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Mikis Wesensbitter wurde 1968 geboren und geht seit fast 40 Jahren zu Union. Lange genug also, um zu wissen, dass Gewinnen nicht alles ist, dass auch ein Abstieg niemals das Ende ist und vor allem, dass Union viel mehr ist als Fußball!
Nach zehn Jahren in der Musikbranche wechselte Mikis Wesensbitter zum Journalismus und arbeitet seitdem für diverse Magazine. In seiner Freizeit fotografiert er Bier, pflegt einen Balkonkasten mit heiligem Aufstiegs-Rasen aus der Alten Försterei und träumt davon, aufs Land zu ziehen, wenn er groß ist.
Mit „An der Mittellinie stehen die coolen Jungs“ entführt Mikis die Leser nun zum dritten Mal in die seltsame und skurrile Welt des real existierenden Sozialismus. In ein Land voll mit Uniformen, Kittelschürzen und rustikalen Ausdrucksformen. In ein Land voller Zwänge und gleichzeitig voller Freiräume, in dem Freundschaft immer wichtiger war, als Geld und in dem den Schülern Eselsohren gewachsen sind, wenn sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatten. Also zumindest hat er das seinen Kindern immer erzählt.
Von Mikis Wesensbitter sind zuvor in der Edition Subkultur erschienen:
„Wir hatten ja nüscht im Osten ... nich ma Spaß“
„Hört Franka eigentlich noch Black Metal?“
„Guten Morgen, du schöner Mehrzweckkomplex“
Mikis Wesensbitter
An der
MITTELLINIE
stehen die coolen Jungs
ROMAN
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Mikis Wesensbitter: „An der Mittellinie stehen die coolen Jungs“
1. Auflage, Mai 2021, Edition Subkultur Berlin
© 2021 Periplaneta - Verlag und Medien / Edition Subkultur
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.
Lektorat, Satz & Layout: Thomas Manegold
Titelfoto: Milena Milde
print ISBN: 978-3-948949-14-3
epub ISBN: 978-3-948949-15-0
Im Mai fingen Mutter und Günther immer öfter an, sich zu streiten. Dass sie sich zwischendurch ankeiften, war nichts Neues, das kannte ich schon, aber danach hatten sie sich bisher immer wieder vertragen. Das war nun anders. Vor allem machten sie nun plötzlich die Tür zu, wenn es zur Sache ging. Die ganzen „Du liebst mich nicht“… „Warum heiratest du mich nicht endlich“… Wortgefechte interessierten mich nicht, aber als ich irgendwann das Wort Kinderheim hörte, da schlugen bei mir alle Alarmglocken. Das würde zu Günther, dem Arschgesicht passen, dass er mich abschieben wollte! Ich bastelte mir nach einer Anleitung aus der Frösi eine Wandabhöranlage aus Strohhalm, Plastebecher und Stopfnadel. Am nächsten Abend legte ich mich auf die Lauer.
„Ich kann befördert werden! Aber nur, wenn ich endlich klare Verhältnisse in meinem Privatleben schaffe! Wir können nach Biesenthal ziehen. Schöne Neubauwohnung!“
„Günther, ich will nicht nach Biesenthal ziehen! Ich wohne gerne hier. Und Mikis hat hier seine Freunde!“
„Dein Sohn, dein Sohn. Immer dein Sohn. Ich kann das nicht mehr hören. Der ist ein Querulant. Dem sein Herz schlägt nicht für unsere Sache!“
„Hörst du mal auf! Der ist 13!“
„Ja, mit 13 war ich schon ein glühender Marxist und kein Lappen!“
„Jetzt reicht es aber, Günther. Spinnst du?“
„Nein, mir reicht es! Ich trenne mich von dir. Und das Ferienlager in Mösenthin habe ich schon abgesagt, für deinen sauberen Nachwuchs!“
Glas splitterte, Türen knallten, Mutter heulte und ich versuchte, sie zu trösten.
Und so kam es, dass wir endlich wieder allein lebten. Drei Jahre war der Idiot bei uns gewesen. Ich konnte den von Anfang an nicht leiden. Und sein beschissenes Ferienlager Mösenthin war im letzten Jahr die blanke Hölle gewesen, da wollte ich sowieso nie wieder hin. Allerdings hieß das für mich: acht Wochen Sommerferien bei Omi in Sachsen. Aber ich würde sogar 12 Wochen auf mich nehmen, wenn ich dafür nie wieder mit Günther zu einem BFC-Dynamo-Spiel gehen musste! Um mir hinterher vorwerfen zu lassen, dass ich ja immer nur für die Gegner gewesen wäre. Und viel zu viel teure Limo saufen würde.
Omi stand jeden Morgen vier Minuten nach sieben auf. Da konnte man die Uhr nach stellen. Ich hörte sie immer in der Küche rumwerkeln und stand dann auch auf. Sie machte Kaffee und ich bekam auch eine Tasse. Ich hatte erst kurz vor den Ferien angefangen, Bohnenkaffee zu trinken, und genoss den Schwindel, den das Getränk jeden Morgen aufs Neue verursachte. Besonders, wenn Omi 34 Minuten nach sieben losradelte und ich mir eine Semper aus der Hausbar holte und mit Kaffee und Zigarette auf der Wiese saß.
