Über das Buch

Seitdem Ann Lindell ihre Dienstmarke bei der Polizei in Uppsala abgeben hat, genießt sie die Ruhe ihres neuen Zuhauses in Tilltorp. Als dort die alte Schule niederbrennt und drei Flüchtlinge sterben, werden jedoch alte Gewohnheiten in ihr wach. Den Dorfbewohnern schmeckt Anns Fragerei allerdings überhaupt nicht – oder warum findet Ann bald nicht nur tote Vögel in ihrem Briefkasten, sondern auch einen verwesenden Dachs in ihrem Bett? Als ein anonymer Hinweis für sie bei ihrem Ex-Kollegen Sammy eingeht, glaubt Ann in der Stimme den Sohn eines alten Mordopfers zu erkennen. Aber was hat er mit dem Schulbrand zu tun, oder geht es um etwas ganz anderes?  

Über Kjell Eriksson

Kjell Eriksson, geboren 1953, lebt in der Nähe von Uppsala. Für seinen ersten Kriminalroman um die Ermittlerin Ann Lindell „Den upplysta stigen“ erhielt er 1999 den schwedischen „Krimipreis für Debütanten“. Sein Roman „Der Tote im Schnee“ wurde zum „Kriminalroman des Jahres 2002“ gekürt, eine Ehrung, die bereits Autoren wie Liza Marklund, Henning Mankell und Håkan Nesser zuteil wurde.  

Gabriele Haefs übersetzt aus dem Schwedischen, Norwegischen, Dänischen, Englischen, Niederländischen und Irischen, u. a. Werke von Jostein Gaarder, Anne Holt und Camilla Grebe. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Akademika-Preis der Universität Oslo und den norwegischen Ritterorden 1. Klasse. Sie lebt in Hamburg.

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Kjell Eriksson

Die Nacht des Feuers

Ein Fall für Ann Lindell

Roman

Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs

1

Regina Rosenberg war frisch angestellt, es war erst ihr dritter Tag, aber sie war trotzdem keine Dummbullin.

»Lindell.«

»Wie bitte?«

»Ich will mit Ann Lindell reden.«

»Es gibt keine Ann Lindell in der Dienststelle«, stellte Regina Rosenberg nach raschem Tastendruck und einem Blick auf den Bildschirm auf ihrem Schreibtisch fest.

»Aber sicher doch. Bist du neu, oder was?«

Das ließ sich nicht leugnen, deshalb suchte sie noch einmal, landete aber auch diesmal nur einen Treffer: Lindell, Leif Torsen, Fundsachen.

»Es tut mir leid, aber es gibt keine Ann Lindell hier im Haus. Worum geht es denn?«

»Hör doch auf, zum Teufel! Ich muss mit ihr reden. Will sie anonym sein, oder was?«

»Dieser Tonfall hilft nicht unbedingt besonders«, kommentierte Regina.

Es dauerte einige Sekunden. Der Mann am anderen Ende der Leitung atmete schwer, als ob er beim Joggen telefonierte. In der Ferne war ein schrilles Signal zu hören, es ähnelte dem hartnäckigen und beunruhigenden Geräusch einer sich senkenden Bahnschranke.

»Das … Vielleicht muss jemand sterben.«

Das beunruhigende Klingeln wurde immer lauter.

»Ich muss mit ihr reden. Sie ist die Einzige, die zuhört. Vielleicht muss jemand sterben.«

»Ich stelle Sie zum Gewaltabschnitt durch.«

2

Stefan Sanberg war kein guter Mensch, das war eine verbreitete Auffassung. In der Auflistung seiner sozialen Fähigkeiten fehlten wesentliche Dinge. Er hatte sich wohl noch nie gewinnbringend eine romantische Komödie angesehen oder sich freiwillig eine ruhige Ballade angehört.

Sogar seine Großmutter, die ihr ganzes Leben lang die Klugheit, oder die Schwäche, wie manche behaupten würden, besessen hatte, vieles zu übersehen oder zu verzeihen, musste dem zustimmen. »Er ist gemein«, könnte sie sagen. »Denn er denkt nur an sich.«

Diese Eigenschaft war für Evelina Sanberg die verachtenswerteste, denn sie war mit Umständen vertraut, in denen nur Großzügigkeit das Leben einigermaßen erträglich machte. Sie konnte sogar das Wort »solidarisch« benutzen, ohne dass es seltsam wirkte, schließlich war sie unter ärmlichen Verhältnissen in einer Landarbeiterunterkunft in Rasbokil aufgewachsen. In solchen Wohnwinkeln florierten damals neue Begriffe, die von den Armen problemlos übernommen wurden und schließlich die feierlichen Proklamationen mit Inhalt und Bedeutung füllten, denn nicht zuletzt verliehen sie den Wörtern Kraft.

»Jetzt ist das nur noch Katzenscheiße!«, konnte sie ausrufen, wenn von Politik die Rede war.

»Aber Sie fühlen sich hier doch wohl, Evelina?«, erwiderte Aamino, eine Pflegerin in dem Heim, in dem Evelina die letzten Jahre verbracht hatte.

»Ich mein ja nur«, sagte Evelina und zeigte ihr bestes Krokodilslächeln, und die Frau aus Somalia lächelte zurück, obwohl sie nicht verstehen konnte, was die alte Frau nun eigentlich nur meinte.

Stefan war an die siebzig Jahre jünger als seine Großmutter. In diesem beinahe Dreivierteljahrhundert hatte Schweden sich in einer seltsamen Pendelbewegung verändert, vom Aufbau, an dem Evelina teilgenommen hatte, zur Demontage, die sie an ihrem Lebensabend mit stetig wachsender Verwunderung beobachtete. »Für alles gibt es Papiere«, behauptete Stefans Vater Allan, aber das stimmte nicht so ganz, denn bei ihm als Schreiner mit eigener Firma kam es zu allerlei Schwarzarbeit. Er hatte bisher bei allen Wahlen für dieselbe Partei gestimmt wie seine Mutter, aber jetzt waren ihm Zweifel gekommen.

