorher nicht zugänglich waren. Das Kassettengerät ist also auch für meine popfernen Eltern eine ermächtigende Technologie. Es gibt ihnen eine Entscheidungsfreiheit, die sie ohne diese Technologie nicht gehabt hätten.

Das Heft für Tonbandfreunde der BASF, die Leerkassetten herstellten, hält derweil viele Ratschläge parat, wie man flotte Klangeffekte erzeugt, die moderne Maschinen imitieren. Besonders beliebt ist das Düsenflugzeug. Für eine gelungene Aufnahme brauchte man bloß Folgendes zu tun: »Elektrischer Haartrockner vor das Mikrophon halten, zwischen Schallquelle und Mikrophon ein Stück Pappe auf und ab bewegen.« Wer das virtuelle Reiseerlebnis mit einer schmissigen Flughafendurchsage »Letzter Aufruf für …« komplettieren wollte, sprach in einen leeren Joghurtbecher.

Meine Familie nimmt auf, löscht, spielt ab. Die Eltern werden zu Produzent:innen, sprechen fremde Sprachen auf Band und gestalten Hörspiele. Mein Bruder und ich nehmen jede der wenigen Schallplatten, die wir besitzen, auf Kassette auf. Weil wir inzwischen stolze Besitzer mehrerer Geräte sind und so überall in der Wohnung Musik abspielen können. Bald fange ich an, die Aufnahmen meiner Lieblingsbands nicht nur gesanglich zu begleiten. Mit gesägten Trommelschlägern haue ich auf die Matratze im Zimmer und versuche, Ringo Starr und Charlie Watts zu verstärken, die Beatles und die Rolling Stones klingen so viel fetter, ich spüre sie mit meinem ganzen Körper. Leider hört das auch meine Mutter im Nebenzimmer, wenn ich wie wild die Betten traktiere. Egal ob wir mitgesungen, die Songs perkussiv aufgemotzt oder sie uns sprachlich angeeignet haben: Die Musik auf Tape war überall, sie ging in unsere Bewegungen über, unseren Sprachgebrauch, unser Körpergefühl. Wir konsumierten die Musik nicht mehr nur, wir produzierten nun selbst mit.

Als Vorschulkind konnte ich noch nicht wissen, was mich an meinen Lieblingssongs der Rolling Stones so fasziniert hat: STREET FIGHTING MAN und JUMPING JACK FLASH