Gegen halb neun begann ich dann, Holz zu hacken. Ich hatte nämlich beschlossen, dass ich dringend mehr Muskeln brauchte. Manchmal ging ich in den Wald zum Pilze suchen, oder ich pflückte Erdbeeren.
Nach einer Woche waren die Kippen leider alle und ich musste mich um Nachschub kümmern. Im Landwarenhaus konnte ich nicht fragen, denn da arbeitete ja Omi. Im Bär wollte ich nicht fragen, denn die wussten da alle, wie alt ich war. Da hatte ich keine Chance.
Irgendwann fiel mir der Spasti ein, den ich schon ein paar Mal im Wald getroffen hatte. Er hatte sich einen Hochstand gebaut. Wir hatten nie ein Wort geredet, sondern uns nur heimlich beobachtet. Vielleicht wusste der was, der kam ja schließlich von hier.
Sein Hochstand war leer, ich brauchte eine Weile, bis ich sein Sicherungssystem geknackt hatte und drin war. Teppich auf dem Boden, ein Schaukelstuhl und ein großer Stapel S&T-Zeitungen. Mit Filzstift hatte er die Sachen markiert, die ihn interessierten. Als ich das oberste Heft gerade fertig hatte, hörte ich die Leiter quietschen. Als sein hässlicher, hochroter Kopf durch die Luke kam, schrien wir beide auf.
„Du dreckscher Schlüppa! Vabiss dich! Dis hier is meine Bude!“, kreischte er.
„Ich komme in Frieden!“, brüllte ich zurück.
„Es gibt geen Frieden mit Invasoren!“
„Ich bin unbewaffnet. Und außerdem hast du meine Höhle zerstört! Nicht ich deine“
„Das war der Förster. Bestimmt!“, antwortete er. Und wurde wieder rot dabei.
„Ich brauch deine Hilfe!“
„Ich buddel deine bleede Höhle nich wieda aus!“
„Scheiß auf die Höhle. Ich brauch Zigaretten. Du bist von hier, also weißt du bestimmt, wo ich welche kaufen kann.“
Er dachte nach. Lange. Ich konnte sehen, wie es in seinem Kopf ratterte.
„Dis is niii eenfach. Die einzische Lösung ist meene Schwesda. Aba, da weeß man nie, ob die och midmachd. Dis musst du sie selba fragen“, verkündete er.
„Danke! Na los, dann frag ich die!“
Ich streckte ihm meine Hand entgegen und er schlug ein.
„Wie heißt du eigentlich?“
„Isch bin der Muschler Maddhias!“
„Ich bin Mikis!“
Wir liefen durch Hohentanne und schwiegen. Ich versuchte ein paar Mal, ein Gespräch in Gang zu setzen, aber nach einer knappen Antwort war wieder Ruhe. Typischer Bauerntölpel.
Ich versuchte es mit Fußball und fragte „Für wat biste denn eigentlich? Karl-Marx-Stadt oder Dynamo?“
„Fußball is Scheiße!“, war alles, was er sagte.
Dann waren wir da, er öffnete die Haustür und brüllte: „Marion, biste daheeme?“
„Is was, Bleedbagge?“, brüllte es zurück.
„Besuch!“
Marion trug eine Kittelschürze. In ihren blonden Haaren waren Lockenwickler. Das sah total bescheuert aus, aber irgendwie auch scharf. Sie musterte mich. „Du bist der bekloppte Bärlina, drüben aus Voigtsberg, oder? Was willstn hier?“
„Äh, ja, also. Ich hab ein Problem. Mir sind die Kippen ausgegangen. Und ich kann keine kaufen. Deshalb wollte ich dich um Hilfe bitten!“
„Du hast doch noch nich mal Haare am Sack, wieso roochst du denn dann schon?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Dobbelta Darif!“
„Was?“
„Na, dobbelta Darif! Kriegst eene Schachdel und zahlst zwee. Is hier so.“
Das waren ja beschissene Sitten.
„Und wenn ich zwei nehme? Zahle ich eine Extra?“
„Biste zu bleede zum Zählen? Wenn de zwee nimmst zahlste vier. Is ja wohl ganz logisch!“
Ich holte meinen Geldbeutel raus und gab ihr 13 Mark.
„Dann nehm ich 2 Schachtel Semper und noch zwei Packungen Streichhölzer dazu.“
„Een Päggel Streichhölzeln kriegste, da ist och dobbelta Darif druff! Setz dich uff die Hollywoodschaugel. Ich muss mir erscht ma die Loggenwickla rausmachen bevor wir zum Konsum gehen gönnen.“
Matthias setze sich neben mich.
„Das ist ganz schöne Abzocke!“, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf. „Du hast escht Glügg gehabt. Bei mir nimmt die imma dreifachen Darif!“
Am Ende der ersten Woche bei Omi kam Post. Von Kai und vom dicken Wenzel.
Kai schrieb:
Hey Miggis,
haste schon ’ne scharfe Sachsentorte kennengelernt? Dynamo-Ursel oder Kuhstall-Karla? Pass bloß uff, dass die deinen Pimmel nicht abbeißen, wie Mei Ling im Pornoheft.
