Simon Nebeling

Trajanas Träume

Thriller

Schreibstark Verlag

Simon Nebeling, »Trajanas Träume«

© 2020 der vorliegenden Ausgabe

Schreibstark Verlag

Saalburgstr. 30, 61267 Neu-Anspach

© 2013 Simon Nebeling

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsfoto: Victoria / Adobe Stock

Satz und Umschlagsgestaltung: Simon Nebeling

Druck und Einband: Schreibstark Verl

ISBN: 978-3-946922-68-

Meiner lieben Frau Andrea gewidmet.

Prolog

Sie konnte sich nicht rühren. Die engen Fesseln, mit denen sie an den harten Stuhl gebunden war, schnitten in ihre Haut. Noch immer spürte sie den Schmerz, dort, wo er in sie eingedrungen war. Ein Gefühl, wie sie es noch nie erlebt hatte. Hart und leidenschaftlich, brutal und überwältigend. Sie hatte geschlafen, war erst durch seine Hand auf ihrem Mund aufgewacht. Sein Griff war erbarmungslos gewesen und das Blut ihrer aufgeplatzten Lippe hatte süß geschmeckt.

Draußen hallten nun seine Schritte durch den Flur, gedämpft durch die Tür ihres Zimmers. Er kam zurück und er würde es mitbringen, so wie immer. Nichts fürchtete sie mehr als die scharfe Klinge seines Messers. Und doch gehörte es dazu. Er brauchte es und sie ließ es geschehen. Jedes Mal.

Mit einer eigenartigen Mischung aus Angst und gespannter Erwartung hörte sie, wie der Griff heruntergedrückt wurde und sich die Tür leise quietschend öffnete. Seine Schritte waren nun ganz in ihrer Nähe. Noch ahnte sie nicht, dass sich die Tür gerade zum letzten Mal hinter ihm schloss.

Kapitel 1

Oktober 2011

Endlich war es so weit. An jedem einzelnen Tag der vergangenen Wochen hatte er sich die Herbstferien herbeigesehnt und nun waren sie gottlob gekommen. Voller Begeisterung stürmte Leon aus der Wohnung. Seine Schritte polterten durchs Treppenhaus und es kümmerte ihn gar nicht, dass die alte Frau im Vierten garantiert wieder rummeckern würde. Sein bester Freund Michael wohnte drei Stockwerke unter ihm. Leon erreichte seine Haustür in Rekordzeit und klingelte Dauerfeuer.

»Was zur Hölle ...«, fauchte Michaels Mutter wütend, als sie die Tür aufriss. Sie beruhigte sich jedoch schnell wieder, als sie den Störenfried erkannte. »Ach du bist es.«

»Hallo Frau Jung. Ist Michi schon fertig?«, fragte Leon.

»Na logisch, Alter«, rief sein Kumpel und erschien mit Jacke und Gummistiefeln im Flur. Für die beiden Jungen gab es kaum etwas Schöneres, als ihre freie Zeit gemeinsam im Wald zu verbringen. Viele Nachmittage des gerade vergangenen Sommers hatten sie vergnügt am Bachlauf hinter der alten Eiche gespielt. Es war Leons Idee gewesen, diesen Bach zu stauen und begeistert hatten die Jungen notwendige Äste und Zweige zusammengesucht. Sogar ein großes, unbehandeltes Brett hatte Michael aus dem Gestrüpp in der Nähe des Parkplatzes gezogen. Es war ihnen eine große Hilfe beim Bau gewesen. Stundenlang hatten sie an ihrem Damm gearbeitet, nur um einen Tag später vor den Trümmern ihres zerstörten Werkes zu stehen. Zerknirscht hatten sie einem schimpfenden Förster erklären müssen, warum das Wasser den kleinen Hang hinunter bis in die Waldhütte gelaufen war. Zum Glück kannte der Förster die beiden Jungen nicht. Michael war erst vor wenigen Monaten in das triste Neubaugebiet gezogen und Leons Familie hatte kaum Kontakte, obwohl sie schon seit einigen Jahren hier lebte.

