Die leeren Tage, die kamen, zogen sich zäh in die Länge. Sie waren wie leblos, jenseits von Zeit und Hoffnung. Es waren vier Jahre nach Beginn der Corona–Krise vergangen; eine Infektionswelle folgte der anderen. Ein Lockdown dem nächsten. Eine Virusmutation jagte den Vorgänger. Die Impfstoffe rannten dem flexiblen Virus hinterher wie der Hase dem Igel. Ich bemerkte langsam eine Veränderung bei mir, denn ich blickte, anders als zuvor, auf das düstere und klägliche Leben der Menschen auf. Nichts war mehr in der Lage, mich zu verblüffen oder mich zu ängstigen. Die Stunden des Tages und der Nacht waren mit Apathie und mit dem Warten auf die Geschehnisse des Schicksals erfüllt. Meine Mutter weinte, mein Vater brüllte und ich saß und schwieg.
Vaters Ein–Mann-Transportunternehmen war längst pleite. Die Staatshilfen hatten nur für kurze Zeit ausgereicht. Danach kamen die Wirtschaftsdepression, eine Hyperinflation und eine große Pleitewelle. Es folgten verzweifelte Versuche, das Finanzsystem der Welt zu retten – vergebens. Regierungen handelten panisch und kopflos. Angst regierte die Welt.
Ich saß stundenlang vor dem Fenster, beobachtete den ausgehungerten Hund, den Straßenstaub und zerbröckelnde Zäune. Die Menschen hier lebten bejammernswert. Sechzehn Jahre und nichts Gutes, dachte ich. Sechzehn Jahre und was nun?
Magerer Hund, Staub und Zäune, zerbröckelnde Zäune.
Den Blicken des Vaters wich ich aus. Ich wusste, er würde irgendwann sagen: „Bemühe dich, besorge doch etwas …“ Ich wusste, dass ich nichts bringen könnte – nur den Tod. Ich fühlte mich überflüssig und sah meine Ohnmacht. Zu Hause war es nicht mehr auszuhalten, ich ging einfach weg, schlich herum, schaute nicht mehr nach den Sternen, nur auf den Erdboden. Ich besaß nicht den Mut, in den Himmel zu schauen – dafür fand ich mich zu dumm, zu unbedeutend. Ich schlich alleine durch die leere Stadt, durch die dreckigen Gassen, verschmutzte Gossen mit schmierigen Pflastersteinen. Sechzehn Jahre und nichts Gutes, dachte ich. Sechzehn Jahre und was nun?
Ein weiteres Jahr war vergangen. Drei Monate dieses Jahres hatte ich in einer Autowerkstatt in der Stadtmitte als Praktikant gearbeitet. Dort war ich nicht beliebt. Ich schwieg, hielt mich zurück, hatte keine Freunde. Eines Tages schlug mich ein Geselle ohne einen triftigen Grund ins Gesicht. Ich sagte kein Wort. Er wohnte in einem der äußeren Stadtviertel. Dort habe ich ihn aufgegabelt und verprügelt. Danach sagte ich: „Sagst du dem Meister ein Wort darüber, bringe ich dich um!“ Der Geselle sagte nichts und kam erst nach zwei Tagen zur Arbeit zurück. Danach lud er mich auf ein Bier ein und sprach: „Du hast alles richtig gemacht, bist ein klasse Kerl, du hast Charakter.“ Dann ergänzte er: „In dieser Umgebung, unter diesen Umständen wird man nur gemein. Vor einem oder zwei Jahren, wenn ich da gesehen hätte, dass jemand einen Jungen ins Gesicht schlägt, hätte ich den Angreifer selbst verprügelt. Sorry, Junge. Ich arbeite schon fünf Jahre hier und der Boss will mich nicht rausschmeißen. Ohne Scheiß, verstehst du? Ich bin schon so verblödet, dass ich rachsüchtig werde. Egal ob jemand schuldig ist oder nicht.“
Wenn ich in dieser Werkstatt etwas gelernt habe, dann nur dank seiner Hilfe. Nach Feierabend, als der Meister sich betrank, brachte er mir einiges bei. Danach war die Werkstatt pleite.