Hier ist voll langweilig. Keiner da, kein Fußball… Aber ich hab wenigstens Westfernsehen. Du musst ja Ostferienprogramm schauen. Bei Pinocchio war gestern wieder ordentlich Trubel. Der ist mit der bekloppten Katze in den Teich gefallen. Leider ist der Holzkasper aber nicht ersoffen.
Muss jetzt los, meine Schwester hat Geburtstag. Macht ’ne Party im Garten. Werd mir ordentlich einen reinkippen, wenn die anderen alle breit sind. Merkt ja dann keiner mehr. Und vielleicht tanzt Madeleine wieder eng mit mir…
Tschüss, Dein Kai
PS: BFC verrecke, in der Scheißhausecke!
Wenzel schrieb:
Tach, Kamerad. Hoffe, dir gehts gut. Ich bin in der Hölle gefangen. Knäckebrot zum Frühstück und Abendbrot und zum Mittag gibts nur Suppe. Einer aus meinem Zimmer hat schon angefangen, Gras und Brennnesseln zu fressen, weil er es vor Hunger nicht aushält. Ich hab noch zwei Döbelner Salami in der Schmutzwäsche versteckt, aber komm nicht dazu, die heimlich zu essen. Und wenn die anderen das mitkriegen, sind die innerhalb von drei Sekunden aufgefressen. Heute Abend ist Disko. Aber mit den fetten Weibern will ich nicht tanzen. Und hab eh keine Kraft. Zum Einschlafen läuft jeden Abend Kalif Storch im Lagerfunk. Wenn ich wieder richtig essen kann, werde ich als erstes einen Storch erschießen.
PS: Wenn ich das hier nicht überlebe, kannst du im nächsten Schuljahr neben Manuela sitzen.
Stimmt. Der dicke Wenzel musste ja zur Abnehmkur fahren. Weil er sonst wehrdienstuntauglich werden würde, hatte der Arzt gesagt. Die arme Sau. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie das wäre, in einem Zwangslager mit lauter Fettis, die Hunger hatten. Ich schrieb gleich zurück.
Tach, Wenzel,
das tut mir echt leid. Hoffe, du hältst das durch und niemand frisst dich nachts auf. Kalif Storch finde ich auch voll Scheiße, ich komm mit auf die Jagd! Neben Manuela will ich nicht sitzen, also bleib am Leben. Ich drück die Daumen, dass du die Döbelner genießen kannst!
Hallo Gai,
ich soll Dich schön grüßen. Von Kuhstall-Karla. Die würde Dich gerne kennenlernen, um Dir ihre Euter um die Ohren zu hauen. Dynamo-Ursel ist leider mit Jugendtourist in Bulgarien.
Vielleicht fällt der Holzkasper ja auch mal ins Feuer. Im Ostfernsehen kommt nur Mist, aber ab nächste Woche läuft Spuk unterm Riesenrad. Da freu ich mich drauf. Ich sitz gerade im Garten und trink ein Freiberger Hell. Omi hat gesagt: „Eins am Tag ist gut fürs Wachstum!“
Na ja, ist schon das Zweite. Aber ich hab ja auch zwei Beine, die gleichmäßig wachsen müssen.
Tschüssi, Mikis
Am Wochenende bin ich dann mit Omi nach Siebenlehn ins Schwimmbad gefahren. Es war total voll. Am Eisstand hab ich den Muschler Kasper getroffen. Mit seiner Schwester. Im Bikini sah die erstmal richtig scharf aus. Sie pustete mir Rauch ins Gesicht und sagte: „Deine Gibben schmeggen nach Gardoffelgraut. Beim näschsten Mal koofst du mal was besseres. Du bleeda Dreggs-Balina!“
„Isch gloob meene Schwesta hat sich in dich vagnaltt“ flüsterte Matthias mir ins Ohr.
Aha? Das kam mir nicht so vor.
Das Wasser war eiskalt, ich war nach zehn Sekunden wieder draußen. Omi schwamm 30 Bahnen, bevor sie sich beschwerte, dass man in der kalten Brühe ja erfrieren würde.
Zum Aufwärmen gingen wir ins Goldene Ross. Rouladen und Rotwein. Ich war ganz schön angeballert und bin zu Hause auf dem Sofa bei Da liegt Musike drin eingepennt.
Hey Miggis,
pfffff- die Kuhstall-Kuh kann dir ihre Euter um die Ohren hauen. Ich bin Berliner, ich brauch das nicht.
Ich hab eine Woche Stubenarrest. Wegen der Party am Samstag. Erst war alles toll, ich hab Spaß gehabt. Aber dann hab ich meine Mutter mit Madeleine verwechselt.
Also nicht was du denkst, sondern, ich hab sie gefragt, ob sie mir einen Apfelkorn mitbringt. Voll eine geklatscht gekriegt von ihr.
Jetzt muss ich schnell raus, die Alte ist ja auf Arbeit. Hab meinem Schwager versprochen, ihm beim Aufräumen zu helfen.
Schütz dich vor den Saxen!
Kai
PS: Pinocchio ist (leider) noch am Leben, und auf Spuk unterm Riesenrad freu ich mich auch.
