Die Teehändlerin

SUSANNE POPP

Die Teehändlerin

Die Ronnefeldt-Saga

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Susanne Popp

Susanne Popp, geboren 1967, ist die Tochter von Jugendherbergseltern – Hagebuttentee, serviert in großen Metallkannen, gehört daher zu ihren Kindheitserinnerungen. Heute bevorzugt sie jedoch eine Tasse Darjeeling oder Oolong, und sie liebt es, in die Teeregionen der Welt zu reisen. Mit der Schriftstellerei begann sie als Verfasserin von Privatbiographien. Die Geschichte der Familie Ronnefeldt zu erzählen, war ihr daher ein ganz persönliches Anliegen, denn in diesem Traditionsunternehmen verbinden sich die Sehnsucht nach fernen Ländern mit dem Schicksal einer Familie im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Die Autorin lebt heute mit ihrem Mann und ihrer Tochter am Zürichsee in der Schweiz.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Die große Welt des Tees, das bewegende Schicksal einer starken Frau und der Aufstieg einer berühmten Kaufmannsfamilie: Teil 1 der Ronnefeldt-Saga

 

Frankfurt 1838: Als Kaufmannstochter und Ehefrau des Teehändlers Tobias Ronnefeldt genießt Friederike es sehr, ab und an hinter der Theke ihres Geschäfts zu stehen – sie liebt den blumigen, leicht erdigen Duft der dunklen Teeblätter. Doch tiefere Einblicke in den Handel bleiben ihr verwehrt. Das ändert sich, als Tobias 1838 zu einer monatelangen Reise nach China, dem Land des Tees, aufbricht. Ausgerechnet jetzt, wo sie schwanger ist. Bald merkt sie, dass sie dem neuen Prokuristen, den Tobias eingestellt hat, nicht trauen kann. Das ganze Unternehmen ist in Gefahr. So bleibt Friederike nichts anderes übrig, als die Geschicke des Hauses selbst in die Hand zu nehmen. Um diese Herausforderung zu bestehen, muss sie neue Kräfte entwickeln – und den Mut, sich zu behaupten.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Redaktion: Silke Reutler

 

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildung: Richard Jenkins, Bridgeman Images und www.buerosued.de

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491340-7

Familienmitglieder

FRIEDERIKE RONNEFELDT, *1807, Ehefrau des Kaufmanns Tobias Ronnefeldt

TOBIAS RONNEFELDT, *1794, Besitzer eines Import- und Ladengeschäfts für Tee und ostindische Manufakturwaren in der Neuen Kräme in Frankfurt

ELISE, *1832, CARLCHEN, *1833, WILHELM, *1835, MINCHEN, *1836 und FRIEDRICH (FRITZ), *1838 – Kinder von Tobias und Friederike

NICOLAUS RONNEFELDT, *1790, Bruder von Tobias, Möbelschreiner, Werkstatt und Wohnung in der Fahrgasse

CHRISTOPH KLUGE, *1763, Kaufmann und Senator der Freien Stadt Frankfurt, WILHELMINE KLUGE, *1780, die Eltern von Friederike, wohnhaft Schnurgasse

KÄTHCHEN KLUGE, *1803, und MINA KLUGE, *1815, die unverheirateten Schwestern von Friederike, wohnen bei ihren Eltern in der Schnurgasse

Weitere Personen in alphabetischer Reihenfolge

SOPHIE AUMÜLLER, *1823, Dienstmädchen, stammt aus Oberrad, wohnt bei Familie Ronnefeldt **

PAUL BIRKHOLZ, *1807, Doktor der Medizin und Musiker, wohnhaft Gerbermühle, später Fahrgasse **

KARL GÜTZLAFF, *1803, Missionar, Führer von Tobias in China

CLOTILDE KOCH-GONTARD, *1813, Ehefrau des Weinhändlers Robert Koch, Mutter von drei Kindern, wohnhaft Haus zur Goldenen Kette am Roßmarkt

AMBROSIUS KÖRNER, *1805, ältester Sohn des Dürener Gutsbesitzers Hieronymus Körner, Gast bei Meyers in Bonn, wohnhaft auf dem Gut seines Vaters **

JULIUS MERTENS, *1794, ehemaliger Schulkamerad von Tobias mit undurchsichtiger Vergangenheit, wohnt zunächst im Holländischen Hof, später an der Schönen Aussicht **

CAROLINE MEYER, *1804, Freundin von Käthchen Kluge, verheiratet mit Theodor Meyer, Theologiedozent, Bonn **

AMALIE STEIN, *1800, Besitzerin einer Buchdruckerwerkstatt, Freundin von Nicolaus Ronnefeldt, Werkstatt und Wohnung in Offenbach **

WILHELM WEINSCHENK, *1801, Prokurist in Tobias’ Firma, wohnhaft Ankergasse (heutige Karmelitergasse) **

MARIANNE VON WILLEMER, *1783, ehemalige Schauspielerin und Muse von Goethe, verheiratet mit dem Bankier Johann Jakob von Willemer, *1760, wohnhaft Gerbermühle

 