»Wo wollt ihr beiden denn hin?«, fragte Frau Jung.

»Typisch Erwachsene!«, dachte Leon. »Immer müssen sie den Aufpasser spielen.«

»Wir gehen nicht weit weg«, versicherte Michael mit ernstem Gesicht. »Wir wollen bloß in den Wald, Mum.«

»Na schön, aber zum Mittagessen bist du zu Hause. Und sau dir nicht schon wieder die ganzen Klamotten ein. Ich hab sie gerade erst gewaschen.«

»Nein, nein, wir wollen nur Verstecken spielen.« Michael drehte sich zu Leon und verzog dabei genervt das Gesicht. Der konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Das habe ich gesehen, junger Mann.«

»Tut mir leid, hab dich lieb, tschüss!«, rief Michael und rannte wie ein geölter Blitz die Treppenstufen hinunter.

»Wiedersehn, Frau Jung«, sagte Leon lächelnd und folgte seinem Freund. Sekunden später erreichten die beiden Jungen die Haustür und stürmten ins Freie. Sie wohnten in einem düsteren Häuserblock unweit des Waldes. Leon hasste dieses Gemäuer von ganzem Herzen, doch seine Familie hatte nicht viel Geld und konnte sich deshalb nur hier eine Wohnung leisten. In der Schule waren die Zugezogenen so etwas wie Menschen zweiter Klasse. Wer nicht von Geburt an in dieser Gegend lebte, hatte bei den Jungen des Dorfes keine Chance. Sie bildeten eine eingeschworene Gemeinschaft, die Fremde bestenfalls ignorierte, meist aber ausgrenzte und schikanierte. Leons erstes Jahr in diesem Kaff war eine Zerreißprobe gewesen. Dies sollte sich jedoch mit einem Schlag ändern, als Michael in seine Klasse kam. Er erinnerte sich noch gut an den Morgen, als der rothaarige Junge von Frau Maier in den Klassenraum geschoben wurde. Nach einer entsprechenden Aufforderung der Lehrerin hatte er sich unsicher und schüchtern vorgestellt. Seine großen, abstehenden Ohren waren förmlich am Glühen gewesen und hatten dadurch fast die gleiche Farbe wie das feuerrote Haar angenommen, das sich stets auf seinem Kopf kräuselte. Leon hatte bei jedem einzelnen Wort mitgelitten. Zu gut kannte er das Gefühl, vor dieser Klasse zu stehen und nicht zu wissen, was man sagen sollte. Nach seiner Vorstellung hatten die anderen Kinder sofort begonnen, über Michael zu tuscheln und hinter vorgehaltener Hand zu lachen. Deutlich hatte Leon die Stimme des Klassenclowns Kevin herausgehört, wie er immer wieder ein einziges Wort sagte: Feuerpinsel. Dann war das Stimmengewirr jäh unterbrochen worden, als Frau Maier von den Kindern wissen wollte, wo sich der Neue denn hinsetzen könne.

»Bei mir, ... er kann bei mir sitzen!«, hatte Leon laut in die lang anhaltende Stille gerufen. Nie würde er den folgenden Moment vergessen: Ein Blickkontakt und ein Lächeln – die Geburtsstunde einer Freundschaft.

»Hey, wo bleibst du denn?«, rief Michael und riss Leon damit aus seiner Erinnerung. Der andere Junge hatte bereits das Ende der Straße erreicht. »Bist du am Träumen, oder was?«

»Nein, nein, ich komme«, antwortete er und rannte los so schnell er konnte. Er war bei Weitem nicht so sportlich wie sein Freund, ließ sich aber nicht anmerken, wie sehr dessen Tempo ihm zusetzte.

Schon fünfzehn Minuten später erreichten sie den kleinen Waldweg. Die Blätter der Bäume waren bereits vollständig verfärbt und das Laub raschelte bei jedem Schritt unter ihren Füßen. Eigentlich war das Versteckspiel nur eine Ausrede gewesen, doch es war zu kalt geworden, um am Bach zu spielen und ihnen fiel nichts Besseres ein. So wurde aus der Lüge kurzerhand eine Wahrheit.