Am Dienstagmorgen, nachdem Omi zur Arbeit gefahren war und ich gerade meine Morgenzigarette rauchte, sah ich einen roten Haarschopf über den Zaun ragen. Ich wusste sofort, wer das war. Jemand, der zu viel GST-Zeitung las und dachte, er wüsste, wie man sich tarnt. Ich schlich leise am Zaun entlang und brüllte dann: „Faschist Muschler, die Pfoten hoch!“
Es quiekte erschrocken und dann sah ich zwei Hände über den Zaunslatten hervorkommen.
„Ergebe mich!“
Ich stand auf, grinste ihn an und sagte: „Morgen Maddhias!“
„Jetzt brauch isch deine Hilfe! Meene Cousine aus Niederbobritzsch gommt heude zu Besuch. Und die will imma mit mir gnutschen. Isch will aba nii.“
„Äh, und jetzt soll ich mit der rummachen?“
„Nejee, du sollst dir irgendwas ausdengen. Irgend ’ne Ausrede… Die gehd mir so aufs Schwein...“
„Komm einfach mal rein. Dann trinken wir einen Kaffee und ich denk nach!“
Und so saß ich mit dem Muschler am Gartentisch. Er trank Hagebuttentee und ich Kaffee.
„Sieht die doof aus?“
„Nee, aber die is mir lästich. Und die stingt imma ganz doll nach Gnoblauch. Isch will das niii!“
„Hmm, als ich klein war, hat meine Oma mir Punkte auf den Bauch gemalt und die Ärztin meinte, das wären Ringelröteln. So was können wir mit deinem Gesicht machen. Die will sich ja bestimmt nicht anstecken.“
„Nee, das geht niii, dann muss ich ja ins Bett und krieg genen Guchen.“
„Wir könnten deine Zähne schwarz färben. Dann siehst du voll eklig aus.“
„Biste bleede? Dann bringt misch meine Mudda sofort zum Doktor Lüderitz.“
Fünf Ideen später stand er resigniert auf, zuckte mit den Schultern und sagte: „Dann gibts wohl geene rischtsche Lösung. Dann muss isch ich wohl in den sauren Apfel beißen. Tschüss, Alda!“
Ich bedauerte ihn nicht, ich würde nämlich sehr gern mit meiner Cousine knutschen.
Die Postfrau brachte eine Postkarte vom Wenzel.
Neues aus der Hölle! Jemand hat meine Döbelner Salami gefunden und gefressen. Ich hab die beiden Fettärsche aus der Magdeburger Börde in Verdacht. Aber gegen die kann ich nix machen, die wiegen das Doppelte von mir.
Nachher ist Neptunfest. Mit Wiegen. Jeder der nicht mindestens 8 Kilo abgenommen hat, wird den Tag nie vergessen. Hat der Lagerleiter beim Morgenappell verkündet. Drück mir mal die Daumen!
Dein Wenzel
Donnerstag stand am Vormittag der Maddhias vor der Tür.
„Ich soll dir von meena Schwesta sachen, heude is eenfacha Darif. Wenn du neue Gibben brauchst. Und zum Mittagessen macht sie Gardoffelbuffa. Wenn du Hunga hast. Dis is ’ne Einladung. Sowas macht die sonst escht nie!“
Ich war völlig überrascht.
„Ähh, ja. Wann soll ich da sein?“
„Um zwölfe. Mit gewaschnen Pfodden.“
„Mit was?“
Er hielt seine Hände in die Luft und wackelte damit. Ich verstand.
„Gut, dann bin ich um zwölf da. Danke für die Einladung.“
Er nickte, drehte sich um und stapfte davon.
„Achso, warte ma, wie wars mit deiner Cousine?“
„Die hat jetzt nen festen Freund. Brauch mich nischt mehr!“
Er klang ein kleines bisschen beleidigt.
Ich war pünktlich. Marion hatte wieder eine Kittelschürze an und begutachtete kritisch meine Hände, bevor ich mich an den Küchentisch setzen durfte.
Die Kartoffelpuffer schmeckten nicht, die waren innen noch ganz klietschig und sie hatte viel zu viel Salz rangemacht. Das ließ sich auch mit Apfelmus nicht verstecken… Aber ich sagte nix, mit der wollte ich mich nicht anlegen. Beim Essen wurde nicht geredet, Maddhias schmatze dafür umso lauter. Als alles alle war, befahl sie Maddhias, abzuwaschen, und wir gingen in den Garten. Zur Verdauungszigarette.
„Isch weeß, dass man euch Balinan ja niie verdrauen gan, aber isch brauch morgen sturmfreie Bude. Du musst mit dem Gasba irgendwas machen, damit der nii daheeme is. Dafür griegste ab jetzt eenfachen Darif.“
„Was soll ich denn mit dem machen? Der geht ja sowieso los, wenn ihm langweilig ist.“
„Neeje, du musst mit ihm wegfahren. Am besten nach Freiberg, da gommt er niie so schnell nach Hause. Machste?“
„Ich denk mir was aus!“
„Du bist äh Schatz! Dafür mach ich dir och nen Gnudschfleck!“
Und dann hing sie plötzlich an meinem Hals und saugte wie wild. Das kitzelte, das war schön, das tat weh. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, also stand ich einfach da.
