Blasket Islands
Simon Nebeling
Blasket Islands
Daniel Konrads erster Fall
Thriller
Schreibstark Verlag
Simon Nebeling, »Blasket Islands«
© 2020 der vorliegenden Ausgabe
Schreibstark Verlag
Saalburgstr. 30, 61267 Neu-Anspach
© 2013 Simon Nebeling
Alle Rechte vorbehalten.
Satz, Umschlagsfoto und -gestaltung: Simon Nebeling
Druck und Einband: Schreibstark Verlag
ISBN 978-3-946922-70-4
Meinen Eltern gewidmet.
Sie saßen seit dem Morgengrauen an einer Mauer unterhalb der verfallenen Häuser und warteten darauf, dass endlich die Fähre am Horizont auftauchte. »Es ist vorbei – überstanden«, sagte Daniel lautlos zu sich selbst.
Es fühlte sich an, als wäre er aus einem dunklen Traum erwacht. Das gleichmäßige Rauschen der Wellen half ihm ein wenig bei seiner Suche nach Ruhe und Normalität. Der Moment erschien ihm wie reiner Luxus nach dem Wahnsinn der vergangenen Tage.
Als Erholung vom Stress des Alltages gedacht, war diese Reise zu einem Überlebenskampf geworden, den nicht alle Mitreisenden gewonnen hatten. Seine besten Freunde waren tot. Ermordet aus Gründen, die Daniel zwar erahnen, vermutlich aber niemals wirklich verstehen konnte. Das Erlebte hatte ihn an seine körperlichen und psychischen Grenzen gebracht und weit darüber hinaus. Noch einmal sagte er sich selbst: »Es ist vorbei – überstanden!«
Er atmete die salzige Meeresluft ein und spürte die Wärme der Sonne, die zum ersten Mal seit Tagen hinter den Wolken hervorkam. Dabei versuchte er, nicht daran zu denken, was an diesem gottverlassenen Ort geschehen war. Er hätte alles dafür gegeben, die furchtbaren Bilder für immer aus seinem Kopf zu verbannen.
Erschöpft schloss Daniel seine übermüdeten Augen. Er ahnte nicht, dass dies ein Fehler war, vermutlich sogar der schlimmste seit Beginn dieser Reise.
Mittwoch, 13. Oktober, 12.00 Uhr
BOARDING PASS stand groß auf dem Flugticket in meiner Hand und darunter mein Name KONRAD / DANIEL MR. Der Abflug unserer Maschine nach Irland rückte auf der riesigen, elektronischen Anzeigetafel immer näher und mit jeder Minute stieg meine Nervosität. Ich hasste Flugzeuge. Und ich hasste Annika, denn nur ihretwegen saß ich in dieser Abflughalle.
Eigentlich hatte ich gar nicht teilnehmen wollen und wäre zufrieden gewesen, in den Herbstferien meinem gewohnten und geliebten Trott nachzugehen. Eine Reise nach Irland mit langem Campingwochenende auf einer einsamen Insel war nicht gerade das, was ich unter Entspannung verstand. Great Blasket Island oder An Bhlascaod Mhór, wie die Iren es nennen, liegt im Südwesten Irlands, etwa zwei Kilometer von der Halbinsel Dingle entfernt - mitten im Atlantik. Ich wusste schon jetzt, dass unser Ausflug dorthin das typisch wechselhafte, irische Wetter beinhalten würde. Bei Urlaub dachte ich jedoch viel eher an sonnenbeschienene Sandstrände und tropische Cocktails. Ein grün bewachsener, bananenförmiger und von keiner Menschenseele bewohnter Hügel im Meer passte weit weniger zu meinen Vorstellungen. Ganz zu schweigen von einem Campingausflug im Herbst, was für sich genommen schon eher nach Survivaltraining als nach Erholung klang.
Trotzdem hatte ich sehr lange darüber nachgedacht. Denn weit mehr als das trostlose Ziel der Reise reizte mich ein gemeinsamer Ausflug mit meinen besten Freunden, die ich (meiner Arbeit zuliebe) in den letzten Monaten oftmals vernachlässigt hatte. Außerdem, so war meine Überlegung, bestand eine gewisse Chance, dass sie mitfahren würde. Am Ende hatte aber trotzdem meine Bequemlichkeit gesiegt und ich war fest entschlossen gewesen, hierzubleiben. Doch wie so oft in meinem Leben kam es anders, als ich es geplant hatte. Und wie in den meisten Fällen steckte auch diesmal meine gute Freundin Annika dahinter.
Annika Weiß und Marc Schulz waren die letzten Freundschaften aus der Schulzeit, die ich nicht aus den Augen verloren hatte. Beide waren genauso alt wie ich, stammten aus derselben Kleinstadt, hatten dieselben Schulen besucht und wohnten auch jetzt nur wenige Querstraßen von mir entfernt. Doch was Annika anging, endete damit die Liste unserer Gemeinsamkeiten. Annika war laut, unternehmungslustig und meiner professionellen Einschätzung nach hyperaktiv. Sie konnte jeden mit ein paar Worten an die Wand reden und ihm spielend leicht ein X für ein U vormachen. So war dann auch aus meinem Nein zu dieser Reise ein Ja geworden. Das lag nun schon mehr als drei Wochen zurück.
