Ingo Bott
Pirlo - Gegen alle Regeln
Der erste Fall für Strafverteidiger Pirlo
Kriminalroman
FISCHER E-Books
Aus einem Vermerk der Staatsanwaltschaft: Dr. Ingo Bott ist nicht Dr. Anton Pirlo. Es ist aber davon auszugehen, dass er ihn gut kennt. Beide wohnen in Düsseldorf. Beide haben eine Wohnzimmerkanzlei gegründet. Beide sind Halunken. Über Bott (Jg. 1983) ist viel bekannt. Er war Partner in einer Wirtschaftskanzlei. Seine Wohnzimmergründung hat sich zu einer renommierten Kanzlei mit mehreren Anwälten entwickelt. Man kennt Bott für die Verteidigung von Unternehmen und Privatpersonen in namhaften Fällen. ARD und arte haben ihn als Verteidiger im Loveparade-Verfahren porträtiert. Er hat den Europarat in Strafrechtsfragen beraten, steht häufig in der Presse und hält juristische Vorträge im In- und Ausland. Er schreibt Romane. Bei SCHERZ soll zu Pirlo eine ganze Reihe erscheinen. Womit wir wissen, dass Bott viel über Pirlo weiß. Aber keiner weiß, wer Pirlo ist. Die Vernehmung von Bott blieb dazu offen.
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Der erste Kriminalroman und Auftakt einer neuen Serie mit Anton Pirlo und seiner Partnerin Sophie Mahler von Autor und Strafverteidiger Ingo Bott .
Er hat Charisma und ist ein Chaot, doch Anton Pirlo weiß sehr genau, was Recht und was rechtens ist. Ausgerechnet sein erster Fall als unabhängiger Strafverteidiger bringt ihn wieder in die Nähe seiner Clan-Familie. Die nach etwas anderen Regeln lebt. Pirlo hatte sich von ihnen losgesagt. Doch wenn seine Mandantin freigesprochen werden soll, braucht er jetzt genau sie.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main
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Redaktion: Ilse Wagner
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel
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ISBN 978-3-10-491398-8
Ein Mensch ist nie mehr allein, als während der Haft.
Manchmal ist es nur noch der Verteidiger, der einem zur Seite steht.
Ob er einem auch glaubt, mag auf einer anderen Seite stehen.
Genauso wie die Frage, ob das eigentlich wichtig ist.
Werner Arland in: Philosophie der Strafverteidigung, 1992
Solche Geschichten fangen nie zum bestmöglichen Zeitpunkt an. Hier ist das nicht anders. Sie rasen durch die Nacht, Ahmid am Steuer, Mahmed auf dem Beifahrersitz. Er tastet vorsichtig nach seinem Bauch. Dort, wo ihn die Kugel getroffen hat, ist alles voller Blut.
Kurz vorher war das mit den Kroaten. Die beiden Männer mit den Türsteherfiguren gingen langsam zu dem alten Golf, der auf dem Supermarktparkplatz im Gewerbegebiet von Düsseldorf-Eller stand. Eigentlich war die Sache ganz einfach: Das Auto war ein toter Briefkasten, im Kofferraum eine Sporttasche, darin das Kokain. Der Auftrag: Hingehen, das Kokain nehmen, abhauen, das Kokain abliefern. Es wäre alles reibungslos gelaufen, wenn nicht Mahmed und Ahmid Khatib einen Tipp bekommen hätten. Und wenn danach nicht alles, aber wirklich alles, schiefgelaufen wäre. Als die Kroaten die Tasche aus dem Kofferraum genommen hatten, stürmten Mahmed und Ahmid aus ihrem Versteck. Strumpfmasken über dem Kopf. Pistolen im Anschlag. Das Problem war nur, dass sie nicht die Einzigen waren, die einen Überfall geplant hatten. Hinter den Kroaten waren drei andere Kerle aufgetaucht, alle drei klein, drahtig. Und schnell. Der erste Kroate lag sofort am Boden, der zweite konnte immerhin noch zum Schlag ausholen, ehe ihn ein Baseballschläger niederstreckte. Die Tasche mit dem Kokain wechselte den Besitzer. An sich hätte die Sache damit erledigt sein können. Außer, dass jetzt auch Mahmed und Ahmid da waren. Mahmed schoss in die Luft und schrie, dass sich alle verpissen sollten. Für einen Moment tat keiner irgendetwas. Dann zückte einer der drei Typen ein Kleinkaliber und schoss Mahmed in den Bauch. Ahmid fing an zu schreien, Mahmed klappte zusammen, und die Typen machten sich mit der Tasche aus dem Staub.
Danach, im Mercedes, flattern die Nerven. Ahmid redet auf Mahmed ein. Er flüstert, schreit, lacht und weint, alles, um Mahmed irgendwie wach zu halten. Mahmed antwortet aber nicht. Ahmid schließt die Augen. Denkt an das Blut. An das Kokain. Daran, dass sie jetzt ein richtig großes Problem haben. Dann denkt er gar nichts mehr. Es gibt auch keinen Grund dafür, jetzt, wo alles so unfassbar beschissen ist.
1. September. Prozessauftakt.
Pirlo kommt nicht. Spätestens als die Richter den Raum betreten, kann Sophie sein Fehlen nicht mehr ignorieren. Er ist einfach nicht da. Im Aufstehen pustet Sophie eine Haarsträhne aus der Stirn. Eine Übersprungshandlung, klar, die ihr dabei hilft, nicht völlig auszurasten. Sie hat für diesen Moment ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Sie hat gekämpft, gelitten und gearbeitet, sich mehrfach bis auf die Knochen blamiert und noch öfter in Gefahr gebracht. Alles für diesen Augenblick, in dem es endlich losgeht. Der Prozess ist da. Pirlo nicht. Der Arsch.
Sophie atmet durch. Sie beschließt, dass ihr das völlig egal ist. Ob Pirlo kommt oder nicht. Alles andere sowieso. Sie wird das hier gut machen. Einfach, weil sie es kann. Dann huscht ihr Blick doch noch einmal zu der breiten Flügeltür am Ende des Saals. Es hilft nichts. Pirlo spaziert nicht einfach herein. Die Tür bleibt zu.
»Bitte setzen Sie sich«, sagt der Vorsitzende Richter. Überall knirscht es. Im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Düsseldorf gibt es noch Holzstühle. Jeder einzelne davon ist besetzt.
