Edward Hyde, Freund des Schriftstellers Robert Louis Stevenson und Superintendent der Polizei von Edinburgh, hat ein Geheimnis: Ein Form der Epilepsie sorgt dafür, dass er wie aus wirren Träumen erwacht und feststellt, dass Zeit vergangen ist, ohne dass er weiß, wie und was er getan hat. Als er wieder einmal aufwacht, ohne Bewusstsein, wo er genau ist und wie er dorthin gekommen ist, steht er vor einem Leichnam, der gleich dreimal getötet worden ist. Ein Mann wurde erstochen, erhängt, und sein Kopf wurde unter Wasser getaucht. Offenbar ist an ihm ein keltisches Ritual vollzogen worden. Hyde beschließt, sich an seinen einzigen Freund zu wenden, den Arzt Dr. Samuel Porteous, und sich ihm mit der Frage zu offenbaren, ob er selbst etwas mit diesem dreifachen Mord zu tun haben könnte. Dann aber wird auch Porteous auf grausame Weise ermordet – und Hyde findet heraus, dass sein Freund nur zwei Patienten im Geheimen sah: ihn und jemanden, den er "das Biest" nannte. Doch alle Notizen zum Biest sind aus seinen Notizbüchern herausgerissen worden. Ist das Biest der Mörder, den Hyde sucht? Die schöne Ärztin Cally Burr, in die Hyde sich heimlich verliebt, bietet ihm ihre Hilfe an, oder ist sie nur daran interessiert, für andere hinter sein Geheimnis zu kommen? Hyde ahnt, dass er den Mörder finden muss, um sich selbst zu erlösen. Eine albtraumhafte Reise durch das Edinburgh des 19. Jahrhunderts beginnt.
Craig Russell, Jahrgang 1956, wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, seine Bücher wurden in 23 Sprachen übersetzt. Er lebt in der Nähe von Edinburgh. Im Aufbau Taschenbuch sind die Romane um den Hamburger Ermittler Jan Fabel lieferbar: »Blutadler«, »Wolfsfährte« und »Auferstehung«. Im Aufbau Taschenbuch ist darüber hinaus sein Roman über das Prag der dreißiger Jahre erschienen: »Wo der Teufel ruht«.
Wolfgang Thon, geboren 1954 in Mönchengladbach, studierte Sprachwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Berlin und Hamburg. Er hat bereits etliche Thriller von unter anderem Brad Meltzer, Robin Hobb, Steve Barry und Paul Grossman ins Deutsche übertragen.
Craig Russell
Der geheimnisvolle Mr. Hyde
Thriller
Aus dem Englischen von Wolfgang Thon
Für Wendy
»Es war ein Mann namens Hyde.«
»Hm«, machte Mr. Utterson.
»Nach welcher Sorte Mensch sieht er denn aus?«
»Er ist nicht leicht zu beschreiben. An seiner äußeren
Erscheinung stimmt etwas nicht – etwas Unangenehmes,
etwas regelrecht Widerwärtiges hat er an sich.
Noch nie ist mir jemand begegnet, der mir so zuwider war,
und doch weiß ich kaum, warum.«
Der merkwürdige Fall
von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Robert Louis Stevenson
Er sah seinen Freund an und wunderte sich, dass er überhaupt noch am Leben war.
Solch ein starker Charakter, eine so machtvolle Persönlichkeit mit solch unbezähmbarer Willenskraft und Entschlossenheit, und das eingepfercht in einem so kleinen und zerbrechlichen Gefäß. Als er die zierliche Gestalt mit den schmalen Schultern und das hagere vogelartige Gesicht betrachtete, das in der hellen Sonne noch blasser wirkte, wusste er, dass sein Freund nicht mehr allzu lange unter den Lebenden weilen würde. Schon jetzt wirkte seine weltliche Präsenz gedämpft, ausgebleicht wie das sich allmählich auflösende Abbild eines Mannes auf einer unfixierten Fotoplatte.
Und die ganze Zeit, während sie auf der Bank saßen, wo sie über den hellen Sand des Strandes und das glitzernde Band des englischen Kanals dahinterblicken konnten, war er sich bewusst, wie sehr seine eigene Robustheit mit der Gebrechlichkeit seines Freundes kontrastierte. Wie den manchmal unbehaglichen Blicken gelegentlicher Passanten zu entnehmen war, war an der Ausstrahlung des größeren Mannes nichts gedämpft.
