Als die Nazis in Polen einmarschieren, bleibt Eli Rosen nichts anderes übrig, als ein Bündnis mit dem zwielichtigen Max Poleski einzugehen, der gute Kontakte zu den Deutschen pflegt. Er verspricht, Elis Familie zu schützen, doch er entpuppt sich als Verräter.
Nach Kriegsende kämpft Eli mit seinem Sohn in einem Geflüchtetenlager um den Erhalt einer Einreiseerlaubnis nach Amerika. Dort trifft er ausgerechnet auf den Mann, der seine Familie vor Jahren verraten hat. Max Poleski bereichert sich noch immer an dem Schicksal der Juden und verkauft illegale Visa. Eli schwört Rache. Er will herausfinden, was mit seiner Frau Esther geschehen ist und Poleski endlich zur Rechenschaft ziehen – koste es, was es wolle.
Ronald H. Balson ist Rechtsanwalt, und seine Fälle führten ihn um die ganze Welt, unter anderem nach Polen. Heute lebt und schreibt er in Chicago.
Im Aufbau Taschenbuch liegen seine Romane »Karolinas Töchter«, »Hannah und ihre Brüder« und »Ada, das Mädchen aus Berlin« vor.
Gabriele Weber-Jarić lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Mary Morris, Mary Basson, Kristin Hannah und Imogen Kealey ins Deutsche.
Ronald H. Balson
Esthers Verschwinden
Roman
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Weber-Jarić
Für Monica.
Versprechen gehalten.
Wer sich dem Bösen nicht widersetzt,
befiehlt, dass es geschieht.Leonardo da Vinci
In den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs zog sich die deutsche Wehrmacht in immer enger werdenden Kreisen um Berlin zurück. Währenddessen stießen die Alliierten vor und näherten sich so auch den Konzentrationslagern. Die Lager‑SS wusste, dass die Befreiung der Häftlinge nur eine Frage der Zeit war, und sie tat alles, um den Plan zu deren Vernichtung weiter auszuführen. Heinrich Himmler, der Reichsführer SS, ordnete an, die Gefangenen zu deportieren.
Die Lager wurden aufgegeben und größtenteils zerstört, die Gefangenen hinausgetrieben und zu Märschen gezwungen, die später als »Todesmärsche« bekannt wurden. Zehntausenden, Männer, Frauen und Kinder, die meisten von ihnen krank und halb verhungert, wurde befohlen, in eisiger Kälte endlos lange Strecken zu Konzentrationslagern in der Reichsmitte und Süddeutschland zurückzulegen. Buchenwald war das größte der aufgegebenen Lager.
Am 8. April 1945 um die Mittagszeit schickte die Widerstandsbewegung Buchenwalds eine panische Funknachricht in Englisch, Deutsch und Russisch ab, die sie mehrere Male wiederholte.
An die Alliierten! An die Armee des Generals Patton! S. O. S.! Wir bitten um Hilfe. Man will uns evakuieren. Die SS will uns vernichten.
Haltet durch, lautete die Antwort. Wir eilen euch zu Hilfe. Stab der 3. Armee.
Die 6. US‑Panzerdivision erreichte Buchenwald als Erste. Die Soldaten passierten den Haupteingang des riesigen Lagers und stellten verwundert fest, dass es zwar Gefangene gab, jedoch keine Aufseher. Wie sie erfuhren, hatte ein Kontingent der SS sich mit einem Teil der Häftlinge auf den Weg tiefer ins Reich hinein gemacht. Andere waren in die umliegenden Wälder geflohen und hatten die Inhaftierten ihrem Schicksal überlassen, mit nur wenig Wasser und ohne Nahrung. Einige der Insassen hatten Kleidung aufgetrieben, andere nicht. Etliche waren so geschwächt, dass sie nichts weiter vermochten, als sich gegen Wände zu lehnen, auf dem Boden zu sitzen oder auf den Holzgestellen zu liegen, die als Betten dienten. Unter ihnen waren welche, die Skeletten glichen. Gespenstern.
Die amerikanischen Soldaten sahen Bilder, die sie bis ans Ende ihrer Tage nicht vergessen würden. Abgehärtete, kampferprobte Männer, die in der Normandie gelandet waren, unter feindlichem Beschuss Brückenköpfe gesichert hatten und an der Abwehr der Ardennen-Offensive beteiligt gewesen waren. Buchenwald übertraf alles, was sie jemals erlebt hatten.
