Gerrit Walther
Staatenkonkurrenz und Vernunft
Europa 1648–1789
C.H.BECK GESCHICHTE EUROPAS
C.H.Beck Geschichte Europas – die zehnbändige Reihe vereint herausragende Vertreter der deutschen Geschichtswissenschaft, die auf dem neuesten Stand der Forschung eine zugängliche und zeitgemäße europäische Geschichte vorlegen. Ihr Blickwinkel ist europäisch, nicht nationalstaatlich. Sie konzentrieren sich auf zentrale Entwicklungen, die ein ganzes Zeitalter prägten, und vermitteln zugleich das wichtigste Wissen über den behandelten Zeitraum. So wird deutlich, was «Europa» in den unterschiedlichen Epochen seiner langen Geschichte ausmachte und was für Vorstellungen jeweils mit dem Begriff verbunden wurden.
Gerrit Walther schildert die politischen Veränderungen, die die europäischen Staaten und die von ihnen tangierten Teile der außereuropäischen Welt im Laufe des «langen», von 1648 bis 1789 reichenden 18. Jahrhunderts erlebten. Die Epoche sah den Aufstieg des absolutistischen Staates, der sich im Inneren gegen konkurrierende Akteure behauptete und seine Macht beständig ausweitete. Sie war aber auch geprägt durch eine nicht enden wollende Zahl an Kriegen: von den Türkenkriegen über den Spanischen Erbfolgekrieg, den Nordischen Krieg, die schlesischen Kriege bis zum Siebenjährigen Krieg, dem ersten Weltkrieg der Geschichte. Die zwischenstaatlichen Konflikte waren die großen Triebkräfte für die Veränderungen dieses Zeitalters, die sich in jenen neuen Formen des Denkens, Sprechens und Wertens artikulierten, die sich unter dem Kampfbegriff «Aufklärung» zur wichtigsten westlichen Kulturbewegung entwickelten. Staatenkonkurrenz und Vernunft sind die prägenden Begriffe dieser Epoche, die nicht nur einzelne Länder, sondern Europa insgesamt betrafen.
Gerrit Walther, geb. 1959, ist Professor für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit an der Bergischen Universität Wuppertal.