In der Konversation der beiden gab es immer wieder ausgedehnte Pausen. Nach ihrer langen Bekanntschaft genügte ihnen oft einfach nur das behagliche Beisammensein. Außerdem fürchtete der größere Mann, sein Gegenüber zu ermüden. Es war schon Jahre her, seit sie sich das letzte Mal getroffen hatten, und der körperliche Verfall seines Freundes hatte ihn schockiert.
»Wir sollten bald nach Skerryvore zurückkehren«, sagte der ausgemergelte Mann jetzt. »Fanny wird eine Mahlzeit zubereitet haben.« Trotz der sommerlichen Wärme trug er ein schlecht sitzendes Jackett aus schwerem Baumwollsamt, das von seinen schmalen Schultern herunterhing. Sie hatten darüber geredet, ein verträglicheres Klima aufzusuchen, mit weniger verschmutzter Luft und mehr Sonne. Vielleicht den amerikanischen Westen oder die Südsee. Der massige Mann fragte sich, ob sein Gefährte wohl auch unter einem freundlicheren Himmel dieses Jackett tragen würde und ob sein Teint unter der Sonne irgendwann etwas Farbe bekäme.
»Es liegt vor allem an diesem verdammten Buch«, erklärte der zierliche Mann, ohne den Blick vom Meer zu wenden. Er hatte offenkundig die Besorgnis seines Freundes gespürt. »Es verzehrt mich, frisst an mir – und doch kann ich keinen klaren Rahmen finden, um es zu erzählen. Ich weiß genau, worüber ich schreiben will, ich weiß, dass es im Grunde um eine Geschichte der Dualität der menschlichen Natur gehen muss, über das Gute im Bösen und das Böse im Guten, aber jeden Tag sitze ich aufs Neue vor einer leeren Seite.«
»Die Dualität der menschlichen Natur, sagst du?«, hakte der andere nach.
»Obwohl wir es leugnen«, fuhr der gebrechliche Mann fort, »sind wir alle vielschichtig. In jedem von uns stecken helle Engel und dunkle Dämonen. Dieses Thema verfolgt mich seit meiner Kindheit. Du weißt, dass ich von meinem verstorbenen Vater diese Kommode geerbt habe, die von Dekan Brodie hergestellt wurde. Es ist ein wundervoll gefertigtes Möbelstück, und als Kind habe ich es tagsüber wie ein Wunder bestaunt. Aber in der Nacht … oh, in der Nacht hat allein der Gedanke, dass sie dort in der Dunkelheit stand, mich mit Furcht erfüllt. Ich fantasierte, dass der Geist des anderen Brodie, des nächtlichen Brodie sich mit seiner Bande in unser Haus schleichen und uns alle im Schlaf ermorden würde. Als Junge war ich von Brodies Geschichte besessen. Sie hat sich in die Geschichte Edinburghs eingebrannt. Tagsüber ein prominentes und respektiertes Mitglied der Edinburgher Gesellschaft, in der Nacht der übelste Schurke. Mich plagte ein Albtraum, in dem Brodie in meinem Zimmer auftauchte. Ich konnte im Schatten gerade eben seine große dunkle Gestalt erkennen. Er trug einen Dreispitz und ging durch das Zimmer. Die Werkzeuge seines Berufs schlugen in seinem Beutel klappernd gegen die Pistolen seiner nächtlichen Beschäftigung. Dann beugte er sich über mein Bett, und er hatte das stählerne Band um seinen Hals, das er, wie man sagte, trug, um den Henker zu überlisten. Als er das tat, sah ich beide Brodies gleichzeitig. Sein Lächeln war herzlich und wohlwollend und gleichzeitig ein bösartiges, grausames Grinsen.« Er machte eine kleine Pause.
