Ein jäher Tod

Simon Nebeling

Ein jäher Tod

Daniel Konrads zweiter Fall

Thriller

Schreibstark Verlag

Simon Nebeling, »Ein jäher Tod«

© 2020 der vorliegenden Ausgabe

Schreibstark Verlag

Saalburgstr. 30, 61267 Neu-Anspach

© 2020 Simon Nebeling

Alle Rechte vorbehalten.

Satz, Umschlagsfoto und -gestaltung: Simon Nebeling

Druck und Einband: Schreibstark Verlag

ISBN 978-3-946922-79-7

Meiner guten Freundin Erika Wiesner gewidmet.

Prolog

Kalter Angstschweiß stand ihm auf der Stirn. Daniel Konrad bemühte sich, Ruhe auszustrahlen, obwohl sein Körper zitterte.

»Beruhig dich erst mal«, sagte er und blieb in ausreichender Entfernung von dem Jungen stehen. »Tu jetzt bloß nichts Unüberlegtes!«

»Gehen Sie weg, Herr Konrad«, erwiderte der Schüler. »Das hat nix mit Ihnen zu tun.«

Einen Augenblick lang war der Beratungslehrer versucht, der Aufforderung zu folgen. Doch er konnte diesen Jugendlichen nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Er fühlte sich für ihn verantwortlich. Irgendwie musste er es schaffen, zu ihm durchzudringen.

»Hattest du so ein Ding überhaupt schon mal in der Hand?«, fragte er und schaute besorgt auf die Schrotflinte, die sein Gegenüber umklammerte.

Dessen Blick war starr und finster, während er kaum merklich nickte. Dabei kaute er auf dem Piercing an seiner Unterlippe herum.

»Ich weiß, wie man damit umgeht«, antwortete er. »Mein Vater hat's mir gezeigt.«

»Und hat er dir auch verraten, wie man mit der Schuld klarkommt, einen Menschen zu ermorden? Du wirfst dein ganzes Leben weg, wenn du abdrückst!«

Für einen Moment schien es, als wäre es ihm gelungen, Zweifel zu säen. Der Teenager senkte die Waffe ein Stück, schrie aber plötzlich: »Aufhören! Halten Sie den Mund!«

Mit neuer Entschlossenheit richtete er das Gewehr auf sein Ziel.

Daniel hatte die Arme hochgerissen, aus Angst, es fiele ein Schuss. Nun bewegte er sie behutsam wieder nach unten und schluckte. Derweil versuchte er fieberhaft, die richtigen Worte zu finden.

»Das kann ich nicht. Ich kümmere mich schon so lange um dich
und …«

Er wusste genau, was er sagen wollte, doch es kam ihm nicht so leicht über die Lippen.

»... ich mag dich wirklich gern. Deshalb kann ich jetzt nicht danebenstehen und schweigen, während du eine riesige Dummheit begehst.«

»Dann verschwinden Sie einfach«, schlug der Junge vor. Er klang beinahe flehend.

Obwohl sich jede Faser seines Körpers dagegen sträubte, trat Daniel einen Schritt auf ihn zu. »Nein, das tue ich nicht«, sagte er entschieden. »Gib mir die Waffe. Bitte.«

»Nein!«

In der Ferne heulte das Martinshorn eines näherkommenden Polizeiautos. Mit einem Mal wirkte der Jugendliche noch angespannter, ließ sich kurz hinreißen und sah zum Fenster hinüber.

Auf diese Gelegenheit hatte sein Gegenüber nur gewartet, sprang auf einmal nach vorn und ergriff den Lauf des Gewehrs. Der Junge schaute ihn erschrocken an und versuchte verzweifelt, die Gewalt über die Waffe zurückzugewinnen. Ein Schuss löste sich. Er schleuderte den Erwachsenen durch die Luft, während Blut, Knochensplitter und Hirnmasse an die Wand spritzten.

Kapitel 1

Montag, 29. November, 18.52 Uhr

Der Reißverschluss meiner Winterjacke ließ sich nicht mehr schließen. Dem fahlen Schein der Taschenlampe folgend, lief ich einen Waldweg entlang. Es war nur ein schmaler Pfad. Bei jedem Schritt raschelte das letzte Laub unter meinen Stiefeln. Das Geräusch erinnerte mich entfernt an die Wellen des Meeres. Der Wind wehte, und die Temperatur war eisig. Fröstelnd zog ich die beiden Teile meiner Jacke zusammen und ballte die rechte Hand zu einer Faust. Mehr als vier Wochen war ich jetzt wieder in Deutschland. Dennoch beschlich mich hin und wieder das Gefühl, Great Blasket Island gar nicht wirklich entkommen zu sein.

Unzählige Momente hatte es seither gegeben, die meine Erinnerungen an jene verfluchte Insel und die dortigen Ereignisse geweckt hatten. Doch diesmal war es anders. Zum ersten Mal fühlte ich mich regelrecht dorthin zurückversetzt. Mutterseelenallein in der Dunkelheit. Zwar mit einem klaren Ziel vor Augen, aber ohne die geringste Ahnung, was mich dort erwartete.

Ich empfand eine unerträgliche Beklommenheit, wodurch Bilder in meinem Kopf erschienen, die ich lieber verdrängen und vergessen wollte. Eine verfallene Siedlung im Schein der Flammen. Das Klicken einer Waffe hinter meinem Rücken. Die entstellte Leiche auf dem Bett. Der Überlebenskampf in den Fluten des Atlantiks.

»Was zur Hölle machst du hier? Du kennst die Kleine doch nicht mal richtig!«

Meine innere Stimme hatte, wie üblich, recht. Hier herumzulaufen war total verrückt. Es hatte nichts mit meiner Arbeit zu tun.

Ich war bereits zu Hause gewesen, als mir die Erkenntnis gekommen war. Trotzdem hatte ich keine Sekunde gezögert. Ich war hierhergekommen und hatte den Wald betreten, um Stunden nach Dienstschluss eine Schülerin zu suchen, die ich tatsächlich kaum kannte. Dabei hatte die Dämmerung schon eingesetzt, als ich losfuhr. Nun war es stockdunkel.

Ich fror in der Eiseskälte und spürte die Finger meiner linken Hand nicht mehr, die den Schaft der Lampe umklammerten. Je tiefer ich in den Wald eindrang, desto weniger Laub lag auf dem Boden. Das einzige, was blieb, war das dumpfe Stampfen meiner Schritte auf dem weichen Waldboden. Die Stille um mich herum wirkte beängstigend. Nur ab und zu hörte ich ein leises Knacken in der Ferne. Jedes Mal schossen mir die wildesten Vorstellungen durch den Kopf. Ich malte mir aus, wie ich von Wölfen oder Bären angegriffen wurde. Doch meine Sorge um Nancy war stärker, also ging ich weiter. Wenn ich, ein erwachsener Mann, schon solch eine Angst hatte – wie mochte es erst einem jungen Mädchen gehen? Was musste sie in den letzten Tagen durchgemacht haben?

