Über das Buch

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass alles so gekommen ist, wie es gekommen ist, dass ich immer noch keine Ahnung habe, was ich will und ob ich etwas will, dass ich immer weiter nur das Gegenteil von allem tue, was gut für mich wäre, das Gegenteil von allem, was ich bräuchte.«
In einer Ferienhütte im Bayerischen Wald trauert Henriette um ihr ungeborenes Kind. Als draußen die Schatten länger werden und die Tage kürzer, bringt ein Freund ungeahntes Unheil mit sich.
Verführerisch und mit schmerzhafter Präzision seziert Hannah Lühmann die Träume und Ängste einer Generation um die dreißig, die alles zu haben scheint, aber der sich das Glück doch immer entzieht.

Hannah Lühmann

Auszeit

Roman

hanserblau

Der Tag, an dem ich in die Klinik fuhr, um mein Kind abzutreiben, war ein Dienstag, es war noch Frühling. Durch die schmutzigen Scheiben meiner Wohnzimmerfenster fiel das zarte Licht eines beginnenden Frühsommers, aus dem Hof drang das Geschrei Basketball spielender Jungs zu mir nach oben. Ich empfand in diesen Momenten, bevor ich aufbrach, eine seltsame, friedliche Stille.

Es war einer dieser Tage, an denen ich dachte, dass es möglich gewesen wäre, ein anderes Leben zu führen, meine Wohnung umzuräumen oder vielleicht sogar umzuziehen, in eine andere Wohnung, eine andere Stadt. Es erschien mir auf einmal, als wäre alles wieder offen, als hätten sich, durch die Entscheidung, die ich zu treffen hatte, überhaupt wieder Möglichkeiten aufgetan in meinem Leben.

Ich hätte aufräumen können, eine Pflanze aufstellen, ich hätte ein Regal kaufen oder die Wände streichen können. Ich hätte einfach stehen bleiben können, mit niemandem sprechen und darauf warten, dass geschieht, was sowieso geschehen würde, wenn ich nichts unternahm. Dass mein Körper wuchs, dass er seinen Job machte. Dass diese neue, fremde Existenz mich packte und mich so in mir verwurzelte, dass ich keine Wahl mehr hatte, nie gehabt haben würde.

Aber dann klingelte er, ich drückte auf den Türöffner, ich hatte ihn ja selbst gebeten, mitzukommen. Er kam die Treppe herauf, ich sah seinen Kopf, die hohe Stirn, die helle Brille. Als er mich vorsichtig umarmte, spürte ich fast nichts, nur eine vage Vertrautheit, sein trockenes Parfüm, die Erinnerung an die Möglichkeit von Nähe.

Schließlich nahm ich meine Jacke, er hatte seine nicht abgelegt, wir gingen gemeinsam die Treppen hinunter. Sein Auto roch neu und nach Familie. Er reichte mir einen lauwarmen Cappuccino, den er für mich gekauft haben musste, er hatte wohl vorgehabt, ihn mir hochzubringen, und dann im Auto vergessen. Es war nicht weit zur Klinik. Wir fuhren zwischen blühenden Kastanien, die Fenster hatten wir heruntergelassen, er fragte mich, ob ich Musik hören wollte, ich sagte, nein, danke, es ist gut so. Als er seinen Wagen vor dem flachen Gebäude parkte, hatte ich auf einmal das starke Gefühl, mich übergeben zu müssen. Es war, als hätte mein Körper eine Entscheidung getroffen, aber ich ging weiter.

Draußen hinter den Fenstern ziehen die Lichter vorbei, im Auto riecht es nach Regen, nach Paulas Zigaretten und ihrem Deodorant. Es ist Ende Oktober, und obwohl wir zeitig losgefahren sind, wird es langsam dunkel. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, etwas, das sich erzählen lässt, das vielleicht etwas in mir verändern kann.