„Du bist voll langweilisch“, sagte sie, als sie fertig war.
Omi sah sofort, dass mit mir etwas nicht stimmte, als sie nach Hause kam.
Sie sah meinen Hals und sagte: „Aua. Schmier Zahnpasta rauf. Hilft nicht wirklich, aber beruhigt. Ist sie hübsch?“
„Geht so. Eigentlich nicht“ antwortete ich.
„Du bist zu jung für solchen Blödsinn. Und jetzt lass uns Grützwurst essen. Das heilt von innen und außen!“
Am nächsten Tag fuhr ich nicht mit Maddhias nach Freiberg, sondern ich baute mit ihm eine Antenne auf seiner Bude. Strickt nach Anleitung aus der Sport & Technik.
Es war vollkommen öde, aber er hatte Spaß und sang die ganze Zeit: „Licht aus Messer raus, die Weiber ziehn sich naggisch aus“ vor sich hin.
„Wenn das glabbt, gann ich nisch nur die Nado abhören, sondern auch falsche Fungsprüche absenden. Stell dir das ma vor!“
„Ja schon, aber wem willst du denn falsche Botschaften schicken?“
„Na zum Beispiel der Sojus-Raumkapsel. Ich gann denen befehlen zum Mars zu flieschen!“
Oh mein Gott! Ich war das ja von meinen Berliner Freunden schon gewöhnt, dass die Blödsinn quatschten. Aber so blödes Zeug hatte ich noch nie gehört.
Und dann knarzte plötzlich das Empfangsgerät.
„Pitti Eins an Pitti Zwei. Bitte kommen!“
„Pitti Zwei hört!“
„Pärchen im Maisfeld gesichtet. Kurz hinter Obergruna. Verdammt große Euter! Kommt ma vorbei und schaut euch das an!“
„Ach, wir sind an den Soldatenteichen. Grade ein Rudel Schwesternschülerinnen angekommen. Müssen wir im Auge behalten!“
„Na dann, schöne Schicht noch!“
Maddhias und ich schauten uns verwirrt an.
„Is das die Nato?“
„Nee, isch glob ich bin aufm Bolizeifunk eingebegelt. Dis lass ich ma heude lieber. Das gan Ärger geben!“
Na ja, die Sojus-Kapsel zum Mars zu schicken, bestimmt auch …
„Klingt so. Komm, lass uns zu mir gehen. In 20 Minuten fängt Spuk unterm Riesenrad an.
„Neeje, ich geh Heeme.“
„Nee, kannste noch nicht!“
„Warum denn nii? Isch gann Heeme gehen, wann ich will!“
„Heute nicht. Hab deiner Schwester versprochen das du erst nach drei da bist.“
Er sah mich eine Weile an, es rumpelte regelrecht in seinem Hirnkasten, dann spuckte er aus.
„Dann macht die gerade wieder Sexy, mit dem Brundert Michael!“
„Was macht die?“
„Na, Sexy. Ausziehen und so was. Einmal hab ich die awischt dabei. Da had die mich sowas von vaklobbt. Und gesacht, sie schneided mir den Bimmel ab, wenn ich sie vabetze! Na gut, dann gomm isch mid. Aber nur, wenns Gola gibt!“
In der dritten Woche kam meine Großcousine Cordula aus Oberscheibe zu Besuch. Ich musste sie vom Bus abholen. Früher hatten wir öfters Doktor gespielt, bis ihre Mutter uns einmal erwischt hatte. Na, das gab ein Donnerwetter. Wir mussten uns eine Viertelstunde die Hände mit Kernseife schrubben und durften nicht mehr allein in einem Raum sein.
Aber irgendwie hatte sie wohl den Anschluss verpasst. Jedenfalls stieg sie nicht aus. Na schöne Scheiße, den ganzen Weg durchs Dorf umsonst gelatscht. Und in zwei Stunden dann das ganze noch mal, dachte ich und wollte gerade losgehen, als mich eine komische Gestalt ansprach. Bestimmt eins neunzig groß, spindeldürr mit Nickelbrille und langen Haaren. „Du ergennst mich wohl nisch? Ich bins doch, die Gordula!“
„Was?“, frage ich erschrocken.
„Nu glar, isch bin äh bissel gewachsen! Lass dich mal drüggen!“
Sie umarmte mich und da sie so groß war, steckte mein Kopf genau zwischen ihren Brüsten. Die sich größer anfühlten, als es den Anschein gehabt hatte. Ich drückte sie zurück und versuchte meinen Kopf nicht zu bewegen, damit es nicht den Anschein hatte, ich wöllte irgendwas von ihr.
Nachdem sie mich genug festgehalten hatte, liefen wir durchs Dorf.
Wir machten Pause beim Landwarenhaus und Omi schaute Cordula verwirrt an. Bevor sie sie umarmte und sagte: „Was bist du denn für ene grosse Gaage geworden? Ich kenn dich doch noch einen halben Meter kleiner! Du kannst ja die Pflaumen gleich im Stehen vom Baum pflücken, und brauchst gar keine Leiter!“
„Na, isch bin hald gewachsen. Gansch och nüsch dafür!“
„Alles gut, Gordula. Du bist genau so richtig, wie du bist!“
Omi gab uns ein Paket mit Beefsteak und frischen Brötchen mit.