Fiktive Personen sind mit ** gekennzeichnet

Frühjahr 1838

Frankfurt, 16. April 1838

Friederike stand vor ihrem Laden in der Neuen Kräme und betrachtete die Schaufensterauslage. Auf einem blauen Seidenstoff waren einige hübsche Lackdosen, auf denen chinesische Schriftzeichen zu sehen waren, zu einer Pyramide aufgestapelt. Daneben standen eine zierliche Teekanne, zwei Löwenfiguren aus Porzellan sowie einige Schälchen und Bastkörbe mit den unterschiedlichsten Teesorten. Es gab Behältnisse mit krümeligem schwarzem Pulver und andere mit wesentlich größeren gerollten Teeblättern, denen man noch deutlich ihren pflanzlichen Ursprung ansah. Auf Papierschildchen waren die dazugehörigen Namen zu lesen: Boui-Tee, Camphu-Tee, Hansan-Tee, Tee von dreifachem Geschmack und in Klammern darunter die chinesischen Bezeichnungen: Muni-tscha, Congfou-tscha, Phi-tscha und Sanout-tscha. Ein kolorierter Stich zeigte eine Pflanze. Chinesischer Tee in der Blüte, lautete die Beschriftung. Die ehemals schwarze Tinte war nun allerdings braun und verblichen. Ein großer geöffneter Fächer diente als weiterer Blickfang. Die ihn zierende hübsche Malerei, eine chinesische Landschaft mit Felsen und Pflanzen, in der zwei Männer saßen und Tee tranken, hatte ebenfalls unter dem Tageslicht gelitten. Die gesamte Auslage wirkte blass und verstaubt.

Ganz so, als wäre sie eine neugierige Passantin und nicht die Ehefrau des Ladeninhabers, spähte Friederike nun durch die Schaufensterscheibe, auf der halbkreisförmig in goldenen Buchstaben der Schriftzug Johann Tobias Ronnefeldt – Ostindische Tee- und geschrieben stand, hinein in den Laden. In den letzten Jahren hatte Tobias nichts mehr unternommen, um mit der Zeit zu gehen. Die Ausstattung war schlicht, die Theke schmucklos, ohne jede Zier. Auffällig waren nur die hübschen Porzellantässchen und Dosen mit Lackmalereien, die in der darin eingelassenen Vitrine standen. Hinter der Theke ragten raumhohe offene Schränke auf, in denen große braune Gläser mit weißen Etiketten standen. Tobias kaufte sie bei einer Glasbläserei in Böhmen, die dafür garantierte, dass der darin aufbewahrte Inhalt seinen vollen Geschmack behielt. Ob dies so war oder nicht, die Gläser waren jedenfalls teuer und schwer.

Im unteren Teil des Schranks, etwa bis zur Höhe des oberen Rands der Theke, befanden sich reihenweise kleinere und größere Schubladen mit abgenutzten Metallgriffen. Darin wurden, neben Zigarren und Tabak, ein paar Zigarrenspitzen, Holz- und Porzellanpfeifen, Sanduhren, Korkenzieher und ein gutes Dutzend silberne Zuckerzangen aufbewahrt – kurzum allerlei Kleinkram, der aus den unterschiedlichsten Gründen im Sortiment gelandet war und über den niemand so recht einen Überblick hatte. Vier Schränke mit kassettierten Türen, die zu beiden Seiten der Theke standen, boten Platz für die zum Teil sehr exklusiven Seiden-, Kaschmir-, Leinen-, Woll- und Batiststoffe. Es gab Foulards und Schals, seidene Taschentücher und karierte Halstücher, die über England aus Ostindien importiert wurden, oder direkt aus England kamen.

Friederike musste an die Parisreise denken, die sie und Tobias vor vier Jahren gemacht hatten. Paris! Wie außergewöhnlich war ihr die französische Hauptstadt erschienen. Insbesondere hatten sie die breiten Boulevards beeindruckt mit ihren gravitätischen Bäumen, den herrschaftlichen Stadtpalästen und – vor allem – den eleganten Läden. Einer vornehmer als der andere! Kein Vergleich mit der Innenstadt von Frankfurt, wo sich die alten Fachwerkhäuser schief

Aber es war ungerecht, Frankfurt mit Paris zu vergleichen. Ihre Heimat besaß vielleicht nicht die Eleganz der französischen Hauptstadt, doch sie hatte immerhin eine Vergangenheit als Krönungsstadt. Und sie war ebenfalls sehr lebendig, nicht nur während der beiden Messen im Frühjahr und im Herbst. Im Hafen, wo die schwerbeladenen Lastkähne ankamen, oder im Posthof des Roten Hauses, wo im Stundentakt die Kutschen aus allen Himmelsrichtungen eintrafen, konnte man das ganze Jahr über den Duft der weiten Welt riechen. Unten am Mainufer an der Schönen Aussicht und im angrenzenden Fischerfeldviertel waren nach der Jahrhundertwende wunderschöne neue Bürgervillen entstanden. Direkt dahinter lag die alte Brücke mit den beiden Mühlen und Sachsenhausen am anderen Ufer. Sie hatte das silberne Band des Mains gesehen, in dem das Kielwasser der Schiffe im Licht der tiefstehenden Sonne golden funkelte, hatte bis nach Offenbach geblickt und sogar bis Hanau hinüber und auf der gegenüberliegenden Seite bis nach Mainz. Sie hatte erkennen können, wo mittelalterliche Festungsmauern breiten Alleen und Parks gewichen waren, und sie hatte einen dichten Gürtel von Bäumen und auf den ansteigenden Hängen ein paar Weinberge, braune Äcker und schließlich die blaugrauen Hügel des Taunus gesehen.

