Neal Stephenson
Snow Crash
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Alexander Weber
FISCHER E-Books
Neal Stephenson studierte Physik und Geografie, bevor er sich als Schriftsteller und Technologie-Berater selbständig machte. Seit »Snow Crash« (1992) gilt Stephenson als einer der originellsten SF-Autoren, der für alle größeren SF-Preise nominiert war (und einige davon gewonnen hat). Er lebt und arbeitet in Seattle.
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Hiro Protagonist war mal Programmierer, aber seit auch hier die Konzerne alles gleichgeschaltet haben, zieht er jeden Bullshit-Job vor: Pizza-Auslieferer für die Mafia. Oder Information Broker für die ehemalige CIA.
Wichtiger als die echte Welt ist für ihn ohnehin das Metaverse, ein virtueller Ort, an dem sich die Menschen mit ihren selbst gestalteten Avataren treffen. Dort begegnet er auch zum ersten Mal der Droge »Snow Crash«. Das Besondere: Snow Crash ist ein Computervirus, der auch Menschen befallen kann. Zusammen mit seiner Partnerin Y. T. ermittelt Hiro – und kommt einer Verschwörung auf die Spur, die bis in die menschliche Vorgeschichte zurückreicht.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel »Snow Crash« bei Bantam Books.
© 1992 Neal Stephenson
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
Die Abbildungen in den Kapiteln 28 und 33 stammen aus »The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind« by Julian Jaynes. Copyright © 1976 Julian Jaynes. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Houghton Mifflin Company.
Covergestaltung und -abbildung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Bildern von Adobestock/danielegay und knssr
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491338-4
Schnee, der … 2. a. alles Schneeähnliche b. weiße Rasterpunkte auf einem Fernsehbildschirm, die auf gestörten Empfang zurückzuführen sind
Crash, der … 2. a. Zerbrechen oder Zerschellen … 3. jäher drastischer Rückgang, Börsencrash. … 4. b. plötzliche Störung eines Computerprogramms o. Betriebssystems.
American Heritage Dictionary
Virus, das o. der … [lat. virus schleimige Flüssigkeit, Gift, abstoßender Geruch o. Geschmack] 1. Gift, wie es ein giftiges Tier absondert. 2. Med.a. krankmachendes Prinzip o. giftige Substanz, insbesondere eine, die durch Impfung o. auf anderem Wege in den Körper von Tieren o. Menschen gelangen u. dort dieselbe Erkrankung auslösen kann. … 3. übertragen moralisches o. intellektuelles Gift; schädlicher Einfluss.
Oxford English Dictionary
Der Deliverator gehört einem Eliteorden an, einer geheiligten Subkategorie. Er ist motiviert bis in die Haarspitzen. Gerade bereitet er sich auf die dritte Mission des Abends vor. Seine Uniform ist schwarz wie Aktivkohle, so schwarz, dass sie das Licht förmlich aus der Luft saugt. Kugeln würden von dem Gewebe aus Arachnofasern abprallen wie ein Zaunkönig, der gegen eine Verandatür kracht, überschüssiger Schweiß jedoch weht sanft hindurch wie eine laue Brise durch einen frisch napalmbombardierten Wald. Dort, wo an seinem Körper Knochen hervorstehen, ist der Anzug mit gesintertem Panzergel gepolstert. Fühlt sich an wie grobkörniger Wackelpudding, schützt wie ein Stapel Telefonbücher.
Als er den Job bekam, gab man ihm eine Waffe. Der Deliverator wird niemals bar bezahlt, trotzdem könnte es jemand auf ihn abgesehen haben – auf sein Auto oder auf seine Ladung. Die Pistole ist winzig, stromlinienförmig, federleicht, eine Waffe, wie sie ein Modedesigner tragen würde. Sie feuert winzige Pfeile ab, fünfmal so schnell wie ein SR-71-Spionagejet, und wenn man sie benutzt hat, steckt man sie zum Aufladen in den Zigarettenanzünder, denn sie funktioniert elektrisch.
Der Deliverator zog diese Waffe nie aus Wut oder aus Angst. Zog sie überhaupt nur einmal. Ein paar Punks in Gila Highlands, einer dieser reichen Burbclaves, hatten sich was bestellt und wollten nicht dafür bezahlen. Dachten, sie könnten den Deliverator mit einem Baseballschläger beeindrucken. Doch der Deliverator zückte seine Waffe, zielte mit dem Laserding auf den erhobenen Schläger, einen Louisville Slugger, und drückte ab. Der Rückstoß war so gewaltig, als wäre das Teil in seiner Hand hochgegangen. Das mittlere Drittel des Baseballschlägers verwandelte sich in eine kurzlebige Säule aus brennenden Sägespänen, die in alle Richtungen davonstoben wie ein explodierender Stern. Danach hielt der Punk nur noch den verkohlten Griff in der Hand, darüber kräuselte sich milchiger Rauch in den Himmel. Glotzte dämlich aus der Wäsche. Hat nichts vom Deliverator bekommen außer Ärger.
Seitdem lässt der Deliverator die Pistole im Handschuhfach, verlässt sich stattdessen auf ein zusammengehöriges Paar Samuraischwerter, die ohnehin schon immer die Waffen seiner Wahl gewesen sind. Die Punks in Gila Highlands hatten keine Angst vor der Pistole, also war der Deliverator gezwungen gewesen, sie zu benutzen. Schwerter jedoch bedürfen keiner Vorführung.
In den Batterien seines Autos steckt genügend Energiepotenzial, um ein Pfund Speck in den Asteroidengürtel zu schießen. Doch im Gegensatz zu einer Mommybox oder einem Burbbeater entlädt das Auto des Deliverators seine Energie durch klaffende, funkelnde, glanzpolierte Schließmuskeln. Wenn er aufs Gas steigt, brennt die Luft. Willst du was über Kontaktflächen hören? Deine Reifen haben winzige Kontaktflächen, berühren den Asphalt an vier mickrigen Punkten, gerade mal so groß wie deine Zunge. Das Auto des Deliverators hat massige Haftreifen mit Kontaktflächen so lang und breit wie die Schenkel einer fetten Braut. Der Deliverator ist auf Tuchfühlung mit der Straße, geht derbe ab wie ’n echter Scheißtag, bremst so scharf wie ’ne Betonwand.