„Was is denn eine Gaage?“, fragte ich Cordula.
„Ehn großes Viech. So wie ’ne Heuschregge, mit kleenem Gopp und langen Beenen. Findst du mich och hässlisch?“
„Nee, ich find dich toll!“
Und da beugte sie sich über mich, knabberte kurz an meinem Ohr und sagte: „Du bist son Süßa, ich würd dir echt viel beibringen, aber ich hab grad roden Ogdober. Und da macht das geenen Spaß! Los, ab nach Hause, ich hab escht Hunga!“
Roder Ogdober? Keine Ahnung, was das nun wieder sein sollte.
Zu Hause aßen wir Beefsteak mit Senf und dann ging Cordula schlafen. Und ich ging Holzhacken.
Beim Kaffeetrinken erzählte sie: „Isch geh seid zwee Jahrn zu Wismud Aue ins Stadion. Da gehd escht die Post ab!“
„Echt Wismut? Warst du nicht früher mal für Sachsenring?“
„Hör uff mit die Assis aus Zwicke! Mit die will isch nüscht mehr zu dun haben. Die sind sowas von daneben!“
„Okay, ich dachte die sind gut drauf.“
„Nee, das is schon lange vorbei. Weeßte, was wir immer brüllen: ,Wenn Wismud heude gewinnd, dann fliescht da Büstenhalda aus’m Fensda!‘“
Ich musste kichern. Da hatte der Aue Fan ja doppelt Spaß beim Heimsieg!
„Ich werd nächste Spielzeit mal zu Union gehen!“, sagte ich.
Cordula rollte mit den Augen. „Oh je, na viel Spaß da! Die sind ja sogar noch schlimma als die Penna aus Zwicke!“
Die Sauerkirschen wurden spät reif in diesem Jahr. Als es soweit war, bekam ich von Omi die Order zu pflücken. Und so stand ich drei Tage auf der Leiter und pflückte. Da musste ich daran denken, wie ich hier vor Jahren als kleines Kind mal in den Ästen sitzen und die Antenne halten musste, damit das Fernsehbild wieder zurückkam. Das war beim legendären Pokalspiel von Dynamo Dresden gegen Sachsenring Zwickau gewesen. Ach man, damals hatte mein Urgroßvater noch gelebt. Das war ein cooler Typ gewesen. Ich wurde sentimental und musste so heulen, dass ich vom Baum runter musste.
Sonst passierte nicht viel. Ich hackte Holz und meine Muckis wuchsen, manchmal kam der Muschler vorbei. Seine Schwester sah ich nicht mehr, die war ins Lager für Arbeit und Erholung gefahren.
Eines Nachmittags klingelte es an der Haustür. Familie Pfeffer stand im Hof. Die Pfeffers wohnten am anderen Ende des Dorfes und waren in einer Sekte. Omi pflegte zu sagen: „Denen hat der liebe Gott ins Hirne geschissen, und trotzdem glauben sie noch an ihn! Deshalb muss man Mitleid mit ihnen haben!“
Trotzdem es knalleheiß war, trug Frau Pfeffer ein dickes Wollkleid, das bestimmt 100 Jahre auf dem Buckel hatte und eine Strickmütze. Der Pfeffer Enrico trug einen schäbigen Anzug und einen Hut, der aussah, als wenn Napoleon ihn auf der Flucht verloren hatte. Kurzum, zwei absolute Vogelscheuchen.
„Gudden Dag, mir wollen mit dir über Godd reden!“, krächzte die Alte und ihr Sohn nickte.
„Äh, gibts da was zu reden?“
„Sehr viel, junga Mann, ohne den Glauben an den Schöbbva kommt man im Leben niii besonders weid!“
Ich wollte eigentlich sagen, dass man ja deutlich sehen würde, wie weit sie gekommen wären, aber das ließ ich lieber sein. Stattdessen fragte ich sie, ob ihr Gott einen Pullermann hat.
Erschrocken bekreuzigten sich die beiden und sahen mich angewidert an.
„Das is Frevel! Gott ist rein von allen Sünden!“
„Ja, aber hat er nun einen Pimmel oder hat er keinen? Ich find das schon wichtig zu wissen! Und ihr wolltet ja mit mir über Gott reden!“
„Gomm Enrigo, das ist verschengde Liebesmüh. Diese verdorbene Seele ist verloren für Gott!“
Als sich die Alte weggedreht hatte, aulte mir der Vogel vor die Füße und zeigte mir die Faust. Der Trottel war also doch gar nicht so doof, wie er tat!
Hallo Saxen-Siggi,
lässt ja gar nichts mehr von dir hören? Wurdest du rekrutiert und musst jetzt im Schweinestall arbeiten?
Der dicke Wenzel ist aus seinem Zwangslager zurück. Der hat voll abgenommen, hab den fast nicht erkannt. Hat auch keinen Hunger mehr, sagt er. Seine Mutter ist ganz verzweifelt..