Paula hat die Angewohnheit, im richtigen Moment da zu sein, die richtigen Dinge vorzuschlagen, pragmatisch, sanft, so einfach, dass man selbst nicht darauf kommen würde. Du musst raus aus der Stadt, Henriette. Als hätte sie mich eingepackt, um mich an einen Ort zu bringen, an dem ich wieder etwas sehen kann. Als würde ich jetzt schon, an diesem Abend, auf dieser Fahrt, in Paulas Auto, langsam wieder anfangen, etwas zu sehen, zu riechen, zu spüren. Den Nebel, den Rauch, die Kälte, die Nacht. Den Herbst. Ich kann immer noch nicht glauben, dass alles so gekommen ist, wie es gekommen ist, dass ich immer noch keine Ahnung habe, was ich will und ob ich etwas will, dass ich immer weiter nur das Gegenteil von allem tue, was gut für mich wäre, das Gegenteil von allem, was ich bräuchte.

Seitdem dieses Jahr begonnen hat, kommt es mir vor, als ob alles, was mir bisher passiert ist, Zufall wäre, Zufall oder ein schlechter Witz. Die Sache mit Tobias war nur das letzte bisschen, das es gebraucht hat, um mir zu zeigen, dass es nicht reicht, vor sich hinzuleben. Dass es nicht reicht, darauf zu warten, dass die Dinge fertig werden, anders, besser. Ich musste endlich Entscheidungen treffen, auch wenn es die falschen waren, Entscheidungen treffen, so wie es wohl die meisten Menschen tun, auch wenn mir das schwer vorstellbar erscheint.

Es kommt mir vor, als würden sich im Leben der allermeisten Menschen die Dinge einfach irgendwie fügen. Nicht zwangsläufig zum Guten, aber sie fügen sich eben, das heißt, sie haben eine gewisse innere Logik, einen Zusammenhang. Nur mein Leben erscheint mir komplett zufällig, wie eine kaum zu bewältigende Leere, eine Fläche, in die ich dringend einen Pfosten einschlagen muss, bevor es zu spät ist.

Es ist doch am Ende einfach, hat Paula gesagt, bevor sie mich gefragt hat, ob ich mit ihr in die Hütte fahren möchte, das sind Traumata, du musst sie heilen, dann kannst du auch wieder glücklich werden. Ich habe versucht, mich zu erinnern, ob Paula immer schon so gesprochen hat, ob sie immer schon solche Formulierungen verwendet hat. Ich glaube nicht, aber es war in Paula angelegt, dass sie jemand werden konnte, der so etwas sagt. Ich frage mich, den Kopf an die Scheibe gelehnt, ob irgendetwas in mir angelegt ist, ob ich mit den Jahren irgendwie geworden bin; es fühlt sich nicht so an.

Die Dinge waren gerade besser geworden, zu Beginn dieses Jahres, vor der Schwangerschaft, bevor alles losging. Ich hatte das Gefühl gehabt, dass die Dissertation fertig werden würde, dass ich sie bald abgeben könnte. Dann kam der Frühling, und der Sommer ist schrecklich geworden. Ich war täglich in der Bibliothek und habe keine Seite geschrieben. Ich habe die Post nicht geöffnet, ich bin nicht zur Arbeitsgruppe gegangen.

*

Einige Tage vor unserer Abreise habe ich mich mit meinem Doktorvater getroffen, er hat gesagt, so geht es nicht weiter, er habe Verständnis, aber er werde bald emeritiert werden und es sei doch auch für mich schön, wenn ich bald fertig werden würde. Auch für mich schön, das waren genau seine Worte, und ich weiß, welche Vorstellungen für ihn daran hingen: Leben, Familie, Beruf. Er nutzte häufig solche freundlichen Euphemismen, um damit Wichtiges anzudeuten. Damals, als ich mich für die Promotion entschieden habe, hatte mein Doktorvater gesagt, ich hätte gute Chancen, damit sogar gelesen zu werden, der Werwolf und seine Kulturgeschichte, das Thema sei völlig untererforscht, jedenfalls in der Systematik, in der ich meine Arbeit angelegt hätte.