 

Minchen war just im richtigen Moment aufgewacht und gluckste und strahlte ihr entgegen. Mit ihren beinahe anderthalb Jahren passte die Kleine gerade noch so in den Wagen, der, wie sie vorhin festgestellt hatte, bedenklich quietschte und knarrte. Erstaunlich war das nicht, denn er hatte schon viel aushalten müssen. Minchen

»Guten Tag, Frau Doktor«, begrüßte Friederike die elegant, wenn auch unordentlich gekleidete Dame.

»Frau Ronnefeldt. Sehe ich Sie auch mal wieder, wie schön«, sagte Frau von Mahlsdorf. Ihr Ich klang wie Ick. Sie war eine Bürgerliche und versuchte gar nicht erst, das zu verbergen. Ungehemmt sprach sie den Dialekt, den sie von zu Hause mitgebracht hatte. Sie war durch die Heirat mit Herrn von Mahlsdorf, einem studierten Juristen – wie überhaupt die meisten Gesandten Adlige und Juristen waren –, an das Von gekommen. Man sah Frau von Mahlsdorf oft beim Einkaufen, obwohl sie wahrscheinlich zwei oder drei Dienstmädchen und ganz gewiss eine Köchin hatte. Eingebildet war sie jedenfalls nicht und auch nicht eitel. Heute beispielsweise hing ihr Kragen schief, und von ihrem etwas unförmigen grünen Hut hatte sich eine Stoffblume gelöst und baumelte an einem einzelnen Fädchen herunter.

»Die süße Kleine, was für ein Herzelchen. Gesund und munter und der Frau Mama wie aus dem Gesicht geschnitten.« Frau von Mahlsdorf tätschelte Minchen den nackten Arm und drückte dann schwungvoll die Ladentür auf.

Dingdong.

Die neue glänzende Türglocke, ein Geschenk ihres Schwagers, mit dem er sie zu Ostern überrascht hatte, läutete in einem runden,

Sie verabschiedete sich und ging mit dem genügsam vor sich hin brabbelnden Minchen auf der Hüfte in den hinteren Raum des Ladens, wo sich das Kontor befand. Die Fenster des langen, schmalen Raums gingen auf den Innenhof hinaus und lagen direkt hinter der Außentreppe, weswegen es hier auch bei Tag immer ein bisschen dämmrig war. Tobias war allein. Er stand mit dem Rücken zu ihr, hatte einen großen Papierbogen auf dem Tisch vor sich liegen und schrieb etwas in sein Notizbuch. Sie kannte dieses Buch, in dem er ständig blätterte und in das er ständig etwas notierte. Ihr Mann war

»Tobias?«, sagte sie zu seinem Rücken, denn er hatte ihr Kommen trotz des vernehmlichen Klackerns ihrer Absätze auf dem Steinfußboden nicht bemerkt. Er drehte sich zu ihr herum und lächelte sie zerstreut an. Er trug seinen braunen Arbeitsrock. Die weiße Halsbinde saß locker und er hatte etwas Tinte auf der Stirn, da er die Angewohnheit hatte, sich, ohne die Schreibfeder abzulegen, an der Schläfe zu kratzen.

Er sieht gut aus, dachte Friederike wie so oft. Sie wusste von ihren Freundinnen, dass es keineswegs der Regel entsprach, wenn ihr dies nach beinahe sieben Ehejahren überhaupt noch auffiel. Allerdings hatten auch die wenigsten von ihnen, anders als sie, aus Liebe geheiratet. Sie betrachtete sein schmales Gesicht mit der hohen klugen Stirn und dem ausgeprägten Grübchen über der Oberlippe. Als er von einer Reise einmal mit einem Schnauzer zurückgekehrt war, hatte Friederike ihn gebeten, den Bart wieder abzunehmen, so sehr hatte sie sein Grübchen vermisst.

»Friederike! Was für eine Überraschung.« Tobias gab ihr einen Kuss auf die Wange, nahm ihr Minchen ab, die sofort die kleinen Arme nach ihm ausgestreckt hatte, und liebkoste sie.

Friederike betrachtete den großen Papierbogen, der die gesamte Tischplatte bedeckte und bei dem es sich um einen feingezeichneten, kolorierten Kupferstich handelte. Es war eine Weltkarte. So etwas hatte sie zuvor noch nie gesehen.

»So detailliert! Die muss ja ein Vermögen wert sein«, sagte sie.

»Erstaunlich, nicht wahr? Das ist eine Mercatorkarte, wie sie auch für die Navigation verwendet wird. Ein Vereinskollege hat sie mir geliehen.«

»Aber du wirst doch hoffentlich nicht selbst navigieren müssen«,

»Natürlich nicht. Trotzdem ist es immer gut, vorbereitet zu sein, nicht wahr? Ich habe mir unsere Route noch einmal angesehen. Wir werden an der Westküste Brasiliens vorbeisegeln, siehst du, hier.« Er fuhr die Route mit dem Zeigefinger nach.

»Aber China liegt doch im Osten. Ist das nicht ein Umweg?«

»Nein, oder doch, oder sagen wir, es ist viel komplizierter. Die Strömungen und die Winde sind günstiger auf diesem Weg. Außerdem werden in Brasilien Nahrungsmittel und Wasser aufgenommen. Zuvor geht es über Lissabon und die Kapverden. Siehst du, hier. Auf dem Rückweg werden wir näher an der Küste Afrikas vorbeisegeln.« Tobias Zeigefinger strich über das Meer.

»Frankfurt muss wohl ungefähr hier sein?« Friederike wies auf einen Punkt mitten in Europa, das sich im Vergleich zu den anderen Kontinenten winzig ausnahm.