Die Pendelbewegung hatte dazu beigetragen, aus Stefan Sanberg einen einfältigen jungen Mann zu machen, der weder »Vernichtungslager« noch »Auschwitz« buchstabieren konnte, der im Netz aber gern dort aufgenommene Kinderbilder zeigte, als endgültige Lösung für das Problem, das ihn und seine Kameraden quälte. Alle geboren in den neunziger Jahren. Sie hatten natürlich niemals einen Bombenteppich, Heckenschützen oder kenternde Boote erlebt. Das dramatischste Ereignis ihrer Kindheit war gewesen, als der Schulbus bei Glatteis von der Straße abkam und sich auf die Seite legte, zum Glück aufgefangen von einer Fichte, so dass niemand ernsthafte Verletzungen davontrug.

Sie widmeten sich dem Hass als Hauptbeschäftigung. Das zehrte an ihren Kräften, denn sie hassten so sehr und so viele.

»Ich schnapp mir einen nach dem anderen«, sagte Stefan Sanberg und beschrieb mit der Hand einen weiten Bogen hinüber zur anderen Straßenseite, wo die alte Schule in der Abenddämmerung hell erleuchtet war. Im Fenster hingen Adventssterne und dahinter waren dunkle Schatten zu erahnen. Im Ort gab es Menschen, die fanden, das sehe richtig gemütlich aus, wie bei einer Feier im Gemeindehaus.

Die ganze Bande hatte sich zur Party im heruntergekommenen Haus des alten Ottosson versammelt. Der Alte selbst vegetierte in einem Altersheim dahin, aber ein Enkel hatte den Schlüssel. Bier und Schnaps waren in Strömen geflossen, und niemand glaubte so recht an Stefans Geplapper. Alle kannten seine Sprüche zur Genüge. Einige hörten genauer zu, waren möglicherweise beeindruckt, andere grinsten.

Einer von denen, die zuhörten, war Sebastian Ottosson. Er war ein Zuhörer, saß meistens stumm dabei und konnte deshalb geringschätzige und vielsagende Blicke auffangen und nicht zuletzt die unterdrückten Gefühle registrieren, die manchmal den seltsamsten Ausdruck annahmen. Er las zwischen den Zeilen, wusste, wie er die richtige Haltung einnehmen konnte, und daran gab es ja wohl nichts auszusetzen. Er verhielt sich wie die meisten anderen. Das Problem war seine Umgebung.

Sebastian trat ans Fenster, beobachtete die alte Schule. Er war zwei Jahre dort hingegangen, dann war die Schule stillgelegt worden, aber diese beiden Jahre hatten ihn nicht weiter beeinflusst, es gab keine Nostalgie, keine Erinnerungen, die das aufwogen, was er vor diesen erleuchteten Fenstern empfand.

Wenn da Kanacken wohnen sollen, ist die Bude hier doch total wertlos, dachte er. Er wusste, dass er das Haus erben würde, das hatte ihm sein Großvater versprochen. Sebastian hatte seine eigenen Vorstellungen davon, was er damit machen würde. Zum Haus gehörten einige Hektar Weideland, und Sebastian phantasierte schon lange davon, Schafe und Ziegen zu züchten. Von diesem Traum wussten nur wenige, aber er hatte in aller Stille seine Berechnungen angestellt. Es gab einen Markt für Ziegenmilch, das wusste er. Er würde es schaffen können; zu Anfang würde er vielleicht Zusatzjobs bei Sandvik oder anderswo annehmen müssen. Aber Kanacken als Nachbarn? Die würden sicher heimlich melken und Tiere stehlen. Die fressen doch Ziegen, das hatte er gehört. Wie hieß das noch, Hammel-Schlachten oder so was?

Es war ein umwerfend schöner letzter Tag des Jahres. Seit den Feiertagen hatte es heftig geschneit, nun zu Silvester jedoch klarte es auf. Die ganze Stadt, selbst die Wohnblocks mit den vergammelten Eternitfassaden und den verschimmelten Veranden auf der Rückseite und die von ländlicher Schwermut vernachlässigten Landarbeiterbehausungen, war in eine versöhnende weiße Decke gehüllt. Verlassene Sämaschinen sahen aus wie urzeitliche Tiere mit hellem Fell. Die Straßen waren umkränzt von schneeschweren Kiefern, und auf den Feldern funkelten Kristalle. Am Feldrand, umgeben von abweisendem Dickicht und invasiven Zitterpappeln, standen Rehe, zögernd, ehe sie sich ins Offene wagten, um unter der Schneedecke auf dem Grundstück von Waldemar Mattsson verfaulende Kartoffeln ausbuddeln zu können. Sie brauchten lange, denn es wehte ein steifer Wind, und der sollte im Verlauf des Nachmittags noch zunehmen.

Und das erschwerte natürlich die Löscharbeiten bei dem Brand, der später den gesamten Ort in Flammenschein hüllen würde.