Ich habe mich nicht getraut, ihm zu sagen, wie es wirklich um die Arbeit steht: dass es keine Systematik gibt, dass es sie nie gab, dass es keine Länge gibt, keine Seitenanzahl, die ich ihm kommunizieren könnte. Dass ich manchmal das Gefühl habe, es sind hundert Seiten, manchmal keine einzige. Dass es sich alles nicht zusammenfügt. Dass ich Monate brauche, um ein Buch zu lesen. Dass ich denke und denke und zu keinem Ergebnis komme, zu keinem Punkt, von dem aus sich irgendetwas anfangen lässt. Dass sich alles widerspricht, alles gleich viel bedeutet und überhaupt nichts.

Paula raucht, die linke Hand am Steuer, und schaut auf die in der Dunkelheit glänzende Straße vor sich wie jemand, den Abenteuer erwarten. Sie hat ein blaues Tuch um ihre Locken gebunden, ab und zu lächelt sie, wenn sie an ihrer Zigarette zieht. Durch den Fensterspalt kommt eisig kalte Luft. In der siebten Klasse saß Paula neben mir und fragte mich, ob ich einen Radiergummi für sie hätte. Ich sah ihre kleinen, bläulich schimmernden Zähne und war ein anderer Mensch, noch ohne es zu wissen.

Ich wollte nie promovieren, aber dann habe ich mit allem so lange gebraucht, dass es mir als das einzig Sinnvolle erschien, weiterzumachen. Zuerst haben die Seminare angefangen, sich zu wiederholen, irgendwann verstand ich die Mode der Erstsemester nicht mehr. Die Kommilitonen, die in meinem Alter waren, bekamen Stellen als Wissenschaftliche Mitarbeiter, sie promovierten und verteilten sich auf verschiedene Universitäten in anderen Städten und Ländern.

Die Einzige, die übrig geblieben war, Natalie, ein blasses, großes Mädchen mit roten Haaren und Sommersprossen, hatte letzten September ihre Dissertation eingereicht. Jetzt ging ich alleine in die Bibliothek. Ich konnte meinen Fehler nicht zugeben, ich konnte die Jahre nicht rückgängig machen, also konnte ich nicht aufhören.

Paula hat gesagt, das geht so nicht weiter, Henriette, du musst da raus. So schlimm ist das alles nicht, du brauchst einen Schub, lass uns ein bisschen in den Wald gehen, frische Luft, vielleicht meditierst du mit mir. Das mit dem Schreiben kommt, wenn es soll. Die Hütte gehört ihrem Arbeitskollegen Florian, er ist in Paula verliebt, wir können bleiben, solange wir wollen. Paulas Zigarette ist ausgegangen, ich gebe ihr Feuer.

*

Freistaat Bayern, das Schild leuchtet im Dunkeln auf. Paula sagt: Ich glaub, wir müssen tanken. Sie kramt nach einem Kaugummi, reißt mit den Zähnen das Papier ab und steckt sich den Streifen in den Mund. Das Papier lässt sie in den Fußraum fallen. Ich empfinde eine heftige Dankbarkeit, dafür, dass Paula noch da ist, dafür, dass sie anders ist, dass sie noch nicht in einer Altbauwohnung hockt und ein Baby stillt wie alle anderen.

Den Sommer über, nach dem, was passiert ist, hat sie meine Briefe geöffnet, sie ist vorbeigekommen und hat für mich gekocht. An meinem Geburtstag stand sie mit einem Kuchen vor der Tür und mit alkoholfreiem Sekt. Manchmal hat sie bei mir übernachtet, sie hat hinter mir gelegen und mich umarmt wie früher. In der letzten Zeit war sie oft bei Tom. Ich frage mich, ob Paula ihn liebt, ich glaube, sie kann es selbst nicht sagen. Sie hat ihn vor drei Jahren bei einer Fortbildung kennengelernt, sie hat ihn ein paarmal in Zürich besucht, jetzt ist er nach Berlin gezogen. Ständig trennen sie sich. Gestern hat sie ihn getroffen, um ihm zu sagen, dass es endgültig vorbei ist. Paula wirkt nicht traurig, sie wirkt, als hätte sie das Richtige getan.