»Vorausgesetzt, sie ist überhaupt hier draußen«, meldete sich erneut meine innere Stimme zu Wort.

»Sie ist hier!«, versicherte ich mir selbst. »Daran besteht absolut kein Zweifel.«

Die sonderbare Skizze, die ich heute Mittag in meinem Büro gefunden hatte, sollte mit Sicherheit eine Art Landkarte sein. Irgendwer hatte das zerknitterte Papier unter meiner Tür hindurchgeschoben, um mir einen Hinweis zu geben. Anfangs hatte ich nicht viel in dem Gekritzel erkannt. Die Karte hätte zu jeder Gegend gehören, das große rote Kreuz jeden beliebigen Ort markieren können.

Erst Stunden später, als ich zu Hause im Garderobenschrank meine Joggingschuhe gesehen hatte war mir klar geworden, wohin mich die Karte führen sollte: Die vereinzelt eingezeichneten Bäume stellten einen Wald dar – und zwar das Waldstück, in dem ich seit einiger Zeit wieder regelmäßiger zu joggen versuchte. Nachdem ich diesen Zusammenhang hergestellt hatte, war alles ganz einfach gewesen. Sofort hatte ich auf der Zeichnung den Parkplatz entdeckt, die Schranke und den kleinen Bachlauf. Die geheimnisvolle Markierung konnte daher nur die alte Grillhütte sein.

Jemand wollte, dass ich da hinging. Und mir fiel kein anderer Grund ein als das vermisste Mädchen. Sie versteckte sich mit Sicherheit dort. Ich brauchte bloß weiterzugehen. Schon etliche Male war ich zu der abgelegenen Hütte gelaufen, jedoch noch nie im Dunkeln. Der Weg kam mir um ein Vielfaches länger vor, und mir war nie zuvor aufgefallen, wie uneben er war. Ständig musste ich aufpassen, nicht über Steine oder Wurzeln zu stolpern. Ich tastete nach meinem Handy. Es war gottlob noch da!

Seit den Erlebnissen auf Great Blasket Island war der Griff nach diesem Gerät fast schon zu einer Manie geworden. Im Internet hatte ich mir sogar einen zweiten Akku gekauft, den ich sicherheitshalber in der Jackentasche aufbewahrte, um jederzeit telefonieren zu können. Wieso nur hatte ich es nicht getan, als mir klar geworden war, wo die Schülerin sich aufhielt? Genauso gut hätte die Polizei den Wald nach ihr durchsuchen können. Warum setzte ich mich einer solchen Gefahr aus?

Ich wusste es nicht genau, doch ich bezweifelte nicht, dass es meine Aufgabe war, das Mädchen zu finden. Vielleicht gab ich mir einen Teil der Schuld daran, dass Nancy abgehauen war. Irgendetwas hätte ich anders machen müssen. Ich erinnerte mich gut an den Moment, als das schüchterne Mädchen mein Büro betreten hatte. Sie wies in vielerlei Hinsicht große Ähnlichkeit mit Alexandra auf. Besonders die langen braunen Haare und ihre feinen Gesichtszüge, die sie jünger erscheinen ließen, verbanden sie. Der auffälligste Unterschied war die feste Zahnspange, die Nancy ein bisschen beim Sprechen behinderte.

Donnerstag, 25. November, 10.15 Uhr (1 Woche früher)

»Hallo, Konrad ist mein Name. Ich bin der Beratungslehrer dieser Schule.«

Ich hielt ihr meine Hand entgegen, die sie zaghaft ergriff.

»Hast du schon von mir gehört?«

Nancy nickte unsicher und schielte verstohlen zur Tür.

»Ist es dir unangenehm, jetzt hier zu sein?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete sie.

Nun setzte sie sich auf den Stuhl, den ich vom Tisch abgerückt hatte.

»Es ist dir nicht unangenehm. Du wolltest dich nur versichern, ob die Tür noch da ist.«

Während ich das sagte, verzog ich mein Gesicht zu einer Grimasse, die meine Skepsis überdeutlich zum Ausdruck bringen sollte. Beim Anblick meines Gesichtsausdruckes zeigte die Schülerin ein kurzes Lächeln, das jedoch sofort wieder verschwand. Mir fiel auf, wie sehr ihre Hände zitterten.

»Ich will mich nur mit dir unterhalten«, versicherte ich. »Du brauchst nichts zu erzählen, was du lieber für dich behalten möchtest.«

»Und wenn ich gar nix erzählen will?«, erkundigte sie sich. Dabei schaute sie mich prüfend an.

»Dann ist das auch okay. Doch es ist deutlich zu sehen, dass es dir nicht gut geht. Du ziehst dich in letzter Zeit sehr zurück und beteiligst dich seltener am Unterricht. Was auch immer der Grund dafür ist, vielleicht hilft es ja, mit jemandem zu sprechen?«

»Vielleicht«, stimmte sie zu. »Aber …«

Für einen Moment hatte es gewirkt, als wäre das Eis gebrochen. Ich hatte auf eine Erklärung gehofft oder wenigstens eine Erwiderung, mit der ich arbeiten konnte. Nichts dergleichen kam. Nancy hatte nicht vor, ihren Satz zu beenden.

»Aber was?«, fragte ich deshalb.

»Egal«, antwortete sie und wich meinem Blick aus.

Meine einzige Chance bestand darin, ihren unausgesprochenen Gedanken zu erahnen, um von mir aus darauf zu antworten.

»Alles, was wir besprechen, bleibt hier im Raum«, sagte ich.

Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass ich richtig geraten hatte. »Versprochen«, versicherte ich daher. »Ich habe eine Schweigepflicht.«

Es entstand eine kurze Pause, während Nancy über meine Aussage nachdachte.

»Sie können mir trotzdem nicht helfen«, erwiderte sie. Sie bemühte sich bei den folgenden Worten um eine feste Stimme. »Darf ich jetzt wieder in den Klassenraum gehen?«

Ich nickte. Sie war schon fast bis zur Tür gekommen, ehe ich etwas sagen konnte.

»Willst du mir nicht erzählen, wer dich geschlagen hat?«

Die Schülerin blieb wie angewurzelt stehen. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen drehte sie sich zu mir herum. Ihr Gesicht wirkte noch ein wenig blasser als zuvor. Auch ihr Zittern war stärker geworden.

»Woher wissen Sie das?«, fragte sie verunsichert.