Corporal Reilly schluckte und murmelte: »Du lieber Himmel. Das ist …« Ihm fehlten die Worte.
Die Soldaten hatten ein langes Holzgebäude betreten, früher ein Stall für achtzig Pferde, danach eine Unterkunft für 1200 Häftlinge. Diese lagerten auf fünfstöckigen, hölzernen Bettstellen, ohne Heizung, Wasser und Toiletten. Diejenigen, die zu schwach waren aufzustehen, versuchten die Köpfe zu heben, zu lächeln oder grüßend zu nicken. Andere drückten ihre Erleichterung in Sprachen aus, die keiner der Soldaten verstand.
Auch Tote und Sterbende lagen auf den Pritschen. Und es stank, dass es den Soldaten den Magen umdrehte.
»Los, Leute«, rief der Hauptmann. »Wir müssen die Menschen hier rausholen. Williams, Sie führen die, die laufen können, zur Bahn. Die anderen werden auf Tragen zu den Lazarettwagen gebracht. Und zwar sofort.« An seinen Adjutanten gewandt fügte er leise hinzu: »Die Kräftigsten zuerst. Ein paar von den armen Kerlen sind mehr tot als lebendig. Die schaffen es nicht.«
Auf einem der Holzgestelle lag ein Mann mit zwei anderen zusammen. Bei ihm sah es aus, als würden die Knochen nur noch von Haut zusammengehalten. Er krallte eine Hand in Reillys Uniformjacke.
»Immer mit der Ruhe«, sagte Reilly. »Wir helfen euch, bringen euch hier raus. Das verspreche ich Ihnen.«
Der Mann schüttelte den Kopf und murmelte etwas, das Reilly nicht verstand. »Keine Sorge.« Mit sanftem Griff löste Reilly die Hand von seiner Jacke. »Es dauert nicht mehr lang.«
Der Mann schien seine letzten Kräfte zu sammeln. »Nein.« Wieder folgten unverständliche Sätze. Sein Körper fing an zu zittern und aus den eingesunkenen Augen quollen Tränen.
Reilly wandte sich zu seinem Hauptmann um. »Er will etwas sagen, das ihm anscheinend wichtig ist. Aber ich kenne die Sprache nicht. Könnte Deutsch sein.«
Der Hauptmann winkte einen Soldaten namens Steiner herbei. »Vielleicht finden Sie heraus, was der Mann uns mitteilen will. Sie sprechen doch Deutsch.«
Steiner beugte sich zu dem Gefangenen hinab, bat ihn, seine Worte zu wiederholen. Dann richtete er sich auf und schüttelte den Kopf. »Deutsch ist es nicht. Könnte aber Jiddisch sein. Ich glaube, er hat gesagt, dass er Eli Rosen heißt. Und dass wir Isaak finden müssen. Seinen Sohn, der im Kinderblock untergebracht ist. Tausend Kinder sollen dort sein.«
»Heilige Scheiße«, sagte der Hauptmann. »Und wo genau sind die Kinder?«
»Ich glaube, er hat von Block acht gesprochen.«
Der Hauptmann trat an den Ausgang und blickte zu den vielen Einheitsbauten hinüber. »Wenn ich bloß wüsste, wo Block acht ist. Was meinen Sie, kann er ihn uns zeigen?«
»Er wird kaum aufstehen können.«
Der Hauptmann kehrte zurück.
Wieder sagte der Mann namens Rosen etwas.
Steiner übersetzte. »Er sagt, wenn wir ihm helfen, kann er uns hinführen.«
Der Hauptmann seufzte. »Wie stellt er sich das vor, der Mann ist halb tot.«
»Isaak«, flüsterte Rosen. »Isaak. Mejn Sun.«
Der Mann ist verzweifelt, dachte Reilly. »Ich kann ihn tragen. Eli will zu seinem Sohn. Wenn es sein muss, trage ich ihn zu den Kindern und suche den Jungen.«
Rosen schien ihn verstanden zu haben und deutete ein Lächeln an.
