Ein besonderer Dank
für mannigfache Unterstützung gebührt
Bodo Bischof & Wolf-Dieter Grün
© 2021
Katholizismus und Erster Weltkrieg
Forschungen und ausgewählte Quellentexte
Herausgegeben durch Peter Bürger im Auftrag
von pax christi – Deutsche Sektion e.V.
Internationale Katholische Friedensbewegung
Kirche & Weltkrieg, Band 4
(Buchreihe zur Digitalbibliothek
https://kircheundweltkrieg.wordpress.com)
Redaktion, Satz & Buchgestaltung: P. Bürger.
Umschlagmotiv: Postkarte zum 1. Weltkrieg (1915), Archiv
der Evangelischen Akademie der Nordkirche.
Herstellung & Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7534-3207-6
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„Dem Revolutionsakt feind, sah ich, daß die Revolution kommen mußte. […] Werkzeuge Gottes waren die Männer der Revolution [1918/19]. Die Könige hätten noch Schlimmeres verdient. Auch die Spezi der Könige, die Bischöfe und Erzbischöfe. Schamlos haben sie das Christentum an den Heiden-Staat verraten […]. Hauck, Senger, Faulhaber – an Eure Macht, die ihr so verblendet mißbraucht habt, geht es – nicht um die Macht der Religion.“
Kaplan GEORG MOENIUS (Bamberg): Tagebucheintrag, Januar 19191
Das vorangestellte Votum eines jungen Bamberger Priesters erinnert uns an die so lange verdrängte Grundhaltung der vorkonstantinischen Christenheit zum weltlichen Imperium. Ein Staatswesen, das industrielle Tötungstechnologien zur Verursachung millionenfacher Tode entwickelt und einsetzt, hierbei Hundertausende, nein Millionen – vorwiegend junge – Menschen auf das Schlachtfeld schickt, um zu morden und selbst zerfetzt zu werden, ein solcher Staat kann mit den Augen der Freundinnen und Freunde Jesu nur als „Heiden-Staat“ bzw. institutionalisierte Gottlosigkeit betrachtet werden. – Georg Moenius2 (1890-1953) vermerkt im Tagebuch Anfang 1919, die hochgeehrten Bischöfe (Bamberg, München) hätten – als theologische und kultische Dienstleister des deutschen Kriegsstaates – das Christentum verraten. Er war aber kein Linker, kam vielmehr – „dem Revolutionsakt feind“ – aus einem Traditionszusammenhang der antipreußischen und föderalistischen Konservativen. Umso schwerer wiegt sein Urteil, da es doch von einem Mann stammt, der nicht einfach als geborener Feind der kirchlichen Obrigkeit abgetan werden kann.
Der hier vorgelegte Band – ermöglicht vor allem durch Textspenden der Theologen Wilhelm Achleitner (Österreich), Heinrich Missalla (1926-2018) und Thomas Ruster – erschließt im Hauptteil drei kritische Forschungsbeiträge zur Kriegskirchlichkeit 1914-1918. (Der älteste aufgenommene Forschungsbeitrag aus dem Jahr 1968 ist – leider – noch immer die klarste Darstellung zur ‚deutschen katholischen Kriegspredigt‘ im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.) Gemäß dem Konzept unseres friedensbewegten Editionsprojektes, das die Leserschaft zu eigenen Erkundigungen anhand von Primärquellen einlädt, fällt der dokumentarische Anteil sehr umfangreich aus. Obwohl es ganz überwiegend um Wortmeldungen der Bischöfe (und anderer Theologen) geht, wird im Titel des Werkes der eher soziologische Begriff „Katholizismus“ verwendet. Dies war zwingend. Denn ein ausgesprochen nationaler Komplex wie das Kriegskirchentum 1914-1918 kann im theologischen Sinn eben nicht als allgemeine – auf das Ganze schauende – „katholische Kirche“ (Credo) bezeichnet werden.3
In dieser Einleitung soll das in der Sammlung Dargebotene nicht chronologisch zusammengefasst oder kommentiert werden. Stattdessen skizziere ich nachfolgend – auch mit Blick auf die Fortführung der Reihe „Kirche & Weltkrieg“ – mögliche Felder und Fragestellungen einer katholischen Kirchengeschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg, die am pazifistischen Standort der vorkonstantinischen Christenheit festhält. Die hierbei besonders ins Licht gerückten Beobachtungen resultieren freilich vor allem aus der redaktionellen Arbeit am vorliegenden Band.
Nachfolgend stehen die Stimmen der Kirchenleitung ganz im Vordergrund, doch mit den Bischöfen kommt selbstredend noch nicht das ganze Feld der Kriegskirchlichkeit zum Vorschein: Die konkrete „pastorale“ Umsetzung der bischöflichen Weisungen vollzog sich vor Ort in Dekanaten und Pfarreien oder in übergreifenden Kriegs-Hilfswerken. Das Militärkirchenwesen 1914-1918, dem eine eigene Veröffentlichung in unserer Reihe zu widmen bleibt, war fester Bestandteil der staatlichen Kriegsapparatur – ebenso die Seelsorge in Lagern für Kriegsgefangene und ausländische Zwangsarbeiter. Die akademischen Theologen (im universitären Kontext wie die Bischöfe vom kriegführenden Staat besoldet), die geistlichen Volksschriftsteller und die Kirchenzeitungsmacher übten sich in einer inflationären Textproduktion zur Kriegsertüchtigung aller Gläubigen. (Prominente Ausnahmegestalten aus diesen Gruppen, die sich der gleichsam amtlichen Kriegstheologie entgegenstellten, sind nicht bekannt.) Ungezählte junge Theologiestudenten und Priesteramtskandidaten4, darunter z.B. der spätere Wehrmachtsgeistliche und Paderborner Erzbischof Lorenz Jaeger (1892-1975), erfuhren im kaiserlichen Heer eine Prägung für ihr ganzes Leben.