»Ich habe sie immer noch, weißt du – die Kommode von Brodie, meine ich. Ich habe sie mit hierher nach Skerryvore genommen. Kurzum, Brodies Geschichte fasziniert mich nach wie vor, und ich möchte etwas dieser Art erzählen. Aber nicht einfach nur eine Geschichte über Gut und Böse, sondern über ihre Koexistenz in derselben Persönlichkeit, über all die Schattierungen und Kontraste zwischen ihnen. Über die Dualitäten und die Konflikte in der menschlichen Seele.« Er lachte leise. »Vielleicht ist es mein keltisches Blut, das mich für eine solche Besessenheit empfänglich macht. Oder es liegt daran, dass unser Land selbst eine geteilte Persönlichkeit hat, dass Schottlands zwiespältige Selbstwahrnehmung sich in seinen Söhnen wiederfindet. Was auch immer die Quelle dafür sein mag, es treibt mich jedenfalls, etwas über die Dualität der menschlichen Natur zu schreiben.« Er seufzte, und das Zucken seiner schmalen Schultern ging in dem voluminösen Jackett fast unter. »Nur ist es einfach so, dass ich meine Geschichte offensichtlich nicht zu Papier bringen kann.«
Der größere Mann schwieg eine Weile und richtete seinen Blick dann ebenfalls auf irgendeinen fernen Punkt auf dem Wasser.
»Wenn du wirklich nach solch einer Geschichte suchst«, antwortete er schließlich, »kann ich dir eine erzählen.«
Dann vertraute Edward Hyde unter der hellen, aber freudlosen Sonne von Bournemouth seinem kränkelnden Freund Robert Louis Stevenson seine Geschichte an.
DER GEHÄNGTE
Zwei Jahre zuvor
Noch nie hatte man so etwas gehört.
Hoch, schrill und rau durchdrang es die Nacht, scharf, bebend, flatternd. Ein Geräusch zwischen einem Jammern und einem Schrei, und dennoch ähnelte es keiner Stimme. Es schien nicht menschlichen Ursprungs zu sein.
Eine mondlose Nacht hatte sich über die Stadt gelegt. Die Dunkelheit erklomm langsam die Flanken des Mound, sickerte durch die Zinnen und Schießscharten des Schlosses, kroch schleichend in die Altstadt und schob ihre dunklen Finger in die schmalen Gassen und engen Höfe; schwarz rieb sie sich an den eleganten Reihenhäusern und Crescents der Neustadt, an den luxuriösen Scheiben der breiten, hohen Fenster. Aber als wäre sie von einer düsteren Schwere, war die Nacht nirgendwo schwärzer als dort, wo sie in die Tiefen des Kanals gesunken war, der die Stadt durchzog und sauberes Wasser aus den Höhen der Pentlands dorthin transportierte, wo es bald schmutzig, dunkel und von Schaum überzogen durch die schattigen Abwasser der Mühlen strömte, die wie an einer Schnur den Water of Leith säumten.
Als jenes Geräusch an ihre Ohren drang, bewegte sich Nell McCrossan wie ein leichter, substanzloser Schatten durch die Dunkelheit. Sie war zierlich für ihre vierzehn Jahre, abgemagert, zart wie ein Vögelchen, und ihre Haut schimmerte in den schwachen Lichthöfen der spärlichen Gaslaternen so hell und weiß wie das Mehl, das die Mühle herstellte, in der sie arbeitete.
Nell war eine furchtsame Seele. Sie fürchtete den Fußweg zu ihrer Schicht, hatte Angst vor der Dunkelheit zwischen den Gaslaternen, ihr bangte vor den schwankenden Schatten der Ulmen und den Stimmen, die sie manchmal über das Rauschen des Flusses zu hören glaubte. Aber sie hatte gelernt, ihren Ohren zu misstrauen. Das Dröhnen und Klappern der Maschinen in der Mühle hatte ihr Gehör geschädigt, hallte in ihren Ohren nach wie geisterhaftes Läuten und verfolgte sie in ihrem Schädel mit geisterhaftem Dröhnen, lange noch, nachdem sie die Mühle verlassen hatte.
Ihre Familie war vor einer Generation aus den Highlands in die Stadt gezogen. Sie hatten aus der grünen Oase von Tälern, Bergen und Schluchten dem höheren Profit der Schafzucht weichen müssen. Die einzige Welt, die Nell je kennengelernt hatte, war die lärmende, beengte und rauchige Welt der Wohnblöcke, die Gassen und Höfe der Altstadt gewesen, und der harsche gutturale Sassenach-Dialekt von Edinburgh. Dennoch hatten das weiche Gälisch ihrer Eltern und die Geschichten einer unsichtbaren Feenwelt ihre Kindheit durchzogen. Als sie jetzt zügig über den von unheimlichen Schatten gesäumten Weg zu ihrer Arbeit in der Mühle hastete, schienen die bedrohlichen Geräusche des glatten tintenschwarzen Flusses aus dem Kanal neben dem Weg nach ihr zu greifen und beschworen in ihrer Erinnerung Geschichten von Seslkies und Kelpies und anderen bösartigen Wassergeistern herauf.