Dienstag, 21. September, 08.17 Uhr (1 Monat früher)
Ich war gerade erst in einer meiner Beratungsschulen eingetroffen und hatte es nicht einmal zu meinem Fach geschafft, um die aktuelle Post herauszunehmen, bevor mich jene ältere Kollegin ansprach, die derzeit die siebte Hauptschulklasse leitete. Ich bat sie in mein Arbeitszimmer und sie schilderte mir zunächst wortreich die Ereignisse der letzten zwei Tage.
»Vielleicht können Sie ja mal mit den Schülerinnen sprechen, ich bin da ratlos«, begann sie aufgeregt und reichte mir ein Blatt Papier. Es handelte sich um den grob gepixelten Schwarz-Weiß-Ausdruck einer Fotografie, die offensichtlich im Flur vor den Klassenräumen aufgenommen worden war.
Maja und Jasmin
sind feige Kühe mit nem großen
Maul und nix dahinter,
gez. Jana
Dieser Satz war mit einem breiten Filzschreiber in unordentlicher Schrift an die Tür eines Klassenraumes geschmiert worden. Aus dem Bericht der Lehrerin erfuhr ich, dass eben diese Jana in Tränen aufgelöst zu ihr gekommen war und auf die Schmiererei an der Tür hingewiesen hatte. Zuvor hatte sie jedoch erhebliche Blessuren davongetragen, als die hier zuerst beleidigte Maja wutentbrannt nach der Pause in den Unterrichtsraum gestürmt war und sie für diese Beleidigung zur Rechenschaft gezogen hatte.
Während Frau Maier dies erzählte seufzte ich und wünschte mir die Zeit zurück, als es noch prügelnde Jungen waren, die meine volle Aufmerksamkeit forderten. Inzwischen hatten Mädchen jedoch im Bereich der Verhaltensauffälligkeiten stark aufgeholt und Lehrer schienen mit ihnen wesentlich mehr Schwierigkeiten zu haben als mit den Jungen.
Die Kollegin berichtete weiter, dass ein anschließendes Klärungsgespräch mit der gesamten Klasse gescheitert war. Ich vermutete, dies passierte nicht zuletzt auch deshalb, weil Frau Maier nicht gerade die geborene Pädagogin war. Fachlich, da bestand für mich kein Zweifel, war sie bewandert (was ich immer mal wieder an den komplizierten Tafelanschrieben in ihrem Klassenraum erkennen konnte), ihr fehlte jedoch jegliches Maß an Einfühlungsvermögen. Und so war Frau Maier jedes Mal ehrlich überrascht, dass Strafandrohungen auch dann nicht zum Erfolg führten, wenn man sie nur laut genug vortrug.
Ich schaute von der Fotografie hoch und betrachtete die Kollegin, die mich wiederum erwartungsvoll anblickte. Mir wurde bewusst, dass es die Sorte Lehrerin war, die ich selbst in der Schule gefürchtet, niemals aber respektiert hatte. Frau Maier war klein, etwas übergewichtig und trug eine Brille. Ihre Locken waren dunkelbraun, mit einem deutlichen grauen Ansatz, was mich an der Echtheit ihrer Haarfarbe zweifeln ließ. Ein schwerer Duft hing im Raum, der mir das Atmen erschwerte. Und ich meinte, unter dem mehr als intensiven Parfumgeruch eine Spur von Alkoholausdünstung erkennen zu können. »Was meinen Sie dazu, Herr Konrad?«, fragte sie ungeduldig.
Erneut betrachtete ich das Bild.
»Na los«, befahl ich mir lautlos. »Tu, was du am besten kannst.«
Mein Blick folgte der Linienführung und blieb für einen Moment an dem ersten a in Maja hängen. Die Bögen war auffällig schwungvoll und äußerst ungewöhnlich für eine Handschrift. Doch dann bemerkte ich die eigentliche Besonderheit dieser Schrift. Triumphierend schaute ich hoch.
»Haben Sie Linkshänder in der Klasse?«, fragte ich die Kollegin.
Frau Maier wirkte überrascht. »Nun ja, der Stefan ist Linkshänder… ach ja und Elisa. Wieso fragen Sie?«
Ich erklärte ihr, dass dieser Satz von einem Linkshänder geschrieben sein musste. Dafür sprach die leichte Neigung der Buchstaben nach links, die mir kaum aufgefallen wäre, wenn nicht die mittlere Zeile eindeutig nach unten abfallend geschrieben worden wäre. Eine solche Schieflage hätte ein Rechtshänder gar nicht hinbekommen, ohne seinen Arm unnatürlich zu verbiegen. Bei einem Linkshänder war dies jedoch ein Nebeneffekt des Armes, der zu kurz für die Länge der Zeile war. Mir war dieses Phänomen nur deshalb aufgefallen, weil ich selbst Linkshänder bin und die Form dieser Zeile verdächtig nach meinem eigenen Tafelanschrieb aussah.