Warum ist der Deliverator so ausgestattet? Weil sich die Leute auf ihn verlassen. Er ist ein Vorbild. Das ist Amerika. Die Leute tun und lassen, was sie verdammt nochmal wollen. Hast du ’n Problem damit? Es ist nämlich ihr beschissenes Recht. Außerdem haben sie Waffen, und niemand kann sie aufhalten. Deshalb hat dieses Land eine der miesesten Volkswirtschaften der Welt. Denn letzten Endes – jedenfalls was die Handelsbilanz angeht – ist es doch so: Wenn erst einmal all unser technologisches Knowhow in andere Länder abgeflossen ist, wenn sich alles ausgeglichen hat, man in Bolivien Autos und in Tadschikistan Mikrowellen baut und sie hier bei uns verkauft, wenn unsere Überlegenheit bei den natürlichen Ressourcen völlig bedeutungslos geworden ist, weil gigantische Schiffe und Zeppeline aus Hongkong ganz North Dakota für ein paar Cent bis nach Neuseeland schleppen könnten, wenn die unsichtbare Hand erst einmal sämtliche historischen Ungleichheiten gepackt und sie in einer dicken Schicht von etwas, das ein pakistanischer Ziegelbrenner womöglich Wohlstand nennen würde, über den gesamten Erdball gekleistert hat – weißt du was? Dann gibt es nur noch vier Dinge, in denen wir besser sind als alle anderen:
Musik
Filme
Microcode (Software)
Superschneller Pizzaservice
Früher hat der Deliverator Software programmiert. Ab und zu tut er das auch heute noch. Doch wäre das Leben eine ziemlich tolerante, von wohlmeinenden Doktoren der Pädagogik geführte Grundschule, dann würde auf dem Zeugnis des Deliverators stehen: »Hiro ist bemerkenswert intelligent und kreativ, aber er sollte dringend an seiner Kooperationsfähigkeit arbeiten.«
Deshalb hat er jetzt diesen neuen Job. Einen, der keine Intelligenz erfordert. Und keine Kreativität. Aber eben auch keine Kooperation. Es gibt nur eine Regel: Der Deliverator steht dafür gerade, dass du deine Pizza in dreißig Minuten hast, oder du kriegst sie umsonst, darfst den Fahrer abknallen, dir sein Auto schnappen und auf Schadenersatz klagen. Der Deliverator macht den Job jetzt seit sechs Monaten, ein langes und erfülltes Berufsleben für seine Verhältnisse, und er hat noch nie länger als einundzwanzig Minuten gebraucht, um eine Pizza auszuliefern.
Klar, früher haben die Kunden ständig um Lieferzeiten gestritten, ellenlange Diskussionen angezettelt, für die etliche Pizzafahrerjahre draufgegangen sind: Eigenheimbesitzer, rotgesichtig und verschwitzt von ihren eigenen Lügen, Typen, die nach Old Spice und Jobstress stanken, die im gelben Lichtschein ihres Hausflurs mit der Seiko wedelten und auf die Uhr über der Spüle zeigten, ich schwör’s, könnt ihr Jungs denn keine Uhr lesen?
Aber das ist längst Geschichte. Pizzaausliefern ist heute eine Großindustrie, hochorganisiert. Die Leute waren vier Jahre lang auf der CosaNostra Pizza University, um es zu studieren. Konnten keinen Satz Englisch schreiben, als sie kamen – aus Abchasien, Ruanda, Guanajuato, Süd-Jersey –, und als sie wieder rausmarschierten, wussten sie mehr über Pizza als ein Beduine über Sand. Hatten Diagramme über die Häufigkeit von Lieferzeitstreitigkeiten an der Haustür angefertigt. Hatten ihre Pizzaboten verwanzt, um alles aufzunehmen und später zu analysieren: die rhetorischen Strategien, die stimmbasierten Stress-Histogramme, die spezifische Grammatik all dieser weißen Burbclave-Bewohner aus der Mittelschicht, Typ Choleriker, die bar jeder Logik beschlossen hatten, genau hier und jetzt wie einst General Custer die Stellung zu halten, im letzten Gefecht gegen alles, was in ihrem Leben abgeschmackt und geisttötend war. Sie logen über den Zeitpunkt ihres Anrufs oder glaubten sogar selbst, was sie sagten, um sich eine Gratispizza zu sichern; nein, sie verdienten diese Gratispizza, verdienten sie ebenso wie Leben, Freiheit und das Streben nach weiß der Geier was, das war nun mal ihr scheißunveräußerliches Recht. Man hatte Psychologen zu den Leuten nach Hause geschickt, ihnen neue Fernseher geschenkt, damit sie an anonymen Umfragen teilnahmen, sie an Lügendetektoren angeschlossen, ihre Hirnströme gemessen, während man ihnen flimmrige, kryptische Videos von Pornoqueens, nächtlichen Autounfällen und Sammy Davis, Jr. zeigte, und sie anschließend in lieblich duftende Zimmer mit malvenfarbenen Tapeten geführt und ihnen derart verstörende Fragen über Ethik gestellt, dass nicht einmal ein Jesuit sie hätte beantworten können, ohne sich einer klitzekleinen lässlichen Sünde schuldig zu machen.
Schlussendlich gelangten die Forscher von der CosaNostra Pizza University jedoch zu dem Ergebnis, dass all dies schlicht in der Natur des Menschen lag und man nicht das Geringste daran ändern könne, also verfielen sie auf eine kostengünstige technische Lösung: die Smartbox. Der heutige Pizzakarton ist ein hochstabiles geriffeltes Kunststoffgehäuse mit einem leuchtenden LED-Display an der Seite, das dem Deliverator verrät, wie viele handelsbilanzverzerrende Minuten seit dem schicksalhaften Telefonanruf verstrichen sind. Sind randvoll mit Speicherchips und solchem Kram, die Dinger. Die Pizzen stecken, eine über der anderen, in Fächern hinter dem Kopf des Fahrers. Jede Pizza gleitet in einen solchen Steckplatz wie eine Platine in einen Rechner und rastet klickend ein, worauf sich die Smartbox in den Bordcomputer des Lieferautos einloggt. Die Adresse des Anrufers ist bereits aus seiner Telefonnummer ermittelt und in den eingebauten RAM der Box geladen worden. Von dort aus wird sie zum Bordsystem übertragen, das die optimale Strecke berechnet und sie auf ein HUD projiziert, eine durchsichtige, bunt leuchtende Straßenkarte, die sich über die Windschutzscheibe spannt, so dass der Deliverator nicht einmal nach unten schauen muss.