Die Tankstelle hat etwas von einer Raumstation. Wir fahren an riesigen LKW vorbei, weiße Planen leuchten in der Nacht. Eine nasse Wiese verliert sich im Dunkel hinter dem Parkplatz. Eine Frau führt ihren Hund aus, damit er sein Geschäft erledigt. An einer Tankstelle gibt es nichts zu tun als einkaufen, aufs Klo gehen, sich stärken. Es ist wie Kindheit oder als hätte man schon Kinder, eins von beidem.

Ich stehe neben Paula, während sie tankt, ich sehe meinem Atem zu und ihren Bewegungen. Wie sie den Tankdeckel öffnet, den Schlauch herauszieht, wie sie in die Nacht schaut und darauf wartet, dass der Tank voll wird, ein tosendes Geräusch. Ich denke, dass es albern ist, zu denken, dass Paula alle diese Dinge tut, als wären sie selbstverständlich, denn sie sind selbstverständlich. Paula fährt seit zwölf Jahren Auto, genauso wie sie ihre Zigaretten raucht und ihre Yogastunden nimmt. Paula ist im Leben, ich bin es nicht. Ich bin in meinem Kopf. Ich stehe zwischen den Ständen mit den Zeitschriften und den Süßigkeiten und sehe Paula zu, wie sie Dinge tut. Paula kauft Wasser, Paula kauft Twix und Schokakola; sie holt sich einen Filterkaffee. Einer muss wach bleiben, sagt sie. Unter ihrem Parka trägt sie ein buntes Kleid. Wir sitzen am Tisch vor dem Fenster. Sie beißt in ihr Twix. Ich trinke Wasser aus der Plastikflasche.

Als wir wieder im Auto sitzen, hält sie kurz inne, bevor sie den Schlüssel im Zündschloss umdreht. Sie lässt die Hände sinken, dann schaut sie mich an und sagt: Wir haben Zeit. Ich nicke, ja, wir haben Zeit, ja. Paula fährt uns durch die Nacht, keine von uns spricht, wir hören leise Radio. Dann fängt sie doch an zu reden, kleine, vorsichtige Sätze, beide Hände am Steuer. Ich fühle mich manchmal, als wäre ich Paula ausgeliefert, als wäre sie die Einzige, die übrig geblieben ist, die Einzige, die mich kennt. Als wäre ich für immer verdammt, mir anzuhören, was sie über mich denkt, bis es zu dem wird, was ich über mich denke. Paula sagt, sie hätte das Gefühl, ich bräuchte eine Erfahrung, die mich in meinen Körper zurückbringt. Ich sei nicht mehr in mir, seit dem, was passiert ist, aber vielleicht auch schon davor. Weißt du, sagt Paula, auf einmal, nach einer längeren Stille, ich glaube, es wird noch alles gut. Manchmal kommt Heilung auch auf ganz anderen Wegen, als man sie erwartet. Die letzte halbe Stunde fahren wir durch offenes Land; rechts und links von uns weite Felder, durch den geöffneten Schlitz des Fensters dringt, trotz des Herbstes, trotz der Nacht, der intensive Geruch von Gülle.