Aber als jener Laut zu ihr drang, fielen alle anderen Ängste von ihr ab, alle Geräusche, reale und eingebildete. Dieses schreckliche, kreischende Jammern schien ihre Haut und ihren dürren Körper zu durchdringen und in ihren Knochen zu klingen. Nell schrie selbst auf, als Furcht in ihr aufstieg und in die Nacht hinauszuströmen schien.
Wieder ertönte es, das bebende, rasselnde Kreischen, das im Kanal widerhallte und von den schwarzen Wänden der Mühlen zurückgeworfen wurde, bis es aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien.
Nell wimmerte, ein Kind allein in der Nacht, das verzweifelt die Dunkelheit nach diesem schrecklichen Wesen absuchte, das so fürchterliche Laute von sich gab, um herauszufinden, in welche Richtung sie fliehen sollte.
Ein drittes Mal ertönte dieses unmenschliche Klagen.
Nell fuhr auf dem Absatz herum und floh, rannte in die Dunkelheit zwischen den Laternenpfosten.
Und lief direkt hinein.
In der Dunkelheit war die Masse unsichtbar gewesen, plötzlich jedoch verfestigte sie sich, als hätten die Schatten sich zusammengeballt, um ein Hindernis für ihre Flucht zu bilden. Die Wucht des Zusammenpralls schleuderte sie zurück, so dass sie schmerzhaft auf dem Boden landete. Ihr Rücken krachte auf die feuchten Pflastersteine. Alle Luft wich aus ihrer Lunge, und sie rang verzweifelt und schmerzhaft nach Atem.
Sie bekam jedoch nicht genug Luft, daher konnte sie nicht um Hilfe rufen, als die Masse sich über sie beugte. Die Silhouette wurde größer, hob sich dunkler vor der schwarzen Nacht ab. Kräftige Hände packten sie, und Nell schrie erstickt auf. Sie hatte noch nicht genug Luft geschöpft, um laut zu schreien. Und immer noch blieb ihr Häscher nicht menschlich und formlos. Sie konnte weder ein Gesicht noch Einzelheiten erkennen.
Die dunkle Kreatur hob sie hoch, als wäre sie vollkommen substanzlos. Sie hielt sie an den Oberarmen gepackt, und Nell spürte, dass es dieses Monster keine Mühe kosten würde, ihr die Knochen zu brechen. Es trug die vollkommen hilflose Nell in den Lichtkegel einer Gaslaterne.
Plötzlich schufen Licht und Schatten ein Gesicht, das Nell erkennen konnte. Sie hatte Atem geschöpft, aber sie konnte immer noch keinen Schrei ausstoßen, laut um Rettung vor dieser rauen Bestie zu rufen, die sie jetzt gefangen hielt. Die Gesichtszüge des Mannes lösten trotz des Lichts Entsetzen in ihr aus. Grobe, harte Gesichtszüge, die abstoßend wirkten, obwohl sie auf eine brutale Art gut aussahen. Furcht. Entsetzen. Sie fühlte sich von einem Monster gefangen, vom Teufel selbst.
Dann erkannte sie ihn. Sie wusste, wer er war, aber diese Erkenntnis vermochte ihre Furcht kaum zu mindern.
»Geht es dir gut?« Seine tiefe Stimme war so samten und dunkel wie die Nacht. »Hast du dir wehgetan?«
Nell schüttelte den Kopf.
»Woher kam das?«, fragte er. Wieder schüttelte sie stumpfsinnig den Kopf, immer noch hypnotisiert von den leuchtend blauen Augen, die in dem grausamen Gesicht glitzerten. »Der Schrei, Mädchen«, drängte er sie ungeduldig. »Woher kam dieser Schrei?«
»Ich … weiß … nicht, Sir«, stammelte sie. »Er schien von überallher zu kommen. Aber beim ersten Mal …« Sie deutete vage in Richtung des Kanals neben ihnen.
»Weißt du, wer ich bin?«, wollte er wissen. Nell blickte ihm erneut ins Gesicht, in die funkelnden Augen unter dem Schatten von Hut und Stirn, betrachtete die groben Wangenknochen, sein massiges Kinn. Das Gesicht schien aus einem härteren Material als Stein gemeißelt zu sein. Sie nickte, immer noch furchtsam.