Die Antwort auf ihre Frage war simpel. Vor ungefähr einer Woche hatte mich Nancys Klassenlehrerin angesprochen, weil sich das Mädchen im Unterricht immer mehr zurückzog. Vor den Herbstferien wäre diese schleichende Entwicklung zwischen Klassenarbeiten und Vertretungsstunden im alltäglichen Schulchaos untergegangen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Lehrerin es jedoch bemerkt. Ich hatte daraufhin eine Stunde in der Klasse hospitiert. Es war eine tolle Unterrichtsstunde gewesen, gut geplant mit einem motivierenden Quizspiel am Anfang. Nancy hatte der Siegergruppe angehört und sich mit ihrem Wissen beteiligt. Ansonsten war sie im Hintergrund geblieben. Gegen Ende des Spiels war mir eine unbewusste Reaktion der Schülerin aufgefallen. Als ihre Gruppe einen Punkt holte, hatte ein Mitschüler ausgeholt, um ihr die Hand zum
High five hinzuhalten. Das Mädchen war in dem Moment zusammengefahren, als erwarte sie einen Schlag ins Gesicht.

Diese Erklärung behielt ich lieber für mich. Es war nicht meine Art, mir von Schülern in die Karten schauen zu lassen. Es brachte in der Regel keinen Vorteil, so etwas zu verraten. Stattdessen galt es, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war.

»Also liege ich falsch?«, fragte ich.

Schweigend kehrte Nancy zu dem Stuhl zurück und setzte sich wieder hin.

»Wenn ich jetzt was erzähle, sind Sie dann nicht verpflichtet ... na ja ... das Jugendamt anzurufen oder so?«

Vermutlich ahnte sie nicht einmal, dass sie dabei den schwierigsten Aspekt meiner Arbeit ansprach. Schweigepflicht hin oder her – bei einer akuten Kindeswohlgefährdung zuzuschauen war beinahe genauso fatal, wie ein Kind selbst zu schlagen. Mitunter musste ich in solchen Situationen handeln, obwohl ich dadurch das Vertrauensverhältnis zu dem jeweiligen Jugendlichen arg strapazierte.

Ich hielt es für besser, ihr die Sache aus einem anderen Blickwinkel zu erläutern. »Mein Job ist es, dafür zu sorgen, dass es dir gut geht.«

Ich legte eine kurze Pause ein, damit sie die Tragweite des Satzes begreifen konnte.

»Falls dir wirklich etwas Schlimmes angetan wird, wäre es doch auch in deinem Interesse, dass wir was unternehmen. Wichtig ist nur: Ich möchte nicht über dich hinweg Entscheidungen treffen, sondern mit dir zusammen überlegen, was zu tun ist. Hier geschieht nichts, was du nicht willst.«

Nancy schwieg eine Weile. Ich vermutete, dass sie über meine Worte nachdachte. Sie bewegte ihren Kopf hin und her, als wäge sie verschiedene Möglichkeiten gegeneinander ab. Endlich nickte sie.

»Es ist nicht so, dass mein Vater ständig schlägt oder so«, begann sie, »aber vor den Ferien ging es bei uns daheim echt Drunter und Drüber.«

»Was meinst du damit?«, fragte ich interessiert.

»Ach, meine Noten waren scheiße, und dann kam mein Bruder auch noch völlig besoffen vom Kalten Markt – das hat mächtig Stress gegeben!«

»Kann ich mir vorstellen. Und was ist dann passiert?«

»Als Mum und Dad eh schon total am Rumtoben waren, hat der Wichser ihnen gesagt, dass ich einen Freund habe!« Erschrocken schaute sie mich an. »Sorry, ich wollte nicht …«

»Kein Problem«, erwiderte ich lächelnd. »Ich habe schon viel schlimmere Wörter in meinem Büro gehört. Deine Eltern wollen nicht, dass du einen Freund hast?«

»Nicht, bevor ich 35 bin.«

»Verstehe. Dein Bruder verriet ihnen dein Geheimnis und du bekamst den Ärger?«

»Von wegen Geheimnis!«, rief die Schülerin und winkte ab. »Benni weiß doch überhaupt nix über mein Leben. Er hat einfach was erzählt, damit die auf mich gehen und nicht auf ihn.«

Nancy hatte die Sache mit ihrem Bruder ein bisschen zu schnell abgetan. Ich zweifelte daran, dass sie die Wahrheit sagte. Es brachte jedoch nichts, an dieser Stelle nachzuhaken.

»Und das hat funktioniert, oder? Ist dein Vater ausgerastet?«

Ängstlich sah sie sich um. »Das muss aber echt unter uns bleiben!«

»Keine Angst.«

»Es war das einzige Mal.«

Leicht gerötete Wangen, ein verlegener Blick zum Boden und ein auffälliges Blinzeln des Mädchens veranlassten mich, ihrem letzten Satz keinen Glauben zu schenken.

»An dem Tag bestimmt«, erwiderte ich daher.

»Scheiße, woher wissen Sie das?« Nancys Miene verriet eine aufsteigende Unsicherheit. Es passte ihr gar nicht, derart durchschaut zu werden. »Verstehen Sie das bitte nicht falsch …«

»Ich könnte es richtig verstehen, wenn du mir einfach erzählen würdest, was vorgefallen ist«, schlug ich vor.

Nancy nickte zögernd. »Als ich elf war, hatten wir eine schwierige Zeit«, begann sie. »Mein Dad hatte seinen Job verloren. Er war jeden Abend besoffen, aber das ist jetzt lange her. Er hat sich geändert. Nur das eine Mal hat er sich nicht im Griff gehabt … und … er hat sich bei mir entschuldigt. Das war's!«

Mein Bauchgefühl warnte mich in diesem Moment, dass sie vermutlich noch nicht die ganze Geschichte erzählt hatte. Irgendetwas verbarg das Mädchen vor mir. Ihr Bericht über den Vater schien aber der Wahrheit zu entsprechen.

»Also ist alles wieder im Lot bei euch?«

»Was heißt Lot?«

Ich erklärte es ihr, sie verstand das Bild und nickte. »Alles im Lot, ich schwör es Ihnen.«

Es handelte sich unverkennbar um eine Lüge. Ich spürte eindeutig, dass noch etwas Größeres im Hintergrund lauerte. »Aber irgendwas ist da doch noch …?«, fragte ich deshalb.

Die Schülerin schüttelte den Kopf. Dabei hielt sie die Hände abwehrend vor den Körper.

»Ich hab schon viel zu viel gesagt.«

Montag, 29. November, 19.06 Uhr

Unser Gespräch hatte natürlich ein ungutes Gefühl hinterlassen. Doch was hätte ich darüber hinaus tun sollen? Eine akute Gefährdung hatte offensichtlich nicht bestanden, und durch weitere bohrende Fragen hätte ich mit Sicherheit keine Informationen aus dem Mädchen herausbekommen. Mir war nichts übriggeblieben, als ihr eine Einverständniserklärung für meine Arbeit mitzugeben. Ich hatte ihr erklärt, dass sie jederzeit in mein Büro kommen durfte, wenn sie mit mir reden wollte. Dasselbe Angebot hatte ich bereits unzähligen Schülerinnen und Schülern gemacht.