*

Das Erste, was ich wahrnehme, als ich am nächsten Morgen aufwache, ist der Duft von unbehandeltem Holz und der eines fremden Waschmittels, der von rot-weiß karierter Bettwäsche ausgeht. Seit der Schwangerschaft ist mein Geruchssinn stärker, ich bin weicher, es fühlt sich an, als könnte ich die Welt um mich herum in ihren kleinsten Bestandteilen wahrnehmen. Aber so ist es nur an guten Tagen, an schlechten sehe ich nichts, ich schmecke wenig, fühle kaum etwas. Ob ein Tag erträglich wird oder nicht, entscheidet sich, bevor ich die Augen öffne. Der Moment direkt vor dem Augenaufschlag ist eine Millisekunde im Negativbereich des Bewusstseins vor dem Beginn der Zeitrechnung des Tages. Alles ist schon in ihm angelegt: die Trauer oder die Freude des Kommenden. Die Trauer ist ein nasses Gefühl im Magen, die Freude ist eine Art Summen. Heute werde ich aufstehen. Ich werde mir die fremde Gegend angucken, an die ich keine Erwartungen habe, ich werde einen Spaziergang machen, und danach werde ich arbeiten.

*

Paula schläft gern lang, obwohl sie das Gegenteil behauptet. Ich bin froh, dass sie schläft, ich habe das Gefühl, dass ich es aushalten kann, alleine zu sein. Als ich die Hütte gestern Nacht zum ersten Mal gesehen habe, war ich enttäuscht: Von außen ist sie nicht mehr als eine Art Schuppen aus schiefen, dunklen Brettern, darüber ein zusammengezimmertes Dach mit einem von außen begehbaren Boden. Wir sind weit oben in der hügeligen Landschaft, die Hütte steht an einer Lichtung, die sanft bergab führt, hinter ihr beginnt der Kiefernwald. Gestern, als wir den Berg hinaufgefahren sind, waren wir aufgeregt, es ging immer höher und immer tiefer rein in die Dunkelheit, ich war mir sicher, dass wir hier falsch waren. Irgendwann tauchte sie auf, die Hütte, und ich wäre am liebsten wieder umgekehrt.

Jetzt im Morgenlicht ist es anders. Es ist, als wäre ein lästiges Geräusch abgestellt worden, das man nicht mehr aktiv wahrnimmt, weil man es die ganze Zeit hört. Der Fenstergriff leistet Widerstand, als ich ihn hinunterdrücke, dann schmatzt das Klappfenster über meinem Bett. Der Garten ist ein kleiner Halbkreis hinter der Hütte, begrenzt von den schwarzen Stämmen des angrenzenden Waldes: eine Schaukel, drei Obstbäume, einige Stühle. Eine Tischtennisplatte. Die Schaukel ist nicht lackiert, ein kleines hölzernes Brett, das an zwei Ketten hängt. Auf der Tischtennisplatte, die trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit nicht in den Schuppen gebracht wurde, kleben nasse, bunte Blätter. Es liegen zwei Kellen darauf, von Kindern nach dem Spielen vergessen. Im Internet habe ich gesehen, dass es in der Nähe einen ehemaligen Truppenübungsplatz der Bundeswehr gibt, der heute ein Wildpark ist. Sie haben dort Bisons, Wölfe und uralte Schafrassen.

*

In den Sonnenstrahlen auf dem Boden vor meinem Zimmer tanzt Staub. Links und rechts an den Wänden stehen Bücherregale aus hellem, faserigen Holz. Es ist seltsam, die Hütte bei Tageslicht zu sehen, diese neue Umgebung, in die wir gestern im Dunkeln hineingestolpert sind, müde, ein bisschen euphorisch über unser Vorhaben, über die unbegrenzte Zeit. Jetzt kommt mir alles größer vor, fremder, als müsste jederzeit jemand nach Hause kommen, erschrocken über mich, über meine Anwesenheit hier. Die Treppe nach unten ist schmal und steil, fast mehr Leiter. Unten ist der Boden mit orientalischen Fliesen ausgelegt. Neben der Eingangstür hängen Funktionsjacken, eine grün, eine rot, eine lila, darunter Schuhe, größere und ganz kleine. Florian und seine Familie, hat Paula erzählt, kommen nur selten von München hierher.

