László Krasznahorkai
Herscht 07769
Roman
Roman
Aus dem Ungarischen
von Heike Flemming
FISCHER E-Books
»Jedes meiner Bücher soll die literarische Landkarte verschieben«, sagt László Krasznahorkai, dem 2015 der International Man Booker Prize verliehen wurde. 1954 in Gyula/Ungarn geboren, gilt er als einer der innovativsten Schriftsteller Europas, dessen Romane »Satanstango« und »Melancholie des Widerstands« überall auf der Welt begeistert aufgenommen werden. Die internationale Beachtung begann jedoch 1993 in Deutschland mit dem SWR-Bestenliste-Preis für »Melancholie des Widerstands«. In den letzten Jahren erschienen die Erzählbände »Seiobo auf Erden« (Brücke-Berlin-Preis und Literaturpreis Leuk 2010) sowie »Die Welt voran« (2014). Für seinen Roman »Baron Wenckheims Rückkehr« (2018) wurde er mit dem National Book Award 2019 for Translated Literature ausgezeichnet. 2021 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Heute lebt László Krasznahorkai in Triest.
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Literarisch mit großem Sog überrascht László Krasznahorkai mit einem Roman voll beängstigender deutscher Gegenwart, mit melancholischem Humor und abgründigem Sarkasmus. Im Mittelpunkt steht ein heiliger Tor, der zum Sehenden wird, eine kleine Stadt, die zum Spiegel der Welt wird, und ein großes Rätsel, das man nicht erklären, sondern nur mit dem Ohren wahrnehmen kann: die Musik von Johann Sebastian Bach.
»Lange ist mir ein Protagonist nicht mehr so ans Herz gewachsen wie Florian Herscht. Gemeinerweise kann man in diesem Buch nie aufhören zu lesen. Ich sage es nicht mal neidisch, sondern als Beschenkter: László Krasznahorkai hat den heutigen deutschen Roman geschrieben.« Ingo Schulze
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Herscht 07769« bei Magvető Publishing, Budapest.
© 2021 by László Krasznahorkai
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Marion Blomeyer, lowlypaper
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490973-8
Die Hoffnung ist ein Fehler
Angela Merkel, Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Willy-Brandt-Straße 1, 10557 Berlin, das schrieb er ins Adressfeld, dann wie üblich in die obere linke Ecke des Absenders nur Herscht 07769, das und nichts weiter, damit gleichsam den vertraulichen Charakter der Angelegenheit ausdrückend, und auch sonst dachte er, es lohne nicht, auf die genaue Bezeichnung seiner selbst auf dem Umschlag allzu viele Worte zu verschwenden, denn aufgrund der Postleitzahl würde das Postsystem die Antwort umgehend nach Kana leiten, und hier, in Kana, würde man ihn schon aufgrund des Namens finden, was aber das Wesentliche anging, so stand alles auf dem Briefpapier, das er jetzt schön akkurat in Viertel gefaltet an seinen Platz gesteckt hatte, alles, mit eigenen Worten, angefangen damit, dass die Kanzlerin als gelernte Naturwissenschaftlerin offenkundig sofort verstehe, woran er hier im thüringischen Kana denke, wenn er sie höflich darauf aufmerksam machen möchte, dass sich eine solche Persönlichkeit wie sie neben den alltäglichen Sorgen und Problemen des Landes manchmal auch mit Sorgen und Problemen beschäftigen müsse, die scheinbar fern von diesem Alltag liegen, vor allem wenn sie dieses alltägliche Leben mit der vernichtendsten Kraft angreifen, und hier handele es sich um einen Angriff, eine die Existenz des Landes, ja, der ganzen Menschheit bedrohende und die gesellschaftliche Ordnung grundlegend erschütternde Tatsache, die sich gleichzeitig von mehreren Seiten präsentiere, von denen er aber jetzt nur die wichtigste hervorheben müsse, nämlich das bei den Vakuumexperimenten aufgetauchte und in den Versuchsprotokollen verborgene naturphilosophische Alarmsignal, das unbeantwortbar scheint, da sich gezeigt habe, zudem schon vor langer Zeit, nur ihm sei es erst jetzt zu Ohren gekommen, dass im umgangssprachlich verstandenen völlig leeren Raum Ereignisse ablaufen, was schon an sich Grund genug sei, dass die Regierende des Landes und eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt dies und gerade dies allem vorziehe und den Sicherheitsrat zusammenrufe, das sei das Mindeste, denn worum es hier gehe, sei nicht nur eine politische, sondern geradezu eine Frage der Existenz, und er hatte sehr knapp die Details skizziert, und das war alles, denn er meinte, es war das Beste, wenn er sich kurzfasste, wusste er doch, die Adressatin würde sehr wenig Zeit haben, es zu lesen, und auch sonst, wozu es lang und breit erklären, wenn es sich im Grunde um eine Frau vom Fach handelte, er hatte es unterschrieben, zweimal gefaltet, in den Umschlag gesteckt und schließlich die Adresse daraufgeschrieben, doch nein, er schüttelte den Kopf, nicht gut, und er nahm das Papier aus dem Umschlag, zerknüllte es und warf es zu Boden, denn ich muss davon ausgehen, sagte er im Kopf zu sich wie immer, dass die Kanzlerin gelernte Physikerin ist, man muss ihr also nicht detailliert erklären, sondern direkt auf den Punkt kommen, damit sie gleich versteht, um was für eine bedeutende Sache es sich handelt, beziehungsweise dass sie auf der Stelle etwas machen muss, der Sicherheitsrat, das ist das Mindeste, und er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und das Kinn auf die verschränkten Hände, dann beugte er sich hinab, um das Papier aufzuheben, glättete die Falten und las noch einmal durch, was er