Als weitere Akteure der kirchlichen Kriegsassistenz sind die katholischen Orden zu nennen5, wobei sich – nicht nur mit Blick auf die im Zuge des Imperialismus geförderten jungen Missionskongregationen – die Frage aufdrängt, ob in nationenübergreifenden Gemeinschaften die Solidarität unter Ordensleuten aus miteinander verfeindeten Ländern noch aufrechterhalten wurde. Die deutschen Jesuiten befanden, ihr – eigentlich dem Papst gewidmeter – Gehorsam müsse nunmehr vordringlich der nationalen Sache gelten. Franziskanische Brüder und Schwestern begruben die letzten Erinnerungen an den Pazifismus ihres heiligen Gründers aus Assisi und verfielen – wie schon oft in der Geschichte ihrer Ordensfamilie – dem Militarismus. Die in den ultramontanen Jahrzehnten neu formierten Frauenorden konnten sich aufgrund ihrer krankenpflegerischen Kompetenzen als nützliche Stütze der Kriegsnation bewähren und erhielten Anerkennung als Heer stiller „Heldinnen“. Das weibliche Geschlecht saß mit im Kriegsboot. Die Steyler Missionsschwester Ethelberta durfte z.B. im katholischen Volksbuch „Sankt Michael“ ihr Gedicht „Fürs Vaterland“ in allen deutschsprachigen Bistümern verbreiten6:
O starker Gott im Himmel,
Schau auf mein Vaterland!
Die Feinde sich erheben,
In grimmer Wut entbrannt.
Sie wollen es zerschmettern,
Uns zwingen in ihr Joch,
Sie wollen uns vernichten,
Doch, Herr, du lebest noch.
In deinem Namen greifen
Wir stark zu unserm Schwert,
Den heil'gen Grund zu schirmen,
Der uns erhält und nährt.
Wir ziehn nicht zu erobern,
Uns treibt nicht eitle Ehr',
Nicht blanker Schätze willen
Ergreifen wir die Wehr.
Uns gilt es, nur zu schirmen,
Zu schützen bis zum Tod
Das Land, das deine Güte
Einst unsern Vätern bot.
Das Land, das unser höchstes
Und bestes Erdengut,
Für das wir freudig geben
Den letzten Tropfen Blut.
Und stehn der Feinde viele
Auch gegen uns im Feld,
Wir Deutschen fürchten niemand
Als Gott auf dieser Welt.
Eine Massenorganisation wie der Volksverein für das katholische Deutschland (Zentrale: Mönchengladbach) war schon vor 1914 eine staatspolitisch ‚wertvolle‘ Einrichtung zur Förderung von Kaisertreue und Vaterlandsliebe – sowie zur Abwehr der Sozialdemokratie – geworden (Medien- und Bildungsarbeit, deutsch-katholische Verlagsproduktionen7) und vertrieb übrigens auch noch nach 1918 eindeutig rechtslastiges Schrifttum. Andere Verbände – wie etwa die Kolping-Gesellenvereine8 – erhielten von ihren Prälaten eigene Weisungen zur Beteiligung am großen Kriegswerk. Ein reichhaltiges Kriegerschrifttum brachten die organisierten katholischen Akademiker hervor.9 Katholische Intellektuelle und Kulturschaffende (beiderlei Geschlechts) sahen die Stunde für gekommen, mit Kriegsvoten und Kriegsgehorsam einen günstigeren Platz unter dem Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit betreten zu können. (Die hierbei erstaunlich selbstbewusst entwickelten „Laientheologien“ hatten mit Jesus von Nazareth zumeist genauso wenig gemeinsam wie die bischöflichen Kriegsvoten.) Auf den politischen (Zentrums-)Katholizismus konnte das kriegführende Staatswesen erst recht zählen – zumindest bis zur Friedensresolution des Reichstags vom 19. Juli 1917 ohne Vorbehalte (die schwarze „Kölnische Volkszeitung“ übte sich in annexionistischer Propaganda). Bis hin zu den Oberhirten beteiligte sich der Katholizismus an der moralischen Erpressung von Kriegsanleihe-Zeichnungen zur Finanzierung der Militärmaschine des Kaiserreiches. (Somit trägt das von den ökonomisch gut abgesicherten Bischöfen geleitete Kirchentum – rückblickend betrachtet – auch eine erhebliche Mitverantwortung bezogen auf jenen Komplex, der zur faktischen Enteignung kleiner und mittlerer Vermögen führte.)