»Ich würde mit dieser Elisa gerne einmal sprechen«, sagte ich, denn es war eindeutig die Handschrift eines Mädchens. »Sie soll bitte ihr Deutschheft mitbringen.«
Es erschien mir zwar merkwürdig, dass diese Elisa zwei Mitschülerinnen im Namen einer Dritten beleidigt hatte, wenn ihr Ziel jedoch der entstandene Ärger für Jana war, ergab dies durchaus Sinn. Wenige Minuten später betrat eine schüchterne Schülerin mit einem auffallenden, pinkfarbenen Oberteil und engen Jeans mein Arbeitszimmer. Ich stellte mich als Erziehungsberater der Schule vor, obwohl selbst Schülerinnen und Schüler, die mich nicht kennen, zumeist schon einmal von mir gehört haben. So eine Vorstellung schafft jedoch einen offiziellen Rahmen und verunsichert Kinder, was oftmals eher hinderlich ist, in diesem Fall aber durchaus hilfreich sein konnte. Nachdem wir uns gesetzt hatten, legte ich die Fotografie vor der Schülerin ab, die fast unmerklich schluckte. Ich fragte sie, ob sie diese Schmiererei schon einmal gesehen hatte, was die Schülerin bejahte. Nun informierte ich sie, dass ich schon einiges über den Verursacher des Ganzen wüsste. Beispielsweise, dass es die Schrift eines Mädchens sei (was in Anbetracht der verschnörkelten Buchstaben nicht gerade eine bahnbrechende Erkenntnis war). Außerdem sei die Urheberin offensichtlich Linkshänderin. Der Blick des Mädchens verriet Unsicherheit, es war an der Zeit, mit offenen Karten zu spielen und sie mit meinem Verdacht zu konfrontieren.
»Und außerdem haben ihre Buchstaben große Ähnlichkeiten mit deinen.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Elisa. Wortlos zeigte ich mit der einen Hand auf das auffällige a in Maja, sowie mit der anderen Hand auf das Ende von Elisa auf der Titelseite des mitgebrachten Deutschheftes.
»Sie können mir gar nichts beweisen!«, rief die Schülerin daraufhin und schaute mich trotzig an.
»Das stimmt!«, bestätigte ich. »Aber glücklicherweise muss ich das auch gar nicht! Ich bin ja nur Erziehungsberater. Beweisen muss das deine Schulleitung!«
»Na und? Die können das auch nicht!«
»Wieder richtig«, sagte ich ruhig, »aber sie können die Polizei einschalten und Anzeige wegen Sachbeschädigung erstatten. Die holen dann erst mal einen Grafologen, der deine Schriftproben mit denen an der Tür vergleicht. So ein grafologisches Gutachten kostet etwa 3000 Euro, bezahlen müssen das die Eltern des Schuldigen.«
Das geschilderte Szenario war maßlos übertrieben, wenn man den entstandenen Sachschaden betrachtete und zu allem Überfluss auch noch äußerst unrealistisch. Doch das wusste die Schülerin glücklicherweise nicht, weshalb sie augenblicklich mit den Tränen rang.
Die ersten Töne eines Heavy Metal-Songs rissen mich aus der Konzentration auf mein Gegenüber. Ich suchte in der Jackentasche nach meinem Handy. Als ich es gefunden hatte, sagte ich ein paar schnelle Worte zu Elisa, dass sie ja mal einen Moment darüber nachdenken könne, was ich gesagt hatte und dass ich ihr gerne durch diese Sache hindurch helfen würde. Dann eilte ich zur Ausgangstür und schaute auf mein Handy. Vom Display aus lachte mir Annika entgegen. Ich drückte fast zeitgleich den Türgriff und das Symbol fürs Abheben. Ohne Umschweife über banale Höflichkeitsfloskeln brachte ich meinen Ärger wegen der unnötigen Störung auf den Punkt.
»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mich nicht während der Arbeitszeit anrufen sollst?«, fauchte ich.
»Wen juckt das? Du laberst doch eh nur mit irgendwelchen Rotzgören anderer Leute!«, bekam ich zur Antwort.
»Wen es juckt? Mich zum Beispiel! Du könntest ruhig mal ein wenig Rücksicht nehmen!«
»Und du könntest dich an Vereinbarungen halten!«
»Wovon sprichst du?«, fragte ich verwirrt.
»Ich spreche davon, dass mein lieber Freund Daniel Konrad vor drei Tagen anrufen wollte, um mir eine Antwort zu geben!«
»Natürlich, der Urlaub!«, dachte ich mir. Bei all dem Stress hatte ich völlig vergessen, Annika mitzuteilen, dass ich mich gegen die gemeinsame Reise nach Irland entschieden hatte. Lange hatte ich mit dieser Entscheidung gerungen, und als sie endlich getroffen war, hatte ich die Sache im Kopf scheinbar einfach abgehakt ohne Annika darüber zu informieren. Aus den Augen, aus dem Sinn.