»Die können ja verdammt noch mal nicht mal Schnee schippen«, rief Mattssons jüngster Sohn, Daniel. Sein Vater hatte einen Vertrag mit der Gemeinde, und Schneeschippen war deshalb Daniels Paradenummer, worüber er gern berichtete, am liebsten nach drei Tagen intensiver Pflügerei auf Markt- und Parkplätzen und in den Sackgassen eines Villengebietes in Gimo. Er war mit anderen Worten erschöpft und damit leicht zu beeinflussen. Die Wettervorhersage hatte versprochen, dass auch der Neujahrstag wolkenlos sein würde, deshalb hatte sein Vater ihm erlaubt, zum Fest zu gehen und sogar einiges an Alkohol zu trinken. Daniel behauptete, für zwei Stunden eingeschlafen zu sein, als das alte Jahr in das neue überging, und deshalb wollte er von jeglichem Verdacht einer Teilnahme an der tödlichen Brandstiftung befreit werden.

Denn tödliche Brandstiftung lag hier vor, davon waren alle überzeugt, auch wenn die Ermittlungen keine eindeutigen Beweise ergaben. Es war die Rede von in der Küche vergessenen brennenden Kerzen, von bedeckten Heizkörpern oder Überlastung des Stromnetzes in der stillgelegten Schule, in der seit mehreren Jahren keine Reparaturen mehr vorgenommen worden waren, die nun aber siebzehn Männern, dreizehn Frauen und neunzehn Kindern als Wohnstätte dienen sollte. Allesamt Opfer von Verfolgung und Krieg. Allesamt auf der Flucht.

In dieser Nacht fiel die Temperatur auf acht Grad unter null. Der Himmel funkelte im Sternenlicht, aber wer konnte sich darüber freuen, wenn der Strahlenglanz im eiskalten Wind von Rauch verdeckt wurde?

Gösta Friberg stand wie erstarrt da, gestützt auf den Küchentisch, auf zitternden Beinen, die Füße in Lammfellpantoffeln, und mit einem Feuchtigkeitsfleck im Flanellschlafanzug, eine Art Nachgeburt seines Toilettenbesuches. Der Feuerschein der brennenden Schule warf ein gespenstisches Flackerlicht in seine Küche. Funken stoben wie Schwärme disziplinloser Leuchtkäfer durch die Luft.

Er hatte alles gesehen, oder wie war das? Es war so schnell gegangen, als er, wie es seine Gewohnheit war, nach einem Abstecher auf die Toilette eine Treppe höher aus dem Fenster geschaut hatte. Die schattenhaften Gestalten, die sich vor dem Schnee abzeichneten, hatten es eilig, waren es zwei oder drei, das konnte er zunächst nicht erkennen. Sie kamen von der Scheune her und steuerten die Südwand des Schulhauses an, die, die seinem Haus zugekehrt war. Die Aussicht wurde teilweise von den Fliederbüschen versperrt, die immer schon die Grenze zwischen dem Schulgrundstück und seinem eigenen gekennzeichnet hatten. Die Gestalten bewegten sich schwerfällig durch den Schnee, einer stürzte, ihm wurde jedoch rasch wieder auf die Beine geholfen. Aber jedenfalls, es waren drei gewesen.

Es waren nicht nur die Dunkelheit und die hastigen Bewegungen der drei, die Gösta verwirrt hatten, die ganze Szene war wie eine Halluzination. Ab und zu kam es vor, dass er Trugbilder wahrnahm, vor allem bei seinen nächtlichen Ausflügen zur Toilette, wo er im Grenzland zwischen Schlafen und Wachen glaubte, allerlei zu hören und zu sehen. Irma hatte ihn immer wieder ausgelacht, wenn er morgens von seinen nächtlichen Erlebnissen erzählte. »Du solltest einen Horrorroman schreiben«, hatte sie einmal gesagt, und Gösta war beleidigt gewesen, obwohl er wusste, dass sie es nicht böse gemeint hatte. Für ihn waren diese Vorkommnisse fast Wirklichkeit, und es ärgerte ihn, dass Irma seine Offenbarungen kleinredete. Für ihn war das alles wirklich passiert, oder es hätte zumindest passiert sein können.

So ein Gefühl hatte er gehabt, als sich die Schatten durch die Nacht bewegten. An den folgenden Tagen würde er sich diesen Anblick immer wieder in Erinnerung rufen, und nach und nach würden sich die Konturen verschärfen. Am Ende wusste er dann immer, was er gesehen hatte, und dass das, was er gesehen hatte, Wirklichkeit war. Er war noch ein bisschen unsicher, wer es gewesen war, aber er glaubte doch, es zu wissen. Den, der an der Spitze gelaufen war, vornübergebeugt wie ein Soldat im Kampf, hatte Gösta so oft gesehen, dass er der Dunkelheit und der heruntergezogenen Mütze zum Trotz leicht zu identifizieren war. Dennoch zweifelte Gösta an sich selbst und an seinen Eindrücken.

Sofort begannen Flammen, gierig an der Fassade zu züngeln, und das an mehreren Stellen zugleich. Das Feuer konnte das hundert Jahre alte Holz rasch erfassen. Bald stand die ganze Schule in Brand, und die gesamte Vorderfassade war ein Flammenmeer. Das Obergeschoss, in dem ein Klassenzimmer und die alte Lehrerwohnung untergebracht waren, brannte lichterloh auf. Ein Feuerstrahl ließ wie ein Schneidbrenner in dem frischen Wind Funken vom Dach aufstieben, so dass das Dach teilweise einbrach. Alles ging so schnell. Ihm war klar, dass nichts mehr zu retten war. Er ahnte, durch die Büsche, Scharen von Menschen. Sie standen seltsam still, als ob sie ein Maifeuer betrachteten.

Gösta ließ sich auf einen Stuhl sinken. Er hätte natürlich die Feuerwehr alarmieren und danach hinausgehen und nachsehen müssen, ob er helfen könnte, aber er war einfach wie gelähmt. Man kann da nichts machen, die Schule ist verloren, murmelte er wieder und wieder vor sich hin, das Feuer gewinnt immer. Dabei, während dieser entsetzlichen Stunden in der Küche, kam er gar nicht auf die Idee, dass Menschen zu Schaden gekommen sein könnten. Das war natürlich ein unfassbarer Irrtum, ein Selbstbetrug, der seiner eigenen erbärmlichen Angst vor offenem Feuer entsprang.