Am Vorabend des „Menschenschlachthauses 1914-1918“ war die deutsche katholische Kirche (wie die autoritäre Kirchenzentrale in Rom) mit ihrem Lieblingsgegenstand – sich selbst – beschäftigt: „Die Sorge um die Sicherung des Friedens war für den deutschen Katholizismus vor dem Ersten Weltkrieg, auch noch nach der Agadir-Krise von 1911, als die Kriegsgefahr immer greifbarer wurde, praktisch kein Thema. Gewerkschaftsstreit, Zentrumsstreit, Literaturstreit und Modernismus waren die Themen, die die deutschen Katholiken bewegten und sie vor immer neue innere Zerreißproben stellten. Dahinter verbarg sich eine tiefgreifende Identitätskrise, die durch eine sich immer stärker säkularisierende Gesellschaft hervorgerufen worden war. Die alten Antworten der katholischen Tradition konnten die neu aufbrechenden Fragen der Zeit nicht mehr beantworten, und die, die wie die Theologen des Reformkatholizismus eine Vermittlung versuchten, gerieten allzu schnell in den Verdacht der Häresie. Zwar wuchs die Einsicht, daß sich der Katholizismus von innen heraus modernisieren müsse, um auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit dem Zeitgeist konkurrieren zu können, doch gelang es dem Katholizismus dabei selten, die Beschäftigung mit sich selbst zu überwinden und sich den Problemen der Welt zuzuwenden.“ (August H. Leugers-Scherzberg10)
Der Kriegsbeginn 1914 bringt eine Erlösung aus Selbstzweifel und Zerrissenheit. Die von der vorchristlichen Religionsgeschichte übernommene kultische Dienstleistung für den kriegführenden Staat gehört gleichsam zur „DNA“ des konstantinischen Kirchentums. Hier muss sich die Priesterschaft nicht erst neu erfinden. Dem ultramontanen Katholizismus des 19. Jahrhunderts war der Fetisch „Nation“ noch durchaus suspekt gewesen, doch seit etwa 1900 gehört das „Vaterland“ auch überall in katholischen Landschaften zu den Heiligtümern. Es stand dann 1914-1918 die dem Staat an sich ferner stehende katholische Kirche in Deutschland „den protestantischen Kirchen in der Unterstützung der Kriegsanstrengungen keineswegs nach […]. Die obrigkeitliche Tradition der Kirche hätte freilich von vornherein einen anderen Kurs als jenen der Unterstützung der Reichsleitung nicht zugelassen.“11
Vor dem Ausrücken strömen junge Männer wie nie zuvor an die Altäre. Die Kirchen deuten die „Zeit der Schrecken“ als eine göttliche Offenbarung, welche die Menschen zurück zu Gott führt und vor allem in die Gotteshäuser.12 Der Kölner Kardinal Felix von Hartmann, ein Münsterländer, versteigt sich in seinem Fastenhirtenbrief 1915 zu der Aussage: „Wieviel Segen hat dieser Krieg nicht schon gebracht, und wie viel soll er noch bringen! Der Ruf unseres Kaisers […] zu einem Kampf gegen eine Welt von Feinden – zu einem Kampf, in den er reinen Gewissens zog, der Gerechtigkeit unserer Sache vor Gott gewiß: war dieser Ruf nicht ein Ruf der göttlichen Vorsehung für uns alle [...]. Unsere Krieger sind in den blutigen Kampf gezogen: Mit Gott, für König und Vaterland!“13 Der national-konservative bayerische Bischof Michael Faulhaber betrachtet die Kanonen gar als „Sprachrohre der rufenden Gnade“! Liest man die Berichte über kirchliche Soldatenabschiede mit obligatem Sakramenten-Empfang, Wallfahrten zur Muttergottes, Bittandachten und andere Kriegsgottesdienste, so scheinen Rechnungen unter der Überschrift „Not lehrt – wieder – beten“ zumindest in der Anfangszeit des Krieges aufgegangen zu sein. Über Nacht hat ohne eigenes Zutun eine Renaissance des Religiösen eingesetzt. Die Gunst der Stunde gilt es zu nutzen. Die vordringliche Frage lautet hierbei nicht, „was treibet Christum?“, sondern: „Was nützt der Kirche?“
Ein Außerirdischer, der unvoreingenommen die daraus resultierenden Phänomene 1914-1918 sichtet, wird sie der allgemeinen Religionsgeschichte zuordnen und als – ziemlich gewöhnlichen – Kriegskultus bewerten. Ein solcher Zugang war der kircheneigenen Geschichtsschreibung in der Vergangenheit aber fast immer verschlossen, weshalb die Forschungsdefizite beträchtlich sind. Das hat im engeren Sinn des Wortes „dogmatische Ursachen“: Besonders die Doktrin des 1. Vatikanischen Konzils begünstigte bei Theologen und vielen Gläubigen die irrige Anschauung, die Kirche selbst sei das schon angebrochene „Reich Gottes“ bzw. die „Gottesherrschaft“. In seinen Funktionen der Angstbetäubung tritt sogar das kirchliche Gefüge selbst an die Stelle Gottes, auch bei einem entsprechend sozialisierten katholischen Geschichtsforscher. Aus systemischen Gründen muss sodann die Historie der Kirche apologetisch nachgezeichnet werden, zuvorderst mit Blick auf die Leitungsebene. Sogar ein militaristischer Kirchenfürst musste, wenn Siegesmeldungen und Volksbegeisterung ausblieben, seine Predigt umstellen. Der fromme Apologet wird daraus die triumphierende Schlussfolgerung ziehen, dass trotz „mancher Irrwege“ (etc.) am Ende doch immer mit göttlichem Beistand die Wahrheit obsiegt. (Im Grunde seines Herzens sei der vormals kriegsbegeisterte Kirchenmann stets ein Protektor der katholischen Friedenssache gewesen.) – Das Ganze steht trotz des Aufwandes freilich auf tönernen Füßen. Denn einem (selbst-)gemachten ‚Gott‘ kann niemand vertrauen, weil er ein Produkt der Angst ist und unentwegt restauriert werden muss. – Schon vordergründig bleibt mit dem Dominikaner Franziskus Maria Stratmann festzuhalten: „Wer sich in der Psyche katholischer und nichtkatholischer Gebildeter und Nichtgebildeter auskennt, weiß, wie niederdrückend es auf sie wirkt, wenn alles und jedes, was in der Kirche vorgekommen ist und vorkommt, apologetisch zu rechtfertigen gesucht wird“.14
Beispielsweise erfährt das Publikum 1994 in einem Beitrag „Die [deutsche] katholische Kirche im Ersten Weltkrieg“ von Heinz Hürten mannigfache Beruhigungen: „Von einer ‚heilsgeschichtlichen Aufwertung des Zeitgeschehens‘ findet sich in den Quellen katholischer Provenienz nicht eben viel“; die erschreckenden Forschungsergebnisse „hinsichtlich der evangelischen Kriegspredigt“ dürften – jedenfalls „nach den bisherigen Untersuchungen“ – auf die katholische nicht übertragen werden.15 Was aber sagt solche Beschwichtigung aus angesichts des Vergleichs mit einem nationalprotestantischen Kirchenkomplex, dessen ‚oberster Bischof‘ der Kriegskaiser höchstpersönlich war?