»Ja, weißt du, tut mir leid, dass ich das vergessen habe. Aber du musst es verstehen! Ich habe im Moment sehr viel um die Ohren und deshalb ...«
»Und deshalb brauchst du dringend einmal etwas Abstand von der Arbeit. Ich wusste, dass du mich nicht enttäuschen würdest!«
»Nein, Annika«, sagte ich, »versteh‘ mich richtig, ich wollte ja
eigentlich ...«
»Schon viel früher anrufen, ja, es ist dir verziehen!«
»Jetzt hör mir doch mal zu! Ich möchte eigentlich ...«
»Hör auf mit dem Gebrabbel, ich bin ja nicht so schwer von Begriff wie deine Schüler! Ich habe schon verstanden, dass du mir absagen willst. Es ist nur so, dass ich ein Nein nicht akzeptieren werde! Alle anderen haben zugestimmt. Sven kommt mit, Marc und Alexandra wollen unbedingt mitfliegen und die hübsche, kleine Marie auch – damit dir nicht langweilig wird.«
Es entstand eine kurze Pause, als erwartete sie, dass ich nur aufgrund der Erwähnung dieses Namens meine Meinung ändern würde. Marie Körbel war eine Arbeitskollegin von Annika, die ich immer mal wieder auf Feiern und gemeinsamen Unternehmungen getroffen hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich jedoch fest davon überzeugt gewesen, niemand wüsste, dass ich mich für Marie interessiere. »Ach ja, und dein Flugticket habe ich auch schon gekauft!«
Ich seufzte. »Und wozu hast du mich dann überhaupt gefragt?«
»Na, um dir zu zeigen, dass ich Wert auf deine Meinung lege«, säuselte sie in übertriebenem Tonfall. Die Tür meines Arbeitszimmers ging auf und die Schülerin stand tränenüberströmt vor mir.
»Ich muss jetzt auflegen!«, sagte ich und drückte die entsprechende Taste auf meinem Handy, bevor Annika noch ein weiteres Wort sagen konnte. Die Schülerin schaute mich unsicher und hilflos an.
»Ich ... ich muss Ihnen etwas sagen«, stammelte sie.
»Ist schon gut, lass uns dafür aber wieder reingehen«, sagte ich und kramte in meinen Taschen nach einem Taschentuchpäckchen, das ich für solche Fälle immer parat hielt.
Wir kehrten in mein Büro zurück und Elisa erzählte mir die ganze Geschichte. Alles drehte sich um Maja und Jasmin, die beiden Schülerinnen, die auf der Klassenraumtür beleidigt worden waren.
Sie waren die beliebtesten Mädchen ihrer Klasse, entschieden wer dazugehörte und wer nicht und organisierten auch gleich das Mobbing gegen die Ausgestoßenen. Elisa war zu Beginn des Schuljahres in die Klasse gekommen und hatte das alles am eigenen Leib erfahren.
»Mit Jasmin würde ich ja vielleicht sogar klarkommen, aber Maja spinnt total!«, schloss Elisa ihren Bericht.
»Weshalb, was ist mit Maja?«, fragte ich.
»Sie ist so eine Schlampe!«, begann Elisa impulsiv, schaute mich aber sofort verlegen an. »Entschuldigung.«
»Schon gut, erzähl weiter!«
»Früher war sie angeblich die Beste in der Klasse, aber jetzt hängt sie nur noch mit den älteren Jungs ab. Sie ist brutal und gemein. Einmal musste ich ihr sogar mein Pausengeld geben, sonst hätte sie mich geschlagen.«
»Und da hast du nach einem Weg gesucht, sie mit etwas anderem zu beschäftigen, nicht wahr?«, fragte ich und Elisa nickte, ohne ihren Blick von dem völlig zerknäulten Taschentuch abzuwenden.
»Aber wieso hast du da Jana mit hineingezogen? War sie auch eine von denen, die dich anfangs geärgert haben?«
Elisa fing wieder an zu weinen und schüttelte schließlich den Kopf. »Im Gegenteil«, sagte sie. »Jana war die einzige Freundin, die ich in der ganzen Zeit hatte.« Sie machte eine längere Pause, als suche sie nach einer Antwort auf meine Frage. Schließlich schüttelte sie erneut den Kopf. »Ich weiß nicht, warum ich ihr das angetan habe!«
Es war der typische Fall eines Opfers, das zum Täter geworden war und dabei ein neues Opfer schuf. Im Kopf legte ich bereits eine Liste der nächsten Schritte an.
»Und was passiert jetzt?«, fragte Elisa unsicher.
»Was ich dir versprochen habe«, war meine Antwort. »Ich werde versuchen, dir durch diese Sache hindurch zu helfen.« Und meine schwierigste Aufgabe würde dabei die Beratung von Frau Maier werden. Sie zu überzeugen, dass es hier um den Hilfeschrei eines Opfers und nicht um den terroristischen Akt eines Täters ging, würde ein hartes Stück Arbeit werden, das ahnte ich.
Mittwoch, 13. Oktober, 12.15 Uhr
Und ich hatte mich nicht getäuscht. Die Zeit bis zu den Herbstferien war wie im Flug vergangen. Sie war mit dem gemeinsamen Reinigen der Klassenraumtür als symbolische Strafe für Elisa, vermittelnden Gesprächen zwischen den verschiedenen Mädchen und einem grundlegenden Sozialtraining für Frau Maiers Klasse mehr als ausgefüllt gewesen. Ein Versuch mit der eigentlichen Verursacherin der ganzen Probleme ins Gespräch zu kommen war jedoch gescheitert. Maja hatte jedes weitere Gespräch mit mir abgelehnt, als sie merkte, dass es dabei um mehr ging als um Schule und Unterricht. Darüber hinaus hatten das Schreiben meiner Berichte und das Ordnen der Akten meine Zeit gefüllt. Beides waren Aufgaben, die ich üblicherweise in den Ferien erledigte. Außerdem hatte ich verschiedene Reisevorbereitungen treffen müssen, die das bevorstehende Abenteuer immer realer werden ließen. So war der Abflugtag, der Mittwoch in der ersten Ferienwoche, immer näher gekommen.