3

Für kurze Zeit blieb er ganz still stehen, starrte hinab in den Schnee, blinzelte und versuchte, zu verdrängen, was geschah: die Schreie aus der Unterkunft, das Flammenmeer, das ein rastloses Flackern über den Himmel warf, den Rauch, die Kälte und nicht zuletzt den Schrecken.

Das ging natürlich nicht. Er würde niemals vergessen. Es gab nur eins für Omid. Flucht, abermals Flucht, das ganze Leben lang dieses Gefühl von Scham, nirgendwo dazuzugehören, gezwungen zu sein, weiterzulaufen, zu fliehen. Er streckte den Arm aus und fuhr mit der bloßen Hand über den Baumstamm, wo der Schnee wie in Streifen haften blieb. Einen Moment lang wollte er kehrtmachen, aber ihm war klar, dass das gefährlich sein könnte. Die Menschenmenge würde ihn vielleicht totschlagen. Sie waren ihm jedenfalls nicht freundlich gesinnt. Er wusste, wozu Menschen fähig waren, wenn sie sich zusammenrotteten.

Er schaute sich um und kehrte zur Straße zurück, in der Hoffnung, dass keine weiteren Autos vorüberkommen würden. Seine Füße waren steif gefroren. Seine Hände ebenfalls. Das einzig Warme war die Jacke, die er in der Eile mitgerissen hatte. Er stampfte mit den Füßen auf, schwenkte die Arme, genau wie früher sein Großvater, und lief dann in raschem Tempo fort, fort. Das Feuer hinter ihm tobte, das Feuer in ihm tobte, ließ seine Beine weiterlaufen.

Nach wenigen Minuten sah er das Licht von Scheinwerfern, und ihm war klar, dass es sich um ein Auto handelte. Ein Stück weiter vorn gab es zwischen den Bäumen eine schmale Stichstraße. An die fünfzig Meter tiefer im Wald waren die Fenster eines Hauses hell erleuchtet. Er rannte auf die schmale Straße; in dem einen halben Meter hohen Schnee herumzuspringen, war keine Alternative, wenn er sich nicht die Füße abfrieren wollte.

Das Auto fuhr auf der Hauptstraße vorüber und es kamen offenbar noch weitere, das Scheinwerferlicht spielte zwischen den Bäumen. Er steuerte das einsame Haus an. Ein Hund bellte. Er lief schneller, am Haus vorbei, das Bellen hörte nicht auf, ebbte aber nach und nach ab. Der Wald war dicht, dichter als jeder andere, den er je erlebt hatte. Die Dunkelheit machte ihm nichts aus. Was ihm Angst machte, war das Feuer. Die Erinnerung an verzehrendes Feuer.

Wie mochte es Hamid ergangen sein? Er hatte gesehen, dass sein Vetter der Frau aus Syrien geholfen hatte, er hatte eins ihrer Kinder getragen, es war eingehüllt in eine der roten Decken, die im Aufenthaltsraum auf den Tischen lagen. Er selbst hatte sich um Reza gekümmert, der Probleme mit dem einen Bein hatte. Vor Schmerz hatte Reza leise gewimmert, aber Omid hatte ihn angetrieben, hatte ihn fast vor sich hergestoßen, durch die Tür und dann stolpernd die Treppe hinab.

Draußen hatten sich die Schweden versammelt. Stumm. Niemand hatte versucht, zu helfen. Sie standen nur da, dicht aneinandergedrängt, wortlos, starrend.

Es ist nicht meine Schuld, hatte er schreien wollen, aber er wusste, dass Schweigen besser war; nicht gesehen und nicht gehört werden.

Er fing an, im Wind zu weinen. Brennendes Feuer oder lähmende Kälte, immer eins davon, nie etwas dazwischen, dass der Körper sich hätte entspannen können. Der Hund fing plötzlich wieder an zu bellen. Eine Tür wurde aufgerissen, ein längliches Viereck aus Licht fiel auf den Hofplatz. Eine Schattenfigur zeichnete sich im Hauseingang ab. Der Hund bellte. »Fresse halten!«, schrie ein Mann, und das war ein Ausdruck, den Omid kannte.

Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich zu erkennen zu geben. Das Licht, das aus der aufgerissenen Tür strahlte, verhieß Wärme, aber Omid rannte weiter. Der Schnee dämpfte seine Schritte. Gleich darauf hatte ihn die Dunkelheit verschlungen. Der Hund kläffte noch einmal. Die Tür wurde zugeschlagen.

4

Seit dem Brand waren inzwischen fast fünf Monate vergangen. Die polizeilichen Ermittlungen liefen natürlich noch, waren im Grunde jedoch zum Stillstand gekommen. Die Reste der alten Dorfschule waren abgetragen worden. Übrig waren nur noch ein Anbau, in dem früher einmal Klos und Abstellräume gewesen waren, und dann die schwarze Stelle auf dem Boden, ein dreiundzwanzig Meter langes und acht Meter breites Rechteck, mit einem verrußten Mauersockel, der aufragte wie ein makabres Denkmal für eine Brandstiftung, die drei Leben gekostet hatte, vielleicht vier. Die Mauerreste aus grob behauenem Granit waren von Mattssons Söhnen abtransportiert worden.