»Sie sind Captain Hyde, Sir.«
»Wie heißt du, Kind?«
»Nell, Sir. Nell McCrossan.«
»Arbeitest du in der Mühle, Nell?«
Sie nickte wieder.
»Dann lauf sofort dorthin und sage deinem Vorarbeiter, dass ich Männer brauche, die mir bei der Suche helfen. Und richte ihm aus, er soll jemanden zur Polizeiwache in Dean senden, damit die ein paar Constables herschicken.«
Sie blieb stumm und rührte sich nicht, sondern musterte immer noch regungslos und gebannt Hydes Gesicht.
»Lauf jetzt!«, befahl er ihr nachdrücklicher, als er beabsichtigt hatte. Aber seine harten Worte brachen den Bann, und sie rannte in Richtung Mühle davon.
Hyde zog eine Taschenlampe aus seinem Ulster-Überzieher und beleuchtete den Weg, die Bäume und den Fluss um ihn herum. Der Lichtkegel erweckte seine Umgebung zu einem bedrohlichen Leben. Das rauschende Wasser funkelte schwarz und ölig im Strahl der Lampe, die Schatten der Bäume und Büsche am Flussufer schwankten bedrohlich. Nichts deutete darauf hin, dass irgendetwas nicht stimmte.
Er verließ den Pfad und trat an den Rand des Flusses, folgte der Richtung, in die das verängstigte Mädchen gezeigt hatte. Der Fluss verwandelte sich in eine glatte Schlange, die sich ihren dunklen Weg zum fernen Leith und weiter zum Meer suchte, während die nächtlichen Geräusche hier immer lauter wurden. Hyde fuhr zusammen, als mit einem lauten metallischen Knall die Puffer von unsichtbaren Lokomotiven auf dem Balerno-Güterbahnhof zusammenprallten. Als er weiter am Flussufer entlangging, wurden die Geräusche schwächer. Die Fluten des Water of Leith trieben die Wasserräder der Mühlen auf seinem Weg an, und in regelmäßigen Abständen strömte die Flut in einer Kaskade über die Wehre. Hyde hörte an dem donnernden Brausen des Wassers, dass er sich einem Wehr näherte.
Das Dickicht aus Zweigen und Büschen am Ufer hielt ihn auf, so dass er ein kurzes Stück auf dem Pfad weitergehen musste. Über das Rauschen des Wehrs hörte er kurz die Stimmen, die ihn riefen, bevor auch diese Geräusche übertönt wurden. Die Männer aus der Mühle. Um ihnen die Richtung anzuzeigen, in die er gegangen war, zog Hyde seine Dienstpfeife aus der Tasche und blies drei scharfe Alarmtöne.
Dann ging er weiter auf dem Pfad in Richtung des Wehrs, aber der Blick auf den Fluss wurde ihm von dichtem Unterholz verwehrt. Er erreichte das Wehr, und plötzlich war das Dickicht am Ufer verschwunden. Ein kurzes altersschwaches Eisengeländer, verrostet und verbogen, bot den einzigen Schutz vor einem Sturz in die Tiefe, wo der Fluss nach dem Wehr gut zwanzig Fuß abfiel. Die Dunkelheit und das Brausen des Wassers machten Hyde irritierenderweise Weise blind und taub für alles andere außer diesem kleinen Bereich seiner Wahrnehmung. Er ließ den Lichtstrahl der Lampe über das Flussufer auf seiner Seite und dann über den schäumenden Rand des Wehrs auf das andere Ufer wandern.
Da sah er es.
Es bewegte sich im Licht, wand sich, verdrehte sich und zitterte: etwas Fahles, Hautähnliches. Zuerst wurde er nicht schlau daraus.
Der Zweig einer Ulme ragte über den Fluss hinaus, als würde er Hyde seine bleiche Frucht darbieten. Die Gestalt, die daran hing, war in der ungenügenden Beleuchtung von Hydes Handlaterne zuerst nicht zu erkennen. Zu seiner Verwirrung trug auch die Bewegung dieses Wesens bei, das tanzte, als würde es leben. Dann jedoch erkannte Hyde den düsteren Sinn: Dicht am gegenüberliegenden Ufer hing mit dem Knöchel an einem langen Seil, das am Ast des Baums befestigt war, kopfüber ein nackter Mann. Der Strahl von Hydes Laterne folgte der bleichen Gestalt bis zu der klaffenden Wunde in seiner Brust. Eine dicke Blutspur, die schwarz und glatt in der Nacht glitzerte, verlief bis zur Kehle des Mannes. Sein Kopf wurde jedoch vom schäumenden Wasser des Flusses verborgen. Es war diese Strömung, die so wütend an dem Kopf zerrte, die die Gestalt bewegt und ihr einen Anschein von Leben eingeflößt hatte.