Wenn die Dreißigminutenfrist abgelaufen ist, wird die Katastrophenmeldung augenblicklich an die Firmenzentrale von CosaNostra Pizza gesendet, wo man sie umgehend an Onkel Enzo persönlich weiterleitet – den sizilianischen Colonel Sanders, den Andy Griffith von Bensonhurst, die rasiermesserschwingende Ausgeburt der Albträume eines jeden Deliverators, Capo und Galionsfigur von CosaNostra Pizza Incorporated –, der dann binnen fünf Minuten zum Telefon greift, den Kunden anruft und sich überschwänglich bei ihm entschuldigt. Tags darauf wird Onkel Enzo mit seinem Düsenhelikopter im Vorgarten des Kunden landen, um sich noch etwas leidenschaftlicher zu entschuldigen und ihm eine Reise nach Italien zu schenken – alles, was er dafür tun muss, ist einen Haufen von Erklärungen unterschreiben, die ihn zu einer Person des öffentlichen Interesses und einem Werbeträger für CosaNostra Pizza machen und damit im Grunde seinem Privatleben, wie er es kannte, ein jähes Ende setzen. Wenn die ganze Sache schließlich vorüber ist, wird ihn das vage Gefühl beschleichen, er schulde der Mafia einen Gefallen.
Was mit dem Fahrer in solchen Fällen geschieht, weiß der Deliverator nicht genau, aber er hat Gerüchte gehört. Die meisten Liefertouren finden in den Abendstunden statt, die Onkel Enzo als seine Freizeit erachtet. Und wie wärst du gelaunt, wenn du dein Abendessen im trauten Familienkreis unterbrechen müsstest, um irgendeinen renitenten Schwachkopf in irgendeiner Burbclave anzurufen und ihm wegen einer verspäteten Pizza in den Arsch zu kriechen? Onkel Enzo hat sich gewiss nicht die letzten fünfzig Jahre für seine Familie und sein Land abgerackert, um in einem Alter, in dem die meisten anderen längst Golf oder mit ihren Enkelinnen Hoppereiter spielen, triefnass aus der Wanne zu steigen, sich hinzuknien und irgendeinem sechzehnjährigen Skatepunk die Füße zu küssen, dessen Scheißsalamipizza einunddreißig Minuten unterwegs war. O Gott. Allein bei dem Gedanken atmet der Deliverator ein wenig flacher.
Aber er würde nicht für CosaNostra fahren, wenn es anders liefe als genau so. Und weißt du auch, warum? Weil es nun mal was hat, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Du fühlst dich wie ein Kamikazeflieger. Glasklar im Kopf. Andere Leute – Verkäufer, Burgerwender, Softwareingenieure, die ganze Palette sinnloser Berufe, die unser Leben in Amerika ausmachen –, all diese Leute vertrauen auf die gute alte Konkurrenz. Wende deine Burger oder säubere deine Subroutinen gefälligst schneller und besser, als dein Klassenkamerad von der Highschool zwei Blocks weiter seine Burger wendet oder seine Subroutinen säubert, denn wir stehen in Konkurrenz mit diesen Typen, und der Kunde merkt so was.
Was für eine beschissene Tretmühle. CosaNostra Pizza hat keine Konkurrenz. Konkurrenz widerspricht dem Mafiaethos. Du strengst dich nicht an, weil du mit einer identischen Klitsche ein paar Häuser weiter konkurrierst. Du strengst dich an, weil alles auf dem Spiel steht. Dein guter Name, deine Ehre, deine Familie, dein Leben. Diese Burgerwender haben vielleicht eine höhere Lebenserwartung, na und? Was für ein Leben ist das schon? Und genau das ist der Grund, wieso niemand, nicht einmal die Japaner, schneller Pizza ausliefern als CosaNostra. Der Deliverator ist stolz darauf, die Uniform zu tragen, stolz darauf, das Auto zu fahren, stolz darauf, die Gartenwege unzähliger Burbclave-Eigenheime hochzumarschieren, eine martialische Erscheinung in Ninjaschwarz, eine Pizza auf der Schulter, deren rote LEDs stolze Lieferzeiten in die Nacht lodern: 12:32 oder 15:15 oder, ganz selten einmal, 20:43.
Der Deliverator bekommt CosaNostra Pizza #3569 im Valley zugeteilt. Südkalifornien weiß nicht, ob es sich noch abhetzen oder lieber gleich den Strick nehmen soll. Gibt einfach nicht genügend Straßen für all die vielen Menschen. Fairlanes Inc. baut ständig neue. Müssen dafür haufenweise Stadtviertel plattmachen, aber diese Neubaugebiete aus den Siebzigern und Achtzigern taugen nun mal zu nichts anderem, als plattgewalzt zu werden, oder? Keine Gehsteige, keine Schulen, kein Garnichts. Nicht mal eine eigene Polizeitruppe – keinerlei Grenzkontrollen –, unerwünschte Personen können einfach reinspazieren, ohne durchsucht oder zumindest schikaniert zu werden. Wer was auf sich hält, wohnt in einer Burbclave. Einem Stadtstaat mit eigener Verfassung, eigenen Grenzen, Gesetzen, Cops, allem Drum und Dran.
Früher war der Deliverator eine Zeitlang Corporal bei den staatlichen Sicherheitskräften der Farms of Merryvale. Wurde gefeuert, weil er sein Schwert gezogen hat und auf einen Typen losgegangen ist, den er für einen Einbrecher hielt. Hat es ihm direkt durchs Hemd gejagt, die flache Seite der Klinge seitlich am Hals entlanggleiten lassen und den Brecher an der verzogenen, blasenschlagenden Kunststoffverkleidung jenes Hauses aufge- spießt, in das der Kerl einsteigen wollte. Hielt das für eine ziemlich einwandfreie Festnahme. Haben ihn aber trotzdem gefeuert, weil sich der Einbrecher als Sohn des Vizekanzlers der Farms of Merryvale entpuppte. Natürlich hatten sie eine hübsche Ausrede, die Schlitzohren: Meinten, ein neunzig Zentimeter langes Samuraischwert entspräche nun mal nicht dem Waffenprotokoll. Meinten, er habe gegen die RAMS verstoßen, die Richtlinien zum Aufgreifen mutmaßlicher Straftäter. Meinten, der Verdächtige habe ein psychisches Trauma erlitten. Fürchte sich jetzt vor Buttermessern; müsse sich die Marmelade jetzt mit der Rückseite seines Teelöffels aufs Brot schmieren. Meinten, der Deliverator habe ihnen eine saftige Schmerzensgeldforderung eingebrockt.