Nicht zuletzt für die, die früher auf diese Schule gegangen waren, war das ein bedrückender Anblick. Generationen von Dorfbewohnern hatten in der hundert Jahre alten Schule die Schulbank gedrückt. Wenn sie vorübergingen, erinnerten sie sich an Episoden aus einer anderen Zeit, an scheußliche und an lustige. Sie dachten an ihre eigene Kindheit, erinnerten sich an die beiden Lehrkräfte, Edlund und Gauffin. Der eine grob, die andere verständnisvoll, aber beide respektiert, von den meisten jedenfalls, jetzt, im Nachhinein. Åke Edlund war schon lange tot, das war bekannt, aber wo Alexandra Gauffin anzutreffen wäre, falls sie überhaupt noch lebte, wusste niemand, und deshalb war das Staunen groß, als sie eines Tages auftauchte.

Sie klopfte bei Gösta Friberg an die Tür und stellte sich vor, was absolut nicht nötig gewesen wäre. Gösta konnte die Tränen nur mit Mühe zurückhalten, als er seine alte Lehrerin musterte, die mit ihrem unnachahmlichen Lächeln und ihrem immer milden Blick so unerwartet auf seiner Türschwelle stand. Er rechnete rasch aus, dass sie über neunzig sein musste.

»Die Schule hat gebrannt«, war alles, was er herausbrachte.

»Das habe ich inzwischen auch gehört«, sagte die Lehrerin mit einer Stimme, die ihren Klang bewahrt hatte. »Ich war über Weihnachten und Neujahr bei meiner Schwester in Odense und habe nicht richtig mitverfolgt, was in Schweden passiert.«

Es ist seltsam, dachte Gösta, wie manche Menschen ungebrochen durch das Leben gehen.

»Sie sehen so gut aus, Frau Gauffin … wie früher«, sagte er und war sofort verlegen angesichts seiner Worte, die vielleicht als aufdringlich betrachtet werden könnten, sie war ja schließlich noch immer seine Lehrerin.

»Du auch, Gösta. Dieselben feinen Wangen und derselbe funkelnde Blick.«

Nun schluchzte Gösta auf. Seit dem Tod seiner Frau hatte niemand mehr etwas so Schönes zu ihm gesagt.

Sie tranken Kaffee vor der sonnigen Südwand, behielten dabei aber ihre Mäntel an. Es war Frühling. Die Traubenkirsche stand kurz vor der Blüte, und beim Flieder barsten die Knospen fast vor Sehnsucht, dabei hatte es noch vor kurzer Zeit geschneit. Die Frühlingsblumen wirkten deshalb etwas gestresst, sie wollten sich nicht vom Sommerflor ausstechen lassen.

»Du wohnst jetzt allein?«

»Ja, Irma ist vor einem Jahr und drei Monaten von mir gegangen. Es ist immer noch ein seltsames Gefühl.«

Es verging kein Tag, ohne dass er an sie dachte.

»Hatte sie Krebs?«

Gösta nickte. »Sie hat lange gekämpft, und wir haben alles versucht. Wir waren sogar in einer Spezialklinik in Florida, haben dort fast zwei Monate verbracht, aber nichts hat geholfen. Sie ist im Spätwinter gestorben.«

»Das muss ja eine Menge gekostet haben.«

»Ja, es war entsetzlich teuer, über neunzigtausend Dollar. Und als Schreiner hat man ja nicht gerade viel auf der hohen Kante liegen. Ich musste mir das meiste leihen.«

»Gut, dass die Bank in solchen Situationen zur Stelle ist, aber die nehmen sicher reichlich an Zinsen.«

Gösta lief leuchtend rot an. Frau Gauffin musterte ihn für einen Moment, dann wechselte sie das Thema.

»Und die Polizei weiß nichts?«

»Nein, die haben nichts herausgefunden. Sie wissen ja sicher, wie das ist.«

»Und was wird so geredet? Im Dorf, meine ich?«

»Die Leute wollen nicht darüber sprechen.«

Sollte er erzählen, was er wusste? Diese Frage hatte er sich schon hundertmal gestellt, schon von dem Tag an, als es in den letzten Überresten der Schule noch schwelte und die Polizei bei ihm angeklopft hatte.

»Es wird so viel geredet«, sagte er endlich und bestritt damit das, was er eine halbe Minute zuvor behauptet hatte.

»Ich dachte, ich bleibe eine Weile hier in der Gegend«, meinte Frau Gauffin. »Dann werden wir noch häufiger Gelegenheit haben, darüber zu sprechen.«

»Sie wollen eine Weile bleiben?«

»Ja, ich schreibe ein bisschen. Meine Erinnerungen, könnte man sagen, und da wäre es doch nett, einige von meinen ehemaligen Schülern zu treffen, und auch nützlich, weil das meine Erinnerungen bereichern würde. Die sind ja so unterschiedlich.«

»Sie wollen also die Leute hier interviewen?«

»Das ist wohl ein bisschen übertrieben ausgedrückt«, sagte Frau Gauffin.

»Wie werden Sie herumkommen?«

»Mein Urgroßneffe wird mich chauffieren. Er ist arbeitslos und ich bezahle ihn dafür. Er hatte seinen Lutschtabak vergessen und musste noch mal zurückfahren. Das dauert sicher eine Weile, ich habe gesehen, dass der Laden hier nicht mehr existiert.«

Die beiden, Lehrerin und Schüler, sprachen eine ganze Weile miteinander, bis ihnen die Füße kalt wurden. Sie zählten auf, wer noch in der Gegend wohnte, wer verstorben war und was ansonsten von Interesse sein könnte.

»Ein Junge wird vermisst, oder wie ist das?«, unterbrach Frau Gauffin plötzlich die Aufzählung der ehemaligen Schüler und brachte ihn zurück zu jenen entsetzlichen Tagen im Januar. Er nickte.