»Du suchst als Erster!«, schlug Leon vor und Michael nickte zustimmend. Er entschied sich für einen großen Baum am Rand des Weges und lehnte sich dagegen, sodass seine Augen verdeckt waren. »Also los, hau ab!«, rief er und begann zu zählen.

Leon rannte los, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Sein Kumpel zählte unglaublich schnell, deshalb musste er bald ein geeignetes Versteck finden. Eilig schaute der Junge links und rechts ins Unterholz. Sollte er sich hinter den breiten Baum hocken? Oder in das kleine Gebüsch daneben? Er verwarf beide Ideen, denn er war sich absolut sicher, dass diese Verstecke viel zu schnell entdeckt würden. Andererseits konnte er in der Ferne hören, dass Michael bereits bis 78 gekommen war. Mann, konnte der schnell zählen! Schon bald würde er »Ich komme!« rufen.

Kurzentschlossen hielt Leon auf das nächstgelegene Gebüsch zu und kroch hinein. Auf allen Vieren robbte er immer tiefer in das Geäst, als er plötzlich stutzte. Irgendetwas hatte er mit seiner Hand berührt. Es war kalt gewesen und hatte sich glitschig angefühlt. Sofort untersuchte er, was dort auf dem Boden lag. Als er einen Zweig zur Seite schob, gefror ihm das Blut in den Adern.

* * *

Michael lehnte an dem Baum und ratterte die Zahlen nur so herunter. Es war üblich bis Hundert zu zählen und je schneller man dies tat, desto weniger Zeit blieb dem anderen, sich ein gutes Versteck auszusuchen. »Achtundachtzig, neunundachtzig ...«, rief er, hielt dann aber plötzlich inne. Hatte da nicht gerade Leon geschrien? Erschrocken hob Michael den Kopf. Als er die Augen öffnete, musste er einige Male blinzeln, denn die kalte Herbstsonne schien zwischen den Bäumen hindurch und stach ihm in die Augen. Er schaute sich um, aber sein Freund war weit und breit nirgends zu sehen. Wieder schrie jemand aus Leibeskräften und Michael zuckte zusammen. Es war definitiv die Stimme seines besten Freundes. Nie zuvor hatte er einen Menschen derartig schreien gehört. Der Schrei verstummte erst, als dem anderen Jungen offenbar die Luft ausging. Es folgte ein kurzer Moment der Stille, ehe Leon in der Ferne zu wimmern begann.

»Ich muss ihn finden!«, dachte Michael und bemerkte erst jetzt, dass er bereits einige Schritte gegangen war. Er folgte dem Waldweg und blickte sich dabei immer wieder suchend um. »Leon!«, schrie er so laut wie möglich. »Alles okay bei dir?« Keine Antwort. Nur das gleichbleibende Wimmern seines Freundes war zu hören. Panisch rannte Michael noch ein wenig schneller, doch das Rascheln des Laubs übertönte Leons Stimme. Deshalb musste er kurz stehen bleiben, um sich zu orientieren. Angestrengt lauschte er, richtete sich an dem Weinen aus und setzte sich wieder in Bewegung. »Leon, wo bist du?«, rief er. Dann kam ihm plötzlich ein Verdacht. Sollte das alles bloß ein Streich sein? Es sah Leon so gar nicht ähnlich, ihm absichtlich einen Schrecken einzujagen, aber sicher war Michael nicht. Und der Peinlichkeit, wegen eines dummen Scherzes ausgelacht zu werden, wollte er sich nicht aussetzen. Also rief er: »Hör auf mit dem Scheiß, das ist nicht lustig!«

Das Jammern wurde wieder lauter und sofort war er sich absolut sicher, dass dies kein Scherz war. Etwas Schlimmes musste passiert sein. Michael malte sich aus, wie Leon gestürzt war und nun mit einem gebrochenen Bein oder einer blutenden Wunde auf dem Waldboden lag. Er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken beiseite zu schieben. Es half nichts, sich derartige Dinge auszumalen. Die Stimme seines Freundes wurde lauter, er war auf dem richtigen Weg. Dann endlich erkannte er, etwa zehn Schritte entfernt, Leons Gummistiefel in einem Gebüsch. Schnell lief er darauf zu und hockte sich neben ihn. Der Junge saß zusammengekauert da, hatte die Arme um die angezogenen Beine verschränkt und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück. Tränen liefen ihm über die Wange und er starrte dabei mit ausdruckslosem Blick ins Leere.

