Geschlecht. Zahl. Fall.

Marlene Streeruwitz

Geschlecht. Zahl. Fall.

Vorlesungen 2021.

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Marlene Streeruwitz

Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bremer Literaturpreis und den Franz-Nabl-Preis. Ihr Roman »Die Schmerzmacherin.« stand 2011 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien der Roman »Flammenwand.« (Longlist Deutscher Buchpreis). 2020 wurde Marlene Streeruwitz mit dem Preis der Literaturhäuser ausgezeichnet.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

»Geschlecht. Zahl Fall.« Diese Grundformel der Grammatik enthält die Bedingungen, aber auch die Grenzen unseres Sprechens. Marlene Streeruwitz analysiert in ihrem Essay, wie Herrschaft über Sprache hergestellt wird und unser Denken regiert. Nur die Literatur vermag es, diese Muster zu aufzubrechen. Aber was heißt es, in Zeiten von Trump und Lockdown Literatur zu schreiben? »Alles, was ich je geschrieben habe, war schon immer dieses Hinwegkommen über die aufgetragenen Sprachlosigkeiten.«

 

Mit ihrer Vorlesung eröffnete Marlene Streeruwitz im Frühjahr 2021 die neu gegründete Joseph-Breitbach-Poetikdozentur und gewährt mit bisher unveröffentlichten Schauspiel- und Prosatexten Einblick in ihre Werkstatt. Aufgrund der Corona-Pandemie wurde die Joseph-Breitbach-Poetikdozentur in zwei Streaming-Veranstaltungen abgehalten. Für dieses Format hat Marlene Streeruwitz die ursprünglich geplanten fünf Vorlesungen in die vorliegende Form umgearbeitet. 

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Büro KLASS, Hamburg

Coverabbildung: Eigene Collage von Büro KLASS (Sonja Steven)

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491489-3

Fußnoten

Siehe Seite 97108.

Bertolt Brecht: Werke. Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22, S. 554.

www.dwds.de Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Siehe Seite 109118.

Siehe Seite 119139.

Eduard Winter (Hg.): Robert Zimmermanns philosophische Propädeutik und die Vorlagen aus der Wissenschaftslehre Bernard Bolzanos. Wien 1975. S. 198.

 

Marlene Streeruwitz

Das Publikum lachte. Ich lachte nicht.

Alceste, gesungen von Hanan Alattar, hatte gerade auf Weisung von König Minos das Los gezogen, wer in das Labyrinth geschickt und dem Minotaurus vorgeworfen werden soll. Das Los fällt auf Carilda, aber Teseo will an ihrer statt zum Minotaurus hinabsteigen und das Monster besiegen.

Der Regisseur dieser Aufführung von Händels Arianna in Creta, Christopher Alden, ließ Alceste das Los aus einer altmodischen Losmaschine ziehen. Alceste musste zuerst an einer Kurbel drehen, die Lose in dem Drahtkorb durcheinanderzuwirbeln. Dann war eine Klappe zu öffnen. Die Hand war in den Drahtkorb zu zwängen, um an das Los zu kommen. Es handelte sich um ein antikes Gerät, aus dem der Bingocaller beim Spiel die Bälle holt und die jeweils gezogene Zahl ansagt. Diese Zahlen tragen die Mitspielenden in ihre Tabellen ein, und wenn eine mitspielende Person alle erforderlichen Zahlen angekreuzt hat, ruft sie »Bingo« und bekommt einen Preis.

Die Oper Arianna in Creta von Georg Friedrich Händel wurde 1734 in London uraufgeführt. Wie jedes Projekt kultureller Äußerung ist diese Oper in mehrfacher Hinsicht auf diesen Zeitpunkt zu beziehen. Händel war da nicht nur Komponist dieser Oper, er war auch Impresario. Arianna in Creta wurde im Jänner 1734 uraufgeführt, nachdem im Dezember 1733 Nicola Porporas Oper Arianna in Nasso im Lincoln’s Inn Theatre gegeben worden war. Das war eine Produktion der »Opera of the Nobility«, einer Gesellschaft, die in Konkurrenz zu Händels King’s Theatre in the Haymarket gerade gegründet worden war. Die »Opera of the Nobility« konnte mit der Unterstützung Fredericks (Friedrich Ludwig von Hannover), Prince of Wales, als Ausdruck seiner Opposition

So ein Text. Jeder Text hat viele Autonomien. Wie es ja überhaupt darum geht, die Abstrakta in einer Wendung gegen die Dominanzgewalt des Singulars dieser Worte in den Plural zu wenden. Wahrheit und Frieden. Glück und Unglück. Der Mensch. Moral. Ethik. Die

Für mich als katholisch sozialisierte Person war das die romantische Liebe, die die vollkommene Selbstaufgabe verlangt. In der von der katholischen Kirche zur einzigen Möglichkeit erklärten Heteronomie war der Singular Liebe also erst die Liebe zu Jesus in vollkommener

Die Wertediskussionen unserer Kulturen handeln von dieser Aufgabe des Singulars. Kulturell. Der Singular wird uns einerseits als einzige Möglichkeit und Ziel vorgelegt. Andererseits. Im Antifaschismus. Im Antirassismus. Zunächst ging es um die Infragestellung der Singulare. Aber. Die Macht dieser Grammatik der Macht: Wir haben zwar weniger bekommen oder zustande gebracht, als diese Singulare uns versprochen oder abgefordert hätten. Denn. Es sind Lebenswirklichkeit leugnende Totalitäten, die diese Singulare herstellen. Und. Die kein

Denn. Diese Singulare anzugreifen. In Frage zu stellen. Abzulehnen. Das ist das Feld der jeweiligen Hegemonien. Die Auswahl des Inhalts der Singulare. Die Auswahl der Bedeutungen. Das ist die Macht der Herrschaften. Auf diesem Feld war und ist die Deutung all dieser Singulare die Waffe. Es sind diese Singulare, die gelebt werden müssen. Glück. Not. Angst. Tod. Aber wie zu sehen ist. Die Kritik am Singular der Abstrakta scheint durch eine neuerliche Festigung neuerlicher Füllung des Singulars zu neuen Normen der Politik des Post-Relativismus zu führen. Die laufende Verhandlung von Fragen wie: Wer darf wem sexuelle Vorschläge machen. Wer darf für welche Gruppe sprechen. Wer darf welche Sprache wie verwenden. Wer ist legitim. Wer ist verdächtig. Wer darf welche Identität behaupten. Welche Identitäten sind zulässig. Welche nicht. Diese neuen Normen regeln heute

Der Singular in den Singularen. Geiselnahmen sind das. Geiselnahmen, die die Geiseln selbst ausführen und, in die Geiselhaft genommen, sie zwingen, sich selbst in Schach zu halten. Christlicherweise war es das freundlich-liebevoll konstruierte Gewissen, das uns an den Singular des deklariert Richtigen auslieferte. Ideologischerweise waren es die jeweiligen Deutungen von Abstrakta wie Volk, Zukunft, Ehre, Land. Immer aber geht es um vorgeschriebene Eindeutigkeiten als Ziel. Natürlich erinnert dieser Singular daran, dass es sich bei den Grundlagen unserer Kulturen um gewaltsame Eroberungen handelt. Der Singular der Abstrakta ist das Erbe daraus in der Herrschaft über auch die innere Welt der Geiseln. Im Protestantismus ging es um nichts anderes als sich zumindest aus dem Singular des Katholischen zu befreien.

. In der Aufführung von in New York. Längst sind wir von der sieghaften Eindeutigkeit moralisch-ethischen Wandels entfernt, wie sie in den Figuren barocker Opern zum Gegenstand künstlerischer Reflexion gemacht wurden. Der Verlauf der Geschichte in der Zeit hat uns in unseren Kulturen an einen Punkt gebracht, an dem die Liebe mit der Pflicht vereinbar geworden ist. Es hat Revolutionen und Kriege gebraucht, dem einzelnen Mann Selbstbestimmung in Liebe und Geschlecht zu erobern. Die Liebe ist – fast – nicht mehr mit jenen zerstörerischen Konsequenzen verbunden, die die gesellschaftliche Ordnung und die darin eingeschriebenen Pflichtverhältnisse niederreißen, weil es diese gesellschaftliche Ordnung nicht mehr gibt. Zumindest in unseren Verfassungen ist das so bestimmt. In unseren Verfassungen ist ja auch jeweils festgelegt, die Herrschaft des Patriarchats sei außer Kraft gesetzt. Die kulturelle gesellschaftliche Realität. Jedenfalls in Österreich. Die kulturelle Realität. Also das zu lebende Leben. Die kulturell gesellschaftliche Realität ist eine andere.

7519451867