In den Jahren 2014 bis 2018 hätten die – in der Regel komfortabel ausgestatteten – Bistumsarchive die für ihre jeweilige Diözese ein Jahrhundert zuvor erlassenen Kriegshirtenworte (nebst anderen regionalen Zeugnissen der Kriegstheologie) via Internet in einem Dossier allgemein zugänglich machen können.16 Durch ein solches konzertiertes, arbeitsteiliges Vorgehen aller Bistümer könnte insgesamt für die kirchengeschichtliche Forschung zu beiden Weltkriegen ohne sehr großen Aufwand eine solide Quellenbasis erschlossen werden.
Für Österreich hat Wilhelm Achleitner eine vollständige – allerdings bislang nicht edierte – Sammlung zu den Hirtenbriefen 1914-1918 angelegt und 1997 eine theologische Studie zu diesem Fundus veröffentlicht.17 Für Deutschland gibt es nach über 100 Jahren noch immer keine systematische Sichtung und Darstellung aller bischöflichen Kriegsvoten aus der Zeit des Ersten Weltkrieges.18 Zumindest die Fastenhirtenbriefe 1915-1919 sind für Forschende allerdings in einer zeitgenössischen Reihe als Ganzes greifbar.19 Der vorliegende Band enthält im Quellenteil immerhin die einschlägigen gemeinsamen Hirtenschreiben und eine stattliche Auswahl von „Bischofsworten“ aus dem am meisten verbreiteten Frömmigkeitsbuch. – Das Sichten der Primärquellen bleibt unerlässlich. Der gemeinsame Hirtenbrief der bayerischen Bischöfe vom 17. Dezember 1918 entkräftet z.B. ohne komplizierte Winkelzüge das Gerücht, die katholische Kirchenobrigkeit hätte der rechtsextremistischen „Dolchstoßlegende“ nicht zugearbeitet: „Einer Welt von Feinden gegenüber hielt Deutschland stand bis zum letzten Augenblicke, dann konnte es nicht mehr. Es senkte das Schwert und muß sich nun gefallen lassen, als besiegt zu gelten, was es doch nicht ist. […] Laßt es den heimgekehrten Kriegern fühlen, daß sie in unseren Augen Sieger sind“ (Quellenteil →B.4).20
Die inhaltlichen Befunde sind insgesamt erschütternd. Endlos viele Passagen aus den dargebotenen bischöflichen Quellen wirken heute wie bösartige Parodien auf die christliche Religion, ersonnen von Feinden (!) der Kirche. Nicht nur in zu vernachlässigenden Ausnahmefällen wird einem „Heiligen Krieg“21 (von Christen gegen Christen) bzw. einer „Heiligkeit des Krieges“ das Wort geredet, so dass wir sachgerecht in vielen Fällen doch von einem „deutsch-katholischen Dschihadismus“ sprechen müssen. Christsein und Soldatenberuf bzw. Taufversprechen und Fahneneid werden als Entsprechungen abgehandelt (z.B. Quellenteil →C.9; C. 24; C. 27; C.37). Gerade bei manchen Bischöfen sind die männerbündischen Schnittstellen von Klerikertum und Militär schwer zu übersehen. Irgendeine theologische Substanz, die die christliche Gemeinde nachhaltig gegen die Kriegsreligion immunisieren könnte, kommt nicht zum Vorschein. (Den Bischof von Limburg peinigte noch eine ganz besondere Sorge: Meßweine von „akatholischen und jüdischen Firmen“ könnten vielleicht nicht „Garantien für Lieferung einer magna valida et digna bieten“, also Wert und Würdigkeit der Messe beschädigen.22)
Zu Recht stellen alle Autoren der Beiträge in unserer zweiten Abteilung indirekt oder ausdrücklich die Frage, welche Folgerungen sich in dogmatischer Hinsicht aus den Kriegsvoten ergeben. Denn die Hirten beanspruchten für sich Teilhabe an einem ‚besonderen Lehramt‘23, mit dem das Kirchenschiff trotz aller Wirrnisse der Zeiten den richtigen Kurs nicht verlieren könne: „In so schicksalsschwerer Stunde […] halten wir es für unsere Pflicht, laut unsere Stimme zu erheben und euch, geliebte Diözesanen, durch die Stürme und Nebel hindurch Weg und Ziel zu weisen.“ (Gemeinsamer Allerheiligenhirtenbrief 1917; Quellenteil →B.3). Gerade die gemäßigte bzw. anti-ultramontane Theologie der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg betrachtete nicht nur den Bischof von Rom als Garanten der Wahrheit – sondern das gesamte Kollegium aller Ortsbischöfe (eine keineswegs minder problematische Konzeption von „Unfehlbarkeit“). Wir können aber mit Gewissheit sagen, dass es auf eine unvorstellbare Gotteslästerung hinausläuft, für die Kriegshirtenworte 1914-1918 der deutschen und österreichischen Bischöfe einen besonderen Beistand des „Heiligen Geistes“ zu reklamieren.
Thomas Ruster zieht aus den Quellenbefunden das Fazit: „Die Gesamtheit der Gläubigen ist damals im Glauben fehlgegangen, es ist ihr der übernatürliche Glaubenssinn abhanden gekommen, und zwar von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien – und insbesondere den Theologen.“24 Die Kirche ist nicht nur nicht das „Reich Gottes“, sondern ein mögliches Zeichen des Heiles, das unter Anleitung von Bischöfen (oder Synoden) bis in den schlimmsten Abgrund hinein irregehen kann. Dies ist keine spekulative Überlegung, sondern ein empirischer Sachverhalt und führt zu einer Fragestellung, die Dogmatiker und Kirchenhistoriker gleichermaßen aufrütteln sollte: Unter welchen Bedingungen wird es möglich, dass die Gemeinschaft der Getauften der Botschaft Jesu verbunden bleibt?