»Mensch, hier bist du! Was ist denn los?«, fragte Michael und legte seine rechte Hand auf Leons Knie. Erst in diesem Moment schien der seine Anwesenheit zu bemerken und schaute ihn panisch an als kenne er ihn gar nicht. Sein starrer Gesichtsausdruck ließ Michael schaudern. Was konnte ihm so eine Angst gemacht haben? »Nun sag schon, was ist los mit dir? Bist du gestürzt?« Der andere Junge schüttelte den Kopf. »Hast du dich verletzt?«

Wieder schüttelte er den Kopf. Dann hob er langsam seinen Arm und deutete auf den Boden, etwas weiter hinten im Gebüsch. Michael stand auf und ging einen Schritt näher an die Stelle heran, auf die sein Kumpel deutete.

»Da ... da ... sieh doch ...«, brachte Leon ohne Stimme hervor. Und dann entdeckte Michael auch, was seinen Freund so geängstigt hatte. Auf dem Waldboden, umgeben von Zweigen und Blättern, lag die blasse Hand eines Menschen. Michael schluckte und spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er streckte seine Hand nach einem Zweig des Gebüsches aus.

»Nein ... tu das nicht!«, rief Leon noch, doch es war bereits zu spät. Michael hatte den Zweig zur Seite geschoben und erstarrte. Er blickte direkt in das Gesicht eines Toten. Die Augen des Mannes waren weit aufgerissen, aber trübe. In seinem offenen Mund tummelten sich Maden und andere Insekten. Er sah aus, als wäre er schreiend gestorben. Große Angst und unglaubliche Schmerzen waren das Letzte gewesen, das dieser Mann gespürt hatte, und sie hatten ihn im Sterben gezeichnet. Dunkelblaue Adern überzogen das blasse Gesicht und Blut war aus seinem Mund auf den Waldboden getropft. Es war inzwischen getrocknet. Michael zwang sich, den Blick von der Leiche abzuwenden. Alles um ihn herum schien sich zu drehen und er taumelte, bevor er sich zwei Schritte weiter übergab. Angewidert spukte er auf den Waldboden und versuchte dann tief durchzuatmen. Dabei schaute er zu Leon hinüber und kapierte mit einem Mal, dass sie nicht alleine waren. Hinter seinem Freund stand ein dunkel gekleideter Mann, der gerade nach ihm greifen wollte. Michael erkannte den Kerl sofort und wusste, dass dies kein Mensch war! Erst vor Kurzem hatte er einen Videofilm gesehen, in dem diese gemeine Killermaschine unschuldige Menschen gejagt hatte.

»Hinter dir!«, schrie er und Leon reagierte sofort. Er drehte sich um und bemerkte den Fremden gerade noch rechtzeitig, um seinem Griff auszuweichen. Blitzschnell war er auf den Beinen und wollte wegrennen, doch der Roboter packte ihn an der Schulter.

»Lassen Sie mich los!«, brüllte Leon und zappelte vergeblich. Der Griff dieses Mannes war einfach zu stark. »Hilfe!«

Endlich überwand Michael seinen Schrecken. Das konnte unmöglich der Roboter aus dem Film sein! Mit einem wilden Schrei und dem Mut der Verzweiflung rannte er auf den Fremden zu und traf ihn mit dem Kopf voran im Magen. Der finstere Kerl gab einen jammernden Laut von sich und sank auf die Knie. Leon schaffte es, sich zu befreien.