»Wir hätten Eintrittskarten verkaufen sollen. Für ein paar gute Mittagessen hätte das locker gereicht«, murmelt Sophie nach rechts. Es soll witzig sein. Die Atmosphäre auflockern. Marlene von Späth reagiert nicht. Sophies Mandantin hält den Kopf gesenkt und starrt auf ihre Hände. Einen Moment fragt sich Sophie, wie die von Späth im Knast eine bessere Maniküre hinbekommt als sie selbst draußen. Kurz überlegt sie, ob sie auch dazu etwas sagen soll, sieht aber ein, dass das nichts bringt. Was sie sich außerdem eingestehen muss, ist, dass sie nervös ist. Das passt nicht zu ihr. Zumindest nicht nach ihrem eigenen Selbstverständnis. Trotzdem kann sie ihre Anspannung schlecht leugnen. Zumal sie jedem hier klar sein dürfte.
Ihre Mandantin ist zwar mit sich selbst beschäftigt. Grobulla allerdings nicht. Der Oberstaatsanwalt grinst zu ihr herüber. Sogar im Sitzen wirkt er groß. Eine schwarz gerahmte Brille nimmt das halbe Gesicht ein. Die Frisur ist militärisch kurz. Die Unterlippe vorgeschoben. Sophie hat alles über ihn gelesen, was irgendwo zu finden war. Grobulla gilt als harter Hund und hat auch einige Freude an diesem Ruf. Dass er sie jetzt fast mitleidig ansieht, ist kein gutes Zeichen. Wobei: Genau genommen schaut er auf den leeren Platz neben ihr. Genau wie der Vorsitzende und so gut wie jeder andere im Saal, außer Marlene von Späth, die auf ihre Hände starrt, und Sophie selbst, die nach vorn schaut und versucht, die Contenance zu wahren. Was neben ihr ist, weiß sie sowieso. Nichts. Vor allem kein Pirlo.
Dann gibt sich der Vorsitzende Richter einen Ruck. Pirlo ist bis jetzt nicht gekommen. Es spricht wenig dafür, dass es etwas nutzt, noch länger zu warten. Bernd Adams rückt die Brille zurecht und beugt sich vor. Er sieht nicht glücklich aus. »Frau Rechtsanwältin Mahler?«
»Ja?«
»Sie vertreten die Verteidigung heute allein?«
Sophie blickt auf den Stuhl neben sich. Dann nickt sie.
»Kommt Herr Dr. Pirlo heute nicht mehr?«
Sophie könnte darauf einiges antworten. Zum Beispiel, dass sie das auch gern wüsste. Beziehungsweise, wo der Mistkerl gerade ist. Allerdings ist der Mistkerl eben auch ihr Chef, deshalb sagt sie einfach nur: »Nein. Er kommt nicht mehr. Ich vertrete Frau von Späth allein.«
»Gut«, sagt Adams, »dann fangen wir an.«
Sophie lächelt schmal und rückt ihren Stuhl zurecht, bereit für alles, was kommen mag. Marlene von Späth zieht die Augenbrauen hoch, sagt aber nichts. Das ist fast schon ein kleiner Sieg. Mit großer Sicherheit ist es für heute auch der letzte.
22. Juli.
Der alte Mann wirkt kraftlos. Trotzdem wird er Pirlo rauswerfen. Da braucht sich hier keiner irgendwelche Illusionen zu machen. Erst recht nicht Pirlo selbst. Ohmsens Hände liegen aufeinander. Die Finger sind fleischig wie fast alles an dem alten Mann. Fleischig. Dick. Zu breit. Zu viel. Pirlo wendet den Blick von ihm ab und richtet ihn auf die kleinen Augen in dem großen Kopf des Namenspartners von Ohmsen & Partner. Ohmsen beobachtet ihn aufmerksam. Mag ja sein, dass er schweinsäugig und stumpf daherkommt. Dumm ist er nicht.
»Und?«, fragt er.
Pirlo schüttelt den Kopf. Er sagt nichts. Manchmal macht es keinen Sinn, lange zu debattieren. Jetzt zum Beispiel. Zumal sie das Wesentliche schon hinter sich haben.
Ohmsen dreht schwerfällig den Kopf in Richtung seines Sohns. »Was hast du dazu zu sagen?«
Ohmsen junior lächelt schmal. »Alles, was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt.«
»Mehr ist da nicht?«
»Mehr ist da nicht.«
Ohmsen nickt. Er starrt lange auf seine gefalteten Hände. Dann sieht er Pirlo direkt an und überrascht diesen. »Herr Dr. Pirlo, was soll ich jetzt Ihrer Meinung nach tun?«
Pirlo kratzt sich am Kinn. Manchmal sind die einfachsten Antworten die schwierigsten. »Ich schätze mal, wir kommen hier nicht weiter.«
»In welcher Hinsicht?« Ohmsen fragt das quälend langsam. So, als wolle er die Antwort gar nicht hören. Will er auch nicht. Eigentlich. Das weiß Pirlo.
Er gibt sie trotzdem. »In jeder.«
Eine knappe Stunde später ist er draußen. Im übertragenen Sinn. Und de facto. Pirlo steht auf der Rheinpromenade und schaut auf die Kiste mit seinen Habseligkeiten. Ein paar Bücher. Ein paar Bilder. Seine Robe. Nichts, was nicht in die Umzugskiste gepasst hätte. Acht Jahre Leben, komprimiert in einer Pappschachtel. Er sieht auf den Fluss, der gemütlich unter ihm dahinfließt. Hinter ihm erhebt sich das alte Speicherhaus, einer der Prachtbauten aus der Zeit, als Düsseldorf hier noch seinen Hafen hatte. Es ist ein seltsames Gefühl, dafür keinen Schlüssel mehr zu haben. Pirlo atmet durch. Er wird sich daran gewöhnen müssen.
Wobei das Ganze eigentlich ein Witz ist. Während er mit seiner Kiste unter dem Arm die Promenade entlangläuft, erzählt er sich den Scheiß noch einmal selbst, so, wie er es am Abend seinem Freund Paolo erzählen wird. Kurz überlegt er, ob er ihn jetzt anrufen soll. Eine Weile kreist Pirlos Finger über der Anruffunktion. Dann stopft er das Telefon doch wieder in die Innentasche des Sakkos. Er sollte sich erst mal fangen. Fluchen kann er später immer noch.
Ein, zwei Mal kommt er ins Straucheln. Auf dem Weg hat er bei einem Büdchen am Burgplatz zwei Alt getrunken. Auf nüchternen Magen ist er das nicht gewohnt. Außerdem wird die Kiste allmählich doch ziemlich schwer. Die Scheißkiste! Pirlo schwitzt und schimpft. Trotzdem ignoriert er die Taxis. Er wird ja wohl noch seinen verdammten Kram bis nach Pempelfort wuchten können. Am Fortuna-Büdchen neben dem Ulanen-Denkmal legt er den nächsten Stopp ein, nimmt noch ein Alt und fixiert den Fluss. Eigentlich will er nachdenken. Klappt aber nicht. Scheiße, brummt Pirlo. Weil das, was passiert ist, halt auch scheiße ist.