Zahlreiche kleine, nicht konkurrenzfähige Werkstätten meldeten Insolvenz an. Hunderte Männer landeten auf der Straße. Ich bekam keine Abfindung, nicht mal den Lohn für den letzten Monat, nur eine Werkzeugkiste durfte ich mitnehmen. Zusammen mit den anderen lief ich bis zum Sommer mit der Kiste durch die Stadt und fragte mit rauer Stimme nach defekten Schlössern, Töpfen, Fahrrädern und anderen reparaturbedürftigen Dingen. Die Polizei, bezahlt von den noch verbliebenen Kleinwerkstätten, verfolgte uns. Schließlich hatte es keinen Sinn mehr, so weiterzumachen. Jede kleine Beschäftigung war mir recht. Zusammen mit meinem Vater nahm ich jede Arbeit an, bis jemand denunzierte, dass ich minderjährig war. Ein Beamter sagte: „Bedauere, aber das bisschen Arbeit, das noch übrig ist, muss für die zugeteilt werden, die eine Familie zu ernähren haben. Mein Bruder ist ebenfalls arbeitslos.“ Er säuberte seine Brille, lächelte schüchtern und ergänzte: „Ich kann Ihnen leider nicht helfen. Corona.“ So verging ein weiteres Jahr der Corona-Krise.
Siebzehn Jahre und nichts Gutes, dachte ich. Siebzehn Jahre und was nun?
Ich sah die Ungerechtigkeit um mich herum. Ich traf einige in der Stadt bekannte Kommunisten und Gewerkschaftsfunktionäre. Einer sagte zu mir: „Komm am Sonntag zu uns, wir plaudern etwas miteinander. Du bist resigniert, und alles sieht für dich schwarz aus. Dem ist aber nicht so! Alles Schlimme, was auf der Welt geschieht, wird von Menschen gemacht, von reichen Menschen. Einen Bösewicht, der Böses tut, kann man bekehren und wenn es nicht geht – erschießen oder zu harter Arbeit zwingen. Weißt du, was in Russland war? Eine Revolution. Hier leben die gleichen Arbeiter wie damals dort, die ebenfalls leiden und auch gut leben wollen!“
Ich habe nur gelächelt und mit den Schultern gezuckt. Die Ungerechtigkeit war so gravierend, ihre Kraft so zerstörerisch, dass es mir nicht möglich erschien, an eine Kraft zu glauben, die den Menschen helfen könnte, das Übel zu beseitigen. Das Gejammer dieser Leute war zwar mitleiderregend, doch nur als pures Geschwätz anzusehen. Jeder von denen könnte jederzeit wegen Zuwiderhandlung verhaftet werden, seinen Job verlieren oder sonstige, drastische Strafen erleiden. Die „Cancel Culture“ griff überall zu. Ich spürte deren Courage und dachte manchmal: Bin ich zu kleinherzig, mich mit deren Wahrheiten zu beschäftigen? In dieser Zeit glaubte ich an nichts und niemandem. Nicht einmal an Gott oder an die allgegenwärtige Hand des Staates, der versuchte, die Folgen der Corona-Krise in den Griff zu bekommen und die Hand Gottes zu ersetzen. Ich glaubte nur der zerrüttenden, zersetzenden Kraft des Elends, die mich erwürgte, die ein Vieh aus mir und den anderen machte, die mein Leben in eine unwürdige Vegetation verwandelte. Ich sah mich nicht mehr als einen Menschen, sondern als einen Roboter, der von Zeit zu Zeit, besser oder schlechter, die Kraft seiner Hände verkaufte. Das waren die glücklichen Momente meines Lebens.
Irgendwann im Frühling traf ich den Blassen Mike. Wir sind zusammengegangen, er spendierte eine Flasche Schnaps. Er sah nicht schlecht aus, trug ein weißes Hemd und teure Schuhe. Wir tranken schweigend und schauten uns von Zeit zu Zeit an. Es war ein kalter nebliger Tag.
„Verreist du viel?“, fragte ich.
„Ja, ich reise um die Welt, Cowboy. Kann nicht klagen, ein amüsantes Leben. In der Nacht mit dem „Glatzkopf“ auf einem Quad, wir lächeln uns gegenseitig an, schauen die Menschen an. Jede Frau, jede Nutte. Überall dieselbe Misere. Manchmal bereue ich, dass ich mit diesem Elend leben muss. Und ich selbst? Mal habe ich gar nichts, mal volle Kasse. Dann gehört die Welt mir.“
„Du stiehlst“, sagte ich.
Der Blasse Mike zuckte zusammen, sagte aber nichts. Dann sprach er ein Wort, das ich schon oft von ihm gehört hatte und das mich deshalb nicht wunderte: „Ich verzehre.“
Wir verabschiedeten uns. Der Blasse Mike ging. Ich beobachtete ihn eine Weile. Merkwürdiger Gang: breitbeinig, schaukelnd wie ein Matrose auf dem Boot. Er pfiff, seine neuen Schuhe glänzten. Dann schrie ich verzweifelt hinter ihm her: „Mike!“
Er kam zurück. Wir sahen uns gegenseitig an.