In einigen Fällen half es, zu warten, bis genug Vertrauen gewachsen war. In diesem Fall jedoch nicht. Nancy war noch am selben Tag von zu Hause abgehauen. Sie hatte nach dem Mittagessen ein paar persönliche Dinge aus ihrem Zimmer geholt und war daraufhin unbemerkt verschwunden. Anfangs hatten ihre Eltern geglaubt, ihre Tochter übernachte nur bei einer Freundin und hätte vergessen, Bescheid zu sagen. Als auch der folgende Tag ereignislos verstrichen war, hatten sie schließlich die Polizei eingeschaltet.

Inzwischen hatten Nancys Familie, die Polizisten und eine Menge Freiwillige in der ganzen Gegend nach ihr gesucht. Schulfreundinnen hatten eine Vermisstenmeldung auf einem sozialen Netzwerk veröffentlicht, und sogar die lokale Zeitung war auf die Sache aufmerksam geworden. Alle Bemühungen waren bisher erfolglos geblieben. Rational wusste ich natürlich, dass mich keine Schuld am Weglaufen der Schülerin traf. Dennoch stellte ich mir wieder und wieder dieselben Fragen: Was hatte ich übersehen? Hatte ich die Situation falsch eingeschätzt? Hätte ich ihr Fortlaufen doch irgendwie verhindern können? Die Zweifel, die mit diesen Gedanken einhergingen, waren mir auf unheilvolle Art vertraut. Sie versetzten mich zurück auf jene verfluchte Insel im Atlantik. Zurück in das Zelt, neben die Leiche von Alexandra Peters.

Erneut war ein Geräusch zu hören, als sei jemand auf einen morschen Ast getreten. Nur kam das Knirschen diesmal aus meiner unmittelbaren Umgebung. Erschrocken riss ich die Taschenlampe hoch und leuchtete in die Dunkelheit. Um mich herum war alles ruhig. Der Lichtkegel erfasste einen der Bäume am Wegrand. Die Schatten seiner Zweige gaukelten mir eine Bewegung im Unterholz vor. Unwillkürlich lief ich schneller und malte mir dabei die unmöglichsten Bedrohungen aus, die mich aus dem finsteren Dickicht anspringen konnten. Die wirkliche Gefahr, einen Stein oder eine Wurzel direkt vor meinem Fuß, bemerkte ich nicht. Ich stolperte und fiel der Länge nach in den Dreck. Meine Lampe flog in hohem Bogen durch die Luft, ehe sie mit einem Knall auf den Boden krachte und erlosch.

»Scheiße!«, brüllte ich und betastete vorsichtig mein Knie. Es brannte wie Feuer.

Meine Jeans hatten wohl einen Riss abbekommen. Die Fransen des kaputten Stoffes fühlten sich feucht an. Ich kam mir unglaublich alt vor, wie ich da so keuchend am Waldboden entlang robbte und die verlorene Taschenlampe suchte. Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, bis ich sie endlich fand. Mit zitternden Fingern drückte ich auf den Schalter. Doch nichts geschah.

Eigentlich war mir schon klar gewesen, dass die Lampe nicht angehen würde, denn das Ding lag viel zu leicht in der Hand. Der Deckel hatte sich gelöst, und beide Batterien waren herausgefallen. Wieder knackte es ganz in meiner Nähe. Voller Panik begann ich, den dunklen Weg nach den Batterien abzusuchen. Ich entdeckte die erste und schob sie in den Schaft der Lampe, nachdem ich den Pluspol ertastet hatte. Es brachte mir wenig, dass ich auch die zweite Batterie recht schnell fand, denn die Verschlusskappe blieb verschwunden. So sehr ich mich auch bemühte, das Teil war nirgends zu finden.

Schließlich kam mir eine Idee. Eilig griff ich nach meinem Handy. Das Fotolicht des Telefons leuchtete bei Weitem nicht so stark wie das Licht der Taschenlampe, aber sicher hell genug, um den Batteriedeckel zu suchen. Ehe ich die Funktion einschalten konnte, hörte ich auf einmal Schritte. Ein wildes Tier vielleicht? Ich wagte kaum zu atmen, aus Angst, meinen Aufenthaltsort zu verraten. Einen Moment lang hockte ich da und lauschte. Es waren eindeutig Schritte, die rasch näherkamen. Mit aller Kraft stemmte ich mich auf die Beine und lief los. Durch die Schmerzen in meinem Knie kam ich nur langsam voran. Ich konnte hören, wie mein Verfolger immer näher und näher kam.

»Herr Konrad!«, rief plötzlich eine Stimme, die mir vertraut vorkam. Es dauerte eine Weile, bis mir einfiel, woher ich sie kannte.

»Ricky?«, fragte ich und starrte in die Finsternis.

»Ja«, antwortete der Junge. Es klang so, als stehe er direkt neben mir. »Haben Sie sich verletzt?«

»Es geht schon«, erwiderte ich. »Hast du eine Lampe dabei?«

»Nee, die brauche ich nicht. Ich sehe auch so ganz gut.«

»Ich verstehe nicht recht?«

»Vermutlich hilft Ihnen das hier.«

Ich spürte, wie ich am Arm berührt wurde. Ricky hielt mir den Deckel meiner Taschenlampe entgegen. Ich brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich die zweite Batterie eingesetzt und den Verschluss aufgeschraubt hatte. Endlich leuchtete die Lampe auf. Ich erschrak, als ich ihren Schein auf mein Gegenüber richtete. Er trug ein sonderbares Gestell, das aussah wie ein Fernglas. Es war mit mehreren Riemen an seinem Kopf befestigt. Mit einem Schrei drehte er sein Gesicht zur Seite und schirmte das merkwürdige Gerät mit dem Unterarm gegen mein Licht ab. Jeder Atemzug des Jungen war gut an einer kleinen Nebelwolke zu erkennen.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Ein Nachtsichtgerät. War ein Geschenk von meinem Dad«, antwortete er.

»Aha«, sagte ich knapp. »Und was in drei Teufels Namen machst du damit hier im Wald?«

»Na, ich wollte sichergehen, dass Sie sie auch finden.«

»Du meinst Nancy?« Mit einem Schlag wurde mir alles klar. »Also hast du mir die Zeichnung unter der Tür durchgeschoben?«

Rickys Stimme wurde jetzt ungewohnt kleinlaut. »Ja«, murmelte er.

»Aber wieso? Wenn du wusstest, wo sie sich aufhält, konntest du doch einfach ihren Eltern oder der Polizei einen Hinweis geben.«

»Und warum hätte ich das tun sollen?«, erwiderte Ricky. »Sie wäre doch sofort wieder abgehauen. Aber mit Ihnen wird sie sprechen, da bin ich mir sicher.«

»Vielen Dank für dein Vertrauen«, brummte ich mürrisch. Dabei richtete ich den Lichtstrahl auf die Verletzung an meinem Knie. Meine Hose war dahin. Blut quoll aus einer kleinen Wunde. Ich tastete danach. Es brannte wie Feuer, und ich sog geräuschvoll Luft durch meine Zähne ein.