Hinsichtlich der geistlichen Kriegsbeihilfe konnte das deutsche Kaiserreich gleichermaßen auf den ‚neupreußischen‘ und süddeutschen Katholizismus zählen: „Der Sommer 1914 fand die Mehrheit der deutschen Katholiken bereit zum Krieg. Daß der Beginn der militärischen Auseinandersetzungen auch bei ihnen zu einem Ausbruch überschäumender nationaler Euphorie führte, war nach der vorausgegangenen Aussöhnung mit dem Nationalstaat, der von der katholischen Zentrumspartei zunächst bedingt, dann nahezu vorbehaltlos geförderten Hochrüstung und der auf öffentlichen Veranstaltungen immer wieder abgegebenen Beteuerung, sich in der Liebe zu Fürst und Vaterland von niemandem übertreffen zu lassen, alles andere als überraschend. Vielen erschien der Krieg als Stunde der Bewährung, die den Katholiken endgültig die Befreiung aus der nationalen Außenseiterrolle bescheren sollte. In Bayern lag zudem eine kritische Distanz zu der staatlichen Kriegspolitik aufgrund der traditionellen Anhänglichkeit an das katholische Herrscherhaus der Wittelsbacher vollständig außerhalb des Vorstellungsvermögens nicht nur des katholischen Volkes, sondern auch der höheren Geistlichkeit. Die Allianz zwischen Thron und Altar blieb hier bis in die letzten Kriegstage unangetastet bestehen.“25
Für den österreichischen Episkopat wird man analoge Beobachtungen hinsichtlich der Staatstreue berücksichtigen müssen.26 Im Einzelfall zeigten übrigens bayerische Hirten (Bettinger, Faulhaber) weniger Verständnis für die Notwendigkeit einer übernationalen, ‚brüderlichen‘ Kommunikation mit dem belgischen Oberhirten Désiré-Félicien-François-Joseph Kardinal Mercier als ein preußisch-kaisertreuer ‚Staatsbischof‘ wie der Kölner Kardinal Hartmann.27
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert konnte der ultramontane Katholizismus in Deutschland noch erstaunliche antimilitaristische Potenzen unter Beweis stellen28, während die Kritiker des I. Vatikanums und die ‚Modernen‘ sich zunehmend der Staatsdoktrin fügten – sodann insbesondere unter den Bedrückungen der Theologenpolizei des um Zivilisationsfragen wenig bekümmerten Papstes Pius X.29 (Amtszeit 1903-1914) in ‚nationalen Identitäten‘ Zuflucht suchten. Auch Rom hat mit dazu beigetragen, dass ‚Kriegs-Traktate‘ deutsch-katholischer Moraltheologen zu einem vergifteten Breipudding werden konnten.
Am Ende aber saßen die Ultramontanen und ‚Modernen‘ – jeweils mit denkbar wenigen Ausnahmen – im gemeinsamen Boot des ‚Menschenschlachthauses 1914-1918‘. Beide assistierten einmütig dem deutschen Kriegsstaat30, wobei vermutlich die Haltung zum „Interkonfessionalismus“ zu den wenigen verbliebenen Kriterien einer Unterscheidung der – in sich keineswegs gleichförmigen – Lager von ‚Konservativen‘ und ‚Reformern‘ gehörte. Die Analyse dieses ultramontan-modernen Schulterschlusses gehört in einer als Gesamtschau konzipierten deutschen Kirchengeschichtsschreibung zu beiden Weltkriegen zu den echten Herausforderungen. Ihre „Unschuld“ hat keine der beiden Parteien bewahrt. Insbesondere konnten sich die kriegsfreundlichen ‚Modernen‘ allzu oft in schlimmen Dingen auf den ‚Aristotelismus‘31 der Ultramontanen beziehen. Ein äußerst wendiger Kirchenmann wie der Rottenburger Bischof Paul Wilhelm von Keppler32 (1899-1926), der sich im Bedarfsfall als entschiedener ‚Antimodernist‘ – sodann als nationalistischer Kriegsprediger – profilierte, gehört mit seinen Rekursen auf Antisemiten wie Paul de Lagarde33 und Julius Langbehn in Wirklichkeit zu den Türöffnern für einen ‚völkischen Modernismus‘ von Katholiken. Im ersten, irdischen Stockwerk des neuscholastischen Weltverständnisses, welches unterhalb von strikt „übernatürlichen Glaubensgeheimnissen“ angesiedelt ist, kann man – je nach ‚Zeitgeist‘ – eben alles Mögliche hineinpacken und als ‚gottgewollte natürliche Ordnung‘ etc. ausgeben.34
Michael v. Faulhabers vielzitiertes Diktum über das „Schulbeispiel eines gerechten Krieges“35 steht mitnichten einsam da, denn schon das Gemeinsame Hirtenschreiben der deutschen Bischöfe vom 13.12.1914 sagt der Sache nach nichts anderes: „Wir sind unschuldig am Ausbruch des Krieges; er ist uns aufgezwungen worden, das können wir vor Gott und der Welt bezeugen.“ (Quellenteil →B.1). In diesem „Wir“ identifizierten sich die Bischöfe förmlich mit deutschem ‚Volk‘, Staat oder Nation (um sodann auch „eine ihrem ganzen Wesen nach unchristliche, undeutsche und ungesunde Überkultur“ anzuprangern). Möglicherweise waren sie mit allen Komplikationen der christologischen ‚Zweinaturen‘-Lehre vertraut. Die scholastischen Diskurse zum sogenannten ‚Gerechten Krieg‘, mit deren Geltung 1914-1918 viele Millionen Menschenleben hätten gerettet werden können, kannten sie wohl kaum. Erst der Dominikaner Franziskus Maria Stratmann hat 1924 wieder klar herausgearbeitet, was die kirchliche Lehrtradition „Bellum justum“ schon 1914 an klaren Kriterien vorgab.36 Zutreffend bemerkt Martin Lätzel: „Nimmt man die moderne Definition des gerechten Krieges zur Hand, so hatte die [deutsche] Kirche der damaligen Zeit keinen der fünf Gründe auf ihrer Seite.“37
Doch katholische Intellektuelle, Zentrumspolitiker, Theologen und Bischöfe übernahmen ja nicht nur die zur Mobilisierung vom Staat konstruierte Version eines Verteidigungskrieges gegen Angreifer, sondern beteiligten sich an Eroberungsvoten (deutsch-katholischer Annexionismus zumindest bis 1917), beschworen wie Max Scheler passend zum tagesaktuellen Geschehen eine göttliche Mission des deutschen Wesens (so als habe Bischof Ketteler seine Schrift über den sogenannten „Beruf Preußens“38 von 1867 nie geschrieben) und forderten – z.T. bis zum bitteren Ende – einen kompromisslosen „Siegfrieden“.