Reilly hob ihn hoch. Der Mann wog weniger als sein Marschgepäck. Vorsichtig stellte er ihn auf die Füße, legte einen Arm um ihn und wollte ihn Schritt für Schritt nach draußen führen. Dann sah er, dass Rosen keine Schuhe trug. »Sieht jemand irgendwo ein Paar Schuhe? Der Mann hat Lumpen um die Füße gewickelt.«
Rosen hatte den Sinn von Reillys Worten erfasst und machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein, nein.« Er deutete auf den Ausgang. »Isaak. Kinder.«
Der Hauptmann nickte. »Helfen Sie ihm zu den Kindern, Reilly.«
Reilly nahm seine Uniformjacke ab, streifte sie Rosen über und legte den Arm wieder um ihn. Langsam bewegten sie sich zum Ausgang.
Andere Soldaten hatten Block acht inzwischen entdeckt und kümmerten sich um die Kinder. Es waren Hunderte, kleine, große, ältere und jüngere, die Jüngsten vielleicht sechs Jahre alt. Einige standen in Gruppen zusammen und warteten darauf, abtransportiert zu werden.
Rosens Blick glitt über die Gesichter, und Reilly spürte die Angst des Mannes, seinen Sohn nicht zu finden. Plötzlich versteifte sich Rosen und sagte: »Isaak! Da ist Isaak!« Er machte ein paar Stolperschritte.
Ein Junge von zehn oder elf Jahren löste sich aus einer Gruppe und kam zu ihnen gelaufen. »Papa!«, rief er.
Rosen ließ sich auf die Knie fallen und breitete die Arme aus.
Reilly wandte sich ab und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann bückte er sich und sagte: »Kommt, wir schaffen euch raus aus diesem Rattenloch. Dann können die Ärzte nach euch sehen.«
Er winkte zwei Soldaten mit einer Trage herbei. Einer von ihnen tätschelte Isaaks Kopf und sagte: »Du gehst mit den anderen Kindern, wir kümmern uns um deinen Vater.«
Isaak schüttelte den Kopf.
Reilly fasste den Arm des Soldaten. »Lass ihn, Martin. Wie viele von den Kindern werden überhaupt noch Eltern haben? Lass den Jungen bei seinem Vater. Wir machen eine Ausnahme.«
»Der Vater macht es nicht mehr lange«, flüsterte Martin ihm ins Ohr. »Genau wie viele andere hier.«
»Dann sollte der Junge erst recht bei ihm bleiben«, entgegnete Reilly.
Martin zuckte mit den Schultern.
Rosen wurde auf die Trage gelegt. Er sah Reilly an. »A Dank, a schejnen Dank.«
Die beiden Soldaten trugen ihn zu den Lazarettwagen mit dem roten Kreuz auf den Abdeckplanen. Isaak folgte ihnen.
Reilly kehrte zu seinen Kameraden zurück.
Die Zusammenkunft fand am 7. Mai 1945 im einfachen Rahmen des Collège Moderne et Technique von Reims statt, dem Hauptquartier der Alliierten Expeditionsstreitkräfte SHAEF. Dort unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl im Namen des deutschen Oberkommandos morgens um 2 Uhr 41 die Urkunde der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands.
Wir, die hier Unterzeichneten, handelnd in Vollmacht für und im Namen des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht, erklären hiermit die bedingungslose Kapitulation aller am gegenwärtigen Zeitpunkt unter deutschem Befehl stehenden oder von Deutschland beherrschten Streitkräfte auf dem Lande, auf der See und in der Luft gleichzeitig gegenüber dem Obersten Befehlshaber der Alliierten Expeditions-Streitkräfte und dem Oberkommando der Roten Armee.
Für das SHAEF unterschrieb Eisenhowers Stabschef General Walter Bedell Smith.
Der Krieg in Europa war beendet.
Die Gefangenen der Konzentrationslager waren befreit worden. Allerdings hatten der Krieg und seine Folgen viele von ihnen heimatlos gemacht. Eine Zeit lang wanderten diese entwurzelten Menschen hilflos und ziellos umher.
Schließlich kümmerte sich die Welthilfsorganisation United Nations Relief and Rehabilitation Administration, oder UNRRA, die im Jahr 1943 gegründet worden war, um sie. Ihre erste Aufgabe war die Erfassung der Überlebenden, die Displaced Persons oder DPs genannt wurden. Vertriebene.
In Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich wurden Lager für sie errichtet.