»Stellen Sie sich nicht so an. Das ist doch nur ne Schramme!«, rief der Junge trotzig. »Nancy braucht Ihre Hilfe.«

»Und die hätte sie garantiert viel schneller bekommen, wenn du mir einfach gesagt hättest, wo sie ist.«

»Nancy wollte nicht, dass irgendwer erfährt, wo sie sich versteckt. Ich musste ihr fest versprechen, nix zu sagen.« In seiner eigenen Weltsicht hatte Ricky dieses Versprechen wahrscheinlich nicht einmal gebrochen. Schließlich hatte er tatsächlich nichts gesagt. »Aber in den letzten Tagen ist es verdammt kalt geworden.«

Damit hatte er recht. Die Temperaturen waren über das Wochenende gefallen, und laut des Wetterberichts stand uns eine längere Kältewelle bevor.

»Und wieso hast du eine Schatzkarte gezeichnet, anstatt einen Brief zu schreiben? Den hätte ich doch viel sicherer verstanden.«

»Ich kenne Ihre Tricks ganz gut, Herr Konrad. Sie hätten mich bestimmt an der Schrift erkannt, wenn ich die Nachricht aufgeschrieben hätte … So wie bei Elisa.« Nun schaute er sich um, als wollte er sichergehen, dass niemand zuhörte. »Nancy darf auf keinen Fall erfahren, dass Sie das von mir haben. Die bringt mich um!«

»Und warum hast du es nicht mit einem offenen Gespräch versucht? Zum Beispiel mit: Herr Konrad, bitte verraten Sie nicht, dass ich es gesagt habe, aber Nancy ist in der Waldhütte und braucht Ihre Hilfe?«

Ein bisschen ärgerte es mich, dass der Schüler mir nicht genug Vertrauen entgegengebracht hatte, um einfach mit mir zu sprechen.

»Das war Plan B, falls Sie die Zeichnung nicht kapieren.«

Als ich den verlegenen Blick des Jungen sah, verrauchte mein Ärger. Ich schmunzelte.

»Na super«, sagte ich. »Lass uns jetzt lieber nach Nancy schauen.«

»I-ich komme nicht mit!«, schoss es aus ihm heraus. »Ich hab doch gesagt, sie darf nicht wissen, dass …«

»Ist schon klar«, antwortete ich mit beruhigender Stimme. »Aber wenn sie wirklich in Gefahr ist entgeht dir die Chance, der große Retter zu sein.« Es war zu sehen, dass meine Worte Eindruck auf den Jugendlichen machten. Schließlich nickte er langsam. Gemeinsam setzten wir uns wieder in Bewegung. So jung mein Begleiter auch sein mochte, er gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Es dauerte etwa fünf Minuten, bis wir die alte Grillhütte erreichten.

»Nancy?«, rief ich. »Bist du hier?«

Keine Antwort. Ich leuchtete die Holzläden ab, mit denen die Fenster der Hütte verriegelt waren. Dann richtete ich die Taschenlampe auf Ricky, der inzwischen das Gestell von seinem Kopf genommen hatte. Ich bedeutete ihm, auch etwas zu rufen.

»Es ist okay, Nance! Er will bloß helfen.«

Noch immer keine Antwort. Die Stille wirkte mit einem Mal bedrohlich. Ich beschloss, nicht länger zu warten, ging zu der Tür und öffnete sie. Es war stockdunkel und eisig im Inneren des Häuschens. Der Geruch von kaltem Rauch hing in der Luft. Falls das Mädchen sich ein wärmendes Feuer angemacht hatte, war es schon seit geraumer Zeit heruntergebrannt.

»Hey, Nancy!«, rief ich erneut. »Bist du hier drin?«

Meine Schritte hallten auf dem Betonboden. In dem Vorraum waren leere Verpackungen verstreut: Toastbrot, Salami, Joghurtbecher und einige Plastiktütchen mit Ketchup. Daneben stand eine halb volle Wasserflasche aus Plastik. Ich folgte einem schmalen Durchgang in die eigentliche Grillhütte. Hier reihten sich etliche Tische und Bänke aneinander. Am Ende des Raumes erkannte ich den großen, gemauerten Grill. Nicht einmal die Glut war darin zu sehen. Davor lag eine reglose Gestalt. Ich leuchtete direkt in ihr blasses, lebloses Gesicht. Sie steckte in einem dünnen Schlafsack. Ihre Augen waren geschlossen, die Lippen blau vor Kälte.

»Oh mein Gott«, stieß ich aus und stürzte zu ihr. »Alles okay bei dir?«

Ich konnte schreien, so laut ich wollte. Das Mädchen zeigte keinerlei Reaktion. Nichts deutete darauf hin, dass sie am Leben war. Ich beugte mich über sie und hielt mein Ohr an ihren Mund. Wenn sie noch atmete, konnte ich es nicht hören.

»Hast du ein Handy dabei?«, fragte ich Ricky, der hinter mir in die Hütte kam.

»Ja.«

»Ruf den Krankenwagen, sofort!«, befahl ich.

»Ich weiß doch gar nicht, wie das geht«, jammerte er.

Ich hatte mich neben die Schülerin gehockt und ihren Oberkörper in eine aufrechte Position gebracht.

»Einfach 112 eintippen und sagen, wo wir sind«, erklärte ich, während ich meine Jacke auszog und über Nancys Schultern hängte. Mit zitternden Fingern tastete ich nach ihrem Hals. Ich spürte keinen Puls. Meine Hände waren jedoch so kalt, dass es auch daran liegen konnte. Entschlossen legte ich meinen Arm um das Mädchen. Ich versuchte, ihr etwas von meiner eigenen Körperwärme abzugeben. Aus dem Vorraum hörte ich Rickys Stimme, der aufgeregt angab, wo wir die Vermisste gefunden hatten: »In der Grillhütte im Wald …«

Wenige Augenblicke später kam er wieder in den Hauptraum gestürmt.

»Hilfe ist unterwegs«, rief er hektisch. »Wie geht es ihr? Ist sie …«

Er sprach den Gedanken nicht aus, aber ich wusste trotzdem, was er befürchtete. Dieselbe Angst nagte an mir.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Hilf mir, sie warmzuhalten!«

Der Junge verlor keine Zeit und hockte sich neben uns. So saßen wir dort, im Schein der Taschenlampe, und taten das einzige, was wir in diesem Moment tun konnten.

Uns war nur die Hoffnung geblieben, dass der Krankenwagen schnell kommen und die Ärzte Nancy retten würden.