Der Deliverator hatte sich Geld leihen müssen, um sie zu bezahlen. Von der Mafia. Also ist er jetzt in ihrer Datenbank – Netzhautmuster, DNA, Fingerabdrücke, Fußabdrücke, Handflächenabdrücke, Handgelenkabdrücke, Abdrücke von so gut wie jeder verfluchten Körperstelle, die irgendwelche Falten hat –, alles haben die Dreckskerle durch Tinte gerollt, auf Papier gestempelt, digitalisiert und in ihrem Computer gespeichert. Aber es ist nun mal ihr Geld – klar, dass sie aufpassen müssen, wem sie es leihen. Und als er sich dann auf die Stelle als Deliverator bewarb, nahmen sie ihn mit Kusshand, weil sie ihn kannten. Um den Kredit zu kriegen, hatte er persönlich beim stellvertretenden Vizecapo des Valleys vorsprechen müssen, der ihn später für den Lieferjob empfahl. Und jetzt kommt es ihm so vor, als gehöre er schon zur Familie. Einer verdammt furchteinflößenden, verkorksten, gewalttätigen Familie.
CosaNostra Pizza #3569 liegt in der Vista Road kurz hinter dem Kings Park Mall. Die Vista Road gehörte früher einmal dem Staat Kalifornien und heißt heute Fairlanes Inc. Rte. CSV-5. Ihr größter Konkurrent ist ein einstiger U. S. Highway, der jetzt Cruiseways gehört und Cruiseways Inc. Rte. Cal-12 heißt. Ein Stück weiter oben im Valley kreuzen sich die beiden rivalisierenden Highways sogar. Früher ist es dort zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen, und die Kreuzung wurde wegen Heckenschützenfeuer zeitweise gesperrt. Schließlich hat eine große Baufirma die gesamte Kreuzung gekauft und zu einer Drive-Thru-Mall umgebaut. Heute führen alle Straßen in ein Parksystem – kein Parkplatz, kein Parkhaus, sondern ein richtiges System – und sind kaum mehr auseinanderzuhalten. Um über die Kreuzung zu gelangen, muss man seinen Weg durch dieses Parksystem finden, gewunden und verschlungen wie der Ho-Chi-Minh-Pfad. CSV-5 hat besseren Durchsatz, doch Cal.12 hat den besseren Belag. Das ist typisch – Fairlanes-Straßen bringen einen rascher ans Ziel, sind also etwas für Fahrer vom Typ A, während man bei Cruiseways mehr Wert auf das Fahrvergnügen legt, für Fahrer vom Typ B.
Der Deliverator ist wie ein Typ-A mit Tollwut. Rast zielgenau auf seine Homebase zu, CosaNostra Pizza #3569, kachelt mit hundertzwanzig Sachen über die linke Spur der CSV-5. Sein Auto ist eine unsichtbare schwarze Raute, kaum mehr als ein dunkler Fleck, der den Tunnel aus Neonlogos reflektiert – den Loglo. Eine Reihe grelloranger Lichter wogt und züngelt quer über die Front, dort, wo sich der Kühlergrill befinden würde, wäre dies ein luftgekühltes Fahrzeug. Die orangefarbenen Lichter sehen aus wie Benzinfeuer, das durch die Heckscheiben der anderen Fahrer dringt, von ihren Rückspiegeln abprallt und sich wie eine lodernde Maske über ihre Augen legt, es bohrt sich bis in ihr Unterbewusstsein und beschwört die schreckliche Angst herauf, bei vollem Bewusstsein unter einem explodierenden Gastank eingeklemmt zu sein, weckt in ihnen das unbändige Verlangen, Platz zu machen und den Deliverator in seinem schwarzen Streitwagen voll feuriger Pepperonipizza überholen zu lassen.
Der Loglo über ihm, »CSV-5« in paarigen Kondensstreifen, ist ein riesiges Gebilde aus elektrischem Licht. Es besteht aus unzähligen kleinen Leuchtzellen, und jede einzelne davon wurde in Manhattan von Lichtdesignern gestaltet, die mit dem Entwurf eines einzigen Loglo mehr verdienen als ein Deliverator in seinem ganzen Leben. Trotz aller Bemühungen, sich von anderen abzusetzen, fließen sämtliche Schriftzüge ineinander, besonders bei hundertzwanzig Stundenkilometern. Trotzdem ist CosaNostra Pizza #3569 nicht zu übersehen dank der Werbetafel, die selbst nach den größenwahnsinnigen heutigen Maßstäben echt hoch und breit ist. Im Grunde ist das gedrungene Gebäude kaum mehr als ein niedriger Sockel für die gewaltigen Pfeiler aus Aramidfasern, die das Reklameschild ins Markenzeichenfirmament emporrecken. Marca Registrada, Baby.
Das Schild ist ein Klassiker, ein alter Hut, keine Ausgeburt irgendeiner kurzlebigen Mafia-Werbekampagne. Ein Statement, ein Denkmal, errichtet für die Ewigkeit. Schlicht und würdevoll. Es zeigt Onkel Enzo in einem seiner schicken italienischen Anzüge. Die glitzernden Nadelstreifen winden sich wie gespannte Sehnen. Das Einstecktuch ist hell erleuchtet. Seine Frisur sitzt perfekt, die Haare sind mit irgendeinem Zeug nach hinten geklatscht, das nie wieder rausgeht, jede Strähne kerzengerade, makellos gestutzt von Onkel Enzos Vetter, Art dem Barbier, der die weltweit zweitgrößte Kette von Billigfriseursalons betreibt. Da steht er also, Onkel Enzo, nicht direkt lächelnd, doch mit einem onkelhaften Funkeln in den Augen, nicht wie ein Model, sondern genau so, wie dein Onkel nun mal dastehen würde, darunter die Worte:
DIE MAFIA
Werden Sie ein Freund der Familie!
Mit freundlicher Unterstützung der Unsere-Sache-Stiftung
Die Werbetafel dient dem Deliverator als Polarstern. Er weiß: Wenn er an die Stelle auf dem CSV-5 kommt, wo die untere Ecke der Tafel von den pseudogotischen Buntglasbögen der örtlichen Franchise von Reverend Waynes Himmelspforte verdeckt wird, muss er auf eine der rechten Spuren schwenken, wo Schwachmaten und Mommyboxes ziellos herumschleichen und jede Einfahrt einer vorbeifliegenden Franchise derart unschlüssig beäugen, als wüssten sie nicht, ob es sich um eine Versuchung oder eine Drohung handelt.
Haarscharf schneidet er eine Mommybox – einen Familien-Minivan –, jagt am Buy ’n’ Fly nebenan vorüber und donnert in die Einfahrt von CosaNostra Pizza #3569. Die dicken, fetten Kontaktflächen beschweren sich, kreischen kurz auf, krallen sich aber verbissen in den patentierten Fairlanes-Inc.-Asphalt mit maximaler Bodenhaftung und leiten den Wagen in die Fahrrinne. In der Rinne warten keine anderen Deliverators, und das ist gut, verspricht raschen Umsatz, eine High-Speed-Übergabe, lass die Pizza rüberwachsen, Alter. Als er knirschend zum Stehen kommt, klappt die elektromechanische Luke seines Wagens bereits hoch, gibt die leeren Pizzaschlitze frei, während sich die Tür klickend zusammenfaltet wie ein Käferflügel. Die Steckplätze warten. Warten auf die heiße Pizza.