Und nun saß ich, ziemlich nervös, im Wartebereich des Flughafens und spielte an meinem Flugticket herum. Es sah inzwischen schon ziemlich mitgenommen aus. Ich hatte vorgeschlagen, direkt zum Gate weiterzugehen, doch Annika hatte darauf bestanden, in den verschiedenen Geschäften der Wartehalle ein wenig shoppen zu gehen. Alexandra und Marc hatten sich ihr angeschlossen. Gerade standen sie in der kleinen Boutique schräg gegenüber und Annika hielt eine glitzernde Bluse hoch, während sie prüfend in den nächstgelegenen Spiegel blickte.
Mir gegenüber saß Marie in der nächsten Reihe dieser unbequemen, schwarz lackierten Wartestühle. Ihr schien der bevorstehende Flug weit weniger auszumachen als mir. Sie saß mit nach vorne gebeugtem Oberkörper und hatte die Ellbogen auf ihre Oberschenkel gestützt. Auf diese Weise schützte sie ihre Handtasche zwischen Armen und Bauch vor möglichen Taschendieben. Sie hatte die Augen geschlossen und wippte sanft im Takt der Musik. Den MP3-Player hielt sie in der rechten Hand, die dunklen Kopfhörerkabel verloren sich im Gewirr ihrer blonden Locken. Ich kam nicht umhin zu bemerken, wie wunderschön sie war. Ihre zarten Gesichtszüge, die Andeutung eines Lächelns auf ihren Lippen und ihr schlanker Körper ließen mich für einige Sekunden meine Flugangst vergessen. Zu spät bemerkte ich, dass Sven mein offensichtliches Interesse an Marie aufgefallen war.
»Willst du das Zebra nur anstarren oder erlegst du es auch irgendwann, Löwe?«, sagte er und grinste mich breit an.
»Äh, ... ich weiß gar nicht, wovon du sprichst«, log ich und schaute verlegen zu Marie hinüber. Sie wippte noch immer im Takt der Musik und konnte unsere Unterhaltung offenbar nicht hören.
»Klar weißt du das! Gefällt dir wohl, unser kleiner Sonnenschein, wie?«
»Ach, du spinnst doch.«
»Hey, da ist doch nichts Schlimmes dran. Annika hat erzählt, dass du schon seit Jahren Single bist. Vielleicht ist es an der Zeit, mal wieder auf die Jagd zu gehen!«
Mit diesen Worten beugte er sich näher an mich heran.
»Schnapp sie dir, Tiger!«, flüsterte er mir ins Ohr, stand auf und machte sich auf den Weg zu der Boutique.
»Ich dachte, ich wäre ein Löwe«, rief ich ihm triumphierend hinterher und bemerkte sofort, dass ich zu laut gewesen war. Marie blickte mich an und nahm einen der Kopfhörerstöpsel aus dem Ohr. Sie wirkte irritiert.
»Was bist du?«, lachte sie.
»Ach, es ist gar nichts«, stammelte ich verlegen. »Nur so ein Scherz zwischen Sven und mir.«
»Schon okay«, murmelte Marie und beugte sich ein Stück näher in meine Richtung. »Ich wollte auch nur klarstellen, dass dieses Zebra eine gute Jagd zu schätzen wüsste!«
Sie lächelte mich ohne jede Spur von Scheu an. Erneut spielte ich mit meinem Flugticket herum, nur war es diesmal nicht meine Flugangst, die mich die Ecken dieses kleinen Pappstreifens herumbiegen und einrollen ließ. Ich suchte nach den richtigen Worten als Antwort, ohne zu aufdringlich oder abweisend zu wirken, doch wie so oft in solchen Momenten blieben mir diese Worte verwehrt.
Ein schriller Ton aus dem hinteren Bereich der Wartehalle rettete mich aus meiner Verlegenheit. Mein Blick fiel auf die Parfümerie, die ungefähr drei Geschäfte von jener Boutique entfernt war, in der Annika die nächste Bluse zwischen sich und den Spiegel hielt. Auch Marie drehte sich herum und versuchte den Grund für das sirenenartige Geräusch zu finden. Das war nicht schwer, denn die Parfümerie war offensichtlich durch ein elektronisches Warensicherungssystem geschützt. Jeder Kunde musste beim Rein- und Rausgehen an den schmalen Detektionseinrichtungen vorbei, die auf unsichtbare Etiketten an den Waren reagierten.