Die Mehrheit der befreiten Juden suchte den Schutz der United States Army. Sie zog es in die Auffanglager der von den Amerikanern besetzten Gebiete in Deutschland. Dort übernahm die UNRRA ab 1945 die Verwaltung, mit der Maßgabe, den Bewohnern Wohnraum, Nahrung, Kleidung, Arzneien und alles, was zu ihrem Grundbedarf gehörte, zur Verfügung zu stellen. Eines der größten DP‑Lager war Föhrenwald. Es lag in Oberbayern, in den Ausläufern der Alpen, eingebettet in sanft gewellte, bewaldete Hänge.
Die Tür des kleinen Holzhauses in der Florida Straße flog auf. Ein Junge mit dunklem Haar kam hereingestürmt. Sein Name war Isaak. Er war zu dünn, aber voller Energie. »Papa«, rief er, »ich muss dir was erzählen.«
Eli lächelte. »Was denn?«
»Herr Abrams ist in die Schule gekommen, um uns beizubringen, wie man einen Aufsatz schreibt. Nach der Stunde hat er Josh und mich gefragt, ob wir ihm morgen Nachmittag helfen, die Zeitung auszutragen.«
»Du meinst Bamidbar, die Lagerzeitung?«
»Ja, Bamidbar. Vielleicht bezahlt er uns wieder mit Schokolade.«
Eli tätschelte Isaaks Wange. »Was für ein Geschäftsmann du bist. Iss die Schokolade nicht ganz auf, wenn ihr die Zeitungen ausgetragen habt. Und komm anschließend sofort nach Hause, wo die Schularbeiten warten.«
Isaak seufzte.
»Wie gefällt dir Frau Klein, eure neue Lehrerin?«
Isaak zuckte mit den Schultern. »Sie ist in Ordnung. Kommt aus Israel und unterrichtet Hebräisch, Jiddisch und Englisch. Bei ihr muss man sich anstrengen.«
»Jiddisch kannst du doch.«
»Ja, aber kein Englisch und Hebräisch. Englisch kann ich wenigstens schreiben, weil die Buchstaben wie im Polnischen sind. Aber Frau Klein hat gesagt, dass ich die hebräischen Buchstaben langsam auch richtig male. Wir haben Kinder in der Klasse, die sich im Krieg im Wald oder im Untergrund versteckt haben und noch nie in der Schule waren. Sie können weder lesen noch schreiben.«
Eli drückte seinen Sohn an sich und war zutiefst dankbar, dass der Junge, der so viel durchgemacht hatte, wieder so eifrig und unbeschwert sein konnte. »Ich muss morgen Abend zu einer Versammlung des Lagerkomitees und komme wahrscheinlich spät zurück. Vorher stelle ich dir etwas zu essen hin.«
»Aber wenn du wieder da bist, kommst du noch mal zu mir. Egal, wie spät es ist.«
»Das tue ich doch immer.«
*
Das Lagerkomitee traf sich in einem Saal am Roosevelt Square. Auf der Tagesordnung stand der Mangel an Unterkünften. Zu den Teilnehmenden gehörten die Mitglieder des Lagerkomitees, ein Vertreter der UNRRA namens Martin und Bewohner des Lagers, denen die Versammlungen die Möglichkeit boten, ihre Beschwerden zu äußern. Dabei ging es mitunter heiß her. Für Eli sollte dieser Abend eine besondere Bedeutung erhalten.
Die Leitung hatte Bernard Schwartz, ein kräftiger, bärtiger Mann aus Ostpolen. Er bat um Ruhe und erteilte einem Bewohner namens Harry das Wort.