»Genau. Und das ist China.«

»Ich hätte Angst. Dieser Ozean ist so entsetzlich groß.«

»Aber Liebes. Das haben wir doch tausendfach besprochen.«

»Ich habe schreckliche Angst. Um dich.« Friederike nahm das Kind wieder an sich und barg ihre Nase in dem weichen Haarschopf. »Wenn ich das hier sehe«, sie deutete in Richtung Karte, »nur noch mehr.«

»Ich komme heil zurück, das habe ich dir doch versprochen. So, und jetzt lass uns von etwas anderem reden.« Er fing an, die Karte zusammenzurollen, und sprach dabei über die Schulter hinweg weiter: »Mir fällt nämlich ein, wir sind nächste Woche Mittwoch bei den Senftlebens zum Tee eingeladen.«

»Wir? Du meinst, ich soll mitkommen?«

»Aber ja. Es ist keine Herrenrunde. Herr von Senftleben betonte ausdrücklich mit Damen

»Ach stimmt, das hatte ich ganz vergessen. Verzeih. Nun habe ich schon für uns beide zugesagt.«

»Aber sagtest du nicht erst neulich, dass du Herrn von Senftleben nicht sonderlich magst?«

»Sagte ich das? Nun, so arg ist es nicht. Eigentlich ist er sogar sehr nett und im Übrigen äußerst interessiert an meiner Reise. Die Weltkarte gehört ihm«, erwiderte Tobias, schob die Karte in ihre Metallhülse und legte sie beiseite. »Nun schau nicht so, mein Liebes.« Er machte einen Schritt auf sie zu und umfasste ihre Taille. Minchen in ihrer Mitte gluckste, erfreut darüber, beide Eltern so dicht bei sich zu haben. »Bitte, tu mir den Gefallen und komm mit.«

Friederike nickte. »Natürlich. Wenn es wirklich so wichtig für dich ist.«

»Das ist es. Du verstehst schon.«

Friederike verstand. Herr von Senftleben, dessen Gesellschaft Tobias üblicherweise mied, hatte gewiss versprochen, einen größeren Betrag für die Reise zu spenden. Tobias allein brachte höchstens ein Drittel der Reisekosten auf, er war auf seine Gönner und Geldgeber angewiesen. Im Gegenzug würde er mit dem Sammeln von Schmetterlingen und exotischen Pflanzen und mit anschließenden Vorträgen den Ruhm der Senckenbergischen naturforschenden Gesellschaft mehren. Die wenigsten ihrer Mitglieder waren schließlich so abenteuerlustig wie ihr Mann. Sie hörten lieber andere über ferne Länder reden, als dass sie selbst verreisten. Doch, auch wenn sie Tobias keinen Wunsch abschlagen mochte, glücklich war sie nicht über seine Pläne, weder über jene, die in der nahen Zukunft lagen, noch über die anderen, die seine Reise betrafen. Sie blickte in sein lächelndes Gesicht, befeuchtete ihren Daumen mit ein wenig Spucke und wischte ihm die Tinte von der Stirn. Dann wandte sie

Wilhelm Weinschenk arbeitete seit einem halben Jahr als Prokurist bei Tobias. Sein Lohn stellte einen erheblichen Posten bei ihren monatlichen Ausgaben dar. Seitdem Tobias jeden Kreuzer für seine Chinareise auf die Seite legte, war es finanziell eng geworden im Hause Ronnefeldt. Doch Herr Weinschenk war unentbehrlich. Während der Zeit von Tobias’ Abwesenheit, also für die nächsten ein oder sogar anderthalb Jahre, würde er das Geschäft führen.

»Er musste nach Mainz, ein paar Dinge erledigen. Er wird morgen zurück sein.«

»Schön«, sagte Friederike. Während ihr Mann ein großes Journal hervorholte und auf dem Pult aufschlug, blieb sie, das friedlich am Daumen nuckelnde Baby auf dem Arm, unschlüssig ans Fensterbrett gelehnt stehen. Sie hatte über etwas Wichtiges mit Tobias reden wollen, doch wegen der unerwarteten Einladung hatte sie den richtigen Moment irgendwie verpasst. Es fiel ihr schwer, darüber zu sprechen. Sie wünschte sich so sehr, dass Tobias seine Pläne aufgeben würde, sobald sie ihm von ihrer nun schon beinahe zur Gewissheit gewordenen Ahnung erzählte, und hatte Angst, dass es nicht so sein könnte.

»Geht es dir eigentlich besser?«, unterbrach Tobias ihre Gedanken. »Du sagtest doch heute früh, dir sei nicht ganz wohl.«

»Doktor Gravius war bei mir.«

»Du hast den Arzt gerufen? Dann ist es etwas Ernstes!«

»Nein, ich bin nicht krank, das heißt …«

In diesem Moment kam Peter Krebs mit großen Schritten und rotem Kopf ins Kontor, um einen Quittungsblock zu holen und Tobias eine Frage zu stellen. Die beiden Männer sprachen eine Weile miteinander. Friederike sah zu, wie ein paar Sonnenstrahlen,

»Entschuldige«, sagte Tobias, als sie endlich wieder allein waren. »Du bist wirklich blass. Was hat Doktor Gravius gesagt?«

»Er hat gesagt, dass ich …«, begann Friederike, unterbrach sich jedoch wieder. Sie brachte es nicht über die Lippen. »Nein, nicht jetzt. Wir wollen lieber heute Abend in Ruhe darüber reden.«

»Aber nein. Ich sehe doch, dass dich etwas beschäftigt. Was ist es denn, Liebes? Sag es mir doch einfach jetzt.« Er trat zu ihr.

