Christine Nöstlinger
Das Austauschkind
Mit Bildern von Barbara Jung
FISCHER E-Books
Christine Nöstlinger (1936–2018) wurde in Wien geboren und wuchs im Arbeitermilieu der Wiener Vorstadt auf, wo sie nach eigener Aussage als ›besseres Kind‹ galt, da ihre Mutter einen Kindergarten leitete und ihr Großvater ein eigenes Geschäft besaß. Sie studierte Graphik und widmete sich seit 1970 ganz dem Schreiben. Sie hat über hundert Bücher für Kinder und Jugendliche veröffentlicht, die in viele Sprachen übersetzt und u.a. mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis und dem Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis für Literatur gewürdigt wurden.
Barbara Jung, geboren in Karlsruhe, studierte Kommunikation an der Fachhochschule Mainz. Schon während des Studiums war klar, dass ihr Arbeitsfeld das der Illustration sein würde. Seit ihrem Diplom arbeitet sie als freischaffende Illustratorin im Bereich Kinder- und Jugendbuch, Schulbuch und für Agenturen. Am liebsten zeichnet sie für Projekte mit originellen Charakteren und mit schrägem Humor.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
So hat Ewald sich den Schüleraustausch nicht vorgestellt! Statt des anständigen Tom kommt dessen Bruder Jasper in Ewalds Familie und versetzt mit seinem eigenartigen Benehmen alle in Schrecken. „Jasper, the devil“ hält nichts von Anstand, er futtert tonnenweise Pommes, verspielt sein Geld im Spielautomaten und klaut im Supermarkt Schokolade. Und dann – verliebt er sich auch noch. Schwierige Zeiten für Ewald und seine Familie!
Christine Nöstlingers Klassiker der Kinder- und Jugendbuchliteratur stand auf der Auswahlliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis. Mit neuen Illustrationen von Barbara Jung.
Von Christine Nöstlinger außerdem bei Sauerländer erschienen:
Die Geschichten von der Geschichte vom Pinguin
Rosa Riedl Schutzgespenst
Die verliebten Riesen
Die feuerrote Friederike
Mehr Geschichten von Mini
Der schwarze Mann
Geschichten von Mini
ABC für Großmütter
Anna und die Wut
Neuausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2021 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Erstmals erschienen 1982 bei Jugend und Volk Verlagsgesellschaft m. b. H., Wien-München
Covergestaltung: Norbert Blommel, MT-Vreden unter Verwendung einer Illustration von Barbara Jung
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0356-4
Ich heiße Ewald Mittermeier und bin zu Anfang der Geschichte dreizehn Jahre und eine Woche alt. Am Ende der Geschichte werde ich dreizehn Jahre und sieben Wochen alt sein.
Was ich niederschreibe, ist, wenn ich meinen Deutschlehrer richtig verstanden habe, ein sogenannter »Erlebnisbericht«, weil ich es wirklich erlebt habe. Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen. Ob mir das gelingt, weiß ich allerdings nicht, da die sechs Wochen, von denen ich berichten will, sehr ereignisreich und recht aufregend für mich und meine Familie waren. Und im Berichten von aufregenden Ereignissen bin ich kaum geübt, da bei uns zu Hause bisher nie etwas Aufregendes geschehen ist. (Wenn ich in der Schule einen Aufsatz schreiben musste, zum Beispiel über einen Sonntag bei uns zu Hause oder so etwas Ähnliches, habe ich immer etwas erfinden müssen. Wirkliche Sonntage oder etwas Ähnliches bei uns zu Hause hätten keinen ordentlichen Aufsatz ergeben.) Meine Mutter sagt, das kommt davon, weil wir ein harmonisches Familienleben haben. Meine Schwester behauptet, das stimmt nicht. Wir haben gar keine Harmonie. Es ist bloß stinklangweilig bei uns.
Egal wer recht hat, ich bin nur an eintönige Regelmäßigkeiten gewöhnt und beherrsche daher das Niederschreiben von Aufregungen nicht gut. Das merke ich jetzt schon, weil ich draufkomme, dass ich die Geschichte gar nicht eine Woche nach meinem dreizehnten Geburtstag anfangen lassen kann. Ich muss noch gut fünf Wochen vorher beginnen.
Es war an einem Freitag, in der großen Pause. Ich saß in meiner Klasse an meinem Tisch und aß einen Apfel, der mir nicht schmeckte, weil er sehr mehlig war und ums Kernhaus herum ganz braun. Da kam der Herbert Pivonka vom Klo in die Klasse zurück. Er ging an meinem Platz vorbei und sagte: »Elsi, deine Mutter steht vorn am Gang beim Englischlehrer und redet mit ihm!« Etliche in der Klasse nennen mich »Elsi«. Sie finden das unerhört komisch. Sie haben nämlich einmal meine Geburtsurkunde gesehen und darin meine versammelten Vornamen entdeckt: Ewald Leonhard Stefan Isidor. Und der Wolfgang Emberger hat leider erkannt, dass die Anfangsbuchstaben dieser Namen »Elsi« ergeben.
Die vier Vornamen habe ich deswegen, weil meine Mutter für Ewald war (nach ihrem Bruder), meine Oma für Leonhard (warum, weiß ich nicht) und mein Papa und meine Großmutter für Stefan waren. (So würde ich gern mit dem ersten Namen heißen.) Der schreckliche Isidor ist nach meinem Großonkel Isidor. »Um ihm eine kleine Freude zu machen!«, sagen meine Eltern. Der Großonkel Isidor ist nämlich ziemlich reich. Und es könnte sein, dass er uns etwas vererbt, wenn wir ihm oft eine kleine Freude machen. (Aber alle meine Cousins heißen hintendran mit zweitem, drittem oder viertem Vornamen Isidor. Wegen des blöden Namens allein habe ich also sicher keine Chance auf eine Erbschaft!) »Was will denn der Englischlehrer von deiner Mutter?«, fragte mich der Herbert Pivonka.
Der Englischlehrer wollte garantiert nichts von meiner Mutter! Meine Mutter wollte höchst wahrscheinlich etwas von ihm! Einen Englisch-Zweier in mein Zeugnis wollte sie. Es war damals gerade einen Monat vor Schulschluss, und meine Noten standen schon ziemlich fest. Lauter Einser und Zweier hatte ich zu erwarten. Ein »echtes Vorzugszeugnis« also. Nur in Englisch, da stand ich zwischen »gut« und »befriedigend«, den Schularbeiten nach. Und da ich mündlich auch gerade kein Genie in Englisch war, tippte ich auf ein Befriedigend.
Meine Mutter liebt erstklassige Vorzugszeugnisse. Ich glaube, ein Zeugnis von mir oder von meiner Schwester, in dem nichts als »Sehr gut« drinstünden, würde ihr mehr Freude machen als ein schwarzer Mantel aus Naturnerz; obwohl so ein Mantel ein sehr großer, unerfüllter Wunsch von ihr ist.
Und nun schien meine Mutter zum Englischlehrer gegangen zu sein, um ihn zu einem Gut für mich zu überreden. Damit nicht ein hässliches Befriedigend mein Zeugnis verunziere! Sie hatte mir das zwar nicht gesagt, aber ich kenne die Frau! Mir war das sofort klar. Dem Herbert Pivonka sagte ich es natürlich nicht. So etwas, fand ich, konnte ich überhaupt niemandem in der Klasse sagen. Weil es total lächerlich war. Wo wir mindestens fünf Kinder in der Klasse hatten, die vor einer Englischnachprüfung zitterten, und zwei, denen das Nichtgenügend schon sicher war.
Ich schwindelte dem Herbert Pivonka vor, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, was der Englischlehrer von meiner Mutter wolle, und hoffte dabei inständig, dass sich der Englischlehrer gegen das Gut zur Wehr setzen werde. Weil es mir einfach nicht zustand. Und weil ich keine Noten geschenkt haben will! Die anderen in der Klasse merken das ja. Und dann wird man unbeliebt und gilt allgemein als Streber oder als Weinberl. Und Streber oder Weinberl ist wirklich das Aller-Allerletzte, was ich sein mag! Zu Mittag, zu Hause dann, bestätigte sich mein Verdacht aus der Zehnerpause. Meine Mutter gab zu, beim Englischlehrer um ein Gut für mich geschnorrt zu haben. Sie war deprimiert, weil sie mit ihrer Schnorrerei keinen Erfolg gehabt hatte. »Ich versteh das gar nicht,« klagte sie, »sonst war er immer so einsichtig und verständig! Der muss heute einen schlechten Tag gehabt haben!« Der Englischlehrer hat keinen schlechten Tag gehabt. Der war sicher erst grämig geworden, als ihn meine Mutter auf dem Gang, in der Pause, überfallen hatte. Er kann es nämlich nicht leiden, wenn ihn Mütter, während er seine Wurstsemmel mampft, ansprechen und mit Notenproblemen belästigen. Das hat er uns schon oft gesagt. »Wozu habe ich denn eine Sprechstunde«, sagt er. »Ich finde es unerhört und aufdringlich, mich in meiner sauer verdienten Pausenruhe zu stören! Richtet das bitte euren verehrten Eltern aus!« Ich habe das zu Hause auch ausgerichtet. Aber meine Mutter kann sich einfach nicht vorstellen, dass dem Englischlehrer eine Wurstsemmel wichtiger ist als mein Zeugnis.
Ich setzte mich also beruhigt zum Mittagessen. Es war ein Küchen-Mittagessen. Wenn weder der Papa noch meine Schwester zu Hause sind, essen die Mama und ich in der Küche. Es gab Spaghetti und Sugo. Ich stopfte gerade eine Ladung aufgewickelter Nudeln in den Mund, da sagte meine Mutter: »Er meint, wir sollten dich nach England mitschicken!«
Die vielen Nudeln im Mund machten mich für einen Moment sprachlos. Als ich sie hinuntergewürgt hatte, fragte ich: »Wer meint das?« (Ich wusste natürlich, dass die Mama vom Englischlehrer gesprochen hatte, aber mich ärgert ihre Art, Gedanken zu äußern. Schließlich hatten wir schon eine halbe Stunde nicht mehr von ihrer Schnorrerei beim Englischlehrer geredet, sondern von ganz anderen Sachen. Da kann sie doch nicht einfach annehmen, dass jeder weiß, wer mit »er« gemeint ist!)
»Na, der Englischlehrer! Wer denn sonst?«, sagte meine Mutter und schaute mich kopfschüttelnd an. »Er wäre sehr dafür«, fuhr sie fort. »Wegen deiner Aussprache! Das Befriedigend, sagt er, bekommst du nur, weil du mündlich nicht gut bist. Und du meldest dich auch nie!« Ihr Ton war ungemein vorwurfsvoll.
Ich schob den Spaghettiteller von mir weg. Ich hatte keine Lust mehr auf weitere Nahrung.
Die Mama stand auf, holte ihre Handtasche und nahm ein blassgrünes Blatt Papier heraus. »College-Aufenthalt in Oxford. 15. Juli bis 15. August«, las sie sich murmelnd vor.
Der Inhalt des blassgrünen Zettels war mir bekannt. Ich hatte so einen Zettel seit Wochen in meiner Schultasche. Man hatte diese Zettel in allen Klassen verteilt. »Es sind noch ein paar Plätze frei«, sagte meine Mutter. »Ich werde das am Abend mit dem Papa besprechen!« Dann legte sie den grünen Wisch auf die Küchenkredenz, auf die Brotdose, stapelte unser Mittagessengeschirr in die Spülmaschine und schaltete sie ein. Und ich, da bin ich total sicher, war ganz blass im Gesicht. Grauweiß wie Großstadtschnee. Das passiert mir meistens bei solchen Anlässen. Da verlässt alles Blut meinen Kopf und rinnt in den Bauch hinunter und kocht dort brodelnd heiß und verbittert wallend. Weil man wirklich wütend werden kann, wenn man nie um seine Meinung gefragt wird und um seine Wünsche! Ganz egal, ob es sich um Schafwollsocken, Füllfedern, Englandaufenthalte, Unterhosenlängen oder Ausflugsziele handelt. Meine Mutter weiß, was für mich gut ist. Und wenn sie es nicht ganz genau weiß, fragt sie meinen Vater. Auf die Idee, dass sie auch mich danach fragen könnte, kommt sie nicht!
Das ist ein großes Problem in meinem Leben, über das ich schon oft und lange nachgedacht habe. Beim Nachdenken bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich mich wahrscheinlich viel zu wenig wehre. In der Volksschule, seinerzeit, da saß einer neben mir, der Martin Hodina, der hatte mein Problem sicher nicht. Der brüllte immer, wenn ihm etwas nicht passte. Ganz schrill und laut und hoch, wie eine Fabriksirene bei Arbeitsschluss, brüllte er. Seine komplette Familie hatte schreckliche Angst vor diesem Sirenengebrüll. Den fragte jeder dreimal nach seinen Wünschen, um sich das fürchterliche Gebrüll zu ersparen. Aber damit hätte ich früher anfangen müssen! Mit dreizehn Jahren geht das nicht mehr. Außerdem braucht man, glaube ich, zum Losbrüllen viel Blut im Kopf. Der Hodina Martin hat immer einen ganz blutroten Kopf gehabt, wenn er gebrüllt hat.Und mein Blut, das habe ich ja bereits erwähnt, rinnt bei solchen Brüllanlässen immer in den Bauch hinunter und brodelt dort.
Meine Schwester sagt, ich bin einfach zu gutmütig und zu träge, um mich zu wehren. Aber das stimmt garantiert nicht. Wenn ich gutmütig wäre, würde mein Blut im Bauch ja nicht wutbrodeln. Und bei trägen Menschen, glaube ich, da wabbelt das Blut im Bauch höchstens. Wenn es sich überhaupt die Mühe nimmt, vom Kopf in den Bauch zu rinnen. Wenn ich das meiner Schwester erkläre, lacht sie und sagt:
»Waldi, dann gibt’s nur noch