Vorwort
I. Facetten des Staates im 18. Jahrhundert
1. Ein Aufklärer sieht Europa
2. Land und Herrschaft
3. Adel und Freiheit
4. Innere Konkurrenzen
5. Kirche und Konfession
6. Der konstruierte Staat
7. Der Staat in Bewegung
8. Äußere Konkurrenzen
II. Zwei Panoramen
1. 1648: Die große Krise
Spanien
Frankreich
England
Niederlande
Skandinavien
Deutschland
Russland
Das Osmanische Reich
2. 1660: Die Rückkehr der Könige
III. Das Zeitalter Ludwigs XIV.
1. Moderne Monarchie
2. Ludwigs Hof
3. Kulturelle Konkurrenzen
4. Anfänge der Aufklärung
IV. Der zweite Dreißigjährige Krieg
1. Heeresreform und niederländische Kriege
2. 1683: Das Wunder von Wien
3. 1685: Die Verfolgung der Frommen
4. 1688: Die Wende in England
V. Jahre der Entscheidung
1. Der neunjährige Krieg 1688–1697
2. Der Spanische Erbfolgekrieg 1701–1713/14
3. Der Nordische Krieg 1700–1721
4. Zwei Gewinner
VI. Europa in Übersee
1. Spaniens Weltreich
2. Portugals Weltreich
3. Ostindien-Kompanien
4. Machtkampf in Fernost
5. Die englisch-niederländischen Seekriege
6. Englands Nordamerika
7. Frankreichs Nordamerika
8. Zucker und Sklaven
VII. Die ruhigen Jahre: 1715–1739
1. Frankreich nach dem Sonnenkönig
2. Walpoles England
3. Habsburg und das Reich
4. Fortschritte der Aufklärung
VIII. Europas Weltkrieg
1. Das Einvernehmen endet
2. Die Schlesischen Kriege 1740–1745
3. Kriege in Europa und Übersee bis 1748
4. Europäische Kriege in Übersee bis 1756
5. Die Revolution der Bündnisse 1756
6. Der Siebenjährige Krieg in Europa
7. Der Siebenjährige Krieg in Übersee
8. Friedensschlüsse 1763
IX. Vier Krisen des Siegers: England nach 1763
1. Vier Revolutionen
2. Soziale Konflikte und politische Radikalisierung
3. Indien
4. Der Aufstand der amerikanischen Kolonien
X. Reformen und Absolutismus nach 1763
1. Aufklärung und Staaten
2. Reformen in Preußen
3. Reformen in Österreich bis 1780
4. Russland unter Katharina II.
XI. Misslingende Balancen
1. Russlands Triumphe
2. Österreichs Scheitern
3. Ein Türkenkrieg und drei Revolten
4. Frankreichs Problem
XII. Panorama 1789
1. Wege zur Revolution?
2. Wandlungen der Aufklärung
3. Tocqueville’s These
4. Rundblick
England
Australien
Osmanisches Reich
Russland
Deutschland
Vereinigte Staaten
Polen
Anmerkungen
Vorwort
I. Facetten des Staates im 18. Jahrhundert
II. Zwei Panoramen
III. Das Zeitalter Ludwigs XIV.
IV. Der zweite Dreißigjährige Krieg
V. Jahre der Entscheidung
VI. Europa in Übersee
VII. Die ruhigen Jahre: 1715–1739
VIII. Europas Weltkrieg
IX. Vier Krisen des Siegers: England nach 1763
X. Reformen und Absolutismus nach 1763
XI. Misslingende Balancen
XII. Panorama 1789
Zeitleiste
Bibliographische Notiz
1. Geschichten des europäischen Staatensystems
2. Gesamtdarstellungen
3. Einzelne Staaten
4. Personen und Ereignisse
5. Aufklärung und allgemeine Geistesgeschichte
Personenregister
/w/er die Zeit vor 1789 nicht erlebt habe, der wisse nicht, was die Süße des Lebens sei. Talleyrands berühmtes Bonmot begründete einen Mythos, der bis heute fortwirkt. Bis heute erinnern wir uns zuerst der «Süße des Lebens», wenn wir an die Epoche denken, die man 1789 wehmütig, spöttisch oder gehässig Ancien Régime zu nennen anfing. Wir lassen uns faszinieren vom Glanz und Elan barocker Musik, von der raffiniert-grandiosen Gestik der zeitgleichen Architektur. Wir träumen von der Eleganz höfischer Feste, vom Esprit aufgeklärter Gespräche in den Salons der europäischen Metropolen. Wir staunen über Newtons Kosmos und Lavoisiers revolutionäre Chemie, über die Belesenheit des Dr. Johnson und die automatische Ente des Vaucanson. Wir begleiten die Entdeckungsreisen eines Kapitän Cook und die eines Giacomo Casanova, den Ballonflug der Brüder Montgolfier und Jean Jacques Rousseaus einsame Spaziergänge durch die menschliche Natur. Gerade die großen Leidenschaften des 18. Jahrhunderts – die mathematischen wie die musischen, die kulinarischen wie die erotischen – lassen es als eines der reichsten und produktivsten der europäischen Kultur erscheinen, als eine Epoche, die uns in vielem bis heute begeistert und inspiriert.[1]
Erst auf den zweiten Blick merken wir, welch düsterer Gegenwart die Menschen dieser Zeit solchen Reichtum abgerungen haben. Denn mit zwei europäischen Weltkriegen begann die Epoche – mit dem Spanischen Erbfolgekrieg und dem Nordischen Krieg –, und mit dem Ausbruch der Revolutionskriege endete sie. Dazwischen lagen der Polnische und der Österreichische Erbfolgekrieg und der Siebenjährige Krieg mit seinen zahlreichen Fronten in Übersee. Lassen wir das «lange 18. Jahrhundert» schon 1648 beginnen, zählen wir also die früheren Kriege Ludwigs XIV. hinzu, Russlands permanente Grenzkonflikte mit seinen orientalischen Nachbarn und all die zahllosen Zusammenstöße europäischer Mächte in Übersee, so ahnen wir umso mehr, wie bitter der Alltag dieses «Jahrhundert[s] der Widersprüche, oder der Contraste»[2] – oder sollte man von einem «Zeitalter der Extreme» sprechen? – selbst für privilegierte Zeitgenossen gewesen sein muss, dass sie seine seltenen Phasen der Süße als so berauschend empfanden.
Ambivalent und gespalten wirkt das 18. Jahrhundert gerade in seinen wichtigsten Schöpfungen: dem Staat und der aufgeklärten Vernunft. Denn es erfand die Menschenrechte – und ließ die weibliche Hälfte der Menschheit darin unerwähnt. Es propagierte Selbstbestimmung – und perfektionierte die Sklaverei. Es besaß das ausgefeilteste Völkerrecht und die beste Diplomatie, die Europa bis dahin gesehen hatte – und betrachtete die Weltmeere als gesetzlose Räume. Es schuf die Vision des modernen Staats als eines in sich geschlossenen, nach den Prinzipien ökonomisch-bürokratischer Effizienz perfekt durchkonstruierten Systems von Funktionen. Aber es machte diesen Staat gewissermaßen zum Selbstzweck, weil er die Erträge seiner Reformen kaum an seine Bevölkerung weitergeben konnte. Denn er benötigte sie dringend, um den immer schärfer werdenden Konkurrenzkampf mit anderen Staaten militärisch zu bestehen. Dass die Zeitgenossen versuchten, diese Rüstungsspirale zu verlangsamen, indem sie zwischen den konkurrierenden europäischen Staaten ein Gleichgewicht der Kräfte (balance of power) einzurichten strebten, sorgte für territoriale Umverteilungen, die den status quo eher verflüssigten als sicherten, die Unruhe und das Misstrauen der Mächte eher noch steigerten als minderten.
Von solchen Gegensätzen und Paradoxien handelt dieses Buch. Es schildert die politischen Veränderungen (die Revolutionen, hätten die Zeitgenossen gesagt), die die europäischen Staaten und die von ihnen tangierten Teile der außereuropäischen Welt zwischen 1648 und 1789 erlebten und bewirkten. Es betrachtet sie als Resultate von Wechselwirkungen zwischen- wie innerstaatlicher Konflikte und jener neuen Formen des Denkens, Sprechens und Wertens, die sich, parallel dazu, als Aufklärung zur wichtigsten westlichen Kulturbewegung entwickelten. Das ist ein klassisches Thema. Schon die Aufklärer selbst sahen Staatenkonkurrenzen und Fortschritte der Vernunft als untrennbar verbundene Phänomene. Mag eine europazentrierte Politikgeschichte, wie dieses Buch sie bietet, heute manchem problematisch scheinen zwischen einer weltumspannenden Globalgeschichte und einer Kulturgeschichte, die den mikroskopischen Blick auf feine Differenzen pflegt, so privilegiert sie doch immerhin die Perspektive, die den Zeitgenossen selbst zentral schien, weil sie deren wichtigste Erfindung feierte: den autonomen, aufgeklärten Staat.
Es gehört zur Gattung, dass sie zu einer hohen Vogelperspektive nötigt, dass sie für Farben, Details, Anekdoten wenig Raum lässt und viele Aspekte allenfalls streifen kann, die für eine allgemeine Geschichte der Aufklärung unverzichtbar wären, z.B. Fragen des Alltags und des Konsums, der Mentalitäten und Sensibilitäten, der Geschlechterverhältnisse und der Minderheiten, der Kunst und der Bildung. Das Fehlen von Nachweisen (außer solchen für wörtliche Zitate) hingegen ist den Regeln der Reihe geschuldet. Ausdrücklich bedanke ich mich daher bei all denen, auf deren Erkenntnissen meine Darstellung beruht. Ihre Werke sind in der Bibliographie nachgewiesen.