Warten und warten. Der Deliverator hupt. Das ist nicht der vorgeschriebene Ablauf.
Das Fenster fährt zur Seite. Das sollte niemals passieren. Schlag nach im Ringordner der CosaNostra Pizza University, vergleich alle Einträge und Querverweise zu Fenster, Abholrinne, Zuteiler, und du findest sämtliche Abläufe, die mit diesem Fenster zu tun haben – und es sollte sich niemals öffnen. Außer, es ist etwas schiefgelaufen.
Das Fenster fährt beiseite, und – halt dich fest – Rauch quillt heraus. Der Deliverator hört ein seltsam misstönendes Fiepen über dem Heavy-Metal-Orkan aus seiner Anlage und begreift, dass es die Sirene eines Feueralarms ist, die aus dem Inneren der Franchise schrillt.
Mute-Taste. Bedrückende Stille – seine Trommelfelle erschlaffen –, die Scheibe bebt vom Kreischen des Rauchmelders. Der Wagen knurrt im Leerlauf, wartet. Die Luke ist zu lange offen, Schadstoffe aus der Luft setzen sich an den elektrischen Kontakten hinten in den Pizzafächern ab, er wird sie früher als geplant reinigen müssen, alles läuft genau so, wie es laut Handbuch nicht laufen sollte – dem allmächtigen Ringordner, der den Takt des Pizzauniversums vorgibt.
Drinnen rennt ein Abchase mit footballförmigem Gesicht kopflos hin und her, einen aufgeschlagenen Ringordner in den Händen, den er auf seinen vorspringenden Hüftspeck stützt, damit er nicht zusammenklappt; sein Gang erinnert an einen Mann, der ein rohes Ei auf einem Esslöffel balanciert. Er brüllt etwas auf Abchasisch – sämtliche Betreiber von CosaNostra-Pizzaläden in diesem Teils des Valleys sind abchasische Einwanderer.
Es sieht nicht nach einem ernsten Feuer aus. In den Farms of Merryvale hat der Deliverator mal einen richtigen Brand erlebt, und da konnte man vor lauter Rauch nichts mehr erkennen. Da war nur noch Rauch und nichts als Rauch, der überall hervorquoll, und am Boden hier und da orange Blitze, wie Wetterleuchten in aufgetürmten Wolken. Das hier ist nicht diese Art von Feuer. Es ist die Art von Feuer, die gerade so viel Qualm freisetzt, dass der Rauchmelder anspringt. Und wegen diesem Scheiß verliert er Zeit.
Der Deliverator hält die Huptaste gedrückt. Der abchasische Geschäftsführer kommt ans Fenster. Er sollte die Sprechanlage benutzen, um mit Fahrern zu reden, jedes seiner Worte wird direkt ins Wageninnere übertragen, aber nein, er muss es ihm ja ins Gesicht sagen, als wäre der Deliverator irgend so ein beschissener Ochsenkutscher. Er ist krebsrot im Gesicht, schwitzt, verdreht die Augen, während er verzweifelt nach den englischen Wörtern ringt.
»Feuer, aber nur kleines«, sagt er.
Der Deliverator antwortet nicht. Denn er weiß, dass alles per Video mitgeschnitten wird; Material, das dann in Echtzeit an die CosaNostra Pizza University geht, wo man es in einem der Pizzamanagement-Labore analysieren und den dortigen Studierenden vorführen wird – darunter womöglich sogar jemandem, der diesen Mann ersetzen wird, wenn man ihn feuert, als Musterbeispiel dafür, wie man sich sein Leben verpfuscht.
»Neuer Mitarbeiter – hat Abendessen in Mikrowelle gestellt – hatte Alufolie drum – Bumm!«, sagt der Geschäftsführer.
Abchasien war mal Teil der Scheißsowjetunion. Ein neuer Einwanderer aus Abchasien, der probiert, eine Mikrowelle zu bedienen, ist wie ein Tiefseeröhrenwurm, der sich an Hirnchirurgie versucht. Wo kriegen sie diese Typen bloß her? Gibt es denn keine Amerikaner mehr, die eine Scheißpizza backen können?
»Schieb mir einfach ’ne Mafiatorte rüber«, sagt der Deliverator.
Das Wort Mafiatorte katapultiert den Typen zurück ins jetzige Jahrhundert. Er reißt sich zusammen. Er rammt das Fenster zu, erstickt endlich das nervtötende Geheul des Rauchmelders.
Ein japanischer Roboterarm schiebt die Pizza heraus und direkt in den obersten Schlitz. Die Luke schließt sich, um sie zu schützen.
Als der Deliverator aus der Rinne rollt, Geschwindigkeit aufnimmt, die Adresse checkt, die quer über die Windschutzscheibe flackert, überlegt, ob er rechts oder links abbiegen muss, geschieht es. Die Stereoanlage setzt erneut aus – auf Anweisung des Bordcomputers. Die Cockpitleuchten blinken rot. Rot! Ein pulsierender Warnton schrillt. Die LED-Anzeige der Windschutzscheibe, identisch mit der auf der Pizzaschachtel, lodert auf: 20:00.
Sie haben dem Deliverator gerade eine zwanzig Minuten alte Pizza gegeben. Er schielt auf die Adresse; sie ist knapp zwanzig Kilometer entfernt.
Dem Deliverator entfährt ein ungewollter Schrei, und er steigt aufs Gas. Sein Bauch sagt ihm, er soll zurückfahren und den Geschäftsführer umbringen, seine Schwerter aus dem Kofferraum holen, wie ein Ninja durch das kleine Schiebefenster hechten, ihn im chaotischen Durcheinander seiner mikrowellenverseuchten Lieferklitsche aufspüren und im Endkampf einer fulminanten Pizzapokalypse hinrichten. Aber das sagt ihm sein Bauchgefühl auch jedes Mal, wenn ihn jemand auf dem Freeway schneidet, und er hat es – bisher jedenfalls – noch nie getan.