Friederike sah in die liebevollen braunen Augen ihres Mannes und wusste, dass sie der Aussprache nicht mehr würde ausweichen können. Plötzlich war das Kind auf ihrem Arm doppelt so schwer und das Mieder zu eng geschnürt.

Und dann fasste sie sich endlich ein Herz.

Mainz, ebenfalls am 16. April 1838

Julius schlug den Kragen seines Gehrocks hoch. Obwohl tagsüber die Sonne geschienen hatte und es schon recht warm gewesen war, wurde es abends immer noch empfindlich kalt. Bedauernd dachte er an Marseille zurück. Dort begann der Sommer wesentlich früher. Doch diese schöne Zeit war erst einmal vorbei, seine Ersparnisse waren beinahe aufgebraucht. Es würde nur noch wenige Wochen dauern, bis er endgültig pleite war. Er musste dringend eine neue Möglichkeit finden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Er lief am Dom vorbei in Richtung Leichhof und bog auf der Suche nach einem Wirtshaus, in dem er ein oder auch zwei Gläser Wein trinken konnte, in die Augustinergasse ein. Der Gasthof in der Nähe des Holzturms, in dem er für die Nacht untergekommen war, hatte ihn enttäuscht. Der Eintopf war fade gewesen, und das Brot hatte schimmlig geschmeckt. Dunkel und verrußt, wie die Gaststube war, hatte er zudem nicht einmal sehen können, was er aß. Also wollte er den Abend wenigstens mit einem ordentlichen Riesling beschließen.

Vor einer Wirtsstube mit dem Namen Le Coq au Vin blieb er stehen. Er war seit zwanzig Jahren nicht mehr in Mainz gewesen und nicht wenig überrascht, wie viel sich aus der Franzosenzeit gehalten hatte. Das Französische hatte die Sprache und die Gewohnheiten durchdrungen, und man hatte es offenbar nicht eilig, es wieder loszuwerden. Ihm sollte es recht sein. Nach den langen Jahren, die er in Frankreich verbracht hatte, fühlte er sich ohnehin

Zwei Gestalten näherten sich, die mit gedämpften Stimmen miteinander sprachen. Der Silhouette ihrer Kopfbedeckungen nach zu schließen, waren es Polizisten. Julius hatte keine Lust, ihnen zu begegnen, öffnete die Tür zur Wirtsstube und trat ein. Schwüle Wärme, Pfeifenqualm und der Lärm vieler Menschen schlugen ihm entgegen. Laternen und Kerzen an den Wänden und auf den Tischen verbreiteten ein schummriges Licht. Julius’ Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an die schwache Beleuchtung gewöhnt hatten. Nach der Leere, die draußen geherrscht hatte, erschien ihm das Lokal übervoll. Bestimmt ein Drittel der Anwesenden waren Soldaten, aber auch ein paar wenige Frauen befanden sich unter den Gästen, und ein rotwangiges hübsches Schankmädchen bahnte sich soeben den Weg zu einem der Tische. Die Stimmung war ausgelassen, einen freien Sitzplatz sah er nicht. Er bestellte beim Wirt einen Schoppen, blieb am Schanktisch stehen und ließ seinen Blick durch den Raum wandern.

Ein Mann fiel ihm auf, der zwar inmitten einer lärmenden Gruppe saß, jedoch nicht dazuzugehören schien. Er war ein wenig jünger als er selbst, vielleicht Mitte oder Ende dreißig, hatte rötliche kurze Locken, einen Backenbart und eine Weste mit Uhrkette, was auf einen Sekretär oder Kaufmann schließen ließ. Seinen Rock hatte er über die Stuhllehne gehängt. Der Mann bemerkte seinen Blick und nickte ihm freundlich zu, und als einige Minuten später der Platz neben ihm frei wurde, setzte Julius sich zu ihm.

»Gestatten, Julius Mertens mein Name«, stellte er sich vor und hob sein Glas zur Begrüßung.

»Wie man’s nimmt. Aus der Gegend, aber ich war lange im Ausland.«

Weinschenk rieb sich das Kinn und studierte das Aussehen seines Gegenübers, als betrachtete er ein wissenschaftliches Exponat. »Mal sehen. Natürlich, ich hab’s. Sie kommen aus Wiesbaden!«

»Knapp daneben. Frankfurt.«

»Ha! Hab ich doch gleich gewusst, dass Sie kein Mainzer sind!«

»Und was ist mit Ihnen?«

»Ja, hört man das denn nicht?«, erwiderte Weinschenk. »Ich bin auch Frankfurter.«

»Ein Landsmann also, sehr erfreut. Beamter?«, tippte Julius.

»Kaufmann. Prokurist, um genau zu sein. Und Sie? In welchem Ausland waren Sie denn?«

»Frankreich. Reims, Paris, Marseille – in der Reihenfolge.«

»Bei den Franzosen also? Enchanté! Und was haben Sie dort gemacht?«

»So dies und das. Die meiste Zeit war ich im Champagnerhandel tätig.«

Weinschenk wiegte anerkennend seinen Kopf. »Champagner? Das ist was Reelles. Hier in Mainz gibt’s auch einen, der sich seit einigen Jahren in dem Fach versucht. Christian von Lauterer heißt er.«

Julius nickte. »Ja, ich habe von ihm gehört.«

»Sind Sie seinetwegen hier?«

Julius schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, keineswegs.«

»Ihr Glück. Es läuft nämlich nicht so gut, wie man sich erzählt«, ließ Weinschenk ihn wissen. »Aber die Leute erzählen ja auch viel, wenn der Tag lang ist. Und was haben Sie vor? Wollen Sie weiter Champagner verkaufen?«

»Herausforderungen sind gut!« Weinschenk leerte sein Glas, stand auf und winkte dem Schankmädchen. Er war sehr klein, stellte Julius fest, reichte ihm vermutlich kaum über die Schulter.