geschrieben hatte, und da er diesen Stift hatte, mit dem er entweder blau, grün oder rot schreiben konnte, nahm er ihn, drückte auf Rot und unterstrich mit diesem Rot schön kräftig und mehrmals den hinter »Sicherheitsrat« stehenden Ausdruck »das ist das Mindeste«, schließlich nickte er mit Nachdruck, als würde er das Ganze doch abnicken, dann faltete er das Papier sehr ordentlich wieder wie zuvor, entlang der vorherigen Falze, in Viertel, steckte es zurück in den Umschlag, und schon war er auf dem Weg zur Post, auf der insgesamt zwei Personen vor ihm dran waren, die eine war schnell fertig, doch die andere, die mit einem Päckchen in der Hand versuchte, etwas ungeheuer gründlich in Erfahrung zu bringen, und wie viel, wenn sie es normal aufgebe, dann wie viel, wenn mit DHL ExpressEasy und eingeschrieben oder nur mit DHL ExpressEasy oder nur eingeschrieben, sie wollte nicht fertig werden, zog die Sache in die Länge und fragte wieder und wieder, dann sagte sie nur »hm«, als könnte sie in diesem Fall nur sehr schwer eine Entscheidung treffen, dabei hatte er, hinter ihr, dieses Mal nicht allzu viel Zeit in der verlängerten Mittagspause, denn der Boss hatte ihn kaum gehen lassen, hatte Florian misstraut, ihm war anzusehen gewesen, dass er die Zahnschmerzen für eine nicht akzeptable Erklärung hielt, ein Deutscher hat keine Zahnschmerzen, hatte er ihn angedonnert, nur hatte er nichts machen können, er hatte ihn eine halbe Stunde vor der Mittagspause gehen lassen müssen, damit er zum Zahnärztezentrum Collier konnte, aber nur zu Doktor Katrin, auf keinen Fall zu Doktor Henneberg, vor dem hatte er Angst, und nun, ehrlich gestanden war es wirklich nicht allzu überzeugend gewesen, als er sich wieder auf seine Zahnschmerzen berufen hatte, doch er konnte gar nichts anderes tun, dem Boss die Wahrheit zu sagen, hatte er keinen Mut, ja, was das anging, hatte er schon von Anfang an keinen Mut gehabt, denn er kannte den Boss, wusste nur zu gut, ihn einzuweihen hätte bedeutet, ihm Einblick in sich zu gewähren, genauer gesagt Einblick in den einzigen verborgenen Winkel seines Ichs, in den der Boss noch nicht vorgedrungen war, dorthin drang nur Frau Ringer vor und der Boss auch jetzt nicht, denn er wollte ihm nicht das einzige Geheimnis aushändigen, dieses eine nicht, denn sonst hatte er ihm vieles erzählt oder, anders ausgedrückt, der Boss hatte alles sozusagen herausbekommen, so war er für den Boss ein offenes Buch, ich weiß alles über dich, sagte der immer wieder, auch das, was du nicht über dich weißt, du bist meine Verantwortung, also musst du immer alles erzählen, denn wenn du es nicht tust, merke ich es, und du weißt, was dann passiert, und Florian wusste es, denn seitdem der Boss verhindert hatte, dass er Bäcker würde, und ihn ins Unternehmen aufgenommen hatte und auch er Gebäudereiniger geworden war, hatte er von ihm unzählige Male eine geknallt bekommen, für alles, denn alles, was er tat, war schlecht, das doch nicht so, und das nicht dahin, und nicht jetzt, sondern später, und nicht später, sondern jetzt, nicht damit, sondern damit, nicht so stark, nicht so schwach, nichts konnte er ihm je recht machen, dabei hatte Florian langsam schon seit fünf Jahren den Job bei ihm, also nein, er musste über die Sache Stillschweigen bewahren, und Florian bewahrte auch Stillschweigen darüber, wirklich von Anfang an, das heißt von da an, als es ihn zum ersten Mal wie der Blitz getroffen hatte, er war gerade auf dem Weg von dem Herrn Köhler nach Hause gewesen und hatte über das Gehörte nachgedacht, denn ehrlich gesagt hatte er nicht verstanden, lange, sehr lange nicht, den Herrn Köhler, was der hatte sagen wollen, erst jetzt, auf dem Weg nach Hause, als er auf einmal, als hätte ihn wirklich der Blitz getroffen, darauf kam, was der Herr Köhler meinte, und sehr erschrak, weil das dann bedeutete, dass das ganze Universum auf der unerklärlichen Tatsache beruhte, dass in einem geschlossenen Vakuum neben einer Milliarde Materieteilchen immer auch eine Milliarde Antiteilchen entstanden, die einander auslöschten, wenn sie aufeinandertrafen, doch dann auf einmal nicht, nach dem einemilliardeundersten Materieteilchen erschien kein einemilliardeunderstes Antiteilchen, und so blieb dieses eine Materieteilchen dort im Sein, oder dieses schuf geradezu das Sein, als Fülle, als Überfluss, als Plus, als Fehler, und durch dieses, ausschließlich durch dieses und wegen dieses, existierte das ganze Universum, das heißt, ohne dieses hätte es nicht existiert – das erschreckte ihn so sehr, dass er stehen bleiben und sich an der Hauswand abstützen musste, als er am Ende der Oststraße links in die Fabrikstraße abbog, auf dem Weg zu den Geschäften des Einkaufszentrums, Hitze überflutete ihn, ihm dröhnte das Hirn, zitterten die Beine, er konnte einfach nicht weitergehen, laut dem Herrn Köhler nämlich konnte das die Wissenschaft vorerst nicht erklären, doch als er das gesagt hatte, war Florian noch bei der Aussage gewesen, wie aus dem Nichts etwas entstehen konnte, denn das hatte der Herr Köhler gesagt, der Prozess beginne im geschlossenen Vakuum, indem im Nichts aus dem Nichts plötzlich etwas werde beziehungsweise dieses Ereignis seinen Anfang nehme, was schier unmöglich sei, aber dennoch, es beginne mit der Geburt der eine Milliarde Materie- und der mit 2) Ersetze durch: ih nen gleichzeitigen eine Milliarde Antiteilchen, die einander auf der Stelle auslöschen, so dass aus diesem Prozess ein Photon frei werde, er war noch bei diesem Satz von dem Herrn Köhler gewesen, versuchte diesen zu begreifen, und so drang nur Herrn Köhlers Stimme zu ihm durch, wie der das Ende der Sache erklärte, das dem Herrn Köhler zufolge noch erstaunlicher war, aber das Wesentliche stand ihm erst wirklich scharf vor Augen, als er schon am verlassenen Gebäude des Bahnhofs beziehungsweise an der Heiligen mit der Lanze vorbeikam, die an einem Eisenbogen befestigt war, und er sich an den mit Brettern zugenagelten Fenstern nur entlangschleppte, sich nur dahinschleppte auf der menschenleeren Straße, dann irgendwie nach Hause gelangte