All diese Akteure hätten sich als Abgefallene betrachten müssen, denn der – an dieser Stelle ausnahmsweise menschenfreundliche – Syllabus vom 8. Dezember 1864 mit einer Zusammenstellung der Verurteilungen durch Pius IX. wies unter Punkt 39 folgende Anschauung doch als Irrlehre aus: „Der Staat ist Ursprung und Quelle aller Rechte und verfügt daher über ein unumschränktes Recht.“39 Eben solcher Unrechtskodex war die Doktrin des preußisch dominierten Kaiserreiches. Passend zur Anschauung des Staatsphilosophen Hegel, der dem Krieg eine höhere Bedeutung zur Erhaltung der „sittlichen Gesundheit der Völker“ (!) zuschrieb, erklärte Helmuth von Moltke 1880, es sei „der Krieg ein Element in Gottes Weltordnung“.40 Fürst Bismarck befand 1891 im Einklang mit seiner „Blut und Eisen“-Weltanschauung: „Der Krieg ist ein Naturgesetz, er ist der Kampf um Dasein in allgemeinerer Form“.41 Folgerichtig befahl Wilhelm II. schon am 27. Juli 1900 seinen imperialistischen Chinakriegern: „Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen. Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht.“42
Solche Voten mag man mit Aristoteles, dem Philosophen einer antiken Sklavenhaltergesellschaft und Erzieher des ‚Großen Alexanders‘, gut zusammendenken können. Mit Jesus von Nazareth aber nie und nimmer. Bellizistische Irrlehren der ‚Modernen‘, wie sie etwa der katholische Tübinger Moraltheologe Otto Schilling43 1917 und dann wieder ausgerechnet 1934 vorgetragen hat, zogen aber nie ein Lehrbeanstandungsverfahren nach sich. Diese theologische „Kultur der Gleichgültigkeit“ bei Fragen, die das Lebensrecht von zig Millionen Menschen betreffen, sagt sehr viel aus über eine bestimmte Form der „christlichen Gotteswissenschaften“. (Je nachdem, was der die deutsch-katholischen Professoren besoldende deutsche Staat wünscht, fallen die Ergebnisse der ‚Kriegsethik‘ aus.)
Doch wir müssen noch genauer hinschauen. In seiner Schrift „Der Krieg im Lichte des Evangeliums“ (1915) greift Bischof Michael von Faulhaber die Sprachregelungen der deutsch-preußischen Staatsdoktrin auf44: Der Krieg diene dazu, „ein notwendiges Lebensrecht völkischen Daseins zu retten“. Der Bamberger Bischof Dr. Jakobus von Hauck behauptet in einer Predigt vom 10. Januar 1915, „unsere Heere im Felde“ kämpften „hart und schwer […] für deutsche Ehre, für die heiligsten Güter, ja für die Existenz unserer Nation“ (Quellenteil →C.24). Dem Kölner Kardinal Felix von Hartmann versichert Kaiser Wilhelm II. dann im August 1916: „Dem auf den Schlachtfeldern wie in der Heimat unerschütterlich im Kampfe um seine Existenz und Freiheit durchhaltenden deutschen Volke wird Gottes Gerechtigkeit den Sieg verleihen.“ (Quellenteil →B.7)
Auch der Jesuit Peter Lippert bezieht 1915 den Kampf der „deutschen Heere im ganzen und insbesondere ihre Führer“ auf „die glückliche Sicherung unserer staatlichen Existenz, unserer notwendigen Lebensbedingungen“; das deutsche Volk habe „die Pflicht, sich zu erhalten, die zu seiner Existenz notwendigen Bedingungen zu schaffen, seine Talente und Fähigkeiten auszuwerten“ (Quellenteil →E.7). Nach 1933 werden wieder Ausführungen zu ‚völkischem Daseinsrecht‘ und ‚völkischer Existenzsicherung‘ in katholischen Traktaten von Gelehrten und Bischöfen auftauchen.45 Es wäre an der Zeit, dass bezogen auf diesen ganzen Komplex der mit Waffen betriebenen ‚Daseinssorge‘ der Nation eine gründliche ‚Geschichte der deutsch-katholischen Moraltheologie‘ verfasst wird.