Er kann das schaffen. Das ist machbar. Er dreht das orangeglühende Warnlicht auf maximale Leuchtkraft und schaltet die Scheinwerfer auf Autoflash. Killt den Warnton, switcht die Anlage auf Taxiscan, das den gesamten Taxifunk nach relevanten Verkehrsmeldungen absucht. Versteht nicht ein verdammtes Wort. Es gibt diese Kassetten zu kaufen, Lernen-beim-Fahren-Tapes, mit denen man sich Taxilinga draufschaffen kann. Ein absolutes Muss, um in der Branche einen Job zu landen. Die Sprache, so heißt es, basiere auf dem Englischen, doch nicht eins von hundert Wörtern sei wiederzuerkennen. Trotzdem bekommt man wenigstens eine leise Ahnung. Wenn es auf der Strecke irgendwelche Schwierigkeiten gab, würden sie darüber in Taxilinga quatschen, ihn warnen, und er würde eine Ausweichroute nehmen, damit er ja nicht
er packt das Lenkrad
in einen Stau gerät
seine Augen weiten sich, er spürt, wie der Druck sie rückwarts in den Schädel treibt
oder hinter einem Wohnmobil hängenbleibt
seine Blase ist zum Bersten voll
und die Pizza
o Gott o Gott
zu spät ausliefert
Auf seiner Windschutzscheibe steht 22:06; doch alles, was er sieht, alles, woran er denken kann, ist 30:01.
Die Taxifahrer quasseln im Radio vor sich hin. Taxilinga ist ein honigsüßer Singsang, durchsetzt von harten fremdländischen Lauten, wie weiche Butter gespickt mit Glasscherben. Er hört immer wieder »Fahrgast«. Ständig palavern sie über ihre beschissenen Fahrgäste. Na und?
Wenn du deinen Fahrgast
zu spät
ablieferst, kriegst du eben weniger Trinkgeld. Oh, wie furchtbar.
Wie immer fetter Stau an der Kreuzung CSV-5 und Oahu Road. Der einzige Weg, ihn zu umfahren, führt durch die Mews at Windsor Heights.
MAWHs haben alle den gleichen Grundriss. Wenn sie eine neue Burbclave baut, plättet die MAWH Development Corporation jede Gebirgskette und leitet selbst die größten Flüsse um, sollten diese ihr ergonomisch auf maximale Verkehrssicherheit optimiertes Straßenraster auch nur im Geringsten gefährden. Ein Deliverator findet sich in jeder Mews-at-Windsor-Heights-Siedlung auf der Welt zurecht, von Fairbanks über Jaroslawl bis zur Sonderwirtschaftszone von Shenzhen. Doch nur jemand, der jedes Haus einer MAWH schon ein paarmal mit Pizza beliefert hat, kommt hinter ihre kleinen Geheimnisse. Der Deliverator ist einer dieser Jemande. Er weiß, dass es in einer standardmäßigen MAWH nur einen Garten gibt – einen einzigen –, der dich davon abhält, auf der einen Seite hineinzujagen, pfeilgerade durch die Burbclave hindurch und auf der anderen Seite wieder hinaus. Wer zu zimperlich ist, auf Rasen zu fahren, kann bis zu zehn Minuten kreuz und quer durch eine MAWH gurken. Aber wenn du die Eier hast, durch diesen einen Garten zu pflügen, kannst du ungehindert mittendurch brettern.
Der Deliverator kennt diesen Garten. Er hat schon mehrere Pizzen an das dazugehörige Haus geliefert. Hat ihn sich angesehen, genau studiert, sich die Lage des Schuppens und des Picknicktisches eingeprägt, findet sie selbst im Dunkeln, weiß, dass, sollte dieser Fall je eintreten – eine Dreiundzwanzigminutenpizza, etliche Kilometer zu fahren und ein Stau auf der Kreuzung CSV-5 und Oahu –, er jederzeit in die Mews at Windsor Heights fahren könnte (wegen seines elektronischen Lieferantenvisums würde sich das Tor automatisch öffnen), den Heritage Boulevard entlangrasen, durch die Kurve in den Strawbridge Place schlittern (das Sackgassenschild geflissentlich ignorierend, ebenso die Höchstgeschwindigkeit und das Spielende-Kinder-Piktogramm, in einer MAWH allgegenwärtig), die Temposchwellen mit seinen riesigen Gürtelreifen in den Boden rammen, um anschließend die Auffahrt des Hauses Strawbridge Circle Nummer 15 hochzukacheln, scharf links um den Geräteschuppen zu schlittern, durch den Garten des Mayapple Place Nummer 84 zu rasen und, ohne den Picknicktisch zu erwischen (knifflig), über die Hauseinfahrt wieder raus auf die Mayapple zu rauschen, die ihn auf die Bellewoode Valley Road bringen würde und dann schnurgerade bis zum Ausgang der Burbclave. Gut möglich, dass die MAWH-Sicherheitspolizei dort auf ihn wartet, doch ihre RDV, die Reifen-Deflations-Vorrichtung, weist nur in eine Richtung – sie kann Autos fernhalten, nicht aber an der Ausfahrt hindern.
Dieser Wagen ist so scheißschnell – ein Cop, der gerade in seinen Donut beißt, wenn der Deliverator auf den Heritage Boulevard fährt, könnte den Bissen nicht mal ganz runterwürgen, bevor er auf der anderen Seite wieder raus auf die Oahu donnert.
Klonk. Noch mehr rote Lampen flackern auf der Windschutzscheibe: Die Außensicherung seines Lieferautos ist verletzt worden.
Nein. Nicht das noch.
Jemand verfolgt ihn. Kurz hinter seinem linken Kotflügel. Jemand auf einem Skateboard jagt direkt hinter ihm über den Highway, gerade als er seine Zielvektoren auf den Heritage Boulevard ausrichtet.
Abgelenkt wie er war, hat sich der Deliverator poonen – also harpunieren – lassen. Ein fetter, runder, gepolsterter Elektromagnet an einem Arachnofaserseil. Das Ding, das eben mit einem dumpfen Schlag aufs Heck des Deliveratorautos geknallt ist und jetzt festhängt. Drei Meter hinter ihm surft der Besitzer dieses verfluchten Teils, hält ihn zum Narren, skatet hinter ihm über den Asphalt wie ein Wasserskiläufer hinter einem Rennboot.
Im Rückspiegel flackert etwas orange und blau. Der Schmarotzer ist nicht nur ein Rotzgör auf Spritztour. Der orange-blaue Overall, bauschig und überall dick mit gesintertem Panzergel gepolstert, ist die Dienstkleidung eines Kouriers. Eines Kouriers von RadiKS, Radikal Kourier Systems. Ähnlich wie ein Fahrradkurier, aber hundertmal so lästig, weil sie nicht aus eigener Kraft durch die Gegend strampeln – sie kletten sich an dich und nehmen dir die Fahrt.
Logisch. Der Deliverator hatte es eilig, ist mit blitzenden Lichtern und heulenden Kontaktflächen losgeschossen. War das heißeste Teil auf der Straße. Natürlich hat der Kourier genau ihn ausgewählt, um sich dranzuhängen.