Die Kinder verloren keine Zeit und rannten weg. Michael hörte noch, wie der Fremde ihnen nachrief: »Hey, Kinder, bleibt stehen ...!«

* * *

Der Mann hielt sich den Unterleib und verfluchte diese beiden Strolche. Seinen Lippen entfuhr ein Stöhnen, als er sich wieder aufrichtete und die flüchtenden Kinder mit seinem Blick verfolgte. Für einen Moment überlegte er, ob er ihnen folgen oder sich um die Leiche kümmern sollte. Dann sammelte er hastig einige Blätter zusammen und bedeckte den Toten damit notdürftig. Zum Glück lag die Leiche etwas abseits des nahe gelegenen Weges und außerdem hinter einem Gebüsch versteckt. Niemand würde ihn finden – vorerst zumindest und auch nur vorausgesetzt, er konnte diese beiden Kinder daran hindern, Alarm zu schlagen.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die sterblichen Überreste vollständig mit Laub bedeckt waren. Dann schaute der Mann wieder nach den Kindern. Er konnte sie noch immer sehen, obwohl sie nur noch kleine Punkte waren, die zwischen den weiter entfernten Bäumen entlanghuschten. Endlich ließen auch die Schmerzen nach, die ihm dieser verfluchte Rotschopf beigebracht hatte. Er rannte los, doch folgte er nicht den beiden Jungen, sondern lief zu dem schmalen Weg hinüber und dann in die entgegengesetzte Richtung. Er war sich völlig sicher, dass er die beiden Kinder niemals zu Fuß einholen würde. Wenn er aber rasch sein Auto auf dem Parkplatz erreichte, hatte er eine gute Chance, die beiden noch vor der Ortschaft zu kriegen.

* * *

Noch nie in seinem Leben war Leon derart schnell gelaufen. Er war zwar nicht unbedingt übergewichtig, zählte aber auch nicht zu den Sportlichen. Er spürte wie sein Herz raste und rang bei jedem Schritt, den er weiterlief, nach Luft. Einmal schien es, als würde ihm schwarz vor Augen werden, aber die Angst vor dem finsteren Kerl hielt ihn bei Bewusstsein. Michael war Fußballer und dadurch wesentlich fitter. Er lief einige Meter vor ihm und drehte sich immer wieder zu ihm herum. »Na los, komm schon!«, rief er schließlich und legte selbst noch einen Zahn zu.

Leon konnte jedoch nicht schneller rennen. Alles tat ihm weh. Er presste seine Hand auf die schmerzende Stelle und fluchte. Anders als im Sportunterricht, gab es hier nicht die Möglichkeit, sich mit der Ausrede Seitenstechen auf die Bank zu setzen. Er musste einfach durchhalten! Also bemühte er sich, den Schmerz zu ignorieren und konzentrierte sich nur darauf, weiter zu atmen. Irgendwie gelang es ihm, ein Stück aufzuholen und er hörte, dass auch Michael keuchte und nach Luft rang. Bis jetzt hatte er sich nicht getraut, nachzuschauen, ob der Mann ihnen immer noch folgte. Doch nun fasste er all seinen Mut zusammen und blickte über seine linke Schulter. Nichts. Hinter ihm war keine Menschenseele. Leon drehte den Kopf zur anderen Seite, aber auch dort konnte er den Fremden nicht entdecken. Er wollte seinem Freund zurufen, dass sie langsamer laufen konnten, aber Michael war nicht mehr vor ihm. Panisch schaute er sich um. Michael war verschwunden! Leon verlangsamte sein Tempo und blieb schließlich stehen. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen und ihm wurde schwarz vor Augen. Die Schmerzen in seiner Seite waren unerträglich und er beugte sich nach vorne, während er die Hände auf seinen Bauch presste.

Leon musste noch einige Male schwer atmen, bis er sicher war, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Dann erst konnte er seine Suche fortsetzen. Wohin war Michael bloß verschwunden? So sehr er sich auch anstrengte, er konnte ihn nirgends entdecken. »Michi?«, rief er atemlos.