Mit großer Verspätung lege ich den Band vor. Ein zwölfjähriges Dekanat hat seine Fertigstellung verzögert. Umso dankbarer bin ich allen, die meine Arbeit durch Zuspruch und praktische Hilfen gefördert haben: Elisabeth Stein vorab, Georg Eckert, Arne Karsten, Michael Maaser, Peter Schnerch, Johannes Süßmann sowie Sebastian Ullrich und Florentine Schaub, deren vorzüglichem Lektorat das Buch viel verdankt. Gewidmet ist es der Feier des 3. Oktobers 2020. An diesem Tag haben meine beiden akademischen Lehrer ihren Geburtstag gefeiert: Notker Hammerstein seinen Neunzigsten, Ulrich Muhlack seinen Achtzigsten. Ad multos annos!
/a/ls der Göttinger Geograph und Philosophieprofessor Anton Friedrich Büsching 1760 in seiner Neuen Erdbeschreibung auf «Europa überhaupt» zu sprechen kam, charakterisierte er es als einen Kontinent mit buchstäblich fließenden Grenzen: Nach Süden werde Europa durch das Mittelmeer begrenzt, nach Westen durch den Atlantik und nach Norden durch das «Nordmeer», im Osten durch Asien. Über den genauen Verlauf dieser Grenze jedoch seien die Experten uneins. Fest stehe nur, dass der Don, das Asowsche und das Schwarze Meer, der Hellespont und die Ägäis zu dieser Grenze gehörten.[1]
Büschings Zögern zeigt, wie sehr man schon um die Jahrhundertmitte die politischen Verhältnisse gerade in Europas Südosten als im Fluss befindlich ansah. Österreich hatte seit 1683 einen Großteil des Balkans erobert, sein Territorium und seine Bevölkerung um fast das Fünffache erweitert und damit Russland zu gesteigerten Anstrengungen veranlasst, sich seinerseits auf Kosten des Osmanischen Reichs zu vergrößern. Dabei hielt Büsching das Zarenreich («ohne Sibirien») mit 57.600 Quadratmeilen ohnehin schon für den der Fläche nach größten europäischen Staat; es folgten Polen-Litauen (12.900), Schweden (12.800), «Deutschland» (11.236), das «türkische Reich in Europa, nebst der Halbinsel Krim» (10.544) und Frankreich (10.000). Spanien (8500) eröffnete die Reihe der kleineren Staaten, die mit italienischen Kleinfürstentümern, wie Modena (90), endete.[2]
Die Gesamtzahl der Einwohner Europas schätzte Büsching – etwas kühner als heutige Kliometriker – auf etwa 150 Millionen Menschen, und er unterließ als Aufklärer nicht den Hinweis, dass es bei fortschrittlicheren Anbaumethoden noch «weit mehrere» werden könnten.[3] Tatsächlich wuchs, nicht zuletzt durch den Zustrom westlicher Siedler, die Einwohnerzahl allein der osteuropäischen Staaten zwischen 1700 und 1800 um gut 200 Prozent.
Die anderen großen Wachstumsregionen Europas, die überseeischen Niederlassungen der europäischen Mächte, ließ Büsching außer Betracht. Jedenfalls zählte er sie nicht zu deren europäischen Landen dazu. So kam ausgerechnet Großbritannien, das schon 1760 beachtlichen Besitz in Übersee hatte und drei Jahre später durch seinen Sieg im Siebenjährigen Krieg Europas größte Kolonialmacht werden sollte, auf seiner Tabelle unter die eher kleinen Mächte (6000) zu stehen.
In den Blick geriet die überseeische Welt bei Büsching erst, als er im Folgenden fünf Gründe für seine Überzeugung aufführte, dass der kleinste der vier Kontinente zugleich «der wichtigste» sei. Erstens sei Europa der agrarisch besterschlossene Erdteil. Zweitens übertreffe es die drei übrigen «zusammen genommen, an Macht». Drittens nämlich hätten sich die Europäer «den größten Theil des übrigen Erdbodens entweder unterwürfig, oder doch in demselben furchtbar gemacht, so wie auch sie allein durch ihre Schiffahrten, Reisen und Handlung die Haupttheile der Erde in Verbindung mit einander setzen und erhalten». Viertens sei Europa «seit vielen Jahrhunderten der Hauptsitz der Wissenschaften und Künste», und fünftens werde «die Erkenntniß des wahren Gottes […] durch die Europäer in den andern Haupttheilen des Erdbodens ausgebreitet».[4]
Auf Mission, so scheint es, wollte auch und gerade der Aufklärer nicht verzichten – selbst wenn Büsching, der promovierte Theologe, es vermied, Europa als schlechthin christlichen Kontinent zu bezeichnen: Zwar seien die meisten Europäer Christen, «es ist aber auch ein ansehnlicher Theil der jüdischen, ein anderer der muhammedanischen Religion, und ein kleinerer auch dem Heidenthume zugethan».[5] Wie viele seiner aufgeklärten Zeitgenossen konnte er Toleranz mit Werbung für das Christentum verbinden, weil er in diesem vorab eine universell gültige Ethik sah, eine «wohltätige Moral», die, so hieß es im zeitgleichen «Europa»-Artikel der großen Encyclopédie, «nur das Glück der Gesellschaft erstrebt».[6] Selbst der Skeptiker Voltaire fand, dass die europäischen Christen heute das seien, was in der Antike die Griechen gewesen seien: Träger von «Prinzipien von Humanität, die den anderen Weltteilen fehlen».