Im protestantischen Bereich kommt schon während des Ersten Weltkrieges (nicht erst 1931/33) die Möglichkeit eines „deutsch-christlichen Kirchentums“ – auf germanischer ‚Rassengrundlage‘, ohne Juden bzw. ‚Judenchristen‘, ohne Jesu Botschaft und ohne länderübergreifende Ökumene – definitiv zum Vorschein.46 Wir dürfen aber nicht verschweigen, dass ein Jahrhundert nach den Befreiungskriegen der sogenannte „Deutsche Gott“ (Ernst Moritz Arndt) eben auch von katholischen Autor*innen beschworen wird.47 Der Beuroner Benediktiner Sebastian von Oer nimmt im Rahmen seiner Ermutigung zum ‚heiligen Kampf‘ Bezug auf den antinapoleonischen Dichter Theodor Körner, demzufolge „das höchste Heil, das letzte, … im Schwerte“ liegt.48 Maria Weinand veröffentlicht im Verlag des „Volksvereins für das katholische Deutschland“ den Band „Gedichte einer Deutschen“ (1916) mit einer nationalistischen Kriegstheologie (‚Kreuzweg‘ der Deutschen), die wirklich jede Scham vermissen läßt und doch wohl nur ein Exempel unter Tausenden ist. Im Ersten Weltkrieg erlernt auch die südwestfälische Rechtskatholikin Maria Kahle49 jenes lyrische Deutschgottestum, mit dem sie – wiederum verlegt u.a. vom Mönchengladbacher „Volksverein“ – während der ganzen Weimarer Republik als Deutschordens-Ritterin und dann im Auslandspropagandadienst der Nationalsozialisten missionieren geht. Ihr ‚Credo‘ schon 1923: „Deutscher Gott, Du Gott der Freien, / Straffe deines Volkes Rücken, / Laß die Bürde seines Leidens / Ihm den graden Sinn nicht bücken. / Eh wir denn zu Knechten werden, / Die beim Feind in Demut flehen, / Laß uns, stolzer Gott der Freien, / Laß uns lieber untergehen.“
Gerade auch gegen Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966), der als Liebhaber der Bergpredigt in Weimarer Zeit großen Einfluss auf katholische Pazifisten ausüben wird, hat der Soziologe Max Weber im Vortrag „Politik als Beruf“ 1919 seine künstliche, den Verfechtern der Staatsdoktrin sehr genehme Unterscheidung von „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“ konstruiert.50 Die Überzeugung, das Evangelium könne nicht auf den privaten Bereich begrenzt und im Miteinander der Völker oder Staaten als gegenstandslos betrachtet werden, leitete hingegen schon im 19. Jahrhundert so unterschiedliche christliche Theologen wie Johann Baptist von Hirscher51 (1788-1865) oder Pastor Otto Umfrid52 (1857-1920). Es war sodann Papst Benedikt XV. ein zentrales Anliegen „die Betonung der ‚allgemeinen Verpflichtung, daß das ganze menschliche Tun, das private wie das öffentliche, das persönliche wie das gesellschaftliche, mit dem göttlichen Gesetz in Einklang stehe‘, und daß es ‚für die Regierungen und die Völker heilige Pflicht sei, in ihrem politischen Leben nach Innen und nach Außen der Lehre Christi als Wegweiser zu folgen‘, eine abermalige Ablehnung der weitverbreiteten Theorie und Praxis, daß im politischen Leben eine andere Moral gelten dürfe und müsse als das Evangelium Christi.“53
Im Jahr 1915 hatte aber der Kriegstheologe Bischof Michael Faulhaber eine im vorliegenden Band vollständig dokumentierte Schrift „Der Krieg im Lichte des Evangeliums“ vorgelegt, die nichts weniger beinhaltet als eine Zensur der Botschaft Jesu im Dienste des vom Staat befohlenen Krieges (Quellenteil →D). Zu den harmlosesten Stellen dieses Werkes gehört noch die dreiste Behauptung: „War es in der Absicht des Gesalbten gelegen, auch den Krieg als Unrecht im neuen Reiche [Gottes] zu bezeichnen, dann wäre das wohl in diesem Zusammenhang mit einem souveränen ,Ich aber sage euch‘ zum Ausdruck gekommen.“ Die Gläubigen nehmen an, die Bischöfe würden getreu die Heilige Schrift auslegen, und erhalten stattdessen eine „Bibel“, in der die Bergpredigt mit Kriegstinte durchgestrichen worden ist.
Trotz Todesdrohung weigerte sich die Kirche der ersten drei Jahrhunderte, dem staatlichen Kaiserkult auch nur ein einziges Weihrauchkorn zu spenden. Hernach wird jedoch das Bibelwort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ siebzehn Jahrhunderte lang bis hin zum genauen Gegenteil seiner ursprünglichen Bedeutung verdreht (was im 20. Jahrhundert erst ein jüdischen Theologe wie Pinchas Lapide eindrücklich zu erhellen wusste). Die deutschen Bischöfe des Ersten Weltkrieges versichern der „geheiligten Person des Kaisers“, die ihnen ein stattliches ‚Beamtengehalt‘ gewährt, in Erwartung reichhaltiger Liebesgaben bis hin zum bitteren Ende ihre unverbrüchliche Devotion.54 Wiederum überschlägt sich besonders Bischof M. von Faulhaber: Der Kaiser sei „gottbestellter Führer“, „starke Herrschergestalt mit dem goldenen Herrschergewissen“; das „Bekenntnis zum gottgesetzten Führer“ sei „Geist vom Geiste Jesu“ und das „lebenslängliche Bekenntnis zu den Kronrechten des Kaisers“ sei „Nachfolge Jesu“!55 Dieses traurige Kapitel, in dem es an weiteren Blasphemien wahrlich nicht mangelt, entlarvt sich schließlich selbst als absurdes Theater einer in „oben“ und „unten“ gespaltenen Nationalkirche (die Fortsetzung erfolgt im Zweiten Weltkrieg). Freilich konnten die deutschen Hirten sich hier doch selektiv auf Rom berufen, denn der im letzten Abschnitt bereits genannte Syllabus vom 8. Dezember 1864 verwarf z.B. folgenden Standpunkt: „63. Man kann rechtmäßigen Herrschern den Gehorsam verweigern, ja auch gegen sie aufstehen.“