Hyde zog erneut die Pfeife aus seiner Tasche, drehte sich in die Richtung, aus der er gekommen war, und pfiff erneut dreimal kurz.
Wie zur Antwort ertönte jener Schrei erneut. Er war gerade noch über dem Rauschen des Wasserfalls hörbar. Am Anfang dachte Hyde, es wäre das Echo seiner Pfeife, aber dann erkannte er diesen hohen, unmenschlichen Ton, der diesmal noch klagender und trauriger klang. Er wirbelte herum, konnte jedoch nicht feststellen, aus welcher Richtung er gedrungen war. Aber woher auch immer er kam, eines war klar – er kam nicht aus dem Mund des Toten, der da kopfüber von dem Baum herunterhing.
Er pfiff erneut dreimal, und diesmal antworteten ihm lautere Schreie der Mühlenarbeiter, die zu ihm unterwegs waren. Als sie näher kamen, sah er unter ihnen das junge Mädchen, das gegen ihn geprallt war. Ihr Gesicht wirkte im Licht der Laternen gespenstisch. Hyde befahl den Männern, die Kleine zur Seite zu nehmen, damit sie das Grauen dort am gegenüberliegenden Ufer nicht sehen musste.
»Haben Sie es gehört, Sir?«, fragte sie Hyde. »Das war wieder die Bean-Nighe.«
»Die was?«
»Die Bean-Nighe.« In Nells Stimme schwang eine Furcht mit, die nicht nur aus ihr selbst zu kommen schien, sondern schon seit Generationen fortexistierte. »Die Waschfrau – die am Rand des Wassers klagt.«
»Was redest du da?«, wollte Hyde wissen.
»Die Bean-Nighe kommt aus dem Feenreich und klagt, während sie die Kleider derjenigen wäscht, die sterben werden.« Jetzt zitterte nicht mehr nur ihre Stimme, sondern ihr ganzer hagerer Körper. »Das war es, was wir gehört haben. Die Bean-Nighe. Sie ist eine Ban-Sìth, verstehen Sie?«
Hyde nickte. »Jetzt verstehe ich. Aber ich versichere dir, was wir da gehört haben, stammte ganz sicher von dieser Welt, Nell.« Er drehte sich zu einem der Männer herum. »Sie steht unter Schock. Bringt sie zur Mühle zurück, damit sich dort jemand um sie kümmert.«
Nachdem das junge Highland-Mädchen verschwunden war, führte Hyde die Männer zur nächsten Brücke über den Fluss und dann über das andere Ufer zurück zu der Stelle, an der der nackte Mann am Baum hing. Einen Moment blieben sie schweigend vor ihm stehen, wie Männer es manchmal angesichts eines gewaltsamen Todes tun. Hyde konnte jetzt die Leiche deutlich erkennen, aber der Kopf und das Gesicht waren immer noch unter Wasser verborgen. Die Wunde in der Brust war tief und groß, wie ein klaffender Mund. Jemand hatte ihm das Herz herausgeschnitten.
»Er wurde ermordet«, stellte einer der Mühlenarbeiter neben Hyde fest.
»Mehr als das«, ließ sich ein anderer vernehmen. »Er wurde dreimal ermordet.«
Hyde drehte sich fragend zu dem Mann herum.
»Gehängt, aufgeschlitzt und ertränkt …«, erklärte der Mann. »Warum sollte das jemand einem anderen Menschen antun?«
»Holt mir eine Stange oder irgendetwas mit einem Haken!«, befahl Hyde. »Ich will die Leiche ans Ufer ziehen.«
Ein dritter Arbeiter erbot sich, zur Mühle zurückzulaufen, um etwas Geeignetes zu besorgen.
Während Captain Edward Henry Hyde, Superintendent der Detectives bei der Edinburgh City Police, mit den anderen Männern wartete, bekümmerten ihn zwei Gedanken zutiefst. Der erste war, dass er durch pures Glück einen brutalen Mord durch seine vollkommen zufällige Anwesenheit am Schauplatz aufgedeckt hatte, obwohl er sich ums Verrecken nicht daran erinnern konnte, warum er sich hier an diesem Ort aufhielt, so weit entfernt von seinem üblichen Revier, und zudem nicht einmal wusste, wie er hierhergekommen war.