In solcher «civilité» hatte Bernard de Fontenelle schon 1686 das unterscheidende Merkmal zwischen den Bewohnern «unseres Europas» und den «Barbarenvölkern» gesehen, die nur «Kraft und Gewalt» gewohnt seien.[7] Noch 1791 erklärte der Kulturphilosoph Johann Gottfried Herder die augenscheinliche Blüte Europas mit der hier gepflegten «Kultur der Vernunft» und der «Wissenschaft der Rechte», die besonders in den großen Städten als «gleichsam stehende[n] Heerlager[n] der Kultur, Werkstätten des Fleißes und de[s] Anfang[s] einer besseren Staatshaushaltung» gefördert worden seien, mit Universitäten, Erfindungen (wie Magnetnadel, Glas, Schießpulver und Papier), vor allem aber mit «gemeinschaftliche[n] Bemühungen» und «eigene[m] Kunstfleiß»: «Das Klima in Europa, die Reste der alten Griechen- und Römerwelt kamen Dem allen zu Hülfe; mithin ist auf Thätigkeit und Erfindung, auf Wissenschaften und ein gemeinschaftliches, wetteiferndes Bestreben die Herrlichkeit Europas gegründet.»[8]
Bei diesem kulturellen Konkurrenzkampf um Fortschritt waren die europäischen Intellektuellen überzeugt, allen anderen Nationen voranzugehen. Zwar gehörte es zum intellektuellen Spiel, Nichteuropäern zu bestätigen, dass sie die Ideale europäischer Bildung und Kultur viel besser erfüllten als die Europäer selbst – weshalb Voltaire seinen Essai sur les moeurs et l’esprit des nations (1756/69) nicht mit Europa eröffnete, sondern mit dem konfuzianischen China. Tatsächlich aber zweifelte niemand ernstlich, dass europäische Werte und Standards die besten seien und dass man sie anderen Völkern und Kulturen daher als zeitlos universale Werte vermitteln sollte. «Diese weiten Länder bieten [uns Europäern] zahlreiche Völker, die, um sich zu zivilisieren, nur zu warten scheinen, bis sie von uns die Mittel dazu erhalten, und in den Europäern Brüder zu finden, um deren Freunde und Schüler zu werden», verkündete Condorcet am Ende seines Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1794).[9] Und noch 1809 glaubte der Göttinger Historiker A. H. L. Heeren, in «einer größern und herrlichern Zukunft […] statt des beschränkten Europäischen Staatensystems der verflossenen Jahrhunderte, durch die Verbreitung Europäischer Cultur über ferne Welttheile und die aufblühenden Anpflanzungen der Europäer jenseits des Oceans, die Elemente zu einem freyern und größern, sich bereits mit Macht erhebenden, Weltstaatensystem erblick[en]» zu können.[10] Aufgeklärte Kultur, so schien es, bildete nicht nur zum Europäer, sondern zugleich zum Kosmopoliten. Europa war ihren Verfechtern weniger geographischer Begriff als ein weltumspannendes Fortschrittsprogramm.
Büschings Zahlen bleiben so valide wie sie nach Lage der Dinge sein können. Wenn er die Zahl derer, die im 18. Jahrhundert zwischen iberischer Atlantikküste und Ural lebten, mit 150 Millionen angibt, so lauten heutige Schätzungen für 1700 auf 100 bis 140 Millionen Menschen, für 1800 auf etwa 187 Millionen. Trotz ungeheurer Menschenverluste durch Kriege und Seuchen also: Wachstum, Optimismus, Zukunftszuversicht. Gleichwohl: dass die Zahlen so weit auseinander gehen, ist ein Indiz dafür, dass die Regierungen, auf deren Statistiken sie fußen, die meisten ihrer Untertanen nicht wirklich kannten. Zwar bemühten sie sich um zuverlässige Kataster und Karten und um regelmäßige Volkszählungen – in Rom fand die erste 1656 statt, in Frankreich 1744, in England erst 1801 –, sei es mit Hilfe der Kirchen, der Militärbehörden oder auf Statistic spezialisierter Universitätsprofessoren, sei es durch Zählungen von Personen, Häusern oder von «Feuerstellen», also Wohneinheiten. Zuverlässige Daten aber ergab das alles kaum. «London hat der Sage nach 120.000 Häuser, Paris 50.000, Amsterdam 26.000, Berlin 10.000, Wien nur 5500», mokierte sich 1786 der Wiener Journalist Johann Pezzl. «Dafür zählt man in London auf ein Haus 9 Personen, in Paris 20, in Amsterdam 8, in Berlin 15 und in Wien 47.»[11] Für klare Daten interessierten sich die zu Zählenden aber auch deshalb nicht, weil sie sehr wohl wussten, dass obrigkeitliche Erhebungen weder absichts- noch folgenlos waren, sondern dazu dienten, Gehorsam, Abgaben und die Stellung von Rekruten zu erzwingen. In so unangenehmer Gestalt erlebte die breite Masse der Bevölkerung ihren «Staat»: als Steuereinnehmer, als Gerichtsdiener, die namens städtischer Kapitalisten verschuldete Bauerngüter pfändeten, als rabiate Werbetrupps, die junge Männer zum Militär oder zur Flotte zu pressen suchten oder als durchziehende Armeen, die im 18. Jahrhundert zwar besser zwischen Kombattanten und Zivilisten unterschieden als die der Epoche zuvor, aber immer noch schlimm genug hausten. Zudem folgten ihnen Hungersnöte und Seuchen wie Pest oder Pocken die in Osteuropa noch bis in die 1770er Jahre Tausende von Opfern forderten. Kein Wunder also, dass die Bauern in die Wälder verschwanden, wenn Statistiker anrückten, und dass den Landvermessern, die Kaiser Joseph II. 1784 nach Ungarn geschickt hatte, um einen aktuellen Kataster zu erstellen, die Magnaten und deren untertänige Bauern mit geladenen Flinten entgegentraten. Geographisch wie mental war der «Staat» weit weg.
Nur wenige Europäerinnen und Europäer nämlich wohnten in Haupt- und Residenzstädten, gar in Metropolen wie Paris, London, Amsterdam oder Wien, in denen man Staatsaktionen wie Einzüge, Wahlen, Parlamentseröffnungen, Ständeversammlungen, Staatsbesuche und diplomatische Treffen, aber auch Protestkundgebungen und Rebellionen beobachten konnte, während Zeitungen, Journale und Treffpunkte aller Art Informationen und Meinungen darüber anboten. Die große Mehrheit hingegen, nämlich mehr als 95 Prozent aller Bewohnerinnen und Bewohner Europas, lebte auf dem Lande. Das heißt nicht, dass ihnen das politische Geschehen unbekannt geblieben wäre oder ihnen als Bauern Bildung und Interesse gefehlt hätten, es zur Kenntnis zu nehmen. Es heißt aber, dass die Wege für Briefe, Bücher und Menschen länger waren als schon um 1800: dass es die Landbewohner viel Geld und Mühe gekostet hätte, auch nur in die Nähe des «Staats» zu kommen – ganz abgesehen davon, dass die Möglichkeiten, aktiv an ihm teilzunehmen, in der Vormoderne verschwindend gering waren. Dass Mitglieder der (männlichen) Landbevölkerung politischen Institutionen angehörten wie in Dänemark oder Schweden, auf deren Reichstagen bäuerliche Abgeordnete mitstimmten, war eine ebenso seltene Ausnahme wie ihre Mitgliedschaft in der kurzlebigen verfassunggebenden Versammlung 1766 im Russland Katharinas II. Überall sonst blieb die Teilhabe an der Macht der Gremien, was Wähler wie Gewählte anlangt, vermögenden Eliten und professionell gebildeten Spezialisten vorbehalten.
