Chimamanda Ngozi Adichie
Trauer ist das Glück, geliebt zu haben
Aus dem Englischen von Anette Grube
FISCHER E-Books
Chimamanda Ngozi Adichies Bücher werden in 37 Sprachen übertragen. Mit ihrem TED-Talk »We Should All Be Feminists« verankerte sie den Feminismus in der Popkultur. Ihre Romane waren für den Booker Prize nominiert, erhielten den Orange Prize for Fiction und den Internationalen Hermann-Hesse-Preis. »Americanah« wurde mit dem National Book Critics Circle Award ausgezeichnet. 2019 erhielt sie den Kasseler Bürgerpreis »Das Glas der Vernunft«. 1977 in Nigeria geboren, lebt sie in Lagos und den USA.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Ein ergreifendes, zutiefst persönliches Buch über den Tod des Vaters: Wer trauert, erfährt die Liebe neu.
Chimamanda Adichies neustes Buch ist eine zutiefst persönliche Meditation über den Verlust ihres Vaters und zugleich eine Beschreibung der Lücke, die die Pandemie in das Leben von Millionen gerissen hat. Eindringlich schildert Adichie, was geschieht, wenn man wochen-, ja monatelang in Washington warten muss, um nach Nigeria reisen zu können und dort Abschied zu nehmen. Was geschieht, wenn die Familie nur in Video Calls versuchen kann, den Verlust aufzufangen und der Körper vom Weinen wund wird? In der Einsamkeit der Ferne werden die Erinnerungen ungenau und die Sehnsucht nach Trost größer.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Notes on Grief« bei Alfred A. Knopf, a division of Penguin Random House LLC, New York, and in Canada by Alfred A. Knopf Canada, a division of Penguin Random House Canada Limited, Toronto.
Copyright © 2021 by Chimamanda Ngozi Adichie
All rights reserved
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Schiller Design, Frankfurt
Coverabbildung: Lossapardo
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491517-3
In memoriam
James Nwoye Adichie
1932–2020
Mein Bruder in England organisierte jeden Sonntag unsere Zoom-Meetings, unser ausgelassenes Lockdown-Ritual, zwei Geschwister schalteten sich aus Lagos zu, drei aus den Vereinigten Staaten sowie meine Eltern, manchmal mit Hall und Rauschen, aus Abba, unserer (aus vier Dörfern bestehenden) Heimatstadt im Südosten Nigerias. Am 7. Juni war mein Vater dabei, wie üblich war nur seine Stirn auf dem Bildschirm zu sehen, weil er nie genau wusste, wie er das Handy während dieser Videoanrufe halten sollte. »Halt dein Handy ein bisschen tiefer, Daddy«, sagte stets einer von uns. Mein Vater machte sich wegen eines neuen Spitznamens über meinen Bruder Okey lustig, dann sagte er, dass es kein Abendessen gegeben habe, weil sie spät zu Mittag gegessen hatten, und schließlich sprach er von dem Milliardär in der nächsten Kleinstadt, der auf das angestammte Land unseres Dorfes Anspruch erhob. Er fühlte sich etwas unwohl, hatte schlecht geschlafen, doch wir sollten uns keine Sorgen machen. Am 8. Juni fuhr Okey nach Abba, um ihn zu besuchen, und sagte, dass er müde wirke. Am 9. Juni sprach ich nur kurz mit ihm, damit er sich ausruhen konnte. Er lachte leise, als ich wie üblich spielerisch einen Verwandten imitierte. »Ka chi fo«, sagte er. »Gute Nacht.« Es waren seine letzten Worte zu mir. Am 10. Juni war er nicht mehr da. Mein Bruder Chuks rief mich an, um es mir zu sagen, und ich brach zusammen.
Meine vier Jahre alte Tochter sagt, dass ich ihr Angst einjagte. Sie geht auf die Knie, die kleinen geballten Fäuste heben und senken sich, um es mir zu demonstrieren, und während sie mich nachahmt, sehe ich mich selbst, wie vollkommen aufgelöst ich war, wie ich schrie und auf den Boden trommelte. Die Nachricht ist wie eine grausame Entwurzelung. Ich werde aus der Welt gerissen, die ich seit meiner Kindheit gekannt habe. Und ich leiste Widerstand: Mein Vater hat nachmittags die Zeitung gelesen; mit Okey über das Rasieren vor seinem Termin mit dem Nierenspezialisten in Onitsha am nächsten Tag gescherzt, am Telefon mit meiner Schwester Ijeoma, die Ärztin ist, über die Untersuchungsergebnisse aus dem Krankhaus gesprochen, wie also kann es sein? Aber da ist er. Okey hält meinem Vater das Handy vors Gesicht, und mein Vater sieht aus, als würde er schlafen, die Züge entspannt, ruhig und schön. Unser Zoom-Gespräch ist jenseits von surreal, wir weinen und weinen und weinen, in unterschiedlichen Teilen der Welt, blicken ungläubig auf den Vater, den wir lieben, der jetzt reglos in einem Krankenhausbett liegt. Es geschah ein paar Minuten vor Mitternacht nigerianischer Zeit, Okey an seiner Seite und Chuks am Telefon, mit eingeschaltetem Lautsprecher. Ich starre auf meinen Vater. Das Atmen fällt mir schwer. Ist es das, was man Schock nennt, dass sich die Luft in Klebstoff verwandelt? Meine Schwester Uche sagt, dass sie es einem Freund der Familie gerade als Nachricht mitgeteilt hat, und beinahe schreie ich: »Nein! Sag es niemandem, denn wenn wir es den Leuten sagen, wird es wahr.« Mein Mann versucht mich zu beruhigen: »Atme langsam, trink Wasser.« Mein Morgenmantel, mein Hauptkleidungsstück während des Lockdowns, liegt als Haufen am Boden. Später wird mein Bruder Kene im Scherz sagen: »Hoffentlich erfährst du schlechte Nachrichten nie in der Öffentlichkeit, wenn du dir im Schock die Kleider vom Leib reißt.«
Sag es mir, sag mir sofort, wer gestorben ist. Ist es Mummy?