Aber kein Grund zur Sorge. Mit der Abkürzung durch die MAWH bleibt ihm genügend Zeit. Er überholt ein langsameres Auto in der Mittelspur, schert dann abrupt vor ihm wieder ein. Der Kourier wird sich entpoonen müssen, um nicht seitlich in den langsameren Wagen geschleudert zu werden.
Geschafft. Der Kourier ist nicht mehr drei Meter hinter ihm – er ist direkt am Wagen, glotzt durch seine Heckscheibe. Er hat das Manöver erwartet und seine Leine eingerollt, die in einem Griff mit motorbetriebener Spule endet, und surft jetzt knapp hinter dem Pizzaauto, die Vorderräder des Skateboards direkt unter der hinteren Stoßstange.
Eine orange-blau behandschuhte Hand langt zu ihm nach vorn, ein durchsichtiger Klebestreifen darüber, und schlägt klatschend ans Seitenfenster auf der Fahrerseite. Der Deliverator ist gerade gestickert worden. Der Aufkleber ist dreißig Zentimeter breit, und darauf steht, in großen orangefarbenen Buchstaben und spiegelverkehrt, damit er es von innen lesen kann:
Oh, wie billig
Um ein Haar verpasst er die Abzweigung in die Mews at Windsor Heights. Er muss in die Eisen gehen, auf eine Lücke warten und über die Randspur schwenken, um in die Burbclave einzubiegen. Der Grenzposten ist hell erleuchtet, die Zollbeamten stehen bereit, um sämtliche Einreisenden zu filzen – sogar einer vollständigen Leibesvisitation samt Körperöffnungen zu unterziehen, wenn es sich um die falschen Leute handelt –, doch wie durch Zauberhand schwingt das Tor auf, als das Sicherheitssystem bemerkt, dass es sich um ein CosaNostra-Pizzamobil handelt, muss nur rasch was abliefern, Sir. Und während er durchfährt, sieht er, dass der Kourier – diese Zecke an seinem Arsch – den Grenzern zuwinkt. Was für ein Arschloch! Als würde der ständig hier vorbeikommen!
Und wahrscheinlich stimmt das sogar. Wahrscheinlich holt er dauernd wichtiges Zeugs für wichtige MAWH-Leute hier ab und bringt es in andere FOQNEs, Franchisemäßig Organisierte Quasi-Nationale Entitäten, muss ständig durch den Zoll. Das ist der Job eines Kouriers. Trotzdem.
Er fährt zu langsam, hat seinen ganzen Schwung verloren, sein Timing ist im Arsch. Wo ist der Kourier? Ah, hat seine Leine weiter abgespult, surft wieder hinter ihm her. Aber der Deliverator hat eine Riesenüberraschung für den Wichser. Schafft er es auch, auf seinem beschissenen Skateboard zu bleiben, während er mit hundert Sachen über die plattgewalzten Trümmer des Plastikdreirads irgendeines Kindes geschleift wird? Finden wir es raus.
Der Kourier lehnt sich nach hinten – der Deliverator schielt in den Rückspiegel, kann einfach nicht anders –, lehnt sich zurück wie ein Wasserskiläufer, stößt sich vom Board ab und schwenkt neben den Wagen, rast nun neben ihm den Heritage Boulevard entlang, und klatsch, pappt noch ein Sticker auf dem Wagen, diesmal an der Frontscheibe! Darauf steht
Nicht übel, Flitzkacke
Der Deliverator hat von diesen Aufklebern gehört. Man braucht Stunden, um sie wieder abzukriegen. Muss den Wagen zur Autopflege bringen, Billionen von Dollars hinblättern. Der Deliverator nimmt sich zwei Dinge vor: Er wird diesen Abschaum abschütteln, koste es, was es wolle, und er wird diese Scheißpizza ausliefern, und das alles in den nächsten
24:23
fünf Minuten und siebenunddreißig Sekunden.
Hier ist es – er muss sich mehr auf die Straße konzentrieren –, er schlittert ohne Vorwarnung in die Nebenstraße, hofft, den Kourier damit gegen das Straßenschild an der Kreuzung zu klatschen. Klappt nicht. Die Schlauen unter ihnen achten auf deine Vorderreifen, sehen, wenn du abbiegst, lassen sich nicht austricksen. Strawbridge Place runter! Kommt ihm viel länger vor, als er ihn in Erinnerung hatte – kein Wunder, wenn man in Eile ist. Er sieht das Funkeln der Autos vor sich, Autos, die seitlich an der Straße stehen, im Wendekreis parken, wie es scheint. Und da ist das Haus. Zweigeschossig, hellblaue Vinylfassade, Garage nebendran. Er macht diese Einfahrt zum Fixstern seines Universums, verbannt den Kourier aus seinem Kopf, versucht, nicht an Onkel Enzo zu denken und daran, was der womöglich gerade macht – ob er vielleicht ein Bad nimmt, auf dem Scheißhaus hockt, mit irgendeiner Schauspielerin vögelt oder einer seiner sechsundzwanzig Enkelinnen sizilianische Volkslieder beibringt.
Die Böschung der Auffahrt rammt ihm seine Stoßdämpfer zur Hälfte in den Motorraum, aber dazu sind Stoßdämpfer ja nun mal da. Er weicht dem Wagen in der Auffahrt aus – haben wohl Besuch heute Abend, wusste gar nicht, dass die einen Lexus fahren –, brettert durch die Hecke, in den Garten neben dem Haus, hält Ausschau nach dem Schuppen, diesem Schuppen, in den er unter keinen Umständen reinrasen darf
er ist nicht da, sie müssen ihn abgerissen haben
also zum nächsten Problem, dem Picknicktisch im Garten nebenan
aber halt mal, da ist ein Zaun, wann haben die da einen Zaun aufgestellt?
Kein Zeit, um in die Eisen zu gehen. Er muss Fahrt aufnehmen, ihn niederwalzen, ohne seinen ganzen Schwung zu verlieren. Ist ja nur ein einszwanzig hohes Holzteil.
Der Zaun klappt problemlos weg, der Deliverator büßt höchstens zehn Prozent seiner Geschwindigkeit ein. Doch wie seltsam, irgendwie sah das Ding wie ein alter Zaun aus, ist er vielleicht irgendwo falsch abgebogen, geht es ihm noch durch den Kopf, während er schon abhebt und in hohem Bogen in einen leeren Gartenpool katapultiert wird.