Ich öffne die Tür rechts neben dem Eingang, das Badezimmer. Ich gehe hinein und schließe das Fenster, das sperrangelweit offen steht. Es geht auf die Lichtung hinaus. Ich frage mich, warum wir das gestern Nacht nicht gesehen haben, als wir über dem Türrahmen nach dem Schlüssel getastet haben, den uns Florian hinterlegt hatte. Auf einem Hocker liegen frische weiße Handtücher; an Haken an der Wand hängen Bademäntel. Ich ziehe mich aus und gehe zur Badewanne. Kleine schwarze Spinnen krabbeln in alle Richtungen davon. Ich nehme den Duschkopf aus der Halterung und stelle das Wasser an. Im Sog des Strudels ballen sich die Spinnen zu kleinen schwarzen Knäulen, einige stehen noch kurz wie unter Schock im Strom, bevor ihre Beinchen einknicken und nachgeben.

Ich betrachte meine Brüste, meine großen, hellbraunen Nippel, die weiße Haut, die blauen Adern. Ich lege eine Hand auf meinen Bauch, unterhalb des Nabels. Ich kann meinen Körper nicht mehr betrachten, ohne ihn nach Anzeichen der Schwangerschaft abzusuchen. Paula hat es zuerst gesehen, Paula hat zu mir gesagt, ich glaub du bist schwanger, Henriette, schau mal bitte deine Brüste an. Ich habe es nicht geglaubt, und auch der Test war negativ. Erst in den Tagen danach, nachdem die Ärztin mir Blut abgenommen und mir gesagt hatte, doch, Sie sind schwanger, der Test ist leicht positiv, und ich geweint hatte und mir schwindelig geworden war und mich dann einen kurzen Augenblick lang gefreut wie noch nie zuvor in meinem Leben, erst danach habe ich gesehen, dass sich meine Brüste zu verändern begannen, dass meine Nippel begannen herauszustehen, dass meine Adern begannen zu leuchten.

*

Als ich vor die Tür trete, fühlt es sich an, als würde die Sonne direkt in mein Körperinneres strahlen, in jede einzelne Zelle. Die Luft ist frisch, aber nicht kalt, es riecht nach Gras und nasser Erde. Hier gibt es nur Felder und Wald und Dörfer, verbunden durch die Straße, die wir gestern Nacht gefahren sind. Ich sehe sie weit unten, ein graues dünnes Band, dahinter flacheres Land, weite Felder, auf die dunkle Haufen gestapelt sind. Landshut ist eine Stunde entfernt, München zwei. Ich fühle mich wie ein blasses Wesen, das sich zum ersten Mal räkelt, wie ein Küken, das schlüpft, wie eine Pflanze, die nach langer Zeit gegossen wird. Ich fühle mich auf einmal, als wäre alles nicht so schlimm, als hätte ich mir das alles nur ausgedacht, die letzten Wochen und Monate, meinen Schmerz, das ganze Chaos, die Stagnation. Ich fühle mich auf einmal wie ein Mensch mit Problemen, die er lösen kann, weil sie zu lösen sind.

Die Daunenjacke habe ich einfach über den Schlafanzug gezogen, Portemonnaie und Smartphone liegen auf dem hölzernen Tischchen neben meinem Bett. Ich hatte nicht vor, mich von der Hütte zu entfernen, aber dann gehe ich doch den Feldweg entlang, der von ihr wegführt. Nach ein paar Minuten komme ich an eine Schneise, eine helle weite Fläche, die ins Dunkel des Waldes klafft. Auf dem sandigen Boden zeichnen sich breite Traktorspuren ab, sie weisen in alle Richtungen, als hätte sich jemand verfahren und versucht, wieder aus dem Sand herauszufinden. Weiter hinten läuft ein kleines Tier einen Abhang hinauf, ein Fuchs oder ein Dachs, ich kann es auf die Entfernung nicht erkennen. Ich fühle mich so frei, so unbeobachtet, niemand sieht mich, niemand redet auf mich ein. Nur ich und die Sonne und der Wald und die Kälte und die Natur. Ich spüre auf einmal, wie voll meine Blase ist. Ich hocke mich auf den Boden, ziehe mir die Schlafanzughose herunter und pinkele. Die Angst, dass mich jemand sehen könnte, dreht alle Schleusen in mir auf. Ich schwitze, ich pinkle, ich lache dabei, ich schaue zurück, ob Paula mich sieht oder jemand anders, aber unsere Hütte kann ich von hier nicht mehr erkennen. Der Geruch meines Urins vermischt sich mit dem von Erde, in der dunklen Pfütze sehe ich eine kleine Fliege zappeln, vielleicht eine Fruchtfliege, jedenfalls ist sie zu spät für die Jahreszeit.