»Hier!«, antwortete eine Stimme irgendwo im Wald. Leon drehte sich um, denn er hatte den Ruf irgendwo hinter sich ausgemacht. Jetzt endlich entdeckte er die Hand seines Freundes. »Hier drüben bin ich!«, rief er und winkte. Scheinbar war Michael gestürzt. Leon lief auf ihn zu und erkannte schon von Weitem, worüber sein Freund gestolpert war. Ein Stück hinter ihm ragte eine Baumwurzel aus dem Boden. Michael saß zusammengekauert davor und hielt sich das rechte Knie. Seine Jeans war an dieser Stelle aufgerissen und Blut quoll aus einer klaffenden Wunde.

»Alles okay bei dir?«, fragte Leon und hockte sich neben ihn.

»Es geht schon wieder«, antwortete Michael, »ist der Kerl noch hinter uns her?«

»Nein, ich kann ihn nirgends sehen. Ich glaube, dass er uns gar nicht gefolgt ist.«

»Wir sollten trotzdem nicht hier bleiben! Hilf mir bitte hoch!«

Leon griff nach der ausgestreckten Hand des anderen Jungen. Michael zog sich hoch, nur um mit einem Schmerzenslaut wieder auf den Boden zu sinken. Leon war besorgt. »Was ist los?«

»Es tut höllisch weh!«, jammerte Michael und hielt sich das Bein, ein Stück unterhalb der Wunde.

»Ist es gebrochen?«

»Ich weiß nicht!« Michael versuchte langsam sein Bein auszustrecken. »Ich glaube nicht.«

Leon betrachtete die Wunde genauer und nickte. »Ist nichts zu sehen!«, stellte er dann fachmännisch fest. »Meinst du, es wird gehen?«

»Wir müssen es einfach versuchen«, sagte Michael, »hilf mir auf, aber langsam!«

Diesmal schaffte der Junge es, trotz heftiger Schmerzen stehen zu bleiben. Langsam humpelte er los und Leon stützte ihn, so gut es eben ging. Bei jedem Schritt verzog Michael das Gesicht. So kamen sie nur langsam voran, aber Leon war trotzdem zuversichtlich, weil der Fremde noch immer nicht zu sehen war. Sicherheitshalber hatte er sich noch einmal umgeschaut. »Alles klar?«, fragte er nun.

Michael nickte. »Ich schaffe das schon!« Der rothaarige Junge ging ein wenig schneller, als wollte er seinem Freund beweisen, dass er es auf jeden Fall schaffen konnte.

Doch Leon bemerkte nur, wie sehr ihn jeder Schritt offenbar schmerzte. »Lass dir Zeit«, sagte er deshalb, »ich bin mir sicher, dass wir nicht verfolgt werden!«

* * *

Ihr Verfolger hatte inzwischen fast seinen Wagen erreicht. Er fuhr einen schwarzen SUV, den er nahe einer rot-weißen Absperrschranke geparkt hatte. Diese Absperrung sollte offenbar verhindern, dass Unbefugte mit ihrem Auto in den Wald hineinfuhren. Doch genau das war es, was der Mann nun beabsichtigte. Er erreichte die Schranke und versuchte sie hochzudrücken. Nichts rührte sich. Daraufhin stieß er einen leisen Fluch aus und untersuchte den Pfosten am vorderen Teil der Schranke. Eine halbrunde Metallvorrichtung hielt die Schranke in ihrer Position und war direkt am Pfahl mit einem großen Sicherheitsschloss befestigt. Der Mann rüttelte an dem Schloss, doch nichts tat sich. Mit bloßen Händen würde er es nicht öffnen können, so viel stand fest. Und jeder weitere Versuch kostete wertvolle Zeit, brachte die beiden Kinder der Siedlung im Westen des Waldes ein beträchtliches Stück näher. Wieder fluchte er, diesmal lauter und trat kraftvoll gegen den Pfosten. Dann setzte er seinen Weg zum Auto fort. Dabei überlegte er, was jetzt zu tun wäre.