Zwei Mädchen, höchstens 20, standen nun verlegen vor dieser virtuellen Schranke und schauten erschrocken zu der Kassiererin. Die kleinere Schwarzhaarige hielt unsicher eine Tüte der Parfümerie hoch und sagte etwas, was ich aufgrund der Entfernung nicht verstehen konnte. Vermutlich wies sie darauf hin, dass sie die Ware in ihrer Tüte bezahlt habe. Ihre schlanke, rothaarige Freundin stand, die Hände in den Hosentaschen vergraben, außerhalb des Ladens, während ihre Freundin zur Kasse zurückkehrte. Die Verkäuferin holte die offenbar bezahlte Ware wieder aus der Tüte heraus und zog sie noch einmal über das unsichtbare Magnetfeld neben der Kasse, das das Etikett deaktivieren sollte. Nun packte sie die Ware in die Plastiktüte zurück und forderte die Kundin offenbar auf, es noch einmal zu versuchen. Und tatsächlich blieb diesmal der Alarm aus.
Trotzdem war mein Interesse geweckt. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ohne meine angeborene Neugier wäre mir die unwillkürliche Handbewegung vermutlich gar nicht aufgefallen.
»Diese Mistdinger funktionieren doch nie richtig!«, kommentierte Marie und schaute mich an. Sie bemerkte mein anhaltendes Interesse an den beiden Mädchen und schaute ebenfalls noch einmal kurz in ihre Richtung.
»Das war hier aber gar nicht das Problem«, schlussfolgerte ich. »Das Gerät hat genau das getan, was es tun sollte.«
»Was meinst du damit?«
»Ich vermute, dass wir gerade Zeugen eines unglaublich cleveren Falls von Ladendiebstahl geworden sind!«
Die beiden Mädchen lachten inzwischen offensichtlich erleichtert und verschwanden in der Damentoilette.
»Bist du sicher?«, fragte Marie und schaute mich neugierig an.
»Ziemlich«, antwortete ich.
»Nun sag endlich, was du gesehen hast! Wie konnte das kleine schwarze Schaf beim zweiten Mal den Alarm umgehen?«
»Nicht das schwarze Schaf, sondern das rote«, erklärte ich. »Ich vermute, dass sie sich ein Parfum in die Jackentasche gesteckt hatte, als die Verkäuferin gerade das Parfum ihrer Freundin abkassierte. Nun sind sie gemeinsam durch die Sicherungsschranke gegangen, die ordnungsgemäß auf die gestohlene Ware reagiert hat. Daraufhin ist die Schwarzhaarige wieder in den Laden zurückgegangen, während die Diebin außerhalb der Schranke stehen blieb. Die gestohlene Ware konnte den Alarm also nicht noch mal auslösen, als die Schwarzhaarige den Laden das zweite Mal verließ.«
»Donnerwetter«, staunte Marie, »und wie bist du darauf gekommen?«
»Eigentlich fiel mir nur auf, dass die Rothaarige alle typischen Anzeichen von schlechtem Gewissen aufwies, während ihre Freundin viel zu ruhig war. Als sie dann weggingen, griff sie wiederholt unwillkürlich nach ihrer Jackentasche und ...«
Hier endete meine Erklärung abrupt, denn Marie war aufgesprungen und lief zielstrebig auf die Damentoilette zu. Ich folgte ihr und ließ dabei sogar mein Handgepäck unbeaufsichtigt stehen. Ich schaffte es nicht, Marie zu erreichen, bevor sie in der Toilette verschwand. Endlose Minuten stand ich davor und starrte nervös auf die Tür. Erst als die beiden Mädchen herauskamen und mich missbilligend musterten, wurde mir klar, wie unangemessen es für einen Mann war, die Tür einer Damentoilette anzustarren. Ich drehte mich verlegen weg und räusperte mich. Nun kam auch Marie wieder aus der Toilette und ging auf die Parfümerie zu.
»Kannst du mir mal erklären, was du da machst?«, fragte ich sie, aber Marie schien in Gedanken. Schließlich holte sie tief Luft und verschwand in dem Laden. Ich folgte ihr. Der Alarmton schrillte erneut auf und Marie reagierte überrascht und erschrocken, was für meinen Geschmack jedoch etwas zu dick aufgetragen war. Der Kassiererin fiel jedoch nichts weiter auf, denn sie kommentierte nur ungerührt: »Keine Sorge, das Ding hat heute irgendwie eine Macke.«
Ich folgte Marie in die Ecke mit den besonders teuren Damendüften und bemerkte, wie sie sich, kritisch das Sortiment musternd, kurz von der Kassiererin abwandte. Plötzlich hielt sie ein Parfum in der Hand, das sie offenbar aus ihrer Jackentasche hervorgezaubert hatte und ging damit zielstrebig auf die Kassiererin zu.
»Haben Sie dieses Parfum auch noch einmal in einer kleineren Menge?«
»Nein, nur was dort steht«, sagte die Kassiererin bedauernd. »Möchten Sie dann diese Größe kaufen?«
»Nein«, antwortete Marie, »das ist mir dann doch etwas zu teuer! Ich stelle es zurück.«
»Ist schon in Ordnung«, kommentierte die Kassiererin. »Ich übernehme das für Sie!«
»Vielen Dank!«
Während Marie den Laden verließ, erntete sie einen missbilligenden Blick der Kassiererin, als wäre sie selbst eine Ladendiebin. Das konnte man der Dame jedoch nicht zum Vorwurf machen, sie konnte schließlich nicht wissen, dass genau das Gegenteil der Fall war.