Wäre er voller Wasser gewesen, wäre es wohl halb so schlimm gewesen, womöglich hätte man das Auto retten können und er würde CosaNostra Pizza keinen neuen Wagen schulden. Aber nein, er kracht wie eine Stuka in die gegenüberliegende Beckenwand, es klingt mehr nach Explosion als nach Aufprall. Der Airbag bläht sich, sinkt nur Sekunden später aber wieder herab wie ein Vorhang und führt ihm das ganze Elend seines neuen Lebens jäh vor Augen: Er sitzt fest, in einem Schrottauto im leeren Swimmingpool einer MAWH, die Sirenen der Burbclave-Polizei nähern sich, und hinter seinem Kopf steckt, drohend wie die Klinge einer Guillotine, eine Pizza, auf der 25:17 steht.
»Wo muss die hin?«, fragt jemand. Eine Frau.
Er sieht hoch durch den verzogenen Rahmen der Scheibe, nun umsäumt mit einem filigranen Muster aus gesprungenem Sicherheitsglas. Es ist der Kourier.
Der Kourier ist kein Mann, er ist eine junge Frau. Ein gottverfluchter Teenager! Sie hat keinen Kratzer abbekommen, ist völlig unversehrt. Ist einfach hinter ihm in den Pool geskatet und pendelt jetzt im Schwimmbad hin und her, fast bis hoch zur Kante, wo sie kehrtmacht, sich hinabschwingt und quer hindurch und auf der anderen Seite wieder hochrollt. In der rechten Hand hält sie ihre Poon, der Elektromagnet ist bis zum Griff aufgespult, so dass das Ding aussieht wie eine seltsam weitwinklige intergalaktische Strahlenwaffe. Ihre Brust funkelt wie die eines Generals – sie ist mit Hunderten kleiner Bänder und Orden dekoriert, nur dass es keine Abzeichen sind, sondern Barcodes. Ein Barcode mit ID-Nummer, der ihr Zugang zu etlichen Firmen, Schnellstraßen oder FOQNEs verschafft.
»Yo!«, sagt sie. »Wo muss die Pizza hin?«
Er ist ein toter Mann, und sie macht sich einen Spaß draus?
»White Columns. Oglethorpe Circle 5«, sagt er.
»Schaff ich. Mach die Klappe auf.«
Sein Herz schwillt auf das Doppelte seiner vorherigen Größe an. Tränen wallen in seinen Augen auf. Vielleicht übersteht er die Sache doch lebend. Er drückt einen Knopf, und die Klappe öffnet sich.
Auf ihrer nächsten Runde um den Beckengrund zerrt der Kourier die Pizza aus ihrem Steckplatz. Der Deliverator zuckt schmerzverzerrt zusammen, stellt sich vor, wie der knoblauchsatte Belag wie eine Ziehharmonika gegen die Rückwand des Behälters knautscht. Dann klemmt sie ihn sich hochkant unter den Arm. Der Anblick ist für den Deliverator schier unerträglich.
Aber sie wird sie ausliefern. Für hässliche, zermatschte oder kalte Pizzen muss sich Onkel Enzo nicht entschuldigen, nur für verspätete.
»Hey«, sagt er. »Nimm das hier.«
Der Deliverator reckt seinen schwarzuniformierten Arm aus dem zersplitterten Fenster. Im trüben Dämmerlicht der Gartenlaterne glimmt ein weißes Rechteck auf: eine Visitenkarte. Bei seiner nächsten Umrundung schnappt der Kourier sie ihm aus der Hand und liest. Darauf steht
Auf der Rückseite steht ein Wust aus Zahlen und Buchstaben, die erklären sollen, wie man ihn erreichen kann: Eine Telefonnummer, ein internationaler Voice-Phone-Ortungscode, ein Postfach, seine Adresse in einem halben Dutzend elektronischer Kommunikationsnetze – und eine Adresse im Metaverse.
»Bescheuerter Name«, sagt sie und steckt die Karte in eine der hundert kleinen Taschen ihres Overalls.
»Aber du wirst ihn nie vergessen«, sagt Hiro.
»Wenn du ein Hacker bist …«
»Warum fahr ich dann Pizza aus?«
»Genau.«
»Weil ich freiberuflicher Hacker bin. Hör zu, wie immer du auch heißt – du hast was gut bei mir.«
»Ich heiß Y. T.«, sagt sie, stößt sich mehrmals mit dem Fuß von Poolboden ab, nimmt Schub auf. Dann rast sie wie aus der Kanone geschossen über den Beckenrand und ist verschwunden. Dank der Smartwheels ihres Skateboards, unzählige kleine Speichen, die ein- und ausfahren, um sich der Bodenbeschaffenheit anzupassen, gleitet sie über den Rasen wie ein Klecks Butter über heißes Teflon.
Hiro, der seit dreißig Sekunden nicht mehr der Deliverator ist, steigt aus, holt seine Schwerter aus dem Kofferraum, schnallt sie sich um und macht sich bereit für eine rasante nächtliche Flucht durch MAWH-Gebiet. Die Grenze zu den Oakwood Estates ist nur wenige Minuten entfernt, er hat den Grundriss im Kopf (grob jedenfalls), und er weiß, wie diese Burbclave-Cops ticken, weil er selbst mal einer war. Die Chancen stehen also gut, dass er es schafft. Aber es dürfte interessant werden.
Über ihm, in dem Haus, zu dem der Pool gehört, ist Licht angegangen, und Kinder spähen aus ihren Schlafzimmerfenstern zu ihm herab, warm und kuschlig in ihren Little-Crips- und Ninja-Floßkrieger-Schlafanzügen, die entweder feuerfest oder nicht krebserregend sein können, aber nie beides zugleich. Ihr Dad kommt aus der Hintertür, sich eine Jacke überstreifend. Es ist eine nette Familie, eine sichere Familie in einem Haus voller Licht, genau wie die Familie, zu der auch er bis vor dreißig Sekunden noch gehört hat.
Hiro Protagonist und sein Mitbewohner Vitali Tschernobyl chillen in ihrer Wohnung, einem geräumigen neun mal sechs Meter großen Lagerraum in einem U-Stor-It in Inglewood, Kalifornien. Der Boden besteht aus Betonplatten, Wellblechwände trennen ihn von den Nachbarräumen, und – ein Zeichen von Rang und Luxus – ein metallenes Rolltor mit Nordwestausrichtung verwöhnt sie in Stunden wie diesen mit ein paar rotgleißenden Strahlen, wenn die Sonne über dem LAX untergeht. Hin und wieder rollt eine 777 oder eine Suchoi/Kawasaki-Überschalltransportmaschine vor die Sonne und verdeckt mit ihrem Seitenruder den Sonnenuntergang oder verhunzt den roten Schimmer mit ihren Abgasen, deren parallele, gewundene Strahlen ein scheckiges Muster an die Wand werfen.