Das zweite, was ihm Kopfzerbrechen bereitete, war das ernste Entsetzen eines jungen, furchtsamen Mädchens, das immer noch von den fernen Highlands und ihren Mythen verfolgt wurde. Und deren Entsetzen sich auf die Überzeugung stützte, dass die Schreie, die sie gehört hatten, von einer Ban-sìth stammten.
Einer Banshee. Einer Todesfee.
Dr. Samuel Porteous saß am Kamin in seinem Arbeitszimmer und wartete auf das Eintreffen von Edward Hyde.
Porteous war ein energischer, gut aussehender Mann mittlerer Größe, dessen jugendliches Äußeres seine siebenundvierzig Lebensjahre Lügen strafte, von denen er einundzwanzig als Mediziner praktiziert hatte. Zudem hatte er einen Hang zur Eitelkeit, vor allem was sein kastanienbraunes Haar und seine außergewöhnlichen smaragdgrünen Augen anging. Diese Eitelkeit manifestierte sich in künstlerischer Form in Gestalt seines Porträts über dem Kaminsims. Mittlerweile jedoch, fünf Jahre nachdem er es in Auftrag gegeben hatte, missfiel Porteous das Gemälde, weil er sein jüngeres Abbild um seine Unveränderlichkeit beneidete, um seine Unempfindlichkeit dem Alter gegenüber.
Samuel Porteous’ Herkunft war erheblich bescheidener als die vieler anderer seiner Profession und gesellschaftlichen Stellung, und er neigte dazu, seine soziale Unsicherheit zu kompensieren, indem er mehr Mittel für feine Kleidung erübrigte, als es der presbyterianische schottische Anstand normalerweise zuließ.
Der Schatz seiner intellektuellen Fähigkeiten jedoch gab ihm keinerlei Anlass zur Unsicherheit. Seit seinem ersten Studienjahr an der medizinischen Fakultät der Edinburgh University war Porteous als aufgehender Stern der Wissenschaft betrachtet worden. Einen solchen Ruf ausgerechnet in Edinburgh zu erlangen, der Welthauptstadt medizinischen Fortschritts, bedeutete, dass kein Ziel zu kühn erschien – und Dr. Samuel Porteous war ein Mann mit wahrlich kühnem Ehrgeiz. Im Laufe seiner Karriere hatte er sich einen Namen als Pionier der Neuropsychiatrie erarbeitet. In den letzten beiden Jahren hatte er sich zunehmend auf die neuen Disziplinen der Psychophysik und Psychologie gestürzt. Er war davon überzeugt, dass in diesen neuen Forschungszweigen die Antworten auf sehr viele bis dahin unlösbare Rätsel der modernen Psychiatrie lagen.
Porteous’ wesentliches Tätigkeitsfeld befand sich auf der Station für Geistesgestörte des Craiglockhart Hydropathic Hospitals, aber er unterhielt auch Praxisräume in der Neustadt. Außerdem behandelte er zusätzlich noch zwei weitere Patienten – und zwar ausschließlich diese beiden – in seiner privaten Residenz und außerhalb der normalen Sprechzeiten. Diese Fälle hatten ihre eigenen und unterschiedlichen Gründe, um bei ihrer Behandlung Privatsphäre, ja, sogar Geheimhaltung zu suchen. Keiner der beiden wusste von der Existenz des anderen und ebenso wenig davon, dass sie in Porteous’ Augen paradoxerweise zwei Seiten derselben Medaille bildeten. Und das, obwohl ihre Persönlichkeiten kaum gegensätzlicher hätten sein können.
Diese geheimen Besucher waren Fälle, über die Porteous keine offiziellen Unterlagen anfertigte. Die Einzelheiten seiner Eindrücke von den beiden sowie seine Behandlung wurden ausschließlich im persönlichen Tagebuch des Arztes aufgezeichnet, das er im Safe seines Arbeitszimmers aufbewahrte. Er hatte seine eigenen Gründe, die Geheimnisse seiner Patienten zu wahren. Beide Fälle lieferten einzigartige Möglichkeiten für eine bahnbrechende Forschung. Eine große Entdeckung wartete darauf, enthüllt zu werden.