Wenigstens kann man es einigermaßen schnell zusammenfassen: Der junge Ohmsen ist ein opportunistischer Drecksack. Das ist für sich genommen nicht weiter schlimm. Viele Anwälte sind das. Der junge Ohmsen ist zudem aber auch noch durchtrieben, fies und gierig. Das trifft zwar auch auf die meisten seiner Kollegen zu, aber die kennt Pirlo schon länger. Den jungen Ohmsen hat er einfach nicht ernst genug genommen. Er hat ihn unterschätzt. Das ärgert ihn am meisten. Natürlich war er genervt, dass der Alte ihm seinen Filius für das Montagex-Verfahren aufgedrückt hatte. Ausgerechnet diese heikle Nummer mit den vielen Geschäftsgeheimnissen. Zwei Manager waren gefeuert worden, weil sie Kundendaten des Automobilzulieferers an ein chinesisches Konkurrenzunternehmen gegeben haben sollen. Die Daten waren Gold wert. Wer sie hatte, konnte den Kunden von Montagex systematisch Angebote unterbreiten, die günstiger waren als die originalen Montagex-Preise. Auf diese Weise konnte das Unternehmen einfach so aus dem Markt hinausgedumpt werden. Kein Wunder, dass das strafbar war. Für die beiden Manager ging es daher um alles – ihren Job, ihre Reputation, ihre Zukunft. Bei der Suche nach Verteidigern hatten sie sich nicht lumpen lassen und sich für den großen Namen Ohmsen entschieden. Von den vierundzwanzig Anwälten dort war Pirlo einer der besten Verteidiger. Achtundreißig Jahre. Ambitioniert. Smart. Durch das Metternich-Verfahren bekannt aus Presse und Fernsehen. Bei Ohmsen auf dem Sprung zum Partner. Einer der Manager griff sofort zu. Da auch der andere einen Verteidiger brauchte, schlug Pirlo Ohmsen vor. Und zwar den alten. Der aber hatte entschieden, dass es an der Zeit sei, seinen Sprössling ins Rampenlicht zu lassen, und Pirlo gebeten, ihn an seine Seite zu nehmen. Am Ende war es gekommen wie so oft. Pirlo war dagegen gewesen, der alte Ohmsen hatte sich durchgesetzt. Einen Tag später hatte sich der junge Ohmsen als Verteidiger bestellt. An sich war das noch kein Problem. Die Verteidigung lief. Das Gute: Die Chinesen hatten die Montagex-Geheimnisse tatsächlich nicht. Die Online-Compliance von Montagex hatte die E-Mail abgefangen, mit der die Preislisten verschickt werden sollten. Das Schlechte: Die Chinesen hatten diese Listen einen Monat später schließlich doch. Bei Montagex waren sie eingefroren worden. Bei den Anwälten nicht. Man musste kein Raketenforscher sein, um die Geschichte zusammenzupuzzeln: Die Chinesen hatten die Listen bekommen, weil einer der Anwälte sie ihnen gegeben hatte. Pirlo wusste, wer es nicht gewesen war. Und dass das keinen wirklich interessierte. Nicht Ohmsen senior, aber auch keinen der anderen Partner, die sich reflexhaft hinter dem Alten wegduckten. Pirlo konnte das sogar verstehen. Er war deutlich jünger als die meisten alteingesessenen Partner. Die Presse schrieb, dass er das Metternich-Verfahren im Alleingang gewonnen hatte. Für eine kurze Zeit war er auf dem Markt der heiße Scheiß. Damit machte man sich nicht nur Freunde. Dass es die anderen freute, wenn er über eine solche Sache stolperte, war irgendwie nachvollziehbar. Es kotzte ihn trotzdem an.
Die Tage danach.
Pirlo macht nicht viel. Er liegt im Bett. Er sitzt auf dem Klo. Er schaut alte Filme mit Paul Newman. Er trinkt. Und er hört Fado. Melancholie in Reinform. Der Soundtrack seines Erdendaseins. Jedenfalls jetzt gerade. Er überlegt, wann er diese Musik entdeckt hat. Es müsste um die Jahrtausendwende gewesen sein. Auslandssemester in Lissabon. Mariana. Die Portugiesin mit den langen schwarzen Haaren. Wahrscheinlich war auch damals nicht alles okay. Verglichen mit heute aber eher schon. Denkt er, findet das aber scheiße. Also, das Denken. Tut nicht gut. Verursacht Schmerz im Kopf. Regt zu Fragen an. Und das kann er gerade wirklich nicht gebrauchen.
Nach drei Tagen steht Pirlo vor einer Herausforderung. Das Bier ist alle. Und ohne das schmeckt der Tequila nicht. Wie gesagt, eine Herausforderung. Genau genommen sogar ein Problem. Die Logistik ist ja auch alles andere als einfach: Wer mehr Bier will, muss raus auf die Straße. Dazu sollte man eine Hose anziehen. Dann droht das Abenteuer, das Treppenhaus runterzukommen, die ganze schäbige Welt mit den ganzen schäbigen Menschen, die Hemmschwelle Edeka, dann der viel zu lange Rückweg, zweimal um die Ecke, Treppe wieder hoch. Alles in allem ein echter Mount Everest. Und wo die Geldbörse steckt, das weiß auch wieder keiner. Jetzt könnte man natürlich jemanden anrufen, der diese ganzen Unpässlichkeiten behebt. Nur: Es meldet sich von draußen ja keiner. Kein Schwein. Das schwarze schicke Handy hat ihm Ohmsen gelassen. Pirlo hat also noch alle Nummern. Fast die gesamte Branche. Die Kollegen. Die Elite. Diejenigen, von denen sich keiner gemeldet hat. Seit drei Tagen nicht, seit er bei Ohmsen raus ist und die Kanzlei eine Presseerklärung veröffentlicht hat, in der mitgeteilt wird, dass man ihn rausgeworfen hat, weil er ein illoyales Arschloch sei, das Geschäftsgeheimnisse eines Mandanten ins Ausland verhökert habe. Das steht natürlich nicht ausdrücklich da. Viel anders aber auch nicht. Pirlo versucht es erst gar nicht mit zarten Illusionen. Die Geschichte hat sowieso schon die Runde gemacht. Er ist der gefallene Shootingstar. Der gescheiterte Ehrgeizling. Der Penner, der zu blöd war und sich dabei auch noch hat erwischen lassen. Der, dem der Erfolg im Metternich-Verfahren zugeflogen ist. Mit Leichtigkeit. Einfach so. Es weiß ja keiner, wie es wirklich war. Pirlo macht sich nichts vor: Es wird auch niemand mehr erfahren. Schon weil es einfach niemanden interessiert. Sein Nimbus ist aufgebraucht, er ist erledigt. In der Branche ist er durch. Nicht einmal von der Presse ruft jemand an, um ihn für ein schadenfrohes Interview auszuhorchen. Stattdessen passiert nichts. Die Stille des schwarzen Telefons schreit ihn durch den ganzen Raum an. Dort ist also nichts zu holen. Erst recht nicht ein freundlicher Retter, der ihm Bier bringt. Die Nummern aus dem grauen Handy kommen allerdings auch nicht in Frage. Ganz bestimmt nicht. Unabhängig davon, dass da die letzten Menschen drangehen würden, von denen ein Gefallen zu erwarten ist. So, wie das eben ist in einer Familie. Jedenfalls in dieser. Seiner.
Das Klingeln an der Tür weckt ihn auf. Pirlo schmerzt der Schädel. Die sich langsam durch das Dickicht drängenden W-Fragen machen das nicht besser. Wer bin ich? Wo bin ich? Warum bin ich hier? Wieso ist immer noch kein neues Bier da? Mühselig streicht er die Haare aus dem Gesicht. Wie lange hat er nicht geduscht? Noch so eine W-Frage. Wieder eine, auf die keine gute Antwort zu erwarten ist. Dann klingelt es erneut. Richtig. Das auch noch. Pirlo hat keine Ahnung, wer es ist oder sein könnte. Soweit er sich erinnert, hat es zuletzt immer mal wieder geklingelt, keine Ahnung, wie oft, keine Ahnung, wann. Jetzt schon wieder. Manchmal bleibt einem aber auch nichts erspart. Was nicht heißt, dass er einfach aufgibt. Nicht diesmal. Pirlo zieht die Decke über den Kopf und schickt der Welt ein herzliches Fickdich. Es klingelt? Fickdich. Es ruft keiner an? Fickdich. Jemand klopft an die Tür? Fickdichauch. Fickt euch doch einfach alle! Wie sagte es der französische Philosoph Ribéry? Den ganzen Stammbaum. Also: Fick den auch. Vor allem den. Denkt er mit letzter Kraft. Dann schläft Pirlo endlich wieder ein.
24. oder 25. Juli. Man weiß es nicht genau.
Beim dritten Mal Kotzen kommt nicht mehr viel. Ein wenig Flüssigkeit. Sonst nichts. Was ja eigentlich ganz gut ist. Pirlo beschließt, dass ihn das zu einer Ehrenrunde motiviert. Er wischt die verschwitzten Haare zurück und legt am Wasserspender nach. Sein Gleichgewichtssinn ist zwar immer noch nicht wieder ganz mit ihm befreundet. Aber alles in allem fühlt er sich schon fast wieder stabil. Glaubt er jedenfalls. Hofft er. Einen Augenblick bleibt er an der kleinen Promenadenmauer stehen. Auf der anderen Seite des Rheins geht die Sonne unter. Ihr Licht spiegelt sich auf dem Wasser. Gelb. Orange. Rot. Der Himmel geht am Horizont von sehr hellem in tiefdunkles Blau über. Es sieht aus, als hätte jemand einen ganzen Malkasten umgeworfen. Was schön ist. Das kann auch Pirlo zugestehen. Sogar jetzt. Überhaupt ist Düsseldorf ein schöner Ort, vor allem hier an den Rheinterrassen, wo die Kunstmuseen sind, hinter den Ausläufern der Altstadt. Durch die Gassen zu den Rheinterrassen bahnen wir uns den altbekannten Weg. So, wie es die Toten Hosen singen. Pirlo kennt diesen Weg gut. Es ist seine Joggingstrecke, in den letzten Jahren aber nie schon am späten Nachmittag und ganz bestimmt nicht unter der Woche. Eine Frau joggt an ihm vorbei. Keine zwanzig mehr, aber auch noch nicht sehr weit Richtung Mitte dreißig. Sie ist schlank, nicht allzu groß. Blond. Zopf. Blassrosa Hose. Enges weißes Oberteil. Kopfhörer. Viel zu gestylt dafür, einfach zu laufen. Wobei es darum auch gar nicht geht. Anouschka joggt nicht. Sie hält Ausschau. Ungefähr so wie bei den letzten Malen, als sie Pirlo über den Weg gelaufen ist, vorzugsweise im Sir Walter, im Rudas oder in der Elephant Bar. Bisher beschränkten sich die Begegnungen auf das Übliche. Man nickt einander zu, es passt aber gerade nicht so ganz. Zumal das Angebot ja auch nicht klein ist.
Als sie jetzt das dritte Mal an ihm vorbeiläuft, sagt Pirlo, dass es schön sei, sie zu sehen.
»Gleichfalls«, antwortet sie. »Ich weiß gar nicht, ob wir uns schon einmal persönlich vorgestellt haben. Ich heiße Anouschka.«
»Ich weiß«, antwortet Pirlo. »Ich bin Carlos.« So heißt er nicht. Weder mit richtigem Namen noch mit falschem. Wahrscheinlich weiß sie das sogar. Es spricht für sie, dass sie trotzdem nicht darauf eingeht.
»Joggst du oft hier?«
»Ja.«
»Schon Feierabend?«
Pirlo lächelt. Reizend, wie sie versucht, herauszufinden, ob er einen guten Job hat. Düsseldorf halt, alte Perle. »Noch nicht.« Sie schaut interessiert. »Ich bin Anwalt in einer dieser großen Kanzleien.« Er nickt Richtung der Glaskästen in der Altstadt, wo auch die Kanzlei Ohmsen & Partner sitzt. Diese Hurensohnbude.
»Aha«, sagt sie und lächelt zurück. Schwer zu sagen, wer hier wen an der Angel hat.
»Und du?«, fragt er.
»Ach, ich halte mich einfach gern fit.«
Was keine Antwort auf die Frage ist. Pirlo findet das nicht schlimm. Immer noch besser als die Erklärung, dass es in dem Modegeschäft/Supermarkt/Versicherungsladen öd ist, die Typen, die man da kennenlernt, alle die gleiche Frisur haben, die gleichen Tätowierungen an den gleichen Stellen und die gleichen Aussichten für das sonstige Leben, was hier in Düsseldorf einfach zu wenig ist. Dazu ist das Interessante, Aufregende, Gute viel zu greifbar. Pirlo weiß, was sie sieht. Er ist eher groß als klein und eher schlank als dick. Seine schwarzen Haare sind immer noch voll und reichen an den Stellen, wo sie nicht hinter den Ohren bleiben, bis zu den Wangenknochen. Als er ihr abends über den Weg gelaufen ist, dürfte er aufgeräumt gewirkt haben. Souverän. Pirlo trinkt nicht viel, wenn er ausgeht. Außer, wenn er bei dem Laden rausfliegt, auf den er seine ganze Karriere aufgebaut und dem er dazu die letzten acht Jahre sechzig Stunden die Woche gewidmet hat. Dann aber so richtig.
Jetzt und hier spielt das erfreulicherweise keine besondere Rolle. Es genügt das, was sie sieht. Und das ist ganz bestimmt nicht jemand ohne Job, der in der letzten Stunde dreimal ins Gebüsch gekotzt hat und der nur draußen ist, weil er nichts mehr zu trinken hatte und der Magen anfing, weh zu tun. Der die letzten zwei Tage im Bett lag. Oder die letzten drei. So genau weiß er es selbst nicht. So oder so ist er ziemlich im Eimer. Wer dermaßen schwitzt wie er, könnte auch einen Marathon gelaufen sein. Und nicht erst seit einer Viertelstunde vor dem Chaos der letzten Tage davonrennen. Pirlo könnte natürlich auch alles zugeben. Wo er herkommt. Was er dort gemacht hat. Und dass er gerade ziemlich orientierungslos ist. So läuft das hier allerdings nicht. Sondern so: »Willst du im Canoo einen Milchkaffee trinken? Oder heute Abend auf eine Weinschorle?«
Anouschka legt den Kopf schief.
Pirlo ist voller Bedauern. »Wenn ich jetzt zur Kanzlei jogge und dort dusche, dann bleibe ich auch dort. Dafür sind meine Fälle gerade einfach zu groß und zu wichtig.« Sie nickt verständnisvoll. Er packt sein Zahnpastalächeln aus. Dann fragt er, als sei es ihm wirklich gerade jetzt erst eingefallen: »Wo wohnst du denn?«
»Ich wohne nicht weit von hier, Richtung Golzheim.« Sie wirkt nicht überrascht.
Trotzdem muss er es allein zu Ende bringen. »Ich könnte auch bei dir schnell duschen. Dann gehen wir von dort aus gemeinsam einen Kaffee trinken.«
Sie lächelt, als sei das frech. Ist es ja auch. Trotzdem kein Grund, sich hier besonders viel vorzumachen.
Als er am nächsten Morgen nach Hause kommt, ist er wieder einigermaßen auf der Höhe. Wurde ja auch Zeit. Anouschka hat sich als sehr freundlicher Mensch erwiesen. Pirlo eher nicht. Nach dem Duschen war er mit ihr im Bett gelandet und danach einfach dort geblieben. Irgendwann muss sie gegangen sein. Als er wieder zu sich kam, war er in der fremden Wohnung allein und, was noch erstaunlicher war, nüchtern.
Er fand seine Sachen über dem Rand ihrer Badewanne. Sie hatte sie gewaschen und getrocknet. Das war verdammt nett. Das denkt er auch noch, als er eine Viertelstunde später an seiner Wohnung in Pempelfort ankommt. Dann lenken ihn die beiden gelben Post-Its ab, die jemand an seine Tür geklebt hat. Auf dem einen steht in dünner Schrift mit großen Schwüngen: »Rufen Sie mich an! Es ist wichtig! Bitte! Eva Pogorzelskij!« Darunter eine Nummer. Auf dem anderen steht in der gleichen Schrift: »Dringend!«
Pirlo sitzt schon eine ganze Weile auf dem Sofa. Er starrt die Zettel an. Die Ausrufezeichen. Dann tut er so, als würde er sich mühsam zu dem Anruf durchringen. Er kann nicht anders. Ganz bestimmt wird er nicht zugeben, dass er froh ist, überhaupt etwas zu tun zu haben. Erst recht nicht sich selbst gegenüber.
25. Juli. Nachmittag.
»Verstehen Sie?«
Pirlo nickt. Nötig ist das nicht. Die Frage ist rhetorisch. Sie fragt nicht aus Misstrauen. Sondern weil es ihr wichtig ist. Ihm ist klar, dass der stark geschminkten Frau klar ist, dass er versteht, was sie sagt. Zum einen ist die Geschichte einigermaßen überschaubar. Zum anderen hat sie alles schon mindestens fünfmal erzählt. Und ungefähr zweihundertmal nachgefragt.
»Verstehen Sie?«
Er nickt noch einmal. Was er versteht: Eva Pogorzelskij hatte keine einfache Kindheit. Sie wuchs in Polen auf, irgendwo in der Diaspora hinter Krakau. Die Familie war arm. Das zur Verfügung stehende Geld zu zählen war sehr einfach. Es gab fast keines. Immerhin war Eva in ihrer Jugend eine schöne Frau. Sie heiratete den Eigentümer der Konservendosenfabrik, in der sie arbeitete. Zu ihrer gemeinsamen Enttäuschung gebar sie ihm kein Kind, weswegen er sie nach ein paar Jahren verließ. Ihres liebgewonnenen sozialen Status beraubt, ließ sie sich auf eine lockere Affäre mit einem der Vorarbeiter ein. Kurz darauf war sie schwanger. Und verbittert. Als das Kind heranwuchs, nutzte Eva die Unruhe der Solidarność-Aufstände und setzte sich nach Deutschland ab. Sie fand eine Wohnung in Reisholz, im Speckgürtel von Düsseldorf, und begann als Putzfrau zu arbeiten. Eva schuftete Tag und Nacht. Für das Kind, Marlene, blieb wenig Zeit. Marlene verbrachte viel Zeit auf der Straße und lernte, sich dort zu behaupten. Das wenige, das Eva verdiente und das Marlene von unterschiedlichen Jobs nach Hause brachte, teilten sie und kamen so zusammen irgendwie über die Runden. Wie früher Eva, wuchs auch Marlene zu einer echten Schönheit heran. Mutter und Tochter waren so erleichtert wie glücklich, dass das auch einem erfolgreichen Mann wie WDvS-Gründer Florian von Späth nicht entging. Er hatte Marlene vor fünf Jahren geheiratet. Alles war perfekt.
»Verstehen Sie?«
Pirlo nickt. Er versteht das. Was er aber ebenso versteht: Darum geht es eigentlich gar nicht. Oder wenn, dann nur am Rand. Weswegen Eva Pogorzelskij eigentlich bei ihm auf dem Sofa sitzt: Florian von Späth ist tot. Marlene soll ihn getötet haben. Deshalb sitzt sie in Haft. Und Pirlo soll sie da rausholen.
Florian von Späth ist ihm ein Begriff. Baulöwe und Kö-Größe. Gründungsgesellschafter von Weiss.Danzinger.vonSpäth. WDvS. German Qualitiy for International Construction. Büros in der halben Welt. Sitz in Düsseldorf. Dort kam von Späth her. Dort gehörte er hin. Pirlo kennt nicht nur den Namen. Er kann auch das Gesicht vor sich sehen. Sonnengebräunt. Nach hinten gegelte blonde Haare. Zahnpastalächeln. Einer von denen, die die Kausalität der Medienberichterstattung in Frage stellten: War Florian von Späth bei einer Veranstaltung, weil die POST darüber berichtete? Oder berichtete die POST, weil Florian von Späth bei einer Veranstaltung war?
Jetzt jedenfalls ist er tot. »Aber das haben Sie ja alles mitbekommen«, sagt Eva Pogorzelskij.
Pirlo nickt wieder und blättert durch die Auszüge der POST, die sie ihm mitgebracht hat, außerdem durch die drei Seiten des lachsfarbenen Haftbefehls. Er bemüht sich, einen souveränen Eindruck zu machen. Muss ja keiner wissen, was er in den letzten Tagen getan hat. Beziehungsweise: Was nicht. Kaum beamt er sich mal ein paar Dutzend Stunden aus dem Leben, gibt es in der Stadt einen Mord, über den alle Bescheid wissen. Nur er nicht.
Glücklicherweise scheint der Sachverhalt nicht allzu kompliziert. Dazu reicht bereits das erste Überfliegen der Unterlagen. Jemand hat Florian von Späth in der Diele seiner Villa mit mehreren Stichen von hinten getötet. Der Verdacht richtet sich gegen die Ehefrau, Marlene von Späth, Evas Pogorzelskijs Tochter. Zwanzig Jahre jünger. Alleinerbin. Als eifersüchtig bekannt. »Kenner der Szene« beschreiben die Beziehung in der POST als »konfliktreich«. Bei einem Empfang soll es ein Handgemenge gegeben haben. Angeblich warf Marlene von Späth ein Glas nach ihrem Mann. Das Ganze liest sich nicht gut. Noch weniger erfreulich ist, dass Marlene von Späth für den möglichen Tatzeitraum kein Alibi hat. Von Späth war abends noch bei einer Veranstaltung gesehen worden. Von dort eilte er nach Hause, kam jedoch nicht mehr zurück. Als man ihn am nächsten Morgen in der Diele der Villa fand, lag er tot in einer riesigen Blutlache. Sein Kopf zeigte in Richtung der verschlossenen Haustür, so als sei er auf dem Weg dorthin gewesen. Marlene von Späth war angeblich die ganze Zeit im Haus und hatte nichts mitbekommen. Allerdings klingt das beim ersten Lesen nicht besonders plausibel. Von Späth wurde zu Hause getötet. Seine Ehefrau war dort. Die Haustür war geschlossen. Wenig überraschend sah die Staatsanwaltschaft einen dringenden Tatverdacht. Wegen des polnischen Ursprungs hatte der Ermittlungsrichter einen Haftbefehl erlassen. Was bedeutet: Marlene sitzt seit zwei Tagen in der Justizvollzugsanstalt Ratingen in Untersuchungshaft.
»Zu Unrecht!«, empört sich Eva Pogorzelskij. »Was soll das denn? Ist denn nicht jeder unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist?«
Pirlo nickt auch hierzu. Das mag ja alles stimmen.
Auch wenn Eva Pogorzelskij einen Punkt trifft, wenn sie daraufhin fragt: »Wieso ist meine Tochter dann in Haft?«
»Damit soll das Verfahren gesichert werden.« Pirlo weiß, dass das lahm klingt. Leider ist es aber auch richtig.
»Sie meinen, weil sie sonst das Land verlassen könnte?«
»So ungefähr.«
»Aber dafür hat sie keinen Grund! Ihr Leben ist ja hier!« Die Frau schluchzt. Pirlo sagt erst einmal nichts. Er wartet. Langsam kommt sie wieder zur Ruhe. »Marlene hat nichts Falsches getan. Das müssen Sie mir glauben. Sie hat ihren Mann verloren, und dann macht man ihr auch noch Vorwürfe. Das ist alles nicht richtig! Vor allem ist es nicht richtig, dass sie jetzt im Gefängnis sitzt.«
Pirlo beugt sich vor. »Erst einmal ist das nur die Untersuchungshaft.« Er bereut den Satz in dem Moment, in dem er ihn gesagt hat.
»Was soll das heißen, ›nur‹?«
Er räuspert sich. »Sie ist in Untersuchungshaft. Ohne ›nur‹.«
»Und wie lange bleibt sie da?«
Pirlo erinnert sich etwas wehmütig an die Zeit vor fünf Minuten, als dieses Gespräch noch einfach war und er lediglich immer wieder nicken musste. »Keine Ahnung.«
»Wenn jemand verurteilt wird, weiß man doch, wann er rauskommt, oder?«
»Ja.«
»Aber jetzt nicht?«
»Nein.«
»Obwohl das Verfahren noch läuft?«
»So ist das mit der Untersuchungshaft. Lassen Sie mich ehrlich sein: Es kann dauern, bis die aufgehoben wird.«
Eva Pogorzelskij denkt darüber nach. Dann fragt sie: »Wovon hängt das ab?«
»Wie die Ermittlungen vorankommen.«
»Ob man etwas Belastendes findet?«
»Oder etwas, das ihre Unschuld beweist.«
»Aber die Unschuldsvermutung gilt doch sowieso! Ich habe das gegoogelt.«
Pirlo nickt. Klar hat sie das. Er seufzt. »Sicher. Aber die Unschuldsvermutung ist eine bitch.«
»Entschuldigung, was haben Sie gesagt?«
»Nichts, schon gut.« Er bemerkt, dass er gerade Scheiß baut. Manchmal hat auch er einen lichten Moment. Vielleicht muss er nur dringend was essen. Er streckt sich. Dabei fällt ihm auf, was er da eigentlich macht. Nämlich: Mit alter Jeans und im T-Shirt in seiner Wohnung auf dem Sofa sitzen, ihm gegenüber eine entrüstete ältere Dame um die sechzig im eleganten Kostüm.
Und er flucht, räkelt sich und gähnt. Die Frau schaut etwas indigniert, sagt aber nichts. Pirlo ist derweil froh, dass er es vorhin wenigstens in aller Eile geschafft hat, sämtliche Wäschestücke und Flaschen aufzuklauben und ins Schlafzimmer zu werfen. Das Wohnzimmer sieht jetzt ganz in Ordnung aus. Zumindest, wenn es nach Pirlos Ansprüchen geht. Das Zimmer ist spartanisch eingerichtet, aber er war die letzten Jahre ja auch kaum hier. Das mit der Inneneinrichtung ist gerade ohnehin nicht besonders wichtig. Es gibt Dringenderes.
Eva Pogorzelskij beugt sich vor und greift nach Pirlos Händen. »Sie müssen sie verteidigen!«
Pirlo zieht die Brauen hoch und tut wichtig. Jetzt bloß nicht zu planlos erscheinen. Oder zu dankbar. Um Zeit zu gewinnen, fragt er: »Wie sind Sie auf mich gekommen?«
Sie lächelt. »Ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Sie und diesen Fußballer, an den auch keiner geglaubt hat. Außer Sie.«
Er nickt. Metternich. War ja klar. Auch wenn es so, wie sie sagt, natürlich nicht stimmt. Pirlo überlegt. Ohmsen hat ihn nur aus der Kanzlei geworfen. Bei der Kammer angezeigt hat er ihn nicht. Pirlo ist nach wie vor Rechtsanwalt. Im Schlafzimmerschrank hängen zehn teure Maßanzüge, die jeweiligen Gürtel und Schuhe passen exakt dazu. Das ist die eine Seite. Auf der anderen hat Pirlo im Augenblick noch nicht einmal einen Schreibtisch.
Eva Pogorzelskij sieht ihn flehend an. Ihre Hände drücken seine ein klein wenig fester: »Bitte, Herr Doktor. Übernehmen Sie den Fall!«
Pirlo nickt, bevor er weiter nachdenkt. Erst schlagen, dann fragen. Das hat er schon mal wo gehört. Eines interessiert ihn dann aber doch: »Woher wussten Sie, wo Sie mich finden?«
»Ich habe mich an Ohmsen gewendet, Ihre Kanzlei.«
»Meine ehemalige Kanzlei«, murmelt Pirlo.
»Wie auch immer«, sagt Eva Pogorzelskij. »Die Sekretärin hat mir gesagt, dass Sie hier sein würden. Seitdem habe ich geklingelt.«
Pirlo nickt wieder. Das ergibt alles irgendwie Sinn. Irgendwie aber auch nicht. Vielleicht sollte er einfach mal den Kopf freibekommen. Was essen. Duschen und zurück ins zivilisierte Leben finden. Wahrscheinlich sollte er dann zum Alten gehen und den nach seiner Meinung fragen. Innerlich nickt er. Er hat jetzt lange genug herumgemodert. Langsam wird es Zeit, was anderes zu machen.
Vorher verspricht er Eva Pogorzelskij noch, schnellstmöglich bei ihrer Tochter im Knast vorbeizuschauen. Dann drückt er der Frau die Hand. Sie weint. Bedankt sich. Geht. Pirlo steht in der Tür und ist froh, dass ihm nicht schwindelig ist. Jedenfalls nicht sehr. Dann geht er duschen, zieht sich was Ordentliches an und fühlt sich damit erstaunlich wenig unwohl. Bei Youssef holt er sich einen Döner auf die Hand, am Büdchen eine Flasche badischen Rotwein. Dann läuft er durch den lauen Sommerabend über eineinhalb Stunden durch die Stadt bis zur Uni.
26. Juli. Abend.
»Am Ende musst du es selbst wissen.« Hervorragend. Genau so eine nach allen Seiten offene Ansage hatte er sich gewünscht. Denkt Pirlo bissig. Sagt er aber nicht. Mit dem Alten geht man respektvoll um. Immer. Der Alte sieht ihn an. Kluge Augen. Ein paar neue Falten um die Mundwinkel. Den Spitznamen hat er schon lange. Allmählich nähert er sich ihm aber auch äußerlich an. »Das war nicht das, was du hören wolltest«, sagt Arland. Der Fuchs. Hat er es also doch gewusst. Die kleinen Augen lachen.
»Passt schon«, sagt Pirlo. »Am Ende hast du ja recht.«
Wie immer, wenn er den Alten duzt, freut es ihn insgeheim. Er weiß natürlich, woher das kommt. Pirlo ist stolz. An dieser Stelle hat er dazu sogar einen Anlass. Sie hatten es sich in seinen eineinhalb Jahren am Lehrstuhl nicht leicht gemacht. Pirlo fand, dass Professor Arland, der Arland, die Strafrechtslegende, langsam an Biss verlor. Arland fand Pirlo laut, schwierig und anmaßend. Pirlo nannte Arland den Alten, Arland nannte Pirlo den Schönling. Beide meinten es nett. Jedenfalls meistens. »Durch Reibung entsteht Wärme«, hatte der Alte gesagt und Pirlo bei dessen Promotionsfeier die Hand gereicht. »Sie können Werner zu mir sagen.«
»Danke«, hatte Pirlo geantwortet. »Sie können Dr. Pirlo zu mir sagen.«
Zehn Jahre war das mittlerweile her. Sie sprechen immer noch miteinander. Heute mehr denn je.
Arland war bekannt dafür, nur wenige Leute ins Herz zu schließen, die dann aber richtig. Er hatte zwar daran zu knabbern gehabt, dass Pirlo kein Interesse zeigte, in seine Fußstapfen zu treten und in der Uni zu bleiben. Trotzdem hatte er Pirlo unterstützt. Die Empfehlung für Ohmsen war von ihm gekommen.
»Was machst du jetzt?«, fragt Arland.
Pirlo atmet lange aus. »Ich nehme den Fall an.«
»Gut.« Arland grinst.
Pirlo fragt: »Das wusstest du vorher schon, oder?«
»Ab dem Moment, in dem ich das erste Mal davon gehört habe. Genau wie du.«
Sie lachen. Vor ihnen geht die Sonne unter. Arland liebt es, zur blauen Stunde in der Uni zu sein, am Lehrstuhl. Wenn es draußen dunkel wird, schaltet er das Licht ein, setzt sich an den riesigen Schreibtisch und schreibt per Hand mit einem alten Füller seitenweise die vielen klugen Dinge auf, die danach ein armer studentischer Mitarbeiter, früher Pirlo, zu entziffern und in einen Computer zu übertragen hat, von wo aus sie ihren Weg in gefeierte Bücher und Presseartikel finden.
Arland sieht Pirlo aufmerksam an. »Fühlst du dich unter Druck gesetzt?«
»Es geht«, sagt Pirlo. Es ist schön, dass er nicht lügen muss. Auch wenn er nicht ganz die Wahrheit sagt.
Arland nickt. »Ich kann das verstehen. Der Schatten der Ohmsen-Sache ist groß. Du brauchst dir nichts vorzumachen, Junge: Nach deinem Ausscheiden dort wird das, was du jetzt tust, mit Argusaugen verfolgt. Es werden einige mit Freude darauf setzen, dass du krachend scheiterst. Mit besonders vielen Sympathien hast du in diesem Metier sicher nicht zu rechnen. Erst recht nach Metternich.«
Pirlo seufzt. »Was hätte ich denn damals anderes machen sollen?«
»Darum geht es nicht. Du hast getan, was du getan hast. Viel riskiert. Viel gewonnen. Den Fall. Die Aufmerksamkeit. Die Reputation. Daran musst du dich jetzt messen lassen, ob du willst oder nicht. Vielleicht ist es sogar ganz gut, dass der nächste große Fall wieder durch die Presse geht. Vielleicht aber auch nicht. Das hängt letztlich vor allem von dir ab und davon, was du daraus machst.«
Pirlo nimmt einen Schluck Wein. »Ich weiß.«
»Gut.« Einen Augenblick schweigen sie. Trinken. Sehen in den dunkler werdenden, blauen Abendhimmel. Dann fragt Arland: »Erlaubst du mir, etwas zu sagen, das du nicht hören willst?«
»Machst du doch sowieso.«
Arland lacht. Sie stehen auf dem kleinen Balkon, der zu Arlands Büro gehört. Starprofessor zu sein, das bringt auch Privilegien mit sich. Als Arland Pirlo freundschaftlich auf die Schulter klopft, verschiebt sich bei diesem kurz der Horizont. Der Exzess nach dem Abschied bei Ohmsen ist für solche Abenteuer wie ein Glas Rotwein am Abend eindeutig noch nicht lange genug her.
»Also?«
»Du kannst das nicht allein machen, Junge.«
Pirlo schmunzelt. Er mag diese Formulierung. Arland hat keine Ahnung von seinen Familienverhältnissen. Nach allem, was Pirlo weiß, sind sie ihm auch egal. Als Pirlo allein zur Dissertationsfeier kam, hatte Arland kein Wort gesagt. Keine Frage, kein Kommentar. Nur das Du. Die Bezeichnung »Junge« gab es schon vorher. Wenn Arland wollte, nahm er die Position als Doktorvater persönlich.
»Was meinst du?«, fragt Pirlo.
»Das, was ich gesagt habe.« Arland nimmt einen kleinen Schluck. »Wenn du mich fragst, bekommst du das nicht allein hin. Du hattest bei Metternich Glück.« Pirlo widerspricht nicht. Arland fährt fort: »Damals hattest du ein ganzes Team im Rücken. Jetzt bist du ganz allein. Das kannst du nicht schaffen.«
»Weil du mich für nicht gut genug hältst oder was?« Eigentlich will Pirlo den Aufgeregten nur spielen. Irgendwie nervt es ihn aber trotzdem.
Es ist gut, dass Arland laut lacht. »Ach, Junge, was erzählst du denn für einen Unsinn? Ich bin seit vierundvierzig Jahren in diesem Beruf unterwegs. Das ist eine ganz schön lange Zeit. Glaub mir, währenddessen habe ich eine Menge guter Anwälte kennengelernt. Klug im Kopf, stark im Denken, scharf im Argumentieren. Tausendmal strukturierter als du. Verlässlicher obendrein. Richtig gute Leute. Besser als du ist trotzdem keiner. Aber das weißt du. Du willst es nur noch einmal von dem alten Mann hören.«
Pirlo grinst. »Wenn es das nicht ist, was meinst du dann?«
Arland legt ihm eine Hand auf die Schulter. »Unter uns: Du bist einfach fürs Leben zu blöd.«
»Danke.« Pirlo schmollt.
»Gern.« Der Alte schaut in den Sonnenuntergang und schweigt. Pirlo folgt seinem Blick. Schwer zu sagen, ob Arland das als Witz gemeint hat. Viel spricht nicht dafür.
Nach einer Weile fasst sich Pirlo ein Herz. »Das meinst du ernst, oder?«
Arlands Blick bleibt auf den Horizont gerichtet. »Wie lange warst du bei Ohmsen?«
»Acht Jahre.«
»Wie viele Akten hast du in dieser Zeit bearbeitet?«
»Keine Ahnung. Das waren ja fast nur große Fälle. Dreihundert? Mehr?«
»In wie vielen davon waren die Mandanten normale Menschen und nicht irgendwelche Unternehmen?«
»Vielleicht bei einem Drittel.«
»Und bei wie vielen dieser Fälle hast du die Akten eingescannt und kopiert?«
Pirlo nimmt einen tiefen Schluck. Den braucht er jetzt. »Bei keinem.«
Arland ist noch nicht fertig. »Wann warst du das letzte Mal in der Bibliothek? Und damit meine ich nicht einfach nur Stippvisiten, um zu sehen, ob die Associates ihren Job machen, sondern echte Recherche. Ein Buch in die Hand nehmen, etwas nachsehen, überprüfen. Rechtsprechung. Literatur. Selbst nachlesen, statt eine Zusammenfassung auf den Tisch gelegt zu bekommen. Wann hast du das letzte Mal über der amtlichen Sammlung des Bundesgerichtshofs für Strafsachen gehockt und bist daran verzweifelt, dass es diesen einen Präzedenzfall, der alles anders darstellt und alle Probleme auflöst, einfach nicht gibt?«
Pirlo verdreht die Augen. »Ich sehe, in welche Richtung das geht.«
»Jetzt schon?« Arland schmunzelt.
Pirlo seufzt. »Unterstellen wir, dass ich einsichtig wäre. Was würdest du mir vorschlagen?«
Arland lächelt. »Die Frage ist falsch. Wichtig ist nicht, was. Sondern wen.«
26. Juli. Nachts.
Es könnte alles so einfach sein. Lächeln. Mit der linken Hand die Haare zurückstreichen. Mit der rechten zuschlagen. Rechts, links, rechts. Eine kleine Kombination wie im Training. Nase, Brust, Nase. Nichts wirklich Schlimmes, aber doch genug, um sicherzustellen, dass Ruhe im Karton wäre. Könnte. Wäre. Konjunktiv. In Wahrheit macht sie das alles nicht. Natürlich nicht. Obwohl es drin wäre. Und sich der Typ wirklich darum bewirbt. Er bedrängt ihre Freundin Hannah schon den ganzen Abend. Wo sie auftauchen, ist er auch. Gehen sie auf die Tanzfläche, nähert er sich Hannah von hinten, an der Bar flüstert er ihr ins Ohr, an der Engstelle zur Freietage drängt er sich an sie. Ein Schlag ins Gesicht wäre mehr als angemessen. Rechtmäßig übrigens auch. Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht. Bundesgerichtshof, Urteil vom achten Juni 2016, Aktenzeichen 5 StR 564/15. Nach Bundesgerichtshof, Urteil vom zweiten Juli 2015, Aktenzeichen 4 StR 509/14 gilt das auch für die Nothilfe zugunsten Dritter. So wie hier. Der Typ ist schließlich nicht gegangen, auch dann nicht, als sich Hannah von ihm wegdrehte. Um die Weisheit des Bundesgerichtshofs auf das wahre Leben herunterzubrechen: Aufs Maul hauen wäre völlig in Ordnung. Wäre. Sophie hat es trotzdem nicht getan. Stattdessen hakt sie Hannah einfach unter und wankt mit ihr aus dem Club. Eine besonders gute Idee ist das nicht. Sobald sie an der frischen Luft sind, setzt Hannah sich auf den Bordstein und fängt zu jammern an. Sophie rollt genervt mit den Augen. Sie kennt das. Dann setzt sie sich aber doch dazu und nimmt ihre Freundin in den Arm. Die das natürlich nicht will.
»Warum hast du das gemacht?«, fragt Hannah mit schwerer Zunge.
»Was?«
»Den Typen vergrault.«