Es gab nur noch eine Möglichkeit. Er musste den Weg, den er gekommen war, zurückfahren. Irgendwie musste es doch möglich sein, außen herum zu dem anderen Ausgang des Waldes zu gelangen. »Ich hätte den verdammten Straßenplan dieser Gegend genauer studieren müssen«, dachte er wütend. Es ärgerte ihn besonders, denn so was hielt er für einen typischen Anfängerfehler. Vorbereitung war das A und O in seinem Geschäft.

Endlich näherte er sich seinem Wagen und öffnete schon von Weitem die Zentralverriegelung mit der Fernbedienung. Das Licht der Warnblinkanlage erlosch gerade, als er die Fahrertür erreichte. Er riss sie auf und sprang hinein. Nervös und dadurch ungeschickt versuchte er, den Zündschlüssel an seinem Schlüsselbund zu finden. Mit zitternden Händen führte er den Schlüssel in das Zündschloss und drehte ihn herum. Der Wagen sprang augenblicklich mit kraftvollem Raunen an.

* * *

»Wir haben es fast geschafft!«, sagte Leon aufmunternd zu Michael. Er konnte bereits den Querweg sehen, der nach wenigen Minuten zum Dorf führte. Normalerweise. So langsam wie sie jetzt liefen, würden sie bestimmt noch einmal eine halbe Stunde brauchen.

»Oh Mann, meine Mutter bringt mich um!«, brachte Michael unter Schmerzen hervor. »Die Hose haben wir letzte Woche erst gekauft.«

»Scheiß auf die Hose!«, antwortete Leon. »Dein Bein ist jetzt erst mal wichtiger.«

Inzwischen waren sie auf dem Feldweg angekommen. Das Geräusch des Motors hörten die Kinder nicht, das Quietschen der Reifen erst, als es beinahe zu spät war. Im letzten Moment sprang Leon zur Seite und riss Michael mit sich. Der stürzte der Länge nach auf den Boden und schrie vor Schreck auf. Der große, dunkle Geländewagen kam wenige Zentimeter vor ihm zum Stehen. Ehe Leon es realisiert hatte, war der Fahrer auch schon aus dem Auto gesprungen und zu Michael hinübergelaufen. »Mensch Kinder, könnt ihr nicht aufpassen? Ich hätte euch beinahe überfahren!«, schrie er.

Als Leon bemerkte, was vor sich ging, setzte sein Herz einen Schlag aus. Er erkannte in dem Autofahrer den Fremden aus dem Wald. Auch Michael schien ihn wiedererkannt zu haben, denn er riss die Augen entsetzt auf, als der Unbekannte sich zu ihm hockte und die Verletzung an seinem Bein betrachtete.

»Das sieht ziemlich schlimm aus«, stellte der Fremde nun deutlich ruhiger fest.

»E ... Entschuldigung!«, stammelte Michael.

Mit einem Satz war Leon zu ihm hinübergerannt und hielt sich an dessen Schulter fest. »Ja ... es tut uns leid, aber wir ...«

Der Mann schien an ihren Entschuldigungen nicht interessiert zu sein. »Seid ihr in Ordnung?«, fragte er jetzt und seine Stimme klang tatsächlich besorgt. Doch Leon konnte nicht glauben, dass dieser Kerl wirklich etwas Gutes im Schilde führte. Jeden Moment würde er eine Waffe ziehen und sie beide töten, wie den armen Mann im Wald.

Sein Herz hämmerte wie wild. »Ha ... Haben Sie ...«, seine Stimme versagte.

»Habe ich was?«, fragte der Fremde, als hätte er tatsächlich keine Ahnung, worum es ging.

Leon deutete in Richtung des Waldes. »De ... den Mann?«, stammelte er.

Der Fremde hob seine Hände, mit den Handflächen nach vorne. »Ich versichere euch, ich habe diesem Mann nichts getan«, sagte er dann und schaute den Jungen, einen nach dem anderen, in die Augen.

»Sie lügen!«, brachte Michael hervor und Leon bewunderte seinen Mut. Gleichzeitig verfluchte er aber auch seine Dummheit. Doch jetzt war es raus und ihm blieb keine andere Wahl, als seinen Freund zu unterstützen.