und sich weiterschleppte, das Treppenhaus hinauf, als wäre er verprügelt worden, für Frau Ringer war es schon zu spät, was konnte er also sonst tun, als nach Hause zu gehen, doch der Schlüssel ging so schwer ins Schloss, die Tür ging so schwer auf, und die Küche fand er in einem so schummrigen Nebel, als verhinderte eine böse Kraft, dass er schließlich seinen gewohnten Platz in der Küche erreichte und endlich niederplumpste, er war am Boden, saß nur da, nahm den Kopf zwischen die Handteller, damit der nicht vor Hämmern explodierte, und auch seine Gedanken schleppten sich nur noch dahin, und so war es kein Wunder, dass anderntags der Boss, als Florian an der Christian-Eckardt- Ecke Ernst-Thälmann-Straße in dessen Auto stieg, sofort bemerkte, dass mit ihm etwas nicht stimmte, er fragte auch, na, was ist, vrdmmt, was hast du schon wieder für ein schß Problem, und als Florian bloß den Kopf schüttelte und den Blick geradeaus richtete, fügte er nur hinzu, na vrdmmt, dieser Tag fängt ja schon wieder gut an, und wie siehst du denn aus, du hast dich nicht mal rasiert!!, worunter er natürlich verstand, dass bei Florian mal wieder eine Schraube locker war, doch nein, ihn belastete nur, belastete sehr, was der Herr Köhler gestern gesagt hatte, das war aber nicht so einfach, denn zuerst musste man den Herrn Köhler verstehen, denn man musste verstehen, was das, was der Herr Köhler gesagt hatte, bedeutete, und das war an sich schon schwer, weil er über die Physik teils nur das wusste, was er seit seiner Kindheit sich angelesen hatte, teils das, was er an der Schule für Erwachsene im Kurs Die Physik auf modernen Wegen verstehen konnte, er ging ins Gebäude des Lichtenberg-Gymnasiums, da er nur den Hauptschulabschluss und die Bäckerausbildung mit Berufsschule hatte, so konnte er jeden Dienstagabend da unter den Zuhörern sitzen, zwei Jahre lang, den Berg, die Schulstraße hinauf, und er hörte nur zu, war aufmerksam, schrieb mit, denn das Jahr machte er fleißig zu Ende, dann meldete er sich im darauffolgenden Jahr noch einmal an, um wieder dasselbe zu hören, da er beim ersten Mal vieles nicht richtig verstanden hatte, und es war gut, dem Dozenten, dem Herrn Köhler, zuzuhören, erneut, wie er, so seine Worte, »die wunderbare Welt der Elementarteilchen« erklärte, und daraus wurde dann, dass der Herr Köhler ihm anbot, wenn er ihm half, auf seinem Hof in der Oststraße eine große, vertrocknete Fichte zu fällen, würde er ihm erklären, was er »von der wunderbaren Welt der Elementarteilchen« noch immer nicht verstanden hatte, denn am Ende des zweiten Jahres hatte er doch allen Mut zusammengenommen und war am Abschlussabend im Keller des Lichtenberg-Gymnasiums, wo der Herr Köhler seinen Volkshochschulkurs gehalten hatte, zu ihm hingegangen, dass ihm leider einiges nicht ganz klar sei von dem, was er zwei Jahre lang gehört habe, kein Problem, er könne zu ihm kommen, wenn er ihm helfe, jenen Baum zu fällen, er natürlich ließ nicht zu, dass der Herr Köhler auch nur einen Handgriff machte, und fällte am darauffolgenden Wochenende den Baum für den Herrn Köhler allein, entastete ihm den Baum auch schön und brachte zuerst die Äste nach vorn zum Gartentor, dann nahm er, während der Herr Köhler verblüfft beobachtete, was er tat, den Stamm des Baumes und trug ihn so, wie er war, im Ganzen weg, als wäre er nur ein kleiner Ast, und stellte ihn zu dem Baumschnitt, damit ein Auto diesen abfahren konnte, es war keine große Sache, doch daraus wurde dann nicht nur, dass der Herr Köhler es ihm noch einmal erklärte, vielmehr konnte er von da an den Herrn Köhler jeden Donnerstagabend um sieben besuchen, das hatte der Herr Köhler selbst angeboten, zuerst nur den darauffolgenden Donnerstag, und dann wieder den darauffolgenden, und daraus wurde eine Regelmäßigkeit, und nun war er hier, auf der Post, und diese ältere Dame hier mit dem Päckchen wurde nicht fertig, dabei hatte seine Mittagspause nur noch zwanzig Minuten, was sagte er dem Boss, wenn er sich verspätete, weiterhin lügen konnte er nicht, dass beim Zahnarzt so und so viele vor ihm gewesen seien, denn auch der Boss wusste, dass zu der Zeit kaum noch welche dort waren, ja, nach zwölf auch gar keine neuen Patienten mehr eingelassen wurden, darauf konnte er sich also nicht berufen, am besten wäre es gewesen, er wäre hier schnell fertig geworden, er schaute nur auf Jessica hinter der Glasscheibe, wie sie schön geduldig die Fragen der älteren Dame beantwortete, doch als er endlich dran war, ging das auch nicht ratzfatz, denn nun zog Jessica die Sache in die Länge, ha, was soll denn das sein, Florian?, und Angela Merkel?!, ha, was bildest du dir ein, dass du ihr einfach