Wir verzichten an dieser Stelle auf Beispiele für das riesige, im Quellenteil reichhaltig dokumentierte Feld der bellizistischen Opfertheologie, in welcher die auf Staatsbefehl hin erfolgte Ermordung des gewaltfreien Jesus paradoxer Weise zur Beförderung des staatlichen Militärapparates und zur Abwehr eines durch die maßlosen Leiden begünstigten Widerstands gegen den Krieg dient. Flammenwerfer und Granaten wurden 1914-1918 bekanntlich zu ‚Werkzeugen der Liebe‘, das Kreuz zur Waffe. Kein Christenmensch durfte sich untröstlich zeigen, wozu der Breslauer Bischof Adolf von Bertram ausführte: „Sollte der eine oder andere sein Leben lassen müssen, nun, so weiß er, es war Gottes heiliger Wille […] Halten Sie dieses Kreuzesbanner stets vor Augen. In diesem Zeichen werden auch wir siegen.“ (Quellenteil →C.6)
Das passende Urteil über den ganzen Komplex hat der zwanzigjährige Soldat Theodor Samson in einem Brief vom 20. Dezember 1915 an seinen Heimatpfarrer gesprochen: „Lieber Herr Pastor, wenn Sie jetzt gern wissen wollen, wie mir der Krieg hier gefällt, dann muß ich aufrichtig sagen, er gefällt mir nicht. Es ist gar kein Krieg mehr, sondern nur ein Morden. Als ich hier mal an einem Kruzifix vorbei kam, mußte ich mich von Herzen schämen.“56
Der Missbrauch des Kreuzes-Symbol zugunsten des totbringenden Kriegshandwerks mündet schließlich in der erstaunlichen Lehre, der Soldatentod sei gleichsam dem Martyrium verwandt und stehe unter entsprechenden Heilsverheißungen.57 Diese Anschauung kommt in Bischofswort und religiösem Schrifttum zum Tragen (z.B. Quellenteil →A.4; E.6); der Kölner Kardinal von Hartmann versichert etwa, es sei den im Dienst des Vaterlandes umgekommenen Militärangehörigen „die Siegespalme ewigen Lohnes zugefallen“58. Sehr nachdrücklich wird sie im Ersten Weltkrieg von zwei ‚modernen Theologen‘ vertreten, zunächst vom Paderborner Alttestamentler Norbert Peters59. Der Breslauer Dogmatiker Joseph Pohle schreibt gar ein eigenständiges Werk „Soldatentod und Märtyrertod. Eine neue Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung der Lehre des hl. Thomas von Aquin“.60 (Wirkungsgeschichtlich kommt diese dogmatische Konstruktion während des Hitlerkrieges erneut zum Tragen z.B. beim münsterischen Bischof Clemens August Graf von Galen, der – wie schon Anfang 1943 – in seinem Fastenhirtenbrief vom 1. Februar 1944 vorträgt: „Es steht ja nach der wohlbegründeten Lehre des hl. Kirchenlehrers Thomas von Aquin der Soldatentod des gläubigen Christen in Wert und Würde ganz nahe dem Martertod um des Glaubens willen, der dem Blutzeugen Christi sogleich den Eintritt in die ewige Seligkeit öffnet.“61) – Schon in Weimarer Zeit empfand der Dominikaner Franziskus Maria Stratmann die Notwendigkeit einer Klarstellung. Unter Bezugnahme auf Alfred Vanderpol62 (1854-1915) aus der frühen katholischen Friedensbewegung in Frankreich trug er vor, Kaiser Phokas († 610) habe von den Bischöfen verlangt, „die im Kriege gefallenen Soldaten den Märtyrern gleichzustellen“.63 Die Episkopen aber hätten sich dem Ansinnen verweigert unter Berufung auf den heiligen Basilius, der wegen der „mit Blut befleckten Hände“ die Soldaten zumindest für drei Jahre von der Kommunion ferngehalten wissen wollte.
Zur kirchlichen Assistenz im Dienste des Kriegsstaates bemerkt Wolfgang J. Mommsen: „Für die Katholiken galt […], dass der Krieg nicht zuletzt auch zur Verteidigung der katholischen Sache geführt werde, ging es doch um die Verteidigung der Donaumonarchie, die weithin als Vormacht der katholischen Welt angesehen wurde. Das Zusammengehen der beiden Kaiserreiche wurde als Wiederaufnahme der christlichgermanischen Tradition des Mittelalters allgemein begrüßt. Von großer Bedeutung aber war auch hier das Motiv, dass der katholische Volksteil durch nationale Bewährung in dem ausbrechenden Kriege den Pariahstatus im Kaiserreich, zu welcher dieser während des Kulturkampfs herabgedrückt worden war und dessen Spuren immer noch nicht voll getilgt waren, endgültig würde abschütteln können.“64
Mehr als angemessen ist es, diesen auf sich selbst fixierten deutschkatholischen Komplex als Nationalkirchentum ohne ausgeprägten weltkirchlichen Sinn zu identifizieren. Man verteidigte – bei selektivem, vordergründigem Bekenntnis zum Papsttum65 – durch Kriegstheologie und praktische Kriegsbeihilfe die Interessen des eigenen Konfessionskollektivs. Solche nationalkirchliche „Interessenspolitik“ konnte zum Schlimmsten führen, wo sie sich von einer denkbar aggressiven Kriegsdoktrin den ultimativen Erfolg versprach. Schon Max Scheler erwartete in seinem Werk „Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg“, dass „jeder Sieg Deutschlands, der eine etwaige Expansion des Deutschen Reiches in irgendeine Richtung zur Folge hätte, die katholischen Bevölkerungsteile in die Majorität gegenüber den evangelischen bringen [muss] – unter gleichzeitiger Schwächung der evangelischen Solidarität mit England. Für eine eventuelle Annexion Belgiens ist dies ohne weiteres offensichtlich. Andererseits müsste ein entschiedener Sieg der Zentralmächte das Gewicht der germanischen, tieferen, innigeren und religiöseren Form des Katholizismus erheblich steigern.“66
Die Folgen einer so abgründigen nationalen Kirchenphilosophie kann man z.B. am Beispiel der annexionistischen Pläne für Belgien aufzeigen. Die deutschen Katholiken – und gerade auch ein Matthias Erzberger vor seiner Bekehrung – lassen sich hier vom Staat einspannen, auch weil sie sich von deutscher Oberherrschaft über das kleine ‚katholische‘ Land konfessionellen Eigengewinn erhoffen! Schäbiger geht es wirklich nicht.67
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