»Genau! Sie haben diesen Mann getötet!«, sagte er und schaute den finsteren Kerl möglichst grimmig an.

»Was redet ihr nur für einen Unsinn?«, antwortete der und griff nach seiner hinteren Hosentasche. Jetzt war es also so weit. Jeden Moment würde er seine Waffe ziehen. Leon krallte sich in die Schulter des anderen Jungen. Er wagte kaum aufzublicken. Als er es dennoch tat, erkannte er sofort die Pistole. Sie steckte in einem Gürtelholster.

»Nein!«, schrie Leon und ging hinter seinem Freund in Deckung.

»Werden Sie uns jetzt auch töten?«, fragte Michael und schaute ängstlich zu dem Unbekannten hoch. Der zog statt der Waffe ein schwarzes Lederetui heraus und klappte es auf. Darin steckte ein Dienstausweis, den er den staunenden Jungen in die Hand drückte. Das Dokument zeigte ein Bild des Unbekannten, auf dem er etwas jünger wirkte, als er tatsächlich war. Prüfend verglich Leon, über die Schulter seines Freundes blickend, das Bild mit dem Gesicht des Mannes. Dann las er den Text daneben. Dienstausweis stand dort in großen Buchstaben und das Wort Kriminalpolizei etwas kleiner darunter. Schneider hieß der Unbekannte, sein Vorname war Jochen.

»Ihr seht also, dass ihr keine Angst haben müsst, Kinder«, erklärte der Fremde. »Ich bin bei der Polizei und suche seit einigen Tagen nach dem Mann im Wald. Danke für eure Hilfe. Ich übernehme ab hier!«

Leon spürte, wie die Angst von ihm abfiel. »Hat der Mann etwas Schlimmes angestellt?«, fragte er neugierig.

»Darüber darf ich mit euch nicht sprechen«, antwortete Jochen Schneider und schaute die Kinder dann sehr ernst an. »Und ihr dürft übrigens auch nicht über das sprechen, was ihr im Wald gesehen habt.« Dann blickte er sich um, als wolle er sichergehen, dass niemand sie belauschte. »Das ist nämlich streng geheim!«

Michael nickte verständnisvoll. »Und unseren Eltern? Dürfen wir es denen ...«, fragte er und seine Stimme klang, als gehörte er einer geheimen Verschwörung mit diesem Polizisten an.

»Auf keinen Fall!«, sagte der eilig. »Wenn ihr jemals über heute sprecht, müsste ich euch verhaften lassen!« Daraufhin hielt er ihnen seine rechte Hand entgegen. »Habe ich euer Wort?«

Leon nickte und sah, dass sein Freund das Gleiche tat. Noch einmal streckte der Mann ihnen seine Hand hin. Zuerst schüttelte Michael sie, dann auch Leon.

»Gut, dann macht, dass ihr nach Hause kommt«, sagte Jochen Schneider und blickte dann wieder auf das Bein des verletzten Jungen. »Soll ich euch ins Dorf bringen?«

»Nein«, erwiderte Michael, »es geht schon so!«

Leon stützte seinen Freund wieder und gemeinsam machten sie sich auf den Nachhauseweg. Sie waren noch nicht weit gekommen, als Leon noch einmal die Stimme des Fremden hinter ihnen hörte. »Und denkt an euer Versprechen!«, rief er.

* * *

Kolja Novak blickte den Kindern nach und grinste, als er wieder in sein Auto stieg. Er warf das Etui neben sich auf den Beifahrersitz. Sein Blick fiel auf den Dienstausweis, der ein wenig herausgerutscht war. Wie oft ihm dieses Ding wohl schon gute Dienste geleistet hatte? Kolja konnte die Male nicht mehr zählen. Darunter schaute ein anderes Dokument hervor. Presseausweis stand groß darauf und der angebliche Name des Eigentümers war Marc Debus. »Ach wie gut, dass niemand weiß ...«, sagte Kolja zu sich selbst und startete den Motor seines Autos. Er konnte sich ein weiteres, selbstzufriedenes Grinsen nicht verkneifen, als er aufs Gaspedal trat.