Montag, 29. November, 21.34 Uhr

Einundzwanzig Stufen führten zu meiner Wohnung. Jede einzelne kam mir jetzt vor wie eine unüberwindliche Hürde. Es war ohne Zweifel der längste Arbeitstag meines Lebens – sofern man das Suchen einer Schülerin überhaupt zur Arbeitszeit zählen durfte. Der Rettungswagen war in Rekordzeit bei der Grillhütte angekommen. Die Sanitäter hatten Nancy mit professioneller Eile erstversorgt und anschließend für den Transport ins Krankenhaus verladen.

»Ist sie tot? Da war kein Puls, und ich habe nicht hören können, ob sie atmet«, hatte ich besorgt den jüngeren Helfer gefragt.

Der hatte bloß den Kopf geschüttelt. »Niemand ist tot, solange er das nicht in einer warmen Umgebung ist.«

Ricky hatte darauf bestanden, bei seiner Freundin zu bleiben. So war den Rettungssanitätern keine andere Wahl geblieben, als ihn wohl oder übel im Krankenwagen mitzunehmen. Doch danach musste er ja auch wieder nach Hause kommen. Also war ich eilig zu meinem Auto zurückgekehrt und ebenfalls ins Klinikum gefahren.

Ricky war nicht von Nancys Seite gewichen, bis sie gut versorgt in einem Bett der Klinik lag. Erst, als er mit absoluter Sicherheit nichts mehr für sie tun konnte war der Jugendliche bereit gewesen, mit mir zu meinem Wagen zu gehen.

Mit letzter Kraft drehte ich den Schlüssel herum und öffnete die Haustür. Es brannte Licht in meiner Wohnung. Der Geruch gebratener Zwiebeln verriet mir, dass Marie gerade kochte.

»Ich bin daheim!«, rief ich.

»Sag nicht, du kommst jetzt von der Arbeit?« Die Stimme aus der Küche klang amüsiert.

»Irgendwie schon.«

»Und da heißt es immer, Lehrer hätten jeden Tag um 13.00 Uhr Feierabend.« Meine Freundin erschien mit einem breiten Grinsen im Flur, das jedoch augenblicklich verschwand. »Scheiße, Daniel, wie siehst du denn aus?«

»Ich habe das vermisste Mädchen gefunden«, erklärte ich. »Du weißt schon, Nancy. Die Schülerin, die von zu Hause abgehauen war.«

Marie kam ein paar Schritte auf mich zu und küsste mich, bevor sie begann, mir die Jacke auszuziehen.

»Und? Hast du dich mit ihr geprügelt?«, fragte sie währenddessen. »So wirkt es jedenfalls.«

»Nein. Sie hatte sich in einer Grillhütte im Wald versteckt.«

»Und da musstest du im Dunkeln hingehen?« Sie hängte meine dreckige Jacke ordentlich auf einen Bügel und klopfte mit einem vorwurfsvollen Blick den Staub ab. »Mal darüber nachgedacht, so was der Polizei zu überlassen?«

Ich nickte widerstrebend. »Du hast ja recht«, entgegnete ich beschwichtigend, obwohl ich ihre Meinung nicht teilte. Nancy zu finden, war ohne den geringsten Zweifel meine Aufgabe gewesen.

Meine Freundin seufzte und beließ es dabei. Vermutlich, weil sie ohnehin nichts mehr daran ändern konnte.

»Wie geht es der Kleinen denn?«

»Der Arzt meinte, sie sei stark unterkühlt. Morgen früh will ich noch einmal im Krankenhaus vorbeifahren. Dann erfahre ich bestimmt mehr.« Erneut stieg mir der Duft des Essens in die Nase. »Riecht gut«, sagte ich mit entsprechender Geste. »Was gibt es Leckeres?«

»Serbische Bohnensuppe aus der Dose«, antwortete Marie. Das war seit der Reise zu den Blasket Islands eine Art wiederkehrender Scherz zwischen uns. Wir hatten uns nach der Rückkehr aus Irland einen heiligen Eid geschworen, nie wieder zu campen, auf einer Insel zu übernachten oder eine Suppe aus der Blechdose zu kochen.

»Super, ich hole meinen Napf«, gab ich grinsend zurück.

Ich freute mich auf einen netten Abend und bemerkte erst in diesem Moment, wie hungrig ich war. Ich hätte gegessen, was immer in der Küche auf mich wartete, selbst wenn es tatsächlich serbische Bohnensuppe gewesen wäre. Marie nahm mich bei der Hand und ging den Flur entlang. Wir kamen nur bis zur Küchentür, ehe ein schrilles Geräusch uns stoppte. Ich erkannte den Klingelton ihres Handys. Sie ließ meine Hand los und lief zur Garderobe, wo das Gerät lag.

»Marie Körbel«, sagte sie, nachdem sie eine Sekunde lang irritiert auf das Display geschaut und schließlich den Anruf angenommen hatte. Eine Palette unterschiedlicher Gefühle erschien der Reihe nach auf ihrem Gesicht. Neugier, gefolgt von Unbehagen und letztlich Verlegenheit.

»Einen Augenblick, bitte!«, bat sie ihren Gesprächspartner und hielt das Telefon ein Stück vom Ohr weg.

»Das dauert eine Weile – hat mit der Arbeit zu tun«, erklärte sie mir. »Geh schon mal rein, ich komme gleich nach.«

Gelegentlich fühlte ich mich wie ein menschlicher Lügendetektor. In solchen Situationen wünschte ich mir oft, all dies nicht erkennen zu können. Wer immer der Anrufer war – wegen Maries Arbeit hatte er garantiert nicht angerufen. Sofort war meine Neugierde geweckt, doch ich nickte nur knapp und verschwand mit einem Lächeln in der Küche. Nach den Ereignissen der Vergangenheit hatte ich beschlossen, meiner Freundin zu vertrauen.

»Manchmal haben Menschen eben ihre kleinen Geheimnisse voreinander«, erinnerte ich mich selbst, um meine innere Stimme zu übertönen, die lauthals die Wahrheit verlangte. »Nicht hinter jeder unbedeutenden Lüge steckt unbedingt eine Verschwörung zu Mord und Totschlag!«

Kapitel 2

Dienstag, 30. November, 06.42 Uhr

»Möchtest du noch?«, fragte Marie und hielt mir die halb volle Kaffeekanne entgegen. Ich deutete ein Nicken an, während ich in der Morgenzeitung blätterte, die vor mir auf dem Tisch lag. Frischer Kaffee ergoss sich in meine Tasse. Der Duft des kräftigen Getränks stieg mir in die Nase. »Es wurde auch langsam Zeit, dass die den Typ endlich erwischen.«

Irritiert schaute ich meine Freundin an. »Wovon sprichst du?«

»Na, von dem Artikel da«, antwortete sie und zeigte auf die Lokalseite meiner Zeitung.

»Heiße Spur bei Einbruchserie«, stand dort als Überschrift.