*

Ich entscheide mich, denselben Weg zu nehmen, den das Tier genommen hat. Ich fange sofort wieder an, stark zu schwitzen, als ich bergauf gehe. Ich war seit Monaten nicht beim Sport, bin weich geworden und kurzatmig. Paula hat gesagt, lass uns mal ein bisschen runterschalten, aber auch ein bisschen Bewegung, das ist wichtig, das macht deinen Kopf wieder frei. Über mir wölben sich die Gipfel der Kiefern, einzelne Lichtstrahlen fallen hindurch. Vor mir auf dem Boden wachsen Pilze, feucht und modrig stehen sie in Gruppen. Überall zertretenes Holz, Stücke von Farn, riesige Wurzeln; an den Stämmen rechts und links weiße Flechten und Moos, kleine rot-weiße Markierungen, die einen Wanderweg anzeigen.

Als der Weg endlich eben wird, schimmert der Himmel zwischen den Bäumen, als wäre er das Meer in einer mediterranen Landschaft. Es ist unglaublich, was es mit mir macht, in der Natur zu sein: dieser Überblick, diese Weite, diese wilden Gerüche. Es ist, denke ich, als hätte die Stadt meine Seele zerquetscht, als hätte ich einmal zu oft das graue Szenario gesehen, das sich mir jeden Morgen bietet, wenn ich die graffitibesprühte Tür meines Wohnhauses hinter mir schließe. Die Zigarettenpackungen, die Hundescheiße, der Beton. Früher war es mir egal, wo ich lebe, heute sind alle Klischees über das Leben in der Stadt wahr geworden und nehmen mir die Luft zum Atmen. Ich bin nicht alt, ich habe noch Zeit. Ich brauche nur Luft, Luft und Abstand, ich muss die Dinge ordnen, und das kann ich jetzt. Je weiter ich laufe, desto klarer sehe ich.

Im Wald fühle ich mich frei, das war schon immer so. Paula sagt, man unterschätze, wie wichtig Bewegung sei, auch in ganz kleinem Maße. Ich solle öfter durchatmen, Lockerungsübungen machen, sie hat mir welche gezeigt, aber ich mache sie nur selten. Während ich laufe, schlackere ich mit Armen und Beinen, ich lasse meine Schultern kreisen. Ich atme tief. Ich schreie, um Energie herauszulassen. Ich lache, da ist ein Schamgefühl. Ein heißer Schub durchfährt mich, es fühlt sich gut an, ich bin lebendig, denke ich und hüpfe ein paar Meter.

Dann strecke ich die Arme weit nach oben und spüre, wie sich die Sehnen und Bänder in meinem Rücken dehnen. Die kühle Luft gleitet zwischen meinen gestreckten Fingern hindurch, ich empfinde ein angenehm taubes Prickeln. Ich werfe meinen Nacken zurück und schaue beim Gehen so lange in die Wipfel der Kiefern hinauf, bis mir schwindelig wird. Ich versuche, meinen Verstand zu entspannen. Ich versuche, tief einzuatmen, den Wald bis in die Spitzen meiner Lungenflügel aufzunehmen. Mein Herz pumpt. Es riecht nach Harz, nach Tanne, nach Moos, nach Stein.

Immer, wenn ichder Typ ist doch komisch, Henriette, hör auf, mit dem rumzuhängen