„Äh, nichts“, sagte ich und bedeckte mein Gesicht mit den Händen. Ich betete zu Gott, er möge schnell wieder gehen.
„Na?“, fragte er. Ich schwieg.
Mike lächelte hämisch. „Du wirst noch schreien! Und wie du schreien wirst!“
Er ging ein Stück, dann blieb er stehen. Er stand einen Moment so da und baumelte seinen langen schlanken Körper. Abgemagert, vergraut schien er größer zu sein, als er wirklich war. Und älter.
„Schweigen zahlt sich nicht aus“, sagte er langsam. „Ich habe auch lange geschwiegen. Jetzt werde ich laut schreien – in alle Richtungen. Weißt du noch, Cowboy, was ich werden wollte? Ich wollte zum Zirkus gehen. Ich sah, wie die Menschen leben. Ich dachte, ich gebe ihnen was zu lachen, ich werde dafür sorgen, dass ihr Leben fröhlicher wird. Und jetzt? Die sind alle pleite. Der einzige Mensch, der über mich lacht, bin ich selbst. Lebe wohl, Cowboy!“
Er ging.
„Lebe wohl, Humpty Dumpty“, ahmte ich wie ein Echo seine Worte nach.
Die Menschen schreien, dachte ich. Sie haben ein Ziel vor sich. Gut oder schlecht, doch sie kämpfen mit dem Leben auf ihre eigene Art und Weise. Sie gehen ihre Wege … Ich steckte fest, gefesselt durch etwas, das ich nicht sah. Wenn ein Mensch seinen Weg nicht kennt, dachte ich konfus, dann lebt er wie in Ketten. Vielleicht sogar noch schlimmer.
Ein Betrunkener kam vorbei.
„Hättest du ’ne Nutte für mich?“, fragte er. „Z-z-zehn Euro.“
Ich hielt ihn wie einen Sack fest, legte seinen Arm über meine Schulter, und meinen um seine Hüfte.
„Ist sie hübsch?“, lallte der Säufer. Die vorbeigehenden Menschen glotzten uns aus angemessener Entfernung an.
„Was? Für zehn Euro wollen Sie eine Heidi Klum haben?“, knurrte ich. Ich schmiss ihn in einen Hauseingang, nahm seine zehn Euro und entfernte mich zügig. Ich war von Abscheu durchdrungen, doch ich brachte es nicht fertig, diese zehn Euro in die Gosse zu werfen. Ich kaufte eine Flasche billigen Schnaps und ging ans Rheinufer. Ich trank nicht. Meine Gedanken waren klar, nichts ließ sich vertreiben oder vergessen. Ich sah in den Himmel und hörte Stadtgeräusche. Alles sprach, alles redete mit einer gemeinsamen Sprache der Verzweiflung.
Ich tauge nicht fürs Leben, dachte ich. Ich tauge nicht …
Ich fragte die Arbeiter an der Sandgrube, ob sie Arbeit für mich hätten. Sie zuckten nur mit den Schultern.
„Ich bin doch stark genug“, sagte ich. „Wir könnten es mit Händedrücken versuchen.“ Sie versuchten es und gewannen natürlich, Kerle wie Bären. Doch lobten sie mich: „Ein kräftiger Bursche!“
Einer wollte mit mir boxen. Ich war einverstanden und boxte mit blutigem Nebel vor den Augen. In einem Augenblick schlug ich ihn mit einer Geraden. Er stöhnte auf und kniete einen Moment nieder. Einen Augenblick später lag ich auf dem Boden, mit bunten Kreisen vor den Augen. Er lobte mich.
„Mit solchen Fäusten wirst du nicht verrecken, du Hosenscheißer. Wie alt bist du?“
„Achtzehn“, log ich, denn ich dachte, er könnte was für mich bewirken.
Ein anderer riesiger Kerl sagte: „Respekt. In diesem Alter konnte ich nicht so boxen wie du. Deine Orientierung ist gut, deine Schlagkraft noch nicht ganz. Komm am Samstag wieder, wenn du willst.“
„Mein Gott“, sagte ich. „Und ob ich will!“
„Da kommt der Alte, der Chef, er trinkt ein paar Gläser, bekommt vielleicht gute Laune - dann kannst du ihn ansprechen. Gefällst du ihm, dann vielleicht?“
Am Samstag kam ich, was sage ich: Ich flog. Sie alle tranken. Den rot angelaufenen Gesichtern nach waren sie ziemlich zugedröhnt. Ein Mann von unscheinbarer Statur schrie: „Ich liebe euch wie Brüder! Ihr seid für mich wie eine Familie, obwohl ich euer Chef bin!“
Mit der Mütze in den Händen näherte ich mich ihm, obwohl ich ihn auf der Stelle hasste.