so schreibst und sie es liest, he?, darauf wusste er keine Antwort, denn Jessica war nicht berühmt dafür, für Dinge, die abseits der üblichen Geschehnisse hier auf der Post lagen, eine große Auffassungsgabe an den Tag zu legen, Jessica und ihr Mann gingen, nachdem sie von der Bachstraße hinaufgezogen waren, davon aus, dass die Dinge gleichförmig und durchschaubar waren, ja, Jessicas Mann, Herr Volkenant, übertrumpfte Jessica noch und fügte hinzu, man brauche das ganze Geschwätz nicht, die Dinge seien knalleinfach und fertig, wovon Florian etwas ganz anderes einfiel, so auch jetzt, als Herr Volkenant hinter Jessicas Rücken aus dem Paketlager herausrief, na, sicher nicht, denn wenn du das willst und es für achtzig Cent schicken willst, dann ist das so, als würdest du achtzig Cent nehmen und zum Fenster rauswerfen, verstehst du, und wieder, das ist: knalleinfach, denn ihm fiel ein, was offenkundig auf ihn wartete, dass er eine geknallt bekommen würde, und er drängte Jessica zur Eile, zählte schon die achtzig Cent auf den Tresen und antwortete keinem von beiden, und sie forcierten daraufhin die Sache nicht, sahen einander nur an, ihnen sei es völlig egal, Jessica zuckte die Achseln, stempelte einmal heftig auf den Umschlag und schnitt dabei eine Grimasse, machte eine Miene, als wollte sie sagen, von iiihr aus könne Florian das Geld zum Fenster rausschmeißen, wie ihm nur lieb sei, und auch der Boss sagte kein Wort, schmierte Florian nur wieder eine, sagte nicht, so und so, schmierte ihm nur wie üblich eine, und er zog den Kopf ein und gab keine Erklärung, als wüsste er, dass das jetzt auch keinen Sinn mehr hatte, er hatte sich siebzehn Minuten verspätet, denn es war zwölf Uhr siebenundvierzig, was sollte er auch sagen, dass bei Doktor Katrin viele vor ihm gewesen waren?, es hatte keinen Sinn, das weiterzuspielen, der Boss wusste ohnehin, dass er nicht beim Zahnarzt gewesen war, doch er konnte sich auch nicht damit abfinden, dass Florian ein Geheimnis vor ihm hatte, du kannst vor mir kein Geheimnis haben, donnerte er ihn im Auto an, als sie an der Kreuzung der B88 auf die Straße nach Bibra abbogen, doch Florian blieb standhaft, er antwortete nicht, starrte nur geradeaus, und fürs Erste reichte das auch, denn der Boss sagte ebenfalls nichts zu ihm, bis sie nach Bad Berka kamen, aber auch da nur, »raus mit dir«, und, »nimm schon den vrdmmten Kärcher«, doch nach der chemischen Behandlung des Pflasters wischten sie noch immer stumm, wo »so ein elender Idiot« eine Farbe ausgeschüttet hatte, die nicht einfach so abging, so waren sie gerufen worden, denn man kannte sie schon in ganz Ostthüringen, der Boss machte einen guten Preis, und auch die Arbeit erledigte er gewissenhaft, pünktlich und in zufriedenstellender Qualität, ihm war egal, was ausgeschüttet wurde oder welche Graffiti entfernt werden mussten, das Spektrum war breit, sie befassten sich mit allem, Reinigung, Schutz, Sandstrahlen, Glaskratzer, selbst für solche Arbeiten wie Kaugummientfernung wurden sie gefunden, es passte also fast alles ins »Spektrum«, wie der Boss es ausdrückte, das »Spektrum« muss so breit sein, dass alles hineinpasst, verstehst du, Florian, nicht nur Graffiti, sondern alles, denn davon leben wir, verstehst du, natürlich verstehst du nicht, so ein Gigant und versteht nie etwas, denn so nannte er ihn, wenn er gute Laune hatte, selten, aber es kam vor, dass er gute Laune hatte, dann kam er mit dem Giganten, so ein tierisch großer Muskelgigant und versteht nichts, denn für ihn nur das Universum, natüüürlich, das Universum, dann schlug er aufs Lenkrad, sah ihn einen Augenblick lang an und spuckte schon keineswegs mehr so gutgelaunt die Worte förmlich aus, dass Florian das Universum den Juden überlassen solle, er, Florian, solle sich mit den praktischen Dingen beschäftigen, könne er zum Beispiel überhaupt alle Zeilen der Nationalhymne, könne er die ganze Nationalhymne, denn er müsse sie können, ein Deutscher beginne die Dinge immer von vorn, habe er verstanden?!, und nicht bei der dritten Strophe, welche liberale Verbrecherbande hat uns diese ganze Schße aufgezwungen, dass wir die eigene Hymne nicht von Anfang bis Ende singen sollen, das kann uns keiner nehmen, gttvrdmmmich, denn das ist hier der Ausgangspunkt von allem, doch da brüllte er meistens schon aus voller Kehle, denn von der heftigen Erregung, dass ihm wieder das mit der ganzen Hymne durch den Kopf ging, trat er ordentlich aufs Gaspedal, bei dem einen oder anderen besonders betonten Wort stellte er sich fast auf dieses Pedal, wovon der Motor des Opels natürlich aufheulte, und er musste schon allein deshalb brüllen, um den Lärm zu überbrüllen, sing, Florian, sing, gttvrdmmmich, sing, lass die wunderbare erste Strophe erklingen, und die zweite Strophe, uns soll hier keiner mehr sagen, was UNSERE NATIONALHYMNE ist, und dann musste Florian sofort singen,
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
…