»Und es ist nichts Neues herausgekommen?«

»Nein, nichts Neues.«

Er fragte sich, wie viel sie wohl wusste. Zwei Vettern waren verschwunden. Der eine war wieder aufgetaucht. Gösta hatte ihn gefunden. Frau Gauffin schien über die Einzelheiten nicht informiert zu sein, obwohl darüber geschrieben worden war, und Gösta sah keinen Grund, es ihr zu erzählen. Er wollte es nicht erzählen. Er wollte nicht einmal daran denken, an den entsetzlichen Anblick, der sich ihm am frühen Morgen des 3. Januar geboten hatte. Er kam sich wie mitschuldig am Tod des Jungen vor. Und es gab Leute im Dorf, die genau das andeuteten.

Der Urgroßneffe der Lehrerin tauchte schließlich auf und fuhr lässig die Auffahrt hoch, nickte Gösta zu, machte aber keine Anstalten, den Wagen zu verlassen.

»Das ist ein solides Auto«, sagte Frau Gauffin und es klang, als ob sie den Chauffeur in dieses Urteil einbezog. Sie legte die Hand gleichsam tröstend auf Göstas Knie, ehe sie sich erhob.

Lange nachdem das Auto hinter Efraimssons Werkstatt verschwunden war, stand Gösta noch immer unter dem mächtigen Ahornbaum, den sein Großvater hundert Jahre zuvor gepflanzt hatte. Der Besuch hatte zweierlei Auswirkungen auf ihn gehabt, er fühlte sich belebt, aber auch wehmütig und ängstlich. Unbewusst streckte er eine Hand aus und streichelte den glatten Stamm, als wäre es die Haut einer Frau. Er müsste zurück ins Haus gehen, aber er wusste, dass im Freien alles leichter wurde, als ob die Angst ausgelüftet werden könnte.

»Geh zu Bertil«, sagte er laut und auffordernd und machte sich gehorsam auf den Weg. Es war ein Spaziergang, den er Tausende von Malen zurückgelegt hatte. Bertil Efraimsson war ein frommer Mann, Gösta dagegen ein verbissener Gottesleugner, aber sie waren trotzdem gute Freunde und waren es schon als Kinder gewesen. Sie waren bis auf eine Woche gleich alt, wurden im Juli sechsundsechzig, und waren Spiel- und Klassenkameraden gewesen, und außerdem Nachbarn. Bertil hatte nach seinem Vater und seinem Onkel die Werkstatt übernommen und weiterhin alles repariert, von Uhren bis zu Mähdreschern, aber als Mechanik immer mehr durch Elektrotechnik ersetzt wurde, hatte er seine Tätigkeit eingestellt. Diese Entscheidung hatte er an einem Freitag getroffen. Er hatte die wenigen Aufträge ausgeführt, die er noch hatte, am Dienstag ein Schild mit der Aufschrift »GESCHLOSSEN« angenagelt und war danach zum Alkoholgeschäft in Öregrund gefahren, wo er glaubte, nicht erkannt zu werden. Dort kaufte er eine Flasche Cognac von der Sorte, die sein Vater und sein Onkel getrunken hatten, der einzige Schnaps, der ihm namentlich bekannt war. Es war das erste und bisher einzige Mal in seinem Leben, dass er betrunken und laut geworden war. Eine seltsame und im Nachhinein unerklärliche Tat, die zu Reue hätte führen müssen, aber Bertil ignorierte die Kritik und die Verwunderung seiner Nachbarn, und der Pfingstler wurde in Göstas Augen menschlicher. Gösta betrachtete diese Tat als Respekterweis für die vorangegangenen Generationen. Bertils Vater, ein Schmiedesohn aus Lövstabruk, hatte mit bescheidenen Mitteln langsam die Werkstatt aufgebaut, und seitdem hatte diese zwei Familien versorgt.

Bertil stand auf dem Hofplatz und führte ein lautes Selbstgespräch, ohne zu ahnen, dass sein Nachbar sich näherte. Gösta blieb stehen, aber sein Gehör war zu schlecht, um mehr als ein paar einzelne Wörter zu verstehen. Bertil hatte sich in letzter Zeit verändert, war in sich gekehrt und schweigsam geworden, auch wenn er niemals ein überschwänglicher Spaßvogel gewesen war. Geheimnisvoll, das war ein Wort, das Gösta jetzt in den Sinn kam, als wollte der Nachbar nichts von sich preisgeben. Hatte auch er in der Brandnacht etwas gesehen? Sie hatten in all den Jahren immer miteinander geredet, diskutiert, einander unterstützt, aber nun schien diese Verbindung zerbrochen zu sein. Bertil wurde immer abweisender, das gemeinsame Kaffeetrinken in seiner Küche hatte abrupt aufgehört. Er war mürrisch und seltsam geworden, und überraschend waren außerdem Bertils neue Abendgewohnheiten. Früher hatte er spätestens nach den Fernsehnachrichten das Licht ausgemacht, jetzt brannten seine Lampen bis Mitternacht und noch länger. Ab und zu war er wie ein Schatten hinter einem Fenster zu erahnen. Gösta hatte ihn nicht fragen wollen, was er so spät noch machte, aber seltsam war es doch, dass ein Gewohnheitsmensch wie Bertil sich plötzlich so ganz anders verhielt. Brütete er vielleicht irgendeine Krankheit aus?

Und diese vielen Fahrten mit dem Auto, sogar bis nach Uppsala, das er früher nur widerwillig besucht hatte. Jetzt fuhr er immer wieder los und kam zurück mit Kästen und Tüten unbekannten Inhalts. Als Gösta einmal offen seine Neugier gezeigt hatte, hatte Bertil irgendetwas von wegen, er sei dabei, »etwas zu erfinden«, gesagt.