»Wie war noch gleich Ihr Name?«, fragte Weinschenk, nachdem er sich endlich bemerkbar gemacht und wieder hingesetzt hatte.

»Mertens.«

»Ich hab für Sie einen mitbestellt. Geht selbstverständlich auf meine Rechnung, Herr Mertens.«

»Da danke ich schön! Welche ist denn Ihre Herausforderung, Herr Weinschenk?«

»Ich mache in Tee.«

»Tee?« Julius war verblüfft.

Weinschenk nickte. »Dem Tee gehört die Zukunft!«, sagte er wichtig. »Er ist leicht zu transportieren und einfach zuzubereiten. Warten Sie noch zehn Jahre, dann redet kein Mensch mehr von Kaffee.«

Julius musterte ihn skeptisch. »Das glauben Sie wirklich?«

»Waren Sie mal in England? In London trinkt jeder Tee. Absolut jeder. Vom einfachen Arbeiter bis zur Queen.« Er spitzte beim Wort Queen übertrieben die Lippen.

»Schon. Aber die Geschmäcker sind doch überall ganz verschieden. In England trinkt ja auch jedermann Champagner. Hier hingegen …« Julius zuckte mit den Schultern und zeigte mit einer ausladenden Handbewegung auf die lärmenden Gäste im Schankraum. »Wie Sie sehen, sind die Leute mehr als zufrieden mit dem, was sie haben. Also, auf Ihr Wohl, Herr Weinschenk. Was führt Sie denn hierher? Geschäfte?«

»Welchen Grund gäbe es sonst? Normalerweise ziehe ich Wiesbaden bei weitem vor. Dort ist man weniger rustikal.«

»Noch nicht.« Weinschenk kicherte. Er schien leicht betrunken zu sein. »Aber mein Chef geht demnächst auf große Fahrt.«

»Und Sie hoffen, dass er nicht mehr zurückkommt?«

»Das habe ich so nicht gesagt«, widersprach Weinschenk, sah aber leicht verunsichert aus.

»Aber gemeint?«

»O nein. Sie haben mich falsch verstanden.« Weinschenk schüttelte vehement den Kopf und blickte in sein Glas. »Ich trinke sonst nicht, müssen Sie wissen.«

»Nein, natürlich nicht. Wohin reist er denn?«

»Wer?«

»Na, Ihr Chef.«

»Ach ja. Nach China.«

»Oh!« Julius nickte anerkennend. »Das ist tatsächlich eine große Fahrt. Er scheint ja ein rechter Abenteurer zu sein.«

Weinschenk zuckte mit den Schultern. »Wer’s mag! Ich rede ihm da bestimmt nicht rein.« Er beugte sich so weit zu Julius herüber, dass er mit der Wange seine Schulter berührte. »Er hätte mich sonst nämlich nicht eingestellt. Er braucht mich«, sagte er dicht an seinem Ohr. Dann griff er nach Julius’ Arm und rieb anerkennend am Stoff seiner Jacke. »Champagner lohnt sich, wie ich sehe. Ist dieser Anzug französisch? Stoff und Schnitt sind wirklich exquisit.« Er brauchte einen Moment, bis er das letzte Wort über die Lippen gebracht hatte.

Julius zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Aus diesem Weinschenk wurde er nicht schlau. Er redete zwar eine Menge Blödsinn, hatte jedoch offenbar einen guten Geschmack. Rock, Weste, Hose und Mantel hätten ihn nämlich tatsächlich ein Vermögen gekostet – wenn er sie hätte bezahlen müssen. Doch an die Umstände, unter denen er an diese Kleidungsstücke gekommen war, wollte er jetzt nicht denken. Er nahm einen großen Schluck aus seinem Glas,

»Ronnefeldt. Johann Tobias Ronnefeldt.« Weinschenk strengte sich an, die einzelnen Silben korrekt auszusprechen. »Kennen Sie ihn etwa?«

»Hat er einen Bruder, der Nicolaus heißt und Schreiner ist?«

Weinschenk nickte. »Korrekt.«

»Dann kenne ich ihn tatsächlich. Tobias Ronnefeldt ist ein alter Schulkamerad von mir. Na, so was! Wer hätte das gedacht? Ich hatte keine Ahnung, dass er mit Tee handelt. Von fernen Ländern geträumt hat er allerdings schon immer.«

»So spricht der Herr, der sein halbes Leben in Frankreich zugebracht hat.«

»Ich bitte Sie. Im Vergleich zu China liegt Frankreich doch um die Ecke. Ich beneide ihn!«

»Wirklich?« Weinschenk sah Julius erstaunt an. »Wegen seiner Reiserei? Aber warum sollte jemand Frankfurt verlassen wollen? Zumal, wenn er ein so hübsches Weib daheim hat«, fügte er mit einem wehmütigen Lächeln hinzu.