Weitere Hinweise, worum es ging, brauchte der Reporter in der Schlagzeile nicht zu geben. Neben Nancys Verschwinden war die immer größer werdende Reihe von Einbrüchen in den vergangenen Wochen das Gesprächsthema schlechthin gewesen. Neugierig las ich die Zeilen. Der Verfasser gab einen kurzen Rückblick auf die zurückliegenden Ereignisse. Mehrere Wohnungen waren in den letzten Monaten geplündert worden. Meist waren die Einbrecher durch eingeworfene Fenster eingedrungen. Sie hatten dabei nicht nur unzählige Wertgegenstände gestohlen. Es waren auch die Einrichtungen verwüstet und aggressive Graffiti an die Wände gesprüht worden.

Bei ihren Beutezügen hatten die Täter nicht einmal vor dem vornehmen Villenviertel unserer Stadt zurückgeschreckt. Der dortige Einbruchversuch war jedoch kläglich an einer Alarmanlage gescheitert, sodass sie unverrichteter Dinge abziehen mussten. Erst am Ende des Berichts kam der Zeitungsreporter auf die besagte heiße Spur aus der Titelzeile zu sprechen. Die Polizei befasse sich derzeit mit einer Jugendbande, die auf den Kinderspielplatz an der Seewiese ähnliche Graffiti geschmiert hatte wie die Vandalen an den Tatorten. Die Polizei hoffe nun, die Täter ausfindig machen und das Diebesgut sicherstellen zu können. Der Hinweis auf die Seewiese ließ mich hellhörig werden, denn dieser lang gezogene Park unterhalb der Altstadt war nicht weit von meiner Beratungsschule entfernt.

»Das ist nicht gut«, sagte ich in Gedanken, nachdem ich den gesamten Text gelesen hatte.

»Was ist los?«, fragte Marie.

»Sie verdächtigen eine Gruppe von Jugendlichen aus der Gegend«, erklärte ich. »Das riecht verdammt nach Arbeit.«

»Denkst du, die Kids sind auf deiner Schule?«

»Könnte schon sein«, gab ich zurück und betrachtete dabei das Foto des Artikels näher. Es zeigte einen der Schriftzüge, den die Täter hinterlassen hatten. Das Bild war offenbar am Ort eines der Einbrüche aufgenommen worden. »ACAB« stand dort in schwarzen krakeligen Buchstaben – eine Abkürzung für »All cops are bastards«. Ursprünglich kam diese Parole aus dem Sprachgebrauch radikaler Gruppierungen. Autonome, Neonazis oder Punks brachten so ihre Abneigung gegen die staatliche Exekutive zum Ausdruck. Mittlerweile war die Buchstabenfolge jedoch in der Jugendkultur salonfähig geworden. Ihre öffentliche Verwendung galt selbst unter normalen Teenagern als ein Beweis für Mut und Männlichkeit. Pubertierende Jungen versuchten sich dadurch als harte Kerle darzustellen. Ich kannte sogar einige Schüler, die ihr Profil in sozialen Netzwerken damit verzierten.

Außerdem wusste ich genau, welche dieser Schüler ihre Freizeit normalerweise an der Seewiese verbrachten. Deshalb hatte ich mir sofort vorstellen können, von welcher Jugendbande hier die Rede war und ahnte, in wessen Büro die verzweifelten Eltern landen würden, wenn sich mein Verdacht bestätigte.

»Ich rufe nachher auf dem Weg zur Arbeit Herrn Lehmann an«, sagte ich schließlich, während ich die Zeitung sorgfältig zusammenfaltete. Dann widmete ich mich endlich meiner zweiten Tasse Kaffee, die inzwischen nur noch lauwarm war. Dabei bemerkte ich den skeptischen Blick meiner Freundin.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Lehmann? Ist das nicht dieser Typ von der Polizei?«

Ich nickte. »Er ist Kommissar und gehört zu einer Arbeitsgruppe, die sich mit Gewalt an Schulen beschäftigt«, erklärte ich. Seit vielen Jahren pflegte ich eine enge Zusammenarbeit mit ihm. Natürlich durfte er mir keine Auskünfte über laufende Ermittlungen geben. Fragen kostete jedoch nichts. Manchmal hatte ich Glück, und Herr Lehmann gab mir die eine oder andere Information im Vertrauen weiter.

»Wieso um alles in der Welt musst du dich unbedingt in diese Sache einmischen?«, wollte Marie wissen. »Du weißt doch gar nicht, ob wirklich ein Schüler von dir beteiligt ist.«

»Deswegen will ich ja anrufen.«

»Hat es dir nicht gereicht, gestern bis in die späten Abendstunden hinein Detektiv zu spielen?« Ihre Wortwahl provozierte mich bis aufs Blut. Warum sollte ich mich jetzt dafür rechtfertigen, dass ich das Mädchen gerettet hatte?

»Das war ja wohl etwas völlig anderes!«, rief ich empört. »Ich versuche nur, rechtzeitig mitzukriegen, wenn sich Probleme anbahnen.«

»Wie du meinst«, seufzte sie. Mit einem Kopfschütteln erhob sie sich vom Tisch und brachte ihren Teller und die Tasse zur Spülmaschine.

Mittlerweile hatte ich schon einige Erfahrung mit ihrem Verhalten in Konflikten gesammelt. Ich wusste, dass ich mit Argumentieren nicht weiterkommen würde. »Wie du meinst« hieß übersetzt »Ich erwarte Verständnis«, und nicht »Überzeug mich«. Deshalb stand ich ebenfalls auf, ging zu ihr und legte besänftigend meinen Arm um ihre Schulter.

»Hey«, sagte ich dabei, »was ist eigentlich dein Problem?«

»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte sie barsch. Mit einer Bewegung fegte sie meine Hand von ihrem Arm. Dann knallte sie das Geschirr ein wenig zu heftig in die Maschine.

»Nicht wirklich«, gab ich zurück.

Daraufhin drehte sie sich abrupt zu mir herum. »Ich mache mir Sorgen um dich«, erklärte sie überdeutlich betont, als spreche sie mit einem dummen, kleinen Jungen. »Überlass solche Sachen bitte der Polizei – ich finde, wir haben in diesem Jahr genug Kriminalgeschichten erlebt.«

»Was hat das denn damit zu tun?«, verteidigte ich mich. »Ich möchte doch bloß auf dem Laufenden bleiben, wenn es um meine Schüler geht.«

»Das ist mir schon klar, aber ich will nicht, dass du …« Weiter kam Marie nicht, bevor sie vom Klingeln ihres Handys unterbrochen wurde. Eilig schlug sie die Klappe der Spülmaschine zu und stürmte in den Flur. Der verlegene Blick, den sie mir dabei zuwarf, erinnerte mich an eine schuldbewusste Schülerin. Sie schloss die Küchentür sorgfältig, ehe sie den Anruf annahm, sodass ich nicht hören konnte, worum es bei ihrem Telefonat ging. Das weckte mein Misstrauen, denn es war das zweite Mal, dass sie angerufen wurde und nicht wollte, dass ich mitbekam, von wem. Wenige Minuten später kam sie in die Küche zurück.