„Das ist dieser Hosenscheißer“, sagte wohlwollend der, der mit mir geboxt hatte. „Komm hierher.“
Der Chef, der erfolglos mit seinem Schluckauf kämpfte, beäugte meinen Körper wie ein Pferdehändler – oberflächlich, glitschig, verächtlich. Es fühlte sich so an, als hätte er mich bespuckt.
Kauft er oder kauft er nicht?, dachte ich bitter. Schließlich blieb sein Blick an meinen Augen hängen und ich zuckte, als ich in seine kleinen gelben Augen schaute.
„Was meint ihr?“, fragte er die anderen. „Schafft er die Arbeit?“
„Klar schafft er die“, bestätigten die Arbeiter. Ich sah ihre Gesichter und habe dort Beschämung gesehen.
Mit denen geht er sicherlich genau so wie mit mir um, dachte ich und spuckte an die Seite.
Wir warteten. In den gelben Augen des Alten war nichts zu sehen. Wahrscheinlich genoss er diese Augenblicke.
„Ihr sollt euch jetzt prügeln“, sagte er schließlich. „Ich will es selbst sehen. Gewinnst du, hast du den Job.“
„Das hier ist kein Zirkus“, sagte ich. Die gelben Augen schwollen erstaunt.
„Du, in-tel-li-gent!, hart-nä-ckig! Wenn der Boss dir befiehlt, hast du Richtung Mond zu bellen! Du Bengel. Verstanden?“
Wir zogen die Jacken und die Hemden aus. Die Oberarme des Sandarbeiters glänzten wie Kastanien in der Sonne. Neben ihm sah ich wie ein Kind aus.
„Los!“, rief der Chef und klatschte in die Hände.
Ich nahm meine Mütze zwischen die Zähne und trat vor. Ich schritt dicht bedeckt nach vorn, den Kopf nach unten gesenkt hinter die Fäuste. Der Sandarbeiter blieb ganz locker, für ihn war das eher ein Tanz als eine Schlägerei. Vom ersten Augenblick an war mir klar, dass er sich absichtlich prügeln ließ. Ungeschickt zog er sich zurück, seine Deckung war lückenhaft, seine Schläge signalisiert, vorhersehbar, langsam durchgezogen. Ich fühlte mich wie im Regen unter einem Regenschirm.
„Hau ihm auf die Schnauze!“, schrie der Alte. „Na los! Gib’s ihm!“
Nach einigen Minuten unterbrach er den Kampf.
„Es reicht“, sagte er. „Harter Bursche. Du wolltest ihn nicht verprügeln, ich sah es, doch er musste trotzdem einiges einstecken. Ein zäher Hund!“
Er zog einen Zwanzigeuroschein aus dem Portemonnaie und reichte ihn mir.
„Hier, nimm es. Hol uns eine Flasche Schnaps. Du spendierst. Ich werde es dir vom Lohn abziehen. Ab Montag bist du dabei.“
Ich brachte die Flasche, sie leerten sie. Die Sonne flüchtete in die Nacht. Die letzten Strahlen latschten über die Erde. Dann sagte der Chef zu den seinen: „Geht. Ich habe noch mit ihm zu reden.“
Sie gingen. Es tat mir in der Seele weh, dass diese harten, starken Kerle für so einen gemeinen Typen arbeiten mussten. Mit seiner feuchten Hand hielt er mein Handgelenk fest.
„Du“, sagte er und sah mir in die Augen. „Du sollst mir für die Lehre dankbar sein, du Flegel! Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Gerade jetzt in der Krise. Die Arbeit ist die Beute. Und welcher Wolf gewinnt? Na?“
„Der stärkere“, sagte ich und drehte meinen Kopf auf die Seite. Er lachte.
„Siehst du! Siehst du! Im Leben ist es so. Wenn du dich einem Menschen näherst, zeig ihm zuerst deine Fäuste, danach …“ Er zögerte einen Moment.
„Das Herz“, sagte ich spontan. Er krümmte sich vor Lachen. Ziemlich lang. Seine gelben Augen schwommen in Tränen.