»Soso, hat er sich gut verheiratet, der alte Schwerenöter?«

»Von Schwerenöter weiß ich nichts. Aber gut verheiratet hat er sich. Eine hübsche Madame, die Kleine, und einige Jahre jünger als er. Man sieht ihr nicht an, dass sie schon vier Kinder geboren hat. Würde mir auch gefallen.« Weinschenk sah mit glasigem Blick vor sich hin.

»Sie sind in Ihre Chefin verliebt? Mein lieber Herr Weinschenk, das wird ja immer schöner«, sagte Julius lachend.

Julius hielt sich die Seite vor Lachen. »Daher kommt also Ihr Interesse für Tee! Mein lieber Willi. Ich darf Sie doch so nennen? Sie sind mir vielleicht einer!«

»Wenn ich es Ihnen sage«, wiederholte Weinschenk ein wenig lallend und stimmte in das Lachen ein. »Wenn Sie sie erst kennengelernt haben, reden wir weiter, Mertens. Sie gehen doch gewiss nach Frankfurt? Hier werden Sie kaum bleiben wollen.«

Julius hatte sich wieder beruhigt. »Wie gesagt, ich weiß noch nicht, wo es mich hintreibt. Doch Frankfurt wäre gewiss eine Option. Ist man immer noch so restriktiv mit dem Bürgerrecht?«

»Ihr Vater war Bürger?«, fragte Weinschenk.

Julius nickte.

»Dann sollte es nicht allzu schwer werden. Wenn Sie ein Fremder wären, müssten Sie ein Vermögen von fünftausend Gulden nachweisen, hinzu kämen noch über tausend für die Einbürgerung an sich. Aber als Bürgerssohn brauchen Sie, soweit mir bekannt ist, nur einen ordentlichen Beruf. Eine Gebühr müssen Sie freilich schon zahlen. Die Höhe ist mir nicht gegenwärtig, aber das ist für Sie doch sicher ein Leichtes, wenn ich Sie so anschaue. Aha, das ist also Ihr Geschmack?«, fügte er hinzu, als er bemerkte, wie Julius das Schankmädchen musterte.

»Welchem Mann gefällt das nicht«, bestätigte Julius und studierte in aller Ruhe die drallen Rundungen, die sich unter dem Rock des Mädchens abzeichneten. »Trotzdem sollten Sie aus einem einzelnen

»Besser nicht. Am Ende machen Sie mir noch Konkurrenz.« Weinschenk erhob den Zeigefinger.

»Das trauen Sie mir zu? Sie vergessen, dass ich in Sachen Tee völlig ahnungslos bin.«

»Aber ich habe so eine Ahnung, dass Sie es faustdick hinter den Ohren haben.«

Julius musterte den Prokuristen von der Seite, der sich nun umsah, als wollte er sich vergewissern, dass ihnen auch niemand zuhörte, bevor er sich wieder zu ihm herüberlehnte.

»Außerdem habe ich etwas viel Besseres als Tee.« Weinschenk deutete vorsichtig nach unten auf die lederne Mappe, die zu seinen Füßen stand und die er wie seinen Augapfel zu hüten schien. Julius hatte schon bemerkt, dass er sich ständig vergewisserte, dass sie noch da war, und hatte vermutet, dass sich Geld darin befand.

»Ach, wirklich?«, sagte Julius betont abschätzig. Mehr an Ermutigung war nicht notwendig, Weinschenk besaß das übersteigerte Geltungsbedürfnis, das kleingewachsenen Männern oftmals eigen war. Wenn er wirklich ein Geheimnis hütete, würde er damit herausrücken.

»Sie mögen Frauen?«, fragte Weinschenk verschwörerisch. Julius konnte die Spucketröpfchen an seiner Ohrmuschel fühlen und rückte ein wenig ab.

»O nein, mein lieber Wilhelm. Das ist nicht meine Art. War es noch nie.« Er zog eine Münze hervor und legte sie auf den Tisch.

»Meine auch nicht!«, versicherte Weinschenk.

»Nichts für ungut. Ich verabschiede mich.«

»Aber Sie wissen doch gar nicht, was ich meine.«

»Ach nein?« Julius schüttelte den Kopf. »Ich für meinen Teil verführe Frauen lieber, als dass ich sie bezahle.«

Eine Dringlichkeit lag nun in Weinschenks Stimme, die Julius gegen seinen Willen neugierig machte. »Nun gut. Wenn Sie mir etwas zeigen wollen – nur zu!«

»Nein, nicht hier!«

»Dann begleiten Sie mich doch einfach auf meinem Weg in die Krone«, sagte Julius und stand auf.

Weinschenk erhob sich ebenfalls und sah ihn mit Hochachtung an. »Sie sind in der Krone abgestiegen?«

Julius lächelte zufrieden. Er hatte einfach den Namen des größten Hotels genannt, an dem er vorbeigekommen war. In die Spelunke, in die er sich eingemietet hatte, würde er jedenfalls nicht zurückkehren. Er hatte vernünftig sein wollen, doch wenn er es sich recht überlegte, passte das nicht zu ihm. Die ganze Stadt passte nicht zu ihm – und ausgerechnet dieser Herr Weinschenk hatte ihm die Augen geöffnet. In Wiesbaden gab es die Spielbank! Die würde sein nächstes Ziel sein.

 

Zwei Stunden später lag Julius unter einem frischgefüllten Federbett auf einer bequemen Matratze und blickte in die Dunkelheit. Die alten Balken knackten wohlig, während die Glut des kleinen Ofens die Luft angenehm temperierte. Eine einzige Nacht kostete hier so viel wie zwei Wochen in der Unterkunft, aus der er seine Sachen hatte holen lassen. Er musste sich halt mit dem Geldverdienen ein wenig beeilen.