Bertil war hochgewachsen, und er war noch immer eine beeindruckende Erscheinung, wie er da auf seinem Hofplatz stand. Gösta war sich mit seinen eins zweiundsiebzig auf Socken neben ihm immer wie ein Hänfling vorgekommen. Bertil hatte ein Profil wie ein Mohikaner, mit Adlernase und kräftiger Stirn und den nach hinten gekämmten dunklen Haaren. In seiner Jugend war er deshalb als »der Indianer« bekannt gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Frauen gern bei Efraimssons vorbeigeschaut hatten, unter dem Vorwand, von Bertils Mutter Eier kaufen oder sonst etwas Alltägliches erledigen zu wollen, um ein paar Worte mit dem Sohn zu wechseln. Bertil aber blieb meistens in der Werkstatt und war schwer ansprechbar. Auch in der Gemeinde blieb er auf Distanz zu den Frauen, und irgendwann hatten diese Besuche dann aufgehört. Er blieb Junggeselle.

Gösta hüstelte und Bertil fuhr herum.

»Hast du mir einen Schrecken eingejagt«, sagte er. »Du kommst so selten …«

»Noch leben wir«, sagte Gösta, »aber es lässt nach.«

Sie reichten einander die Hand, eine Gewohnheit, die sie seit ihrer Jugend pflegten. Danach standen sie eine Weile schweigend da und betrachteten die Straße und die wenigen vorüberfahrenden Autos.

»Es ist seltsam«, bemerkte Bertil. »Die Amsel, die immer da oben in der Kiefer gesessen hat, ist verstummt. In diesem Jahr habe ich noch nicht einen einzigen Triller gehört.«

»Entweder hörst du nicht mehr so gut, oder die Amsel ist tot«, sagte Gösta.

»Ich höre nicht mehr so gut, das weiß ich, aber ich höre doch andere Vögel. Und tot?« Er schnaubte. »Es kommen neue Generationen, das war immer schon so, aber jetzt ist wohl Schluss.«

»Ich hatte Besuch.« Damit wechselte Gösta das Thema.

»Und wer sollte das sein?«

»Frau Gauffin.«

»Das ist doch nicht möglich.«

»Uralt ist sie geworden.«

»Wie eigenartig. Was wollte sie denn?«

»Sie will ihre Erinnerungen aufschreiben, hat sie gesagt.«

»Und da schreibt sie auch über dich?«

»Na ja, es geht wohl mehr um die Schule und so. Sie ist doch als frischgebackene Lehrerin hergekommen und geblieben, bis sie in Pension gegangen ist. Da gibt es natürlich allerlei Erinnerungen.«

Beide schauten zur Brandstätte hinüber.

»Ich hab gesehen, wer das Feuer gelegt hat, jedenfalls einen von ihnen«, sagte Gösta ganz ungeplant, und er war sofort bestürzt, weil ihm das herausgerutscht war. Bertil starrte ihn sprachlos an.

»Und das sagst du erst jetzt?«, rief er schließlich. Er wurde nur selten laut, aber jetzt war so eine Gelegenheit. »Der Polizei hast du doch erzählt, du hättest geschlafen.«

»Jaja, da hab ich eben was Falsches gesagt.«

»Was Falsches gesagt? So einen Blödsinn hab ich ja noch nie gehört!«

Gösta wandte sich ab, er konnte die entsetzte Miene seines Freundes nicht ertragen. Er wusste ja selbst, dass es eine selten idiotische Aussage gewesen war.

Bertil packte ihn an den Schultern, schüttelte ihn und zwang ihn, den Blick zu heben. »Du weißt, wer es war, oder was?«

»Lass mich los«, sagte Gösta. »Wir haben uns nie gestritten, und es gibt keinen Grund, jetzt damit anzufangen.«

»Das war Brandstiftung. Es hat Tote gegeben.«

Gösta nickte stumm.

»Es waren Leute, die du kennst«, stellte Bertil fest. »Jemand aus dem Dorf, oder?«

»Ich will jetzt nicht darüber reden«, sagte Gösta, riss sich los und lief mit großen Schritten davon. Er verfluchte seine Redseligkeit. Warum um alles in der Welt war er nun mit etwas herausgerückt, das er monatelang verschwiegen hatte, er begriff es nicht. War das vielleicht, auf irgendeine seltsame Weise, der Einfluss von Frau Gauffin?

Er hörte, dass Bertil etwas hinter ihm herschrie, aber er konnte kein Wort verstehen. Er wollte nicht hören, wollte sich nicht umblicken, es tat weh, mit seinem Freund uneins zu sein, und ihm war klar, dass die Sache nicht aus der Welt war. Bertil war dickköpfig und würde ihn wieder konfrontieren, ihn überreden wollen, alles zu sagen.

»Das wäre vielleicht das einzig Richtige«, murmelte er, als er durch sein Tor ging. Diesen Satz hatte er schon etliche Male gesagt, aber die Angst, vortreten und Zeugnis ablegen zu müssen, war zu groß. Er wusste, dass er alles verlieren würde. Jetzt hatte er zwar die Ehre eingebüßt und würde mit einem brennenden Gefühl der Beschämung leben müssen, aber er könnte weiterhin im Dorf und in seinem Haus wohnen. Und was würde es helfen, wenn er aussagte? Es stand ja nicht einmal fest, dass die Brandstifter dann verurteilt werden würden. Geschickte Anwälte würden seine Glaubwürdigkeit infrage stellen und alles versuchen, um seine Zeugenaussage in Stücke zu zerreißen, erst recht, wenn er sich erst ein halbes Jahr nach dem Brand als Zeuge meldete.