„Das Herz?“, keuchte er schließlich. „Das Herz sollst du nie zeigen. Zeigst du einem anderen Menschen das Herz, wird er darauf spucken. Zeig du lieber deine List. Und dann machst du so!“ Er drückte beide Hände um einen unsichtbaren Hals. „Begreifst du es?!“
Ich stellte mir vor, wie er einen Menschen erwürgt. Ich spürte, dass ich es wäre, den dieser kleine, klebrige Mann in den Schlamm schmisse und dass es mein Herz wäre, in das er dreckigen Wörter reinspuckte. Ich schaute auf meine starken Hände, die entlang meines Körpers hingen.
„Es gibt eine einzige Wahrheit im Leben“, sagte er. „Siehe da!“ Ich schaute durch herabgesenkte Augenlider zu. Dann kniff ich sie fest zu. Eine kleine, klebrige Hand drückte sich in eine winzige Faust vor meinem Gesicht. Ich schwieg. Danach rief ich laut direkt in sein Gesicht: „So kann ich nicht leben! So leben will ich auch nicht!“
„Kannst du nicht? Willst du nicht? Dann nimm einen Stein, steck ihn unter dein Hemd und spring! Wasser wird dich lieben, Menschen dagegen - nie.“
Ich drehte den Kopf von ihm weg. Das Wasser floss breit und ruhig. Die Schatten trübten, es war die Stunde, in welcher der Tag mit der Nacht kämpft und die Luft farbig wurde. Der September hatte die Wälder verlassen. In diesem Jahr kam der Herbst wie die Weisheit - langsam und wie das lächeln eines alten, guten Mannes. Ich hörte noch seine Stimme: „Die Welt ist für einen Menschen wie eine Nacht. Eine scheußliche, finstere Nacht. Du irrst, und die Menschen versuchen deine Laterne zu löschen.“
„Das ist nicht wahr“, sagte ich, kniete und krallte meine Finger in die Erde. „Es ist nicht wahr. Ist das die Wahrheit über das Leben? Welche Wahrheit gibt es über mich, wenn alle lügen? Ich lüge, ich werde belogen, die Reichen belügen die Armen, die Armen belügen die Reichen. Eine Hure und ein Dieb belügen die ganze Welt.“
Ich betrachtete den prächtigen, gesunden Herbst, die warmgefärbten Blätter, den milchigen Nebel. Ich sah die Schlämme und den kleinen Mann mit dem Gesicht eines Hermelins, der mit seinen kleinen Händen alles, was in den menschlichen Herzen gut und rein ist, in den Dreck hineinzwängte. Plötzlich dachte ich, ich könnte töten. Der kalte Bodensatz stieg mir bis zum Herzen auf und würgte mich. Ich sah mein Spiegelbild im Wasser – eines hübschen staatlichen Jungen und diese lächerliche Figur neben mir, die sprach und mit den Händen wie ein Hampelmann zappelte:
„Denn der Mensch ist eine Hure und sonst nichts.“
Am Ufer, ganz nahe von uns beiden, spazierte ein Mädchen entlang. Ein kleiner schwarzer Hund, wie eine Kugel Teer, lief neben ihr. Der Wind wickelte ihr weißes Kleid um die gebräunten Beine. Sie war schön, es schien, als schreite der Frühling durch den Herbst. Man kann einem schönen Mädchen nur schaden, wenn man versucht, ihre Schönheit zu beschreiben. Nur das Bild dieses Mädchens rettete in mir das Menschliche, das Einfache und das Gute. Ich sah, wie sie ging, so hell im Nebel. Sie erschien so plötzlich wie eine Verneinung der schmutzigen und gemeinen Wörter des Alten. Der Alte richtete seine gelben Augen auf sie und pfiff leise. Dann sagte er: „Sieh mal diese Hure an, geil, nicht wahr!“
„Schweigen Sie!“, sagte ich. Wütender Zorn schnürte meine Kehle zu. Meine Nasenflügel erhoben sich, die Augen verengten. Schneller und kräftiger Herzschlag erfüllte meinen Körper. In diesem Moment war ich eine Verkörperung des Hasses, den ich bis in die Spitze meiner Finger spürte. Der Alte beachtete meine Bemerkung nicht und sah mich gar nicht an. Er merkte nicht, dass ich sein selbstzufriedenes Gesicht ansah. Er ahnte nicht, dass ich sein Gesicht in mich saugte, das jede Grimasse seines Gesichtes sich tief in mein Herz einbohrte. Lange noch lächelte er zufrieden und schrie ein Bündel von Beleidigungen in Richtung des Mädchens. Sie blieb stehen. Er drehte sich zufrieden in meine Richtung. Als er meinen wütigen Blick bemerkte, löschte Angst – Rattenangst – die Zufriedenheit von seinem Gesicht.