Gestern war ich mit ihm an den Tischtennisplatten. Die scharfe Yvonne und Beate aus der 9B haben da auch rumgehangen. Wir haben mit denen Chinesisch gespielt und der Dicke hat ständig: „Die Zeit ist reif heute bumsen wir, ich möchte ficken, nur mit dir...“ vor sich hingesungen. Bis ihm Yvonne voll eine geklatscht hat. Weil er sie so blöde anmachen würde. Da war der voll sauer und hat gebrüllt: „Mit so’ner Schreckschraube wie dir würde ich noch nicht mal im Traum was anfangen!“
Da hat er noch eine gekriegt. Na ja, Spiel war dann vorbei.
Morgen geh ich mit meinem Schwager ins Stadion. Union gegen Lok Stendal. Biste am 25. August eigentlich wieder zurück? Da ist Oberligaspiel gegen den HFC Chemie. Die knallen wir bestimmt voll weg.
Tschüss du Rumburak
Dein Kai
Tach Kai,
ich bin der Kirche der Heiligen der letzten Tage beigetreten und darf eigentlich keine Briefe schreiben. Sondern muss den ganzen Tag beten. Und Holzhacken. Alkohol, Kippen und Kaffee sind verboten. Halt ich mich voll überhaupt nicht dran. Kann ja nix passieren. Wenn sie mich erwischen, schmeißen sie mich eben raus und ich geh zu den Siebenten Tags Adventisten. Die sind genauso behämmert.
Nee, ist natürlich Quatsch. Ich hatte ja zuletzt geschrieben und du warst dran. Mit dem 25. weiß ich noch nicht, aber ich komm auf jeden Fall bald mit zu Union!
Tschüssibert
Mikis
Wie in jeden Sommerferien erwischte mich auch diesmal wieder eine Biene. Das hatte lange Tradition. Und natürlich wieder am Kopf. Das tat Scheiße weh, vor allem aber war ich gegen die blöden Viecher allergisch und sah schon eine Stunde nach dem Stich aus wie ein Mongokind. Mein Kopf war rund wie ein Medizinball und ich hatte Schlitzaugen. So konnte ich natürlich nicht vor die Tür, sonst würden die Bauern mich als neuen Dorfdeppen handeln. Vielleicht war das die Strafe dafür, dass ich mich über die Pfeffers lustig gemacht hatte.
Den Oberliga-Auftakt sah ich im Bär. Omi hatte keine Lust, mitzukommen und so ging ich zum ersten Mal in meinem Leben alleine in die Kneipe. Ich bestellte eine Fassbrause und setzte mich an einen leeren Tisch. Vom Sehen kannte ich zwar die meisten Typen, aber die alte Garde war ausgestorben und mit den neuen Alten hatte ich nichts zu tun. Irgendwann kam die Friseuse Müllern rein und setzte sich zu mir. Man war die alt geworden. Die war früher ein heißer Feger und hatte mich immer heimlich mit Eierlikör versorgt. Sie fuhr mir durch Haar und sagte: „Na da wirds aber mal wieder Zeit für einen ordendlichen Messerformschnidd. Isch ganns nich mehr machen, das einzige was ich noch gann is Gombleddrasur. Isch seh ja nischts mehr. Ach Kleena, dein Uropa fehlt mir so sehr! Jeden Dag deng ich an früha! Dringst du schon Bier? Geh mal was holn. Und zwee Eierligör nadürlich!“
Der BFC gewann 3:0 gegen Sachsenring. Da gab es ordentliche Gemaule in der Kneipe. Union hielt bis zur 86. Minute in Magdeburg stand, dann gab es noch zwei Tore gegen uns. Scheiße! Das letzte Spiel war Wismut Aue gegen Dynamo Dresden. 0:0. Da flog wohl heute kein Büstenhalter aus dem Fenster in Aue, dachte ich, als plötzlich Gläser flogen. Die Bauern von der Erntebrigade brüllten: „Scheiß Dynamo!“ und die vom Kuhstall brüllten:“Scheiß FC Garl Morx Stadt“ und dann gab es eine ordentliche Drescherei.
Die Müllern fand das lustig und schickte mich gleich noch mal los, Getränke holen.
„Isch lieb das, wenn endlisch ma wieder was los is in dieser langweilischen Kuhblägge hier!“
Später musste ich sie nach Hause bringen, die war so blau, dass sie nicht mal mehr gerade aus laufen konnte. Aber das machte nix.
An meinem Geburtstag hatte Omi den Tisch gedeckt, einem Blumenstrauß gepflückt und eine Erdbeertorte gemacht.
„Die ist ganz für dich alleene! Musst du mit niemandem teilen!“, sagte sie.
„Das schaff ich doch gar nicht!“
„Na, musste ja och nich, darfst ja teilen. Als ich kleen war, da gabs ja nüscht. Von dem kleenen Stückel Kuchen, das man da gekriegt hat, musste man ja dem halben Dorf was abgeben!“
Sie schenkte mir 100 Mark und drückte mich doll, bevor sie auf Arbeit fuhr. Wenig später kam der Postbote und brachte ein Telegramm von Mutter. „Alles Gute zum 14. Geburtstag du großes Kind. Kuss Mama“.
Am Nachmittag kam der Postbote noch mal, diesmal brachte er ein großes Paket. Von Tante Hildegard aus’m Westen. Das hätte ich am liebsten gleich aufgemacht, aber das ging nicht. War ja an Omi adressiert.