Mittwoch, 13. Oktober, 14.20 Uhr
Unser Flug startete pünktlich und landete trotz des stürmischen und regnerischen Wetters schon zwei Stunden später auf dem kleinen Flughafen Kerry im Südwesten Irlands, unweit der Stadt Farranfore. Es dauerte eine gefühlte Stunde, bis wir unser Gepäck mit all den zusätzlichen Rucksäcken, Zelten, Schlafsäcken und anderem Material (das die Fluggesellschaft sich reichlich als Extragepäck hatte bezahlen lassen) in Empfang genommen hatten. Die Übergabe des Mietwagens, einem silbergrauen Kombi, der durch zusätzliche Sitze im hinteren Bereich genug Platz für uns alle bot, ging überraschend schnell und unkompliziert. Es wurde auch dadurch vereinfacht, dass wir nur einen Fahrer angegeben hatten. Diese ehrenvolle Aufgabe fiel Sven zu, weil er als einziger Erfahrung mit Linksverkehr hatte. Weit schwieriger war es jedoch, bei Wind und Wetter den richtigen Weg zu unserer gebuchten Frühstückspension zu finden. Sie sollte in der Nähe der kleinen Ortschaft Beaufort, ungefähr eine halbe Stunde Fahrzeit südwestlich des Flughafens, liegen. Leider konnte jedoch unser Navigationsgerät mit der Adresse des Beaufort House B&B nichts anfangen. Daher gaben wir am Flughafen das Zentrum von Beaufort als Fahrziel ein und hofften, dass wir von dort aus selbst einen Weg zu der Unterkunft finden würden. In Wirklichkeit war diese Gegend jedoch wesentlich verzweigter und schwerer zu durchschauen, als wir es vermutet hatten. Hinzu kam, dass es in Strömen regnete, als wir dort ankamen und entsprechend niemand auf den Straßen unterwegs war, den wir hätten nach dem Weg fragen können.
Bereits nach einer halben Stunde erfolgloser Suche lagen in unserem Auto die Nerven blank. Annika kritisierte immer öfter Svens Fahrstil und wies ihn häufiger als notwendig auf Geschwindigkeitsbegrenzungen, Vorfahrtsstraßen und den Linksverkehr hin. Marie und Marc versuchten ebenfalls durch Ratschläge zu helfen und lasen alle Verkehrs- und Hinweisschilder vor, die sie am Straßenrand erkennen konnten.
»Hier ist noch ein B&B«, sagte Marie gerade und ich stieß sie möglichst unauffällig mit meinem Knie an. Marie schaute überrascht zu mir herüber. Ich versuchte ihr durch ein Kopfschütteln mitzuteilen, dass ich es für keine gute Idee hielt, sich weiterhin in die Suche einzumischen. Von meinem Sitzplatz aus hatte ich einen ganz guten Blick auf den Fahrersitz und die Anzeichen zunehmender Anspannung waren bei Sven unübersehbar. Neben dem finsteren Blick (den ich im Rückspiegel erkennen konnte) und einer deutlich beschleunigten Atmung war mir aufgefallen, dass er seit etwa zwei Minuten das Lenkrad wesentlich fester hielt, als erforderlich war.
»Schatz, tu langsam, hier ist 30«, sagte Annika gerade und deutete auf das entsprechende Verkehrsschild.
»Vielleicht sollten wir noch mal zurückfahren und diese größere Seitenstraße ausprobieren!« Marc erhielt keine Reaktion auf seine Worte. »Ich glaube da stand ein Schild, das ...«, weiter kam er nicht, denn in diesem Moment verlor Sven endgültig die Beherrschung. Er trat mit voller Wucht auf die Bremse. Das Auto kam quietschend zum Stehen und Sven drehte sich abrupt zu uns herum.
»Ach ja, Marc?!«, schrie er. »Hast du wirklich ein Schild gesehen? Was stand drauf? Dumme Deutsche, bitte in diese Richtung fahren? Seit einer halben Stunde kurven wir durch dieses Kuhkaff am Arsch der Welt und bis jetzt habe ich von euch allen nichts gehört, außer einem Haufen Scheiße!«
»Ich wollte doch nur helfen!«, gab Marc beleidigt zurück.
»Wenn du ein Schild siehst, auf dem Beaufort House B&B steht, darfst du dich melden, ansonsten halt einfach die Fresse!«
Annika versuchte Sven zu beruhigen. »Schatz, ich finde, du solltest ...«
»Und du«, Sven schaute jetzt Annika mit funkelnden Augen an, »solltest erst mal die Verkehrsregeln eines fremden Landes lernen, bevor du den Fahrer kritisierst. Wenn hier 30 auf einem Schild steht, dann meinen die 30 Meilen in der Stunde, also fast 50 km/h!«
Eine Minute verstrich, ohne dass jemand sprach. Schließlich schaute Sven noch einmal in die Runde.
»Jeder redet mir hier rein, aber keiner hat einen wirklich hilfreichen Vorschlag!«, sagte er schließlich, um seinen Wutausbruch zu rechtfertigen. Das war jedoch gar nicht nötig, denn uns allen war Svens cholerische Seite bestens bekannt.