Harry, ein magerer Mann mit schütterem weißem Haar, stand auf und schwenkte eine Liste, die mehrere Seiten umfasste. »Im Lager leben mittlerweile 5600 Menschen. Auch mit den umgebauten Verwaltungsgebäuden fehlt uns nun Platz für 2000 Personen. Dies war einmal eine Arbeitersiedlung der Sprengstoff- und Munitionsfabriken der I. G. Farben, die für maximal 3200 Arbeiter angelegt wurde. Doch wir schlafen teils zu fünft in einem Raum auf Stockbetten und müssen unbedingt neue Häuser bauen.«
Martin, der Vertreter der UNRRA, schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber neue Häuser sind nicht vorgesehen. Föhrenwald ist ein Durchgangslager, bis die Leute, die hier leben, ein neues Zuhause gefunden haben.«
Harry seufzte. »Dann bitten Sie die alliierten Behörden, uns Einreisevisa auszustellen. Wenn wir die haben, werden Sie hier keinen Menschen mehr finden. Aber bis dahin brauchen wir Baumaterial, um Häuser zu errichten. Eli Rosen kennt sich aus, in Polen hatte er eine Baufirma. Er kann bei den Neubauten die Leitung übernehmen.«
Martin hob die Schultern. »Ich kann das weiter oben vortragen, weiß aber jetzt schon, was ich dann hören werde. Die UNRRA hat kein Geld, um in Deutschland neu zu bauen. Man wird mich darauf hinweisen, dass die Anzahl der Bewohner schneller als erwartet gestiegen ist, was unter anderem daran liegt, dass es immer mehr Geburten gibt.«
Die Anwesenden begannen, aufgebracht zu murmeln.
Dann sagte jemand: »Er hat recht. Im Krankenhaus kommen im Monat sechs bis neun Kinder zur Welt, und rund 200 Frauen sind zurzeit schwanger. Aber wenn wir mehr werden, brauchen wir auch mehr Platz.«
Schwartz war der gleichen Meinung. »Nach allem, was wir hinter uns haben, sehnen wir uns nach einem normalen Leben. Die Leute verlieben sich, heiraten, tun wieder das, was ihnen in den Lagern verwehrt war. Und natürlich gehören zum normalen Leben auch Kinder. Kinder stehen für unsere Zukunft, sie geben uns Hoffnung und Mut.«
»Ich bin nur ein Vertreter der UNRRA«, sagte Martin. »Ich bestimme weder die Politik noch das Budget der Organisation. Ich werde eure Bitte weiterleiten, kann euch aber jetzt schon sagen, dass für den Ausbau des Lagers kein Geld vorgesehen ist. Uns geht es darum, für euch eine neue Heimat zu finden und euch hier herauszuholen.«
Harry schnaubte verächtlich. »Und wie soll das ohne Visa gehen? Sagen Sie Präsident Truman, er soll mehr von uns einreisen lassen.«
Ein blasser Mann mit eingefallenen Wangen meldete sich. Sein Name war Daniel. »Dazu möchte ich etwas sagen.« Als alle ihn ansahen, wirkte er verlegen, sprach aber weiter. »Es gibt Gerüchte, die besagen, dass jemand Visa verkauft.«
»Was heißt ›verkauft‹?«, fragte Schwartz.
»Dass er sie auf dem Schwarzmarkt anbietet.«
Einige der Anwesenden tauschten ungläubige Blicke.
»Echt oder gefälscht?«, fragte einer. »Und für welche Länder?«
»Angeblich sind es echte Visa für Amerika«, erwiderte Daniel. »Der Mann verkauft sie gegen Bargeld, Gold oder Schmuck. Wer ihm zahlt, was er verlangt, kann die Warteliste für die Einreise vergessen.«
Aufgeregte Stimmen wurden laut.
»Wer ist dieser Mann?«, fragte Schwartz.
»Ich selbst bin ihm noch nicht begegnet.« Daniel zuckte mit den Schultern. »Er soll groß sein, dunkelhaarig und gut gekleidet. Nennt sich Max.«
Eli erstarrte. »Max?«, fragte er. »Der Max, den ich kenne, ist tot.«
»Es gibt viele Männer, die Max heißen«, entgegnete Daniel. »Der, von dem ich rede, ist eindeutig nicht tot. Olga Helstein ist ihm schon begegnet.«
»Olga Helstein ist eine Klatschbase, die ständig die verrücktesten Gerüchte in die Welt setzt«, entgegnete Schwartz. »Wer weiß, ob es diesen Max überhaupt gibt.«
»Es gibt ihn«, rief jemand. »Schmul hat mir das Gleiche erzählt. Wenn du genug Geld hast, besorgt dieser Max dir nicht nur ein amerikanisches Visum, sondern auch Leute, die drüben für dich bürgen.«
Ein anderer rief: »Wir wollen im Lager keine Schwarzmarkthändler. Wenn die Leute, die auf ein Visum warten, sehen, dass andere sich eins kaufen können, führt das zu Unruhen.«
Eli hob die Hand und fragte: »Was haben Olga und Schmul noch über diesen Max erzählt?«
»Er soll skrupellos sein«, antwortete Daniel. »Kennt in Amerika einflussreiche Leute. Die Visa verkauft er nur zu seinen Bedingungen.«
Ein anderer fragte Eli, wie er darauf komme, dass dieser Max tot sei.