Hindernd kam hinzu, dass der Alltag der meisten Menschen bis in die 1750er Jahre vom Kampf gegen chronische Versorgungsnöte geprägt war, vom Diktat der Natur und des Wetters, vom zyklisch wiederkehrenden Wechsel der Pflichten, vom Zwang zu quasi ständiger Präsenz vor Ort und von meist harter körperlicher Arbeit. Zwar ließ die «Kleine Eiszeit», die in Mitteleuropa fast zweihundert Jahre lang für strenge Winter und feuchte Sommer, also für Missernten und Mangelerkrankungen gesorgt hatte, seit den 1720er Jahren endlich nach. Vielerorts aber blieb es kühl und karg, dauerte es noch Jahre, bis die Nahrungsmittelproduktion wirklich den Bedarf deckte.
Alles dies trug dazu bei, dass für die meisten die nächste Autorität vor Ort wichtiger und merkbarer war als die ferne Zentrale: dass man sich eher dem Gutsherrn, dem Kloster, der Stadtregierung, der Zunft oder Gilde verpflichtet fühlte, denen man seine Stelle, sein Haus, sein Feld, seinen Unterhalt verdankte, als einer fernen Regierung: dass also weniger der «Staat» die alltägliche politische Reflexion bestimmte als vielmehr die Ordnung des unmittelbaren Lebensumfelds: dass man weit mehr auf die Solidarität der eigenen Familie vertraute als auf die Sorge «staatlicher» Institutionen. Überhaupt waren es Familienverbände, die die real bestehende «Staatlichkeit» der Vormoderne bestimmten. Durch und durch patriarchalisch, lag ihre Führung bei den ältesten männlichen Mitgliedern der Sippe. Sie hielten die Verbindungen zu den Häuptern anderer großer Familien, beziehungsweise (was vor allem beim Adel aufs Gleiche hinauskommen konnte) zu allen den Fürsten, denen man – im Idealfall schon seit vielen Generationen – verbunden und verpflichtet war. Auf allen Stufen der Gesellschaft bestimmten solche Familienclans mit ihren Kooperationen oder Konkurrenzen das politische Geschehen – im Patriziat, in den Gilden und Zünften deutscher Reichs- und atlantischer Fernhandelsstädte ebenso wie in den Konsortien jüdischer Hoffaktoren oder in den internationalen Handelskompanien, die Flotten nach Fernost schickten.
Solche patriarchalischen Verhältnisse erschwerten es Frauen in der Vormoderne, politische Funktionen beziehungsweise politische Entscheidungsgewalt innezuhaben. So blieb es im 18. Jahrhundert ohne Beispiel, dass Frauen als fürstliche Räte, Parlamentarier oder Minister amtierten oder dass sie gar unter sich Staatsverträge aushandelten, wie einst die Schwester Karls V. und die Mutter Franz’ I. den «Damenfrieden» von Cambrai (1529). Zu letzterem fehlten ihnen schlicht die inzwischen unabdingbaren juristischen Spezialkenntnisse, die sich nur an Universitäten beziehungsweise in den englischen Inns of court erwerben ließen, die Frauen unzugänglich blieben. Andererseits bewirkte das gleiche Denken in Kategorien von «Familie» und «Dynastie», dass Frauen – vor allem solche fürstlichen Standes – als Gattinnen oder (was im Adel oft gleich viel galt) Geliebte, als inoffizielle Beraterinnen, Vormünder, Vertreterinnen oder Erbinnen mächtiger Männer erhebliche politische Einflussmöglichkeiten und Entscheidungsgewalt gewinnen konnten. Allerdings erreichten sie solche meist nur dann, wenn einflussreiche Männer für sie eintraten. So bedurfte es des ganzen Prestiges Kaiser Karls VI., hoher Zahlungen und schwerer Zugeständnisse, um in der Pragmatischen Sanktion 1713 die Erbfolge seiner Tochter Maria Theresia durchzusetzen, während Katharina II. die Erhebung zur Zarin 1762 nur gelang, weil mehrere mächtige Adelsclans für sie garantierten. Auch in geschlechterpolitischer Hinsicht agierte der Staat des 18. Jahrhunderts ohne die breite Mehrheit seiner Bevölkerung.
Die Zeitgenossen waren überzeugt, dass all diese Verhältnisse dem Willen Gottes beziehungsweise der Natur entsprächen. Nicht für einen Baufehler der gesellschaftlichen Ordnung hielten sie deren krasse Ungleichheit, sondern für eine Manifestation allmächtiger Weisheit, die jeden Menschen einem bestimmten «Stand» zugeordnet habe. Dabei galt es den meisten Zeitgenossen als selbstverständlich, dass die Geburt alles entscheide: dass man zeitlebens dem Stand angehöre, in den man hineingeboren worden sei. Wer also von bäuerlichen Eltern abstammte, konnte damit rechnen, auch sein eigenes Leben als Bauer zu verbringen, während ein hochgeborenes Kind mit seinem adligen Namen Privilegien erbte, die auch ihm eine Vorzugsstellung eröffneten.
Kein auch nur annähernd homogener Verband von Bürgern oder Untertanen also, kein «Volk», bildete Basis und Subjekt des vormodernen Staats, sondern eine bunte Fülle von Gruppen und Individuen, die untereinander minutiös abgestuft und mit je eigenen Pflichten, Rechten und Vorrechten ausgestattet waren, die sich meist noch nach Ort und Alter, Konfession und Profession unterschieden.