Zudem hütete Doktor Samuel Porteous selbst ebenfalls genug Geheimnisse. Zwei Dosen eines bestimmten Präparates lagen ungeöffnet in seinem Medizinschrank. Dort warteten sie darauf, angewendet zu werden, sollten die Symptome, die in ihm schliefen, wieder erwachen. Aber diese Furcht wurde zurückgestellt: Es war eine Herausforderung für einen anderen, hoffentlich noch weit entfernten Tag.
Einer der beiden vertraulichen Fälle war Porteous’ Freund Edward Hyde. Und eben den erwartete er in dieser Nacht als Besucher.
Etwas an Hyde verwirrte Proteus. Der Arzt versuchte zu verstehen, was an dem Mann und seiner Ausstrahlung es war, das bei jeder Begegnung Unbehagen in ihm auslöste.
Wie Porteous in seinem Journal notiert hatte, war Hyde nicht besonders groß, auf jeden Fall jedoch imponierend. Er war breitschultrig, wenn auch nicht übermäßig, aber seine Präsenz schien fast einen bedrückenden Schatten zu werfen. Porteous beschlich oft das Gefühl, dass Hydes Proportionen verzerrt waren: sein Kopf etwas zu schwer, seine Arme einige Zentimeter zu lang und seine Schultern ein wenig zu massig. Etwas an Edward Hyde schien auf eine Entwicklungsstufe zu verweisen, die die Menschheit bereits überwunden hatte, auf irgendeinen kürzlichen, aber verschollenen darwinistischen Vorentwurf des Menschen. Doch all diese Eindrücke waren weder Beobachtungen, geschweige denn gemessene Werte, sondern eher Wahrnehmungen der Intuition.
Ebenso wenig war Hyde ein hässlicher Mann. Im Gegenteil, er strahlte eine düstere Attraktivität aus, aber etwas in seiner Erscheinung war teuflisch, abschreckend und schuf Distanz. Hyde stieß zurück, ohne dass er direkt abstoßend gewesen wäre. Und auch die Gemessenheit seines Verhaltens war sonderbar. Seine Sprache, sein Mienenspiel und seine Bewegungen waren äußerst ökonomisch, und diese Ruhe selbst war beunruhigend. Sie hinterließ den Eindruck, als wäre ein nur hauchdünner Schleier über eine extreme und leicht entflammbare Brutalität gezogen und als könnte jeden Moment Hydes wirklich außerordentliche Gelassenheit in Gewalttätigkeit umschlagen.
Doch diese Eindrücke wurden immer und augenblicklich zerstreut, sobald Hyde Porteous in ein Gespräch verwickelte. Die traurige Wahrheit war, dass der Arzt ernsthaft bezweifelte, jemals einen besseren Menschen als Captain Edward Henry Hyde kennengelernt zu haben. Alles, was Porteous über diesen Mann wusste, sagte ihm, dass Hyde ein mitfühlendes Herz gegenüber den Ungerechtigkeiten und Verletzungen hatte, die anderen zugefügt wurden. Und weit entfernt von Primitivität war er ein Gentleman von äußerster Kultiviertheit und Bildung.
Porteous hatte bei seinem Freund eine Form der Epilepsie diagnostiziert, deren Bekanntwerden Hyde augenblicklich seine Stellung als Superintendent der Detectives der City of Edinburgh Police gekostet hätte. Deshalb hatte er Hyde Geheimhaltung versprochen. Aber es gab noch weitere und weniger noble Erwägungen, die Porteous zum Schweigen veranlassten. Der Zustand seines Freundes, die sonderbaren Absencen von der Realität und die noch bizarreren Träume, die in Wahrheit blühende Halluzinationen waren, die Hydes nächtliche Anfälle schufen, boten dem ehrgeizigen Psychiater ein Guckloch in bis dato unerforschte Ebenen des menschlichen Bewusstseins.
Porteous wusste, dass es sehr viel in dieser sonderbaren »Anderswelt« von Captain Edward Henry Hyde zu lernen gab.
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Die Nacht sammelte sich vor den Fenstern. Doktor Samuel Porteous zog die schweren Samtvorhänge seines Arbeitszimmers vor, entzündete das Feuer im Kamin und saß da, während er beobachtete, wie die Flammen zum Leben erwachten. Dabei versuchte er sich die ganze Zeit ins Gedächtnis zu rufen, dass da ein Freund zu ihm unterwegs war und nicht etwas Düsteres als die immer schwärzer werdende Nacht.