5

Sammy Nilsson war verblüfft. Er glaubte, die Stimme erkannt zu haben, konnte sie aber weder räumlich noch zeitlich zuordnen.

Nach dem kurzen Telefonat, nachdem er die Information der Zentrale wiederholt hatte, dass es im Haus keine Ann Lindell gebe, fuhr er mit dem Fahrstuhl hinunter zu Regina Rosenberg, um sich anzuhören, was die zu sagen hatte. Sie berichtete, dass der Mann unbedingt mit Ann Lindell hatte sprechen wollen, da sie die Einzige sei, mit der man überhaupt reden könne.

»Er hat nichts darüber gesagt, wie oder wo er sie kennengelernt hat?«

Regina schüttelte den Kopf.

»Lindell ist eine alte Kollegin, wenn ich das richtig verstanden habe.«

»Sie hat hier gearbeitet. Eine unserer Besten.«

»Und jetzt sitzt sie den lieben langen Tag bei Besprechungen in Stockholm.«

Sammy Nilsson lachte. Regina hatte rasch gelernt.

»Nein, im Gegenteil, könnte man sagen.«

Regina wartete auf eine Fortsetzung, aber Sammy Nilsson fand es ein bisschen peinlich, was seine ehemalige Kollegin inzwischen so trieb, und er schämte sich, weil es ihm peinlich war.

Die Lindellsche fehlte ihm. Sie war gut, vielleicht ein bisschen wechselhaft, und das schob er auf unglückliche Liebe und Wein, aber sie hatte etwas beigetragen, eine Art Bewusstsein um Verletzlichkeit. Sie wurde nie gefühlskalt, eher war sie immer aufs Neue überrascht und empört von den entsetzlichen Dingen, mit denen sie sich beschäftigen musste. Das hatte sie mit Ottosson geteilt, ehemals Chef des Abschnitts und Anns Beschützer, einige tuschelten, er sei ein geiler alter Bock gewesen und drückte deshalb ein Auge zu, wenn ihre Fehler gar zu offensichtlich wurden. Er wollte, dass alle »sich wohlfühlten« und dass im Abschnitt eine »gemütliche« Stimmung herrschte. Und tatsächlich war das oft der Fall. Die Personalfluktuation war unter seinem Regime erstaunlich gering gewesen.

Und dann Berglund, der Erfahrenste unter ihnen, mit einem ausgedehnten und feinmaschigen Netzwerk in Uppsala, das er so gut kannte, und seiner Art, andere anzusprechen, die sie zuhören und danach selbst sprechen ließ, Opfer, Täter und wertvolle Zeugen gleichermaßen. Er konnte pensionierte Schulmeister auftun, die einige Puzzleteile aus der Jugend eines »aufsässigen« Schülers beitragen konnten, Stücke, die einen Hinweis darauf geben mochten, in welcher Richtung die Polizei nach einer Lösung suchen sollte. Von einem Landarbeiter, dessen Vater wie Berglunds eigener auf Gut Ekeby gearbeitet hatte, waren wichtige Informationen zu erlangen, und das nur aufgrund von Redewendungen in seinem ausgeprägten Dialekt und durch einen gemeinsamen Bekanntenkreis, der bei ein paar Tassen Kaffee gewissenhaft durchgehechelt wurde. Er hatte eine Schwäche, und das war das andere Geschlecht; was er im Kontakt mit Männern auf so meisterliche Art durchführte, gelang ihm nie so recht, wenn er es mit Frauen zu tun hatte.

Ottosson und Berglund waren jetzt verschwunden, sowohl aus der Dienststelle als auch aus dem Erdenleben. Sammy glaubte, das habe dazu beigetragen, dass Lindell bei der Polizei aufgehört hatte. Sie wäre auf diese beiden Vaterfiguren angewiesen gewesen, diese Ansicht wurde von vielen vertreten.

Der Gewaltabschnitt war verjüngt worden. Sammy selbst gehörte zu den Veteranen, fühlte sich deshalb aber durchaus nicht sicher, im Gegenteil. Es waren neue Zeiten, eine neue Sprache, neue Codes für das Verständnis der Gesellschaft und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Berglund wäre sofort ausgestiegen, und Tatsache war, dass Sammy Nilsson auch schon mit dem Gedanken an eine Kündigung gespielt hatte. Aber wohin hätte er dann gehen sollen?

»Etwas in seiner Stimme hat mir Angst gemacht«, sagte Regina und riss Sammy damit aus den Gedanken. »Die Sache war ernst, als ob tatsächlich jemand sterben müsste.«

»Wie alt ist er?«

»Zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, nicht älter. So, wie er geredet hat, war das ein junger Mensch. Ein verzweifelter junger Mann. Sicher in Schweden geboren, jedenfalls dort aufgewachsen, und bestimmt auch in Uppsala. Er sprach ohne Akzent, es war kein gebrochenes Schwedisch.«

Sammy Nilsson stimmte zu. Zu diesem Schluss war er ebenfalls gekommen.

»Vielleicht muss jemand sterben«, sagte Regina, und Sammy war klar, dass sie sich über diesen Anruf noch gehörig den Kopf zerbrechen würde. Es würden noch weitere Anrufe kommen, sie würde viele entsetzliche Dinge hören, aber das hier war ihr erstes wirklich scheußliches Telefongespräch, eins, das ein bevorstehendes Verbrechen und den Tod eines Menschen angedeutet hatte.

Sie hörten sich den kurzen Wortwechsel noch einmal an, dann ein weiteres Mal.

»Diese Lindell hat vielleicht eine Idee.«

»Ich werde mit ihr reden.«

»Wohnt sie noch hier?«

Sammy lächelte nur als Antwort.

»Kannst du mir einen Mitschnitt des Anrufs besorgen?«