Der bestimmende Stand war und blieb der Adel – auch wenn er in keinem europäischen Staat mehr als fünf Prozent der Bevölkerung stellte. Er war es zunächst aus dem handfesten Grund, dass seine Familienverbünde besonders stark und effizient waren: dass seine Häupter bei Bedarf die meisten Gefolgsleute und die besten «Freunde» aufbieten konnten, seien es Militärs oder Kreditgeber, Bauernmilizen oder Berufsdemonstranten, Journalisten oder Strohmänner für geschäftliche Transaktionen. Als offizielle Begründung seines Anspruchs, in höchsten Gremien mitzusprechen, führte der Adel hingegen gern das hohe Alter seiner Familie an, deren ebenso langen Dienste für Krone und Vaterland, deren Verwurzelung in der heimischen Erde, über deren besten Teil sie seit vielen Generationen herrsche, aber auch deren Blutsreinheit, die beweise, dass keines ihrer Mitglieder sich je anders als standesgemäß verehelicht habe.
Weil der Adel als geborene Kriegerkaste mit «Gut und Blut» für sein Vaterland eintrete, genoss er fundamentale Vorrechte. So zahlten seine Mitglieder keine oder allenfalls stark ermäßigte Abgaben und besaßen auf ihren Gütern (die vor allem in Spanien, England und Osteuropa beachtliche Größe erreichen konnten) obrigkeitliche, oft sogar richterliche Gewalt über «ihre» Bauern. Zudem durften Adlige erwarten, vom Fürsten beziehungsweise der Regierung bevorzugt mit einträglichen Posten und Pensionen, mit Kommandos und anderen Auszeichnungen bedacht zu werden.
Aus seiner Doppelrolle eines Besitzers und Beschützers des Landes leitete der Adel den Anspruch ab, der wichtigste Stand und der Kern des Staates zu sein. Das heißt gerade nicht, dass seine Mitglieder sich als Vertreter einer wie auch immer gearteten Allgemeinheit gefühlt hätten. Nach ihrem Verständnis repräsentierten sie den Staat nicht – sie waren der Staat. Der zeitgenössische Sprachgebrauch schien sie darin zu bestätigen. Denn das lateinische status, das spanische estado, das italienische stato, das französische é[s]tat und das englische estate meinten gleichermaßen beides: «Staat» und «Stand». Politische Aktivitäten des Adels zielten deshalb stets darauf, dieses Herkommen – also ihre standeseigenen Privilegien – unbedingt zu verteidigen. Wenn Adlige politische Forderungen stellten, wollten sie nie etwas Neues eingeführt, sondern geschehene Änderungen rückgängig gemacht wissen. Die adlige Auffassung vom «Staat» als einer vornehmen Gemeinschaft von Grundbesitzern war im vormodernen Sinne «revolutionär», nämlich auf eine revolutio (lat. «Zurückwälzung») zu früheren Zuständen gerichtet, aber eben deshalb fundamental konservativ.
In einer dritten Bedeutung verstand man unter «Ständen» schließlich noch das politische Gremium, das sich konstituierte, wenn Vertreter der führenden Adelsgeschlechter einer Region, Provinz, eines Landes oder Reiches und eventuell weitere Repräsentanten der Elite (der Kirche, der Städte, der Universitäten) zusammenkamen, um die Pläne und Forderungen der Regierung anzuhören, zu beraten und zu beschließen und um eigene Anliegen vorzubringen.
Solche Ständeversammlungen gab es in der hier behandelten Epoche in den meisten Territorien – auch wenn ihre Formen, Funktionen und Möglichkeiten von Land zu Land differierten. Teils präsentierten sie sich als schon vergleichsweise «modernes» Parlament wie in England, teils als Aktionärsversammlung wie in den niederländischen Generalstaaten, als Juristenvereinigung wie in den französischen parlements, als Repräsentanten des «Landes» wie in Dänemark, Schweden und vielen Territorien des Heiligen Römischen Reiches, als Konvent von Staatsoberhäuptern wie auf den dortigen Reichstagen, als Club hoher Clanchefs wie in Spanien, Ungarn, Polen oder Russland. Denkbar verschieden waren ihre faktischen Machtmittel. Während das englische Parlament spätestens seit 1714 das Königtum dominierte und die Vollversammlung des Heiligen Römischen Reichs, 1648 auf Kosten des Kaisers gestärkt, seit 1663 als Immerwährender Reichstag dauerhaft in Regensburg tagte, sanken die brandenburgischen Stände zu Verwaltern von Kreditkassen ab, während Polens adelige Vollversammlung seit 1772 von seinen Nachbarn aufgelöst wurde.
Die Vordenker des Adels rühmten diese Gremien als die eigentlichen Garanten für Europas Freiheit. Auf Büschings eingangs gestellte Frage, warum Europa der vornehmste Weltteil überhaupt sei, hatte schon ein Menschenalter zuvor, 1694, der britische Diplomat Lord Molesworth erklärt: weil Europa, anders als alle anderen Erdteile, seit jeher auf adlige Freiheit fundiert und also «stets ein freies Land gewesen [sei], (…) so dass die Europäer im Orient bis heute als Francs bezeichnet würden».[12] Nirgendwo im Morgenland nämlich, bestätigte selbst der Adelskritiker Voltaire, finde man einen Stand, der durch erbliche Titel, Exemtionen und allein an die Geburt geknüpfte Rechte vor allen anderen ausgezeichnet sei und als unabhängige Körperschaft einen essenziellen Teil jeder europäischen Monarchie ausmache.[13] Diese durch adlige Standesorganisationen garantierte Sicherheit vor fürstlichem Despotismus hielt Montesquieu, der Erfinder aufgeklärter Politologie, für den politischen Kern des esprit de l’Europe. Nicht nur in der Politik, sondern auch in allen anderen Lebensbereichen, von der Justiz bis ins Familienleben hinein verhindere dies Gewaltsamkeiten – während etwa bei «Tartarenvölkern» der Ehemann willkürlich über seine Ehefrau gebiete.[14] Adlige Ständeversammlungen waren gemeint, wenn ihre aufgeklärten Sympathisanten über die Gewaltenteilung als Basis ‹europäischer› Freiheit reflektierten – so Adam Ferguson, der 1767 in seinem Essay on the History of Civil Society nachwies, «dass Verfassungen, die auf die Erhaltung der Freiheit zugeschnitten sind, aus vielen Teilen bestehen müssen. Es müssen zu diesem Zweck Senate, Volksversammlungen, Gerichtshöfe, Amtsträger aus verschiedenen Ständen zusammenwirken, um sich gegenseitig die Waage zu halten, während sie die Exekutivgewalt entweder selbst ausüben, stützen oder kontrollieren. Wird irgendein Teil ausgelöscht, dann muß das ganze Gebäude wanken oder zusammenbrechen.»[15] Das Gleichgewicht der Institutionen im Inneren der europäischen Staaten erschien hier als Gegenstück und Voraussetzung eines äußeren Gleichgewichts zwischen diesen untereinander.