»Wieder die Arbeit?«, fragte ich.

»Wie?« Marie wirkte geistesabwesend. »Ach so, ja. Wieder dieselbe Sache.«

»Scheint ja eine dringende Angelegenheit zu sein, wenn man dich spät abends und früh morgens deswegen anruft«, erwiderte ich. Dabei achtete ich darauf, die Feststellung möglichst beiläufig klingen zu lassen.

»Ist es auch«, antwortete sie. »Genau deshalb muss ich gleich losfahren.« Es war mehr als offensichtlich, dass sie etwas vor mir verbarg. Hatte sie Ärger mit ihrem Arbeitgeber? Oder steckte etwas anderes hinter den ständigen Telefonanrufen? Bevor ich dazu kam, ihr meine Fragen zu stellen, war sie schon in den Flur gestürmt. Ich hörte, wie sie den Garderobenschrank öffnete und folgte ihr dorthin. Sie hatte bereits ihren Mantel angezogen und kramte im Schuhschrank nach passenden Schuhen. Sie entschied sich für die halbhohen Stiefel. Eilig arbeitete sie ihre Füße hinein.

»Wir sehen uns heute Nachmittag«, murmelte sie, ohne mich anzuschauen.

»Was ist los?«, fragte ich. »Mit dir stimmt doch irgendetwas nicht.«

»Bitte nicht jetzt, Daniel.«

»Ich meine ja nur. Wenn du irgendwelchen Stress hast, möchte ich das gerne wissen.«

Marie kam ein Stück auf mich zu. Sie nahm mich in den Arm.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie und küsste mich auf die Wange. Danach zog sie die Reißverschlüsse der Stiefel zu und verschwand mit einem knappen Abschiedsgruß aus der Wohnung.

Marie

Nichts war in Ordnung. Dadurch, dass Joachim sich bei ihr gemeldet hatte, war ihr Leben mit einem Mal auf den Kopf gestellt worden. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie all das hinkriegen sollte, was vor ihr lag.

»Einen Schritt nach dem anderen«, riet sie sich selbst. »Es wird der richtige Zeitpunkt kommen, Daniel die Wahrheit zu sagen.«

Ein bisschen bedauerte sie es, ihn so hintergehen zu müssen. Sie war jedoch davon überzeugt, dass er genug mit seinen eigenen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Der Moment schien ihr denkbar schlecht, jetzt auch noch mit ihrer Geschichte herauszuplatzen.

Seit ihrer Rückkehr nach Deutschland verhielt ihr Freund sich wie ein Hamster im Laufrad, der ohne Sinn und Verstand rannte. Egal, wohin, egal, weshalb – Hauptsache, in Bewegung. Marie vermutete, dass er im Grunde nur vor seinen Gefühlen davonlief und es vermied, über die Verluste der vergangenen Wochen nachzudenken. Die Sache mit dem Mädchen im Wald war das beste Beispiel dafür. Wie konnte man bloß so leichtsinnig sein und blindlings in eine gefährliche Situation hineinlaufen? Irgendwie hatte sie gehofft, er würde danach endlich zur Ruhe kommen, doch schon beim Frühstück hatte er sich das nächste Hamsterrad gesucht und war losgerannt. Nein, Daniel ging es definitiv nicht gut. Und Marie hatte beschlossen, auf den geeigneten Augenblick zu warten, ehe sie ihm die Ereignisse der letzten Tage verriet. Sie schwieg zu seinem eigenen Schutz, wie sie sich jetzt einzureden versuchte.

Eilig lief sie die Stufen zur Haustür hinunter und blickte dabei flüchtig auf ihre Armbanduhr. Durch ihr übereiltes Aufbrechen kam sie voraussichtlich viel zu früh zur Arbeit. Daniel witterte Geheimnisse, als hätte er einen siebten Sinn dafür und ließ dann nicht locker, bis er die Wahrheit kannte. Auf keinen Fall wollte sie ihm die Möglichkeit geben, weitere Fragen über Joachims Anrufe zu stellen. Joachim. Es war nun schon das zweite Mal in ihrem Leben, dass sie ihn vor einer anderen Person verheimlichte.

Bei diesem Gedanken kam ihr die Erinnerung daran, wie sie vor Jahren die Bombe bei ihrer Mutter platzen gelassen hatte. Marie war damals gerade 17 Jahre alt, und Joachim war ihr erster Lover gewesen.

Freitag, 31. Juli, 18.45 Uhr (12 Jahre zuvor)

Sein Bart kratzte immer ein wenig beim Küssen, doch das interessierte sie in diesem Moment nicht. Genauso egal war die Tatsache, dass die Hexe sie mit Sicherheit längst entdeckt hatte. Wahrscheinlich beobachtete sie das Geschehen schon mit Argusaugen durch das Fenster.

Marie schlang ihre Arme noch fester um Joachim und küsste ihn wild und leidenschaftlich. Jetzt gab es ohnehin kein Zurück mehr. Der alte, hellblaue Pick-up stand direkt vor der Einfahrt. Es trennten sie nur noch das spießige Gartentor und der langweilige Schotterweg von ihrem Glück. Und nicht zu vergessen ihre Mutter. Die garantiert nichts unversucht lassen würde, um sie aufzuhalten. Sie löste ihre Lippen von seinen und beachtete den Speichelfaden nicht, der sich zwischen ihnen langzog. Dann schaute sie ihm tief in die Augen. Seine strahlenden blauen Augen.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und fühlte dabei deutlich, wie sich ihr Puls vor Aufregung beschleunigte. »Dauert nur eine Minute.«

»Lass dir Zeit, Babe«, antwortete Joachim lächelnd. »Damit du nix vergisst.«

Marie schüttelte den Kopf. »Werd ich nicht. Ist alles fertig gepackt. Meine Sachen stehen seit gestern Abend bereit.«

Sie öffnete die Seitentür. Während sie ihren schlanken Körper elegant aus dem Fahrzeug schwang, spürte sie Joachims Blick auf ihrem Hintern. Sein Interesse war schmeichelhaft. Nicht so aufdringlich und nervtötend wie bei den kindischen Jungs in der Schule. Marie warf ihm ein Lächeln zu. Seine Aufmerksamkeit kam ihr vor wie ein Geschenk. Ihr Herz schlug jedes Mal vor Freude schneller, wenn sie ihn traf. Doch diesmal schlug es nicht nur, weil er in der Nähe war. Diesmal schlug es auch, weil sie kurz davor war, endlich ihre unsichtbaren Fesseln zu sprengen. Sie war im Begriff, das Gefängnis zu verlassen, das ihr Elternhaus für sie darstellte.