Als Omi nach Hause kam, tranken wir erstmal Kaffee, aßen Erdbeertorte und dann gings ans Auspacken.
Hildegard schickte immer eine seltsame Mischung. Bohnenkaffee, Puddingpulver, Ölsardinen und Schokolade waren die sinnvollen Dinge. Bei Nudeln, Graupen und Tütensuppe fing Omi immer an zu schimpfen. „Als wenn wir im Osten nischt zu Essen hätten. Und Graupen hab’sch mein Leben lang noch nie gefressen! Das sollte die eigentlich wissen.“ Sie machte das Fenster auf und schmiss die Packung in den Garten. „Soll’n doch die dämlichen Hühna den Mist fressen. Vielleicht werden die Eier davon besser!“
Und dann kam der spannendste Teil. Hildegard war nämlich Schneiderin und arbeitet im Kinderheim in der Kleiderkammer. Und schickte zwei Mal im Jahr die aussortierten Sachen für mich. Boah und diesmal war es besonders toll. Die Jeans passten, es gab ein paar coole Shirt und zwei Cordjacken. Das geilste aber war eine hellblaue Adidas-Turnhose. Die zog ich sofort an. Und fühlte mich wie berauscht. Damit würde ich in Sport der schärfste und der schnellste beim 100-Meter-Lauf sein!
Mittwoch spielte Union gegen den HFC Chemie und ich hörte die Oberliga-Konferenz auf Radio DDR. Union war überlegen und gewann mit 2:0. Das freute mich total. Da wäre ich gerne dabei gewesen. Aber meine Rückfahrt war erst am Sonnabend.
Als ich die Wohnungstür aufschloss, wusste ich schon, dass irgendwas nicht stimmte. Da lag Ärger in der Luft, das spürte ich. Meine Mutter begrüßte mich nicht freudig wie sonst, sondern beorderte mich mit einem Fingerzeig und heruntergezogenen Mundwinkeln ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch lag ein blaues Buch. Ein Buch, das ich sehr gut kannte. Mein Tagebuch! Scheiße!
„Was soll das? Warum kramst du in meinem Zimmer rum?“, fragte ich wütend.
„Ich habe nicht gekramt, ich habe aufgeräumt. Das hat der feine Herr ja nicht notwendig gehabt, bevor er in die Ferien gefahren ist!“, antwortete sie.
Aufgeräumt? Im Bettkasten, in der Verpackung vom Tischfußballspiel?
„Ich bin sehr enttäuscht von dir. So enttäuscht, das ich es gar nicht in Worte fassen kann!“
Sie schlug das Buch auf und hielt es mir hin. Ausgerechnet diese Seite!
„Vorlesen!“, forderte sie.
„Nein!“
„Vorlesen!“
„24. April
Kai hat im Keller eine Flasche Sekt geklaut und den Beate Uhse-Katalog mitgebracht. Mutter und der Idiot sind übers Wochenende weg, da haben wir sturmfreie Bude. Der dicke Wenzel hat eine Schachtel Inka mit. Wir trinken, rauchen und schauen uns den Katalog an. Am schrägsten finden wir das Titelbild von Mei Ling – Die asiatische Spitzenschluckerin. Da liegt so ein hässlicher Typ mit grauen Haaren in der Hängematte und eine nackte Thai hat seinen Pimmel im Mund. Wenzel meint, so waschen die sich vielleicht in Asien. Das finden wir ziemlich eklig. Was wir uns aber gar nicht erklären können ist, warum die Spitzenschluckerin heißt. Wir einigen uns darauf, dass die bestimmt schon morgens mit Saufen anfängt und so den ganzen Tag über jeden Menge Alk wegschluckt. Macht ja auch Sinn, wenn sie so was Widerliches machen muss auf Arbeit.“
„So, klauen, saufen, rauchen und Schweinereien anschauen! Schäm dich! Aber am allerschlimmsten finde ich, wie du über die Mädchen redest! So hab ich dich bestimmt nicht erzogen. Die arme Hanka, die war doch immer deine Freundin!“
„Was soll denn mit der sein?“, fragte ich.
„Haar-Runkula nennt ihr die! Als wenn jemand was für seinen Haarwuchs kann! Jedenfalls bekommst du drei Wochen Stubenarrest. Und ich verbiete dir den Umgang mit Kai!“
„Hä? Wie soll das denn gehen? Wir gehen in die selbe Klasse!“
„Dann eben den außerschulischen Umgang mit diesem Bauwagenrülps! Der verdirbt dich nur! Und jetzt verschwinde in dein Zimmer!“
Ich hab auch keinen Bock mehr mit der zu reden und geh in mein Zimmer. Drei Wochen Stubenarrest, pfff. Das stört mich gar nicht. Mein Tagebuch stellte ich ins Regal. Mit dem Umschlag von Wie der Stahl gehärtet wurde drumherum. Das Russenbuch schmiss ich später heimlich in die Speckitonne.
Und um den Tag so richtig zum Kotzen zu machen, verlor Union gegen den BFC. Glatte 4 zu 0 für die blöden Weinroten. Und es hätte sogar noch schlimmer kommen können.