Was all die genannten Gremien vereinte, war ihr Anspruch, mit dem Fürsten jederzeit auf Augenhöhe zu verhandeln, also die Überzeugung, dass er nicht ihr Herr sei, sondern adliger Standesgenosse, der für die Ausführung ihrer gemeinsam gefällten Beschlüsse zuständige primus inter pares. In John Lockes Second Treatise of Government (1689) sollte dieses Modell des Fürsten als eines gewählten, jederzeit absetzbaren Geschäftsführers seine klassische Form erhalten. Die adlige Staatsidee war zugleich konservativ und republikanisch.
Der Landesherr selbst sah das verständlicherweise anders. Wusste er meist nur zu gut, wie wenig souverän er in der täglichen Regierungspraxis gegenüber den Ständen war, so beharrte er doch darauf, als Kopf des Gemeinwesens die Oberhoheit über alle Bewohner derjenigen Lande innezuhaben, deren Krone er ererbt oder durch Wahl der zuständigen Stände zugesprochen bekommen hatte. Berechtigt dazu fühlte er sich – nach den Maßstäben jenes Adels, dem er selbst zugehörte – durch Alter und Ansehen seiner Familie, durch Macht und Größe, Ruhm und Reichtum der Lande, deren Kronen er in Personalunion vereinigte und die in ihrer Gesamtheit seinen «Staat» bildeten. In seiner Auffassung glich dieser eher dem berühmten Titelblatt von Thomas Hobbes’ Leviathan (1651), das den Herrscher als Haupt eines Leibes vorstellt, der aus den Körpern aller übrigen Staatsmitglieder zusammengesetzt ist.
Einen organischen body politic jedoch, einen geschlossenen, einheitlichen Herrschaftsbereich, konstituierten seine Lande meist nicht einmal in geographischer Hinsicht. Fast alle nämlich – außer Riesen wie Russland und einige Zwergterritorien im Heiligen Römischen Reich – bestanden aus unterschiedlichen Besitzungen, die oft mehrere Tagesreisen voneinander entfernt lagen und denkbar verschiedenartig waren. Zu den Provinzen Spaniens beispielsweise gehörte bis 1713 unter anderen die Hälfte Italiens und der heutigen Benelux-Länder. Das Kurfürstentum Brandenburg besaß außer seinen märkischen Stammlanden noch Gebiete in Ostpreußen, im Fränkischen und am Niederrhein. Erbfälle und Ehen, Eroberungen und sonstige Zufälle hatten solch bizarre Formationen verursacht und sorgten weiterhin dafür, dass die territorialen Verhältnisse aller gern beschworenen Traditionen zum Trotz beunruhigend wandelbar blieben. Dass viele europäische Staaten in der hier behandelten Epoche zudem Territorien in Übersee eroberten und verloren, setzte dieses Problem in noch ganz anderen Dimensionen fort.
Um solche versprengten Territorien halbwegs effizient verwalten zu können, verfügten fürstliche Regierungen schon um 1700 über deutlich bessere Institutionen als noch 1648 und erst recht bessere als zu Zeiten des rastlos durch die Lande reisenden Renaissance-Königtums. Durchwegs besaßen sie jetzt eine feste, in oder nahe der Hauptstadt situierte Residenz, die sie als Zentrum und Symbol ihres Staates möglichst beeindruckend zu gestalten suchten. Zumindest im Westen verfügten sie über recht gut ausdifferenzierte Regierungsapparate mit zunehmend professionellen Funktionärseliten, meist studierten Juristen oder praxiserprobten Ökonomen, über relativ effiziente Institutionen zur Steuererhebung und bisweilen sogar über größere stehende Heere beziehungsweise Flotten. Hinzu kam die Oberhoheit über eine meist gut organisierte, loyale Landeskirche. Ein mehr oder weniger dichtes Netz diplomatischer Vertretungen an anderen Höfen stand ihnen zu Gebot. Nach wie vor waren die führenden Posten fast überall dem Adel vorbehalten. Daran sollte sich – trotz der wachsenden Bedeutung bürgerlicher Bürokraten – bis zur Französischen Revolution nichts Wesentliches ändern.
Idealtypisch also konkurrierten noch im 18. Jahrhundert – wie schon lange zuvor – wenigstens zwei Staatsmodelle: ein ständisches, das den Staat als eine Korporation der Privilegierten betrachtete, und ein fürstliches, das den Herrscher für unabhängig von der Mitsprache anderer (legibus solutus) erklärte und ihm jene oberste Entscheidungsgewalt (summa potestas; pouvoir absolu) zuschrieb, die der französische Jurist Jean Bodin 1576 zum Merkmal echter Souveränität erklärt hatte. In seinem Leviathan lieferte Thomas Hobbes 1651 aus der Erfahrung des Englischen Bürgerkriegs heraus eine systematische Begründung fürstlicher Allmacht, bevor Ludwig XIV. sie 1661 zum Prinzip seiner Regierung erhob.[16] In der Realität erreicht war dieses Modell, das das systemliebende 19. Jahrhundert in die Formel Absolutismus fassen sollte, nirgends – auch wenn der klügste Politologe des 19. Jahrhunderts, der Aristokrat Alexis de Tocqueville, dem Sonnenkönig bestätigte, es bei dieser Entmachtung der adligen Zwischengewalten erschreckend weit gebracht zu haben. Als Ziel aber, als Vision vollkommenen Funktionierens, hat das Konzept Absolutismus Zeitgenossen wie Nachwelt nachhaltig stimuliert und beschäftigt.