Eli hatte sich wieder gefasst. »In Lublin kannte ich einen Max oder Maximilian, wie er richtig hieß. Er war groß, dunkelhaarig, immer gut gekleidet und skrupellos. Aber er kann nicht überlebt haben.«
»Wie hieß dein Max denn mit Nachnamen?«
»Poleski. Maximilian Poleski. Ein Gangster, wie er im Buch steht. Ein Schieber, der sich, gleich nachdem Lublin besetzt wurde, bei den Nazis lieb Kind gemacht hat. Hat sie zum Essen eingeladen, ihnen Alkohol besorgt und junge Frauen. Und immer hat er auf der Lauer gelegen und auf Leute gewartet, aus deren Not er Profit schlagen konnte. Er konnte einem was zu essen beschaffen, eine Unterkunft, ein Versteck, konnte dich von einem Ghetto zum anderen befördern und dir einen Schutzbrief verschaffen. Aber alles hatte seinen Preis. Max Poleski war ein gewissenloser Kriegsgewinnler.«
»Und all das konnte er unter den Augen der Nazis tun?«, fragte Schwartz.
Eli lachte rau auf. »Er hatte sogar ein Büro im SS‑Hauptquartier. Doch irgendwann hat er die Falschen versucht auszunehmen. Ich bin sicher, dass die Nazis ihn umgebracht haben.«
»Warst du dabei?«
Eli schüttelte den Kopf. »Das nicht, aber als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, war er so gut wie tot.«
»Dann lebt er vielleicht noch«, sagte Daniel. »Oder der Max, der Visa vertreibt, ist ein anderer.«
»Wenn er noch lebt, kann er sich auf was gefasst machen«, sagte Eli wutbebend. »Dann werde ich mit ihm über meine Familie sprechen und darüber, was er ihr angetan hat. Dann wird abgerechnet, das schwöre ich.«
Schwartz strich sich über den Bart. »Die Sache mit den Visa gefällt mir nicht. Bisher hatten wir Schwarzmarkthändler, die uns Fleisch, Schnaps und Zigaretten angeboten haben, aber der illegale Verkauf von Visa ist neu. Deshalb bitte ich euch, es mir sofort zu melden, wenn ihr wieder etwas über diesen Max erfahrt.«
*
Nach dem Treffen, Schwartz, Eli und Daniel standen noch zusammen, trat Dr. Weisman zu ihnen und sagte leise: »Ich will nicht unnötig Alarm schlagen und möchte, dass ihr die Nachricht vertraulich behandelt, aber wir haben zwei weitere Personen mit den Symptomen.«
Eli und Daniel sahen ihn fragend an. »Was für Symptome?«
Schwartz schien zu wissen, wovon die Rede war. »Bist du sicher?«
Der Arzt nickte. »Ziemlich sicher. Die Leute sind jetzt in Quarantäne.«
»Um was geht es?«, fragte Eli.
»Um Tuberkulose.«
»Die weiße Pest?«, fragte Daniel entsetzt.
»Ich dachte, Tuberkulose ließe sich mittlerweile heilen«, sagte Eli.
Weisman schüttelte den Kopf. »Noch nicht, auch wenn überall nach Methoden und Heilmitteln geforscht wird. Hier in Föhrenwald haben wir jedenfalls nichts, um dagegen anzugehen. Es gibt Patienten, die von allein zu genesen scheinen, aber das sind nicht viele. Ich schlage vor, dass wir auf Anschlägen vor einem Grippevirus warnen und die Leute bitten, sich regelmäßig die Hände zu waschen und von Menschen Abstand zu halten, die husten oder niesen. Diejenigen, die sich krank fühlen, sollen sich sofort ins Krankenhaus begeben.«
Schwartz seufzte. »Lasst uns vor allem das Wort ›Tuberkulose‹ so lange wie möglich vermeiden. Ich möchte nicht, dass bei uns Panik ausbricht.«
Auf dem Weg nach Hause wanderten Elis Gedanken nach Lublin und zu Maximilian Poleski zurück. Und zu jenem 1. September 1939, als die Katastrophe begann.