Als ich einigermaßen sicher war, für meinen Hinweis nicht angeschrien zu werden, machte ich einen Vorschlag. »Wir sollten versuchen eine Tankstelle zu finden.«
Sven nickte zustimmend. »Endlich mal ein vernünftiger Vorschlag!«, sagte er und begann auf dem Navi herumzutippen.
Elf Minuten später erreichten wir eine Tankstelle. Marie wurde auserkoren nach dem Weg zu fragen, weil sie das beste Englisch sprach und Sven sollte sie als Fahrer begleiten. Annika wollte sich trotz des Regens einige Schritte von der Tankstelle entfernen und eine Zigarette rauchen. Sie nutzte jede Gelegenheit, wenn Sven nicht in der Nähe war, denn ihr Freund war strikter Nichtraucher und machte ihr deshalb regelmäßig eine Szene. Ich begleitete sie. Es gelang ihr zunächst nicht, ihre Zigarette anzuzünden und ich unterstützte sie, indem ich den Wind mit meiner Jacke abschirmte. Annika nahm einen tiefen Zug und schaute grimmig zur Tankstelle hinüber.
»Manchmal kann Sven so ein Arsch sein!«, sagte sie schließlich.
»Na ja, du weißt doch, wie er ist! Er beruhigt sich schon wieder«, antwortete ich.
»Ja, ich weiß! Trotzdem muss er nicht so rumbrüllen«, sie schnippte etwas Asche von ihrer Zigarette. »Manchmal frage ich mich schon, welcher Wahnsinn ihn eigentlich reitet!«
»Vielleicht ist hoher Blutdruck bei Berufssoldaten so eine Art Aufnahmebedingung?«, schlug ich vor und Annika grinste schief.
»Am schlimmsten hat es ja Marc abbekommen«, sagte sie schließlich.
»Ach, der hält das aus, Marc ist zäh! Was haben die beiden eigentlich für ein Problem miteinander?«
»Wie meinst du das?«
»Na, es war schließlich nicht das erste Mal, dass Sven und Marc aneinandergerieten.«
»Das stimmt wohl.« Annika schien nachzudenken. »Ich weiß es nicht genau. Ich vermute, dass sie einfach nicht auf einer Wellenlänge liegen.«
Ungewollt meldete sich mein Instinkt und wies mich darauf hin, dass Annika nicht die Wahrheit gesagt hatte. Sie wich meinem Blick aus, als sie ihren Satz begann und blinzelte an einer recht auffälligen Stelle. Meine Neugier war geweckt.
»Das tun Sven und ich auch nicht, aber trotzdem streiten wir nie. Hast du denn noch nicht mit deinem Freund über Marc gesprochen?«, fragte ich.
Annika zuckte mit den Schultern, während sie erneut an ihrer Zigarette zog. »Dasselbe könnte ich dich umgekehrt auch fragen«, sagte sie. »Marc ist schließlich dein bester Freund.«
»Das stimmt, aber ich habe zuerst gefragt«, antwortete ich. Dabei setzte ich ein Grinsen auf, obwohl die Sache eigentlich sehr ernst war. Im Grunde musste ich mir eingestehen, dass Annikas Hinweis richtig war. Marc war mein bester Freund, aber in den letzten Monaten hatte ich nicht viel Zeit für Freundschaften gehabt. Genau genommen hatte mein gesamter Kontakt zu den Menschen, die mir wichtig waren, nur aus ein paar flüchtigen Telefonaten und einigen kurzgehaltenen Pflichtbesuchen bestanden. »Also, habt ihr mal über Marc gesprochen oder nicht?«, fragte ich schließlich.
Annika schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Ich denke einfach, Sven hält ihn für einen Nutznießer.«
»Inwiefern?«
»Na, du weißt doch, wie Marc ist. Er lässt sich gerne aushalten und schnorrt sich so durchs Leben.« Ich quittierte ihre Worte mit einem knappen Nicken. »Ich vermute sogar, dass Alexandra die Reise für beide zahlen muss.«
Das war durchaus möglich. Seit Marc seine Anstellung als Programmierer in einer Computerfirma verloren (oder besser aufgegeben) hatte, hielt er sich mit verschiedenen Gelegenheitsjobs über Wasser und war eigentlich ständig klamm.
»Jetzt bist du dran«, stellte Annika fest.
»Ich weiß auch nicht mehr«, sagte ich knapp, denn das Thema war mir unangenehm. »Wir hatten nicht so wahnsinnig viel Kontakt in letzter Zeit, weißt du?«
Tatsächlich war dieser Urlaub der erste engere Kontakt einer Clique, die früher zusammen durch dick und dünn gegangen war. Weshalb wir uns über die Zeit so auseinandergelebt hatten, konnte ich nicht sagen, schob es aber in der Regel auf meine Arbeit und die daraus resultierenden Termine und Pflichten.
»Oh, ich glaube sie kommen wieder raus!«, sagte Annika, warf ihre Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Das Gefühl, etwas Entscheidendes nicht besprochen zu haben, blieb mir allerdings. Der Tankwart hatte eine alte Karte gefunden und darauf die Stelle markiert, an der das B&B seiner Meinung nach liegen sollte. Er hatte sich nur um zwei Querstraßen verschätzt und so regnete es nicht nur in Strömen, sondern hatte bereits begonnen zu dämmern, als wir die Pension endlich erreichten.