Wenn Fürsten und Stände darüber stritten, ging es um konkurrierende Machtansprüche und -interessen, nicht um politisch-gesellschaftliche Programme. Solche entstanden – ebenso wie moderne Parteien – erst allmählich, im Zuge der Erfindung der Menschenrechte nach 1763. Den Whigs und Tories im britischen Unterhaus hingegen war eine so missionarische Politik ebenso fremd wie den Mützen und Hüten im schwedischen Reichstag. Nicht auf Ideologien beriefen sich solche Kontrahenten, sondern auf Treuepflichten, auf das Gemeinwohl (bonum commune) beziehungsweise das Alte Recht (ancient constitution), das, so forderte man, in seiner verlorenen Urform wieder herzustellen sei. Während solche Versuche neue, pragmatische Rechtsformen hervorbrachten, verliehen äußere Entwicklungen der fürstlichen Position, fast wider Willen, Dynamik und Innovationskraft.
Die Kriegskosten nämlich wuchsen im Laufe der Epoche so dramatisch an, dass sie die Summen, die die Stände normalerweise genehmigten – und zwar nur nach langen Verhandlungen –, meist um ein Vielfaches überstiegen. Wollte der Landesherr sein Territorium gleichwohl wirksam verteidigen, musste er Maßnahmen ergreifen, die den fiskalisch-finanziellen Status quo zu verändern drohten. Er musste versuchen, die Steuerprivilegien von Adel und Kirche einzuschränken, alte Monopole zu kassieren, den (vielerorts üblichen) Verkauf von Adelstiteln, Ämtern und anderen staatlichen Posten zu verstärken, neue Märkte und Wirtschaftszweige zu erschließen, neue, möglichst indirekte Steuern zu kreieren, gegen die Privilegierten eine neue Elite zahlungskräftiger und zahlungswilliger Bürger heranzuziehen, von denen im Notfall schnelle Kredite zu bekommen waren. Und er musste Argumente entwickeln und öffentliche Manifestationen inszenieren, die jene Souveränität legitimierten, ohne die solche Maßnahmen undurchführbar gewesen wären. Er musste eine meist erst noch zu gründende Öffentlichkeit von seiner Expertise für Politik, Ökonomie und Gemeinwohl überzeugen. Ob der Fürst wollte oder nicht – er musste Traditionen durchbrechen, zum Reformer werden, zum Hoffnungsträger und Bündnispartner all derer, die ihren Status zu verbessern strebten. Gerade die Monarchen, denen man am ehesten «absolutistische» Züge zuschreiben möchte, warben am heftigsten um den Dritten Stand.
Natürlich protestierten die Privilegierten entschieden gegen solche Bestrebungen und versuchten, sich ihrerseits als Anwälte von «Volk» und «Vaterland» zu profilieren. Dennoch darf man sich das Verhältnis zwischen Fürst und Ständen nicht generell als schroffes Gegeneinander vorstellen. Vielmehr wussten beide Seiten in der Regel ziemlich gut, wie sehr sie auf wechselseitige Loyalität und Kooperation angewiesen waren und welch üble Folgen es für beide haben konnte, wenn hochrangige Adlige zu gegnerischen Fürsten überliefen, wie das in Frankreich mehrfach geschehen war und in Grenzregionen wie Ungarn oder (Ost-)Preußen immer wieder passierte. Deshalb suchten gerade Kriegsfürsten wie Ludwig XIV. von Frankreich oder Friedrich II. von Preußen den einheimischen Adel durch Gunsterweise, materielle Geschenke, Herrschernähe bei Hof oder Vorzugsstellungen in der Provinz an sich zu binden. Solche «innerstaatliche» Bündnispolitik verlangte, «Ämter für Personen zu finden und nicht Personen für Ämter».[17] Entsprechende Motive erklären Kuriosa wie den mit 60 Adligen überfüllten «Geheimen Rat» Kaiser Leopolds I. oder die 70 «Minister» Frankreichs nach 1715.
Je nachdem, wie gut es der Regierung und den Eliten eines Territoriums in Krisen gelang, zusammenzustehen, Kräfte zu bündeln, Kredit zu behalten, desto erfolgreicher und mächtiger war der von ihnen gebildete «Staat». Dass das englische Parlament aus Unternehmern bestand, wirtschaftliche und politische Macht hier Hand in Hand arbeiteten, machte die Rückständigkeit der königlichen Bürokratie wett und England zum Erfolgsmodell des 18. Jahrhunderts. Dass es den chronisch zerstrittenen Mitgliedern der polnischen Adelsrepublik hingegen nicht gelang, ihre ständische Einheit in politischen Konsens oder ökonomische Kooperation umzumünzen, ließ ihren Staat am Ende der Epoche von der Landkarte verschwinden.
Fragen wir also, welche Akteure konkret gemeint sein sollen, wenn im Folgenden in einem politischen Sinne von «Frankreich», «England» oder «Russland» die Rede sein wird, so wird man nicht nur an den Fürsten bzw. Regierungschef und seine Entourage denken dürfen, nicht nur an die Mitglieder seiner und anderer führender Familien, der Verwaltung und Justiz, des Militärs und der Kirche(n). Gleichermaßen werden wir uns daneben jenes agonale Miteinander alter und neuer «Bündnisse, Gemeinschaften, Korporationen und Kollegien, […] Bruderschaften und Gemeinschaften»[18] vorzustellen haben, als das Jean Bodin den Staat schon 1576 beschrieben hatte: ein Zusammen- oder Gegenspiel teils konkurrierender, teils kooperierender Lobbies oder Konsortien, einflussreicher Gruppen und Grüppchen mit je eigenen Rechten und Vorrechten, die von der Krone vielfach überhaupt erst neu geschaffen worden waren: Mitglieder der mittleren Bürokratie, Juristen, Unternehmer, die Aktionäre großer Handelskompanien, Financiers, Steuerpächter, Spekulanten, überhaupt reich gewordene, eventuell geadelte Mitglieder des Dritten Standes, aber auch Gelehrte, Intellektuelle, Journalisten und Höflinge.