Doch Wiesbaden und die Spielbank konnten warten. Er hatte inzwischen eine viel bessere Idee, wie er zu Geld kommen würde.

Wilhelm Weinschenk! Der hatte ja keine Ahnung, auf was für eine Goldmine er gestoßen war. Julius lachte leise und drehte sich

Das hatte er ihm auch gesagt. »Nie wieder werde ich das tun!«, hatte er Weinschenk schwören lassen und ihm dann versichert, dass er sie beide reich machen würde mit seiner Idee. Er, Julius Mertens, wusste nämlich ganz genau, wie man so etwas anstellte.

Frankfurt, 23. April 1838

Nur noch wenige Wochen bis zu Tobias’ Abreise. Friederike saß am Fenster des Wohnzimmers, neben sich einen Korb mit Kleidungsstücken, die sie ausbessern musste. Die zum Teil winzigen Löcher in der in die Jahre gekommenen Weißwäsche störten Tobias zwar nicht, doch es reichte, dass sie darum wusste. Keinesfalls würde Friederike ihren Mann mit Löchern in der Kleidung fortlassen. Ihr gegenüber saß ihre Schwester Käthchen mit einem Stickrahmen in der Hand. Das Motiv, an dem sie arbeitete, zeigte ein Rosenbouquet inmitten eines Kranzes aus Blättern und Blüten. Das Bouquet war schon beinahe fertig, und Friederike konnte wie immer nur darüber staunen, wie naturgetreu die Blumen wirkten. Ihre Schwester entwarf ihre Stickmuster selbst und hatte sich in Frankfurt einen so guten Namen gemacht, dass sie sich mit dem Verkauf von Zierkissen und anderen Handarbeiten ein Zubrot verdienen konnte, was ihr wenigstens eine kleine finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern verschaffte.

Friederike nahm das nächste Stück zur Hand, ein überlanges leinenes Unterhemd, und griff nach ihrem Stopfei. In der Frühe war sie mit Rückenschmerzen aufgewacht. Deshalb war sie froh, dass sie sitzen konnte und Käthchen ihr mit den Kindern half, denn ein Kindermädchen hatten sie nicht. Nicht nur Tobias, sondern auch sie selbst hatte bisher die Mehrkosten dafür gescheut. Und im Moment war alles friedlich. Nicht nur das, es herrschte sogar eine behagliche Ruhe. Der dreijährige Wilhelm lag auf dem Teppich

Friederike ließ ihre Näharbeit sinken und nahm einen Schluck vom Jasmintee, der auf dem Fensterbrett stand. Tobias hatte die Mischung aus Grüntee und Jasmin erst seit kurzem im Sortiment, und für Friederike war das Getränk eine wohltuende Entdeckung. Sie liebte den feinen Duft, der an einen nächtlichen Sommergarten erinnerte. Alles hätte so schön sein können, müsste sie sich nicht mit Sorgen über die Zukunft herumplagen.

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete nachdenklich ihren Sekretär mit der hübschen Maserung. Er war das Meisterstück ihres Schwagers. Der obere abschließbare Aufsatz ruhte auf zwei Elementen mit je drei Schubfächern, ein weiteres Schubfach befand sich unter der mit Rindsleder bezogenen Tischplatte, auf der ihr Schreibzeug bereitlag. Es hätte sie getröstet zu wissen, dass sie Tobias wenigstens Briefe schreiben könnte. Aber nicht einmal das

Friederike ließ ihren Blick weiter durch den Raum wandern, der zu dieser Stunde am frühen Nachmittag von hellem Licht durchflutet war. Neben dem Sekretär stand auf sechs Beinen ein gepolstertes Sofa mit gerader Lehne und rotem Bezug, dann kam der Kachelofen, davor ein bequemer Lehnstuhl und auf der anderen Seite der Tür – an der den drei Fenstern gegenüberliegenden Wand – das Klavier, auf dem Friederike gelegentlich und Carlchen immer häufiger musizierten. In Ermangelung eigener Porträts blickten Friederikes und Tobias’ Großeltern aus ihren Bilderrahmen links und rechts der Uhr auf die Wohnstube herab. Dabei hätte Friederike nur zu gerne ein Bild von Tobias besessen, gerade jetzt, wo er im Begriff war, sich auf diese lange, ungewisse Reise zu begeben.

»Soll ich dir nicht doch beim Flicken helfen?«, unterbrach Käthchens Stimme ihre Gedanken. Ihre Schwester legte den Stickrahmen zur Seite und beugte sich hinunter zu Elise, um ihr zu zeigen, wie sie die Nadeln richtig halten musste.

»Lass nur, das schaff ich schon. Du tust doch sowieso schon so viel für uns«, erwiderte Friederike, während sie die Augen zusammenkniff, um einen neuen Faden einzufädeln.

»Willst du dir nicht vielleicht doch noch eine Hilfe leisten? Jetzt, wo Tobias sich zu seiner großen Reise aufmacht und dich alleine mit den Kindern zurücklässt. Was meint er denn überhaupt dazu, dass ihr nur eine Hilfe habt und nicht einmal eine Magd?«, fragte Käthchen.

Friederike seufzte und dachte wieder ans Wasserschleppen. Manchmal hatte sie schon ein schlechtes Gewissen, dass ihr einziges Dienstmädchen, Sophie, alles alleine stemmen musste. Ihre Kinder