der Motor heulte, hundertfünfunddreißig, hundertvierzig, maximal so viel traute sich der Boss für gewöhnlich mit dem Opel, so rasten sie zum nächsten und wieder nächsten Auftrag, so dass Florian auch jetzt keine Chance hatte, dem zu entkommen, denn er musste fast immer singen, wenn sie mit dem Opel irgendwohin fuhren, was hast du für eine Krächzstimme, du, Florian, du bist nicht Jude, oder?, donnerte er ihn jedes Mal an, und fuhr er ihn auch jetzt an, schße, du wirst nicht in der Semperoper auftreten, das ist mal sicher, und er ging vom Gas, drückte damit aus, wie sehr er Florian und alle verachtete, die so falsch sangen, ein Deutscher hat ein schönes, reines Gehör, sagte er immer wieder, also musste er sein samstagvormittägliches Hinaufspazieren zu Frau Ringer aufgeben und stattdessen schon freitags seinen Overall waschen, damit der bis zum nächsten Tag auf der Heizung halbwegs trocknen konnte, und jeden Samstagvormittag um elf bei der Probe sein, um sein Gehör zu verbessern, aber sein Gehör verbesserte sich nicht, die Krächzstimme blieb, doch es blieb auch das regelmäßige Singen der Nationalhymne im Opel, den der Boss unter der Hand gekauft hatte, nicht lange nachdem er ihn eingestellt hatte, damals war der Opel viereinhalb Jahre alt gewesen, und natürlich musste man an ihm herumbasteln, mal war dies kaputt, mal jenes, so ist das mit einem alten Auto, brummte der Boss, doch er schimpfte nicht auf das Auto, sondern lobte es, denn das ist wenigstens ein deutsches, erklärte er gereizt, und ein Opel bleibt immer ein Opel, stimmt’s?, man muss ihn nur manchmal reparieren, denn die Amis haben dieses Meisterwerk verpfuscht, sehr verpfuscht, also bastelte er regelmäßig daran herum, noch dazu bastelte er gern daran herum und ausschließlich allein, das heißt, dann brauchte er Florian nicht, ja, er durfte dann nicht einmal einen Fuß auf den Hof des Bosses setzen, was er auch sonst wegen des Hundes nie tat, manchmal besprach der Boss zwar dies und das mit dem benachbarten Wagner, aber nur mit dem, und sie sprachen nur, den Opel anrühren durfte allein er, weißt du überhaupt, wer Adam Opel war?, so wandte er sich zuweilen im Auto an ihn, und schon sagte Florian es auch, der Vater von Wilhelm und Carl, woraufhin der Boss wie in einem Witz, den sie beide gern wiederholten, ihn verbesserte und sagte, Wilhelm VON Opel und Carl VON Opel, nur dass Florian es nicht gern wiederholte, denn er fand das weder witzig noch interessant, ehrlich gesagt langweilte es ihn, es langweilt dich, was?, der Boss ahnte es, wenn er es ihn wieder aufführen ließ, ach, gar nicht, Florian schüttelte ohne Überzeugung den Kopf, doooch, dich langweilt das Ganze, ich weiß es, überschrie dann der andere die Geräusche des Opels, und eine Weile fuhren sie wortlos mit dem Opel, dann bekam Florian eins auf den Nacken, wie es der Boss scherzhaft nannte, einfach so, plötzlich, eins auf den Nacken und fertig, damit beendete er es, was Florian schon seit langem als selbstverständlich hinnahm, der Boss beendete ein Thema für gewöhnlich damit, ihm eine zu knallen, und er zog dann nur den Kopf ein, als akzeptierte er, dass das Schicksal so war, der Boss war das Schicksal, an dem man nichts ändern konnte, er akzeptierte es und wartete auf die Antwort aus Berlin, doch dann, als sich die Antwort offensichtlich verzögerte, ging er wieder zur Post, das heißt, wenn er es überhaupt in der Öffnungszeit schaffte, da Volkenants achtzehn Uhr schlossen, und es kam durchaus vor, dass sie mit dem Opel später zurückkehrten und er umsonst in die Altstadt hinaufgerannt wäre, sie wären nicht mehr geöffnet gewesen, so dass er sie hätte fragen können, doch manchmal schaffte er es, und das Gleiche machte er mit dem Briefträger, von dem er wusste, dass er abends immer bis Kneipenschluss im IKS trank, er fragte nach, aber nichts, sowohl der Briefträger als auch Jessica schüttelten nur den Kopf, obwohl, was das anging, der Briefträger auch ohne Frage, ständig, vor allem zu Kneipenschluss, nein, nichts, auch der Boss fragte nach einer Weile, was zum Hnkr gehst du zu Jessica, sag es ruhig, und was sollte er darauf antworten, sie gefällt dir, was?, na prima, dich an eine verheiratete Frau ranschmeißen, ich mach mir gleich in die Hose, so feixte er und schlug sich aufs Knie, was nur der Anfang war, denn kurz darauf begann er auf seine Weise zu lachen, das heißt, er sperrte den Mund auf, gab aber keinen Ton von sich, schüttelte nur mit diesem aufgesperrten Mund den Kopf und beugte sich so dem anderen ins Gesicht, das fand er witzig und so wie jetzt lachte er immer, dann schlug er ihm einmal heftig auf den Rücken, dann noch einmal, woraus Florian eine Art Anerkennung hätte herausspüren müssen, doch Florian spürte nichts dergleichen heraus, er lief nur rot an und verzog den Mund gezwungen zu einem Lächeln, als gäbe er zu, wessen man ihn verdächtigte, schließlich schlich er sich weg, dem Boss aus den Augen, denn solange sie zusammen waren, musste er immer unglaublich auf der Hut sein, niemals konnte er wissen, womit der wann ankam, für eine Weile war es noch das Beste, dass er ihn einer Sache mit Jessica verdächtigte, denn es war noch schlimmer, wenn der Boss damit ankam, dass die Heimat jeden brauche und dass er, also Florian, besser daran tue, wenn er die Sache nicht auf die lange Bank schiebe, sondern sich einreihe und endlich um Aufnahme in die Einheit bitte, so nannte er seine Kumpel, die Einheit, und obwohl nicht ganz klar war, was das eigentlich war, wusste er doch, dass er nicht dort hinein wollte, er hatte Angst vor ihnen, ganz Kana kannte sie, die Nazis, so sagten die Leute mit gedämpfter Stimme, und schon allein deshalb klang bedrohlich, was der Boss sich immer zudringlicher wünschte, denn wenn er eingetreten wäre, hätte er unter diesen Nazis nicht mehr nur mit dem Boss Tag für Tag mit der größten Hingabe kämpfen müssen, sondern auch mit ihnen, natürlich ohne Hingabe, da er sich sicher sein konnte, er kannte sie zur Genüge, dass sie ihn nicht in Ruhe lassen würden, auch er hätte sich dem Tätowieren unterziehen müssen, doch davor, vor dem Tätowieren, hatte er noch mehr Angst als vorm Zahnarzt, er wollte nicht tätowiert werden, weder das Eiserne Kreuz noch der Wappenadler mit roter Zunge, den der Boss mit Feuereifer empfahl, wenn er nur daran dachte, bekam er Gänsehaut an den Armen, wenn ihm die Nadel nur in den Sinn kam, und die fürchterlich surrende Tätowiermaschine, die er selbst zuweilen hörte, wenn er den Boss nach der Probe zu Archies Studio begleiten musste, weil ein neues oder altes Mitglied sich unter die Maschine legte, während die anderen draußen warteten, er hätte rennen können, besinnungslos rennen, weg von da, wo diese Nadel und diese Tätowiermaschine arbeiteten, also nein, und das, sofern er sich dazu imstande fühlte, erklärte er auch entschieden, nein, er werde sich niemals tätowieren lassen, das sei nicht sein Stil, fügte er noch leise hinzu, woraufhin der Boss natürlich vor Wut puterrot wurde, warum, gehörst du nicht zu uns?!, du gehörst zu uns!!, wo ich hingehöre, gehörst du auch hin, weil du, wie oft soll ich das noch sagen, meine Verantwortung bist, wie oft soll ich dir das noch in deine tauben Ohren sagen, denk nach und wähle, entweder das Eiserne Kreuz oder der Wappenadler mit roter Zunge, aber denk nicht zu lange nach, denn nächste Woche kommst du mit mir und legst dich unter Archies Hände, vrdmmt, auch wenn du hinterher heulend da rauskommst, doch Gott sei Dank war er bisher davongekommen und hatte sich nicht unter Archies Hände legen müssen, dafür musste er regelmäßig die Muskelbrust des Bosses bewundern, auf der das Eiserne Kreuz prangte, weil ich es verdient habe, sagte der, und du musst es dir auch verdienen, mehr sagte er nicht, er ließ das Hemd zurückrutschen, dann fügte er als Erklärung für die anderen noch hinzu, Florian lasse sich vorerst noch nicht tätowieren, er sei ein Schisser, und das Problem ist nur, dass er so, aber, ich sage euch, so stark ist, dass wir ihn nicht einmal zu fünft unter der Nadel festhalten könnten, versteht ihr, nicht einmal zu fünft, er ist bärenstark, Jungs, so ist das, letztens sind wir wegen der Baustelle von der B88 abgerutscht, da war Matsch, und ich konnte die rechte Seite einfach überhaupt nicht rauskriegen, da stieg der aus, nahm den ganzen Opel, samt mir, versteht ihr?, samt mir, und hob ihn wieder auf die Straße, man muss ihn also überreden, dass er die Sache selber will, woraufhin die anderen kein Wort sagten, nur den Boss ansahen, der dieses wortlose Ansehen nicht besonders mochte, er bestellte schnell Bier, teilte es an die Einheit aus und sagte, auf das Vierte Reich, und dann folgte das Anstoßen, auf die alte Weise, wie es die echten Deutschen früher gemacht hatten, also dass beim Anstoßen ein, zwei Tropfen in die Flasche des anderen hinüberschwappten, oder auf dessen Hand, damit war die Sache für den Tag beendet, und Florian konnte hoffen, eine kleine Verschnaufpause zu bekommen, denn das Thema kam selten in der Woche auf, eher zum Wochenende hin, meistens freitags, wenn dem Boss sichtlich schon die Versammlungen am Wochenende durch den Kopf gingen, wenn nicht gerade der Opel, denn mit dem gab es wirklich Probleme, mal die Kardanwelle, dann die Wasserpumpe, dann wieder der Kühler, mal dies, mal das, immer wurde etwas angezeigt, weshalb er eher erst mal an die samstägliche Reparatur denken musste, dann fuhren sie für ein Ersatzteil zu Adelmeyer oder zu Eckardt, doch auf keinen Fall zu Opitz, die tragen die Nase zu hoch, noch dazu Renaultianer, vom Opel haben die keinen blassen Schimmer, so belehrte er Florian, und sie fuhren zu Adelmeyer oder zu Eckardt, und danach durfte er den Hof nicht mehr betreten, der Boss fuhr hinein, und Florian schloss hinter ihm, weil der Hund bellte und an seiner Kette riss, schnell das Tor, sagte nur, na, dann gehe ich, und ging, wenn es regnete, dann entweder ins Herbstcafé oder zu Frau Ringer in die Bibliothek, wenn es nicht regnete, dann zu seinem Lieblingsort, ans Ufer der Saale, an dem vor den Sportplätzen zwei Bänke unter zwei Kastanien standen, fast unmittelbar am Ufer der Saale, nahe einer kleinen Brücke, diesen Ort mochte er sehr, und wenn der Boss an seinem Auto herumbastelte und es nicht regnete, lagen Stunden vor ihm, um sich allein hierher auf die kürzere der beiden Bänke zu setzen und weiterzudenken, was er von dem Herrn Köhler gehört hatte, um hier auf der Bank die Entwicklungen zu verdauen, wie er auch jetzt hier herumsaß, das Handballfeld war relativ weit entfernt, er hörte die Rufe kaum bis hierher, und ihm ging durch den Kopf, was er tun sollte, was in Berlin geschehen sein mochte, denn die Antwort war bis heute noch nicht angekommen, gestern war er oben bei Volkenants gewesen, hatte den Briefträger gefragt, doch sie hatten nur den Kopf geschüttelt, aber nicht mehr spöttisch wie zu Beginn, eher bedauernd, also hatte er etwas, worüber er nachdenken konnte, nämlich, was er tun sollte, oder ob er überhaupt etwas tun musste, darüber zerbrach er sich den Kopf unter einer der beiden Kastanien nahe der kleinen Brücke, denn vielleicht war er nur zu ungeduldig, er konnte ja doch nicht erwarten, dass Deutschlands Kanzlerin es sofort las, verstand und ihm auch sofort zurückschrieb, und so ist es vielleicht das Beste, wenn ich mich vorübergehend in Geduld übe, das entschied er auf der kürzeren Bank unter einem der beiden Kastanienbäume nahe der kleinen Brücke, und dann lauschte er den Geräuschen der kleinen Stromschnellen in der Saale, wie sich die flinken Wellen des seichten Wassers brachen, wo einige glatt geschliffene Flusskiesel ihnen im Weg waren, er lauschte dem ruhigen, lieblichen und glucksenden Plätschern, und ihm ging durch den Kopf, wie schwer, wie fürchterlich schwer es ihm fiel, dieses Plätschern mit dem Vakuum zusammenzubringen, in dem aus dem Nichts etwas wird, der Herr Köhler hatte daraufhin übrigens gesagt, dass er seine Studien der Quantenphysik gerade deshalb eingestellt hatte und nur noch bei seinen Abendvorlesungen über sie sprach, und auch da nur, solange es genügend Anmeldungen gab, gerade deswegen hatte er sich von der Quantenphysik abgewandt, da er sie nicht mit seinem gesunden Menschenverstand in Einklang bringen konnte, also hatte er sich etwas gesucht, bei dem es nur und ausschließlich auf den gesunden Menschenverstand ankam, worüber er natürlich in der Abendschule nie sprach, dort blieb die »wunderbare Welt der Elementarteilchen« statt der entsetzlichen Welt der Elementarteilchen, er hatte es gesucht, und er hatte es gefunden, und deshalb beschäftigte ihn schon seit Jahren nur noch die Meteorologie, seine eigene kleine Amateurwetterstation, die bereits beim MDR und auch bei der Ostthüringer Zeitung zur Kenntnis genommene private Wetterstation, die er durch die Arbeit langer Jahre allein erweitert hatte, nun hatte sie alles, was so eine private Wetterstation brauchte, er hatte die Temperatur, Windstärke, Luftfeuchtigkeit und den Luftdruck messen können, dazu war sie anfangs in der Lage gewesen, als aber ihr Ruf sich verbreitet und er die Daten des norwegischen und des MDR-Wetterdiensts hatte nutzen können, war in ihm die Sehnsucht gewachsen, seinen Gerätepark zu erweitern, wie er es nannte, und zum Beispiel selbst, denn er hatte nur ein unter der Hand gekauftes Michelson-Marten-Aktinometer, ein chemisches Aktinometer zu bauen, das aufgrund des Preises unerreichbar blieb, aber auch generell, so hatte er sich gefragt, was war das für ein Hobbymeteorologe, der seine Messgeräte nicht selbst baute, also hatte er beschlossen, es mit dem Selberbasteln zu versuchen, und der Versuch war ihm so brillant gelungen, dass es sofort viel bestaunt worden war, zum einen von den Nachbarn in der Straße, die von dem Ganzen nichts verstanden, zum anderen aber auch vom MDR und der Ostthüringer Zeitung, und da hatte die produktive Zusammenarbeit begonnen, Adrian Köhler, und Herr Köhler hob ein wenig die Stimme, verfügte damit über eine anerkannte Wettervorhersagestation, dabei mögen die Profis so etwas nicht besonders, sie belächeln für gewöhnlich die Amateure, wie sie auch ihn anfangs belächelt hätten, zu Recht übrigens, fügte er dann hinzu, doch mit dem selbstgebastelten Aktinometer sei er, um es so auszudrücken, akzeptiert worden, er hoffe und er glaube, der DWD, der norwegische Wetterdienst und auch die vom MDR schauen manchmal, vielleicht, und er neigte den Kopf ein wenig zur Seite, auf seine Daten, wer wisse das schon, auf jeden Fall könne er für Kana und Umgebung relativ sichere Vorhersagen treffen, und er gebe sich damit auch zufrieden, er wolle mit niemandem konkurrieren, wie könne er auch, er habe einfach nur eine Schwäche für die Meteorologie, das sei nicht so wie bei der Quantenphysik, bei der das Akzeptieren des Widersinnigen ein Grundpostulat sei, hier, im Falle der meteorologischen Vorhersage, gebe es, obwohl da natürlich Relativität und Unsicherheit seien, weil man mit Wahrscheinlichkeiten arbeite, diese nur so lange, bis es schneie oder die Sonne über die Marke von achtundzwanzig Grad klettere, und wenn er Schnee vorhergesagt habe, dann sei er glücklich, und wenn Temperaturen von über achtundzwanzig Grad, dann ebenso, ihm reiche Kana, und ihm reiche es, wenn die Menschen, zumindest einige hier, anerkennen, dass es seine Vorhersagen zu beachten lohne, viele haben das Gefühl, der Herr Köhler mache seine Vorhersagen quasi für sie, damit sie nicht zu früh auf die L1062 nach Seitenroda fahren, weil es früh wahrscheinlich Dunst gebe und man diese Waldstraße besser für eine Weile meide, oder damit sie den Regenschirm mitnehmen, weil es wahrscheinlich regnen werde, und zwar zwischen vierzehn und achtzehn Uhr mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfunddreißig Prozent, und dies sei schon eine ziemlich hohe Prozentzahl, um den Regenschirm in der Tasche zu haben, das, so sagte Herr Köhler lächelnd, reicht mir, kurzum, Florian, ich gebe zu, dass ich das Ganze nur zu meinem Vergnügen mache, manche beschäftigen sich mit Rosen, andere streichen jedes Jahr ihr Haus neu, und ich möchte wissen, ob es in den nächsten drei Tagen auf der B88 morgens Nebel geben wird und die Kanaer deshalb mit ihren Autos besser später losfahren, das ist alles, sagte er, eigentlich müsstest auch du so eine einfache Wissenschaft für dich finden, die dir Spaß macht, warum bleibst du nicht bei deinem gelernten Fach?, warum wirst du nicht Bäcker?, doch Florian senkte nur und schüttelte den Kopf, als wollte er damit sagen, leider, das ist mir nicht vergönnt, ich kann nicht wählen, ich muss mich mit dem beschäftigen, dessen Wesen Sie, Herr Köhler, mir gezeigt haben, und ich mache mir große Sorgen, ach was, so winkte der Herr Köhler dann ab, mach du dir nur keine Sorgen, mein Sohn, die Physiker der Quantentheorie werden das Problem schon irgendwann lösen, nur wir werden das nicht mehr erleben, nun, das ist es ja, Florian sah ihn mit seinen großen himmelblauen Augen traurig an, ich fürchte auch, dass wir das nicht mehr erleben, doch der Gastgeber schüttelte den Kopf, man muss sich nicht fürchten, und er richtete seine Brille, schau dir den Himmel an, diese Wolken, die einfallenden Sonnenstrahlen, das sind handfeste Dinge, du musst dich nicht so sehr in diese ganze Vakuumsache vertiefen, denn leicht versinkst du endgültig, noch dazu da das, was dich so sehr bedrückt, nicht der Bankrott der Quantentheorie ist, sondern der des beschränkten menschlichen Verstands, das sagte er, doch Florian sagte er es vergeblich, der war schon so tief von dem einen Gedanken durchdrungen, der bei ihm von all dem hängengeblieben war, was der Herr Köhler zwei Jahre lang jeden Dienstag im Keller des Gebäudes des Lichtenberg-Gymnasiums schön akkurat und wirklich mit erhellender, fast aufrührerischer Kraft dargelegt hatte, dass er bei ihm stehen bleiben musste, und er blieb auch stehen, versank darin und ging endgültig unter, er habe das Gefühl, so gestand er manchmal dem Herrn Köhler, er werde nie mehr der sein, der er davor gewesen sei, denn er hätte nie gedacht, dass die Welt unter der Gefahr einer solch furchterregenden Tatsache derart dem jederzeitigen Untergang ausgesetzt sei, aber nicht nur dem Untergang, schon ganz am Anfang habe es ihn entsetzt, sagte er, nämlich, wenn alles jetzt vor dem Untergang dermaßen auf Messers Schneide steht, muss genauso auf Messers Schneide die Situation auch dann gestanden haben, als wir entstanden sind, ich kann mich nicht mehr darüber freuen, Herr Köhler, wenn ich zum Himmel hinaufblicke, mich packt nur das Entsetzen, weil ich das ganze Universum als dermaßen schutzlos empfinde, aber als dermaßen schutzlos, und da sein Mentor dann ernsthaft erschrak, Florian könnte am Ende noch in Tränen ausbrechen, bemühte er sich schnell, ihn zu trösten, und sagte, schau, mein Sohn, das Ganze ist nur Physik, Wissenschaft, und die Wissenschaft, da besteht kein Zweifel, findet im Moment nicht die Antwort auf die Frage, noch, mein Sohn, noch nicht, vorerst nicht, doch das ist immer so gewesen, die Wissenschaft wirft ununterbrochen Fragen auf, auf die sie eine Zeitlang nicht die Antwort findet, aber diese Antwort wird dann doch, gegen alle Schwierigkeiten, geboren, und sie wird auch in dieser ungelösten Angelegenheit geboren werden, dessen kannst du dir absolut sicher sein, und nach so einem Gespräch saß er, wenn Florian gegangen war, nur in sich zusammengesunken im Sessel und klagte sich selbst an, warum er ihm von den ungelösten Fragen der Physik erzählte, denn zum einen verstand dieser Junge, obwohl er überraschend klug und empfänglich war, nichts wirklich, übersetzte es nur in sein eigenes System, und zum anderen hielten diese falsch verstandenen Kenntnisse die ohnehin überempfindliche Seele dieses melancholischen Schwärmers nur in einer unnötigen Aufregung gefangen, schon mehrmals hatte er aufhören wollen, von der »wunderbaren Welt der Elementarteilchen« zu sprechen, da die Welt der Elementarteilchen eben gerade nicht wunderbar, sondern schrecklich war, er selbst nahm sich das zwar nicht so zu Herzen, doch da war dieser riesig gewachsene Koloss, dieses Kind, und es war sinnlos, nicht nur zu sagen, sondern auch mit Argumenten unterfüttert überzeugend zu betonen, was in seinem Fall natürlich nun schon zu spät war, dass die Wissenschaft es lösen würde, es war nicht sicher, dass sie es lösen würde, verstimmt betrachtete er einen winzigen Käfer auf dem Fußboden, wie der aus einer schmalen Ritze hervorkam, irgendwoher irgendwohin, denn es gab Fragen, bei denen die Physik bis heute die Antwort schuldig war, was anders ausgedrückt ganz einfach bedeutete, dass die Physik auf die wesentlichsten und grundlegendsten Fragen keine Antwort wusste, ja, sich selbst ständig in die Situation brachte, unlösbare Fragen aufzuwerfen, sie geriet also mit sich selbst aneinander und ließ die Menschen allein mit ihrer Verzweiflung, was danach kam, was daraus folgte, das bedeutete natürlich nicht, dass Florian recht hatte, dass also der experimentelle Beweis der Dirac-Vorhersage und der Lamb-Verschiebung die Büchse der Pandora geöffnet hätte, die Zukunft war seiner heiligen Überzeugung nach keineswegs so erschreckend, Florian übertrieb die Sache, Florian wiederum dachte das nicht, er übertrieb überhaupt nicht, und so entschied er sich, als ihm der Gedanke kam, denn nach einer Weile geschah genau das, der Brief könnte nicht bei der Kanzlerin angekommen sein, weil er im Labyrinth der Bürokratie stecken geblieben war, nicht mehr für die Geduld, vielmehr würde er sich sofort in der erstbesten Stunde hinsetzen und einen neuen Brief schreiben, in der Absicht, diesmal die Tragweite der Konsequenzenfortlaufend blitzartigeAnschauungsGERADEnichtNichtsnichtnichts4leiderIVechtendas191919habenschonWIRWOLFSKOPFBACHHAUSEISENACHdafürdafürARSCH8890BACHBACH3188IV4Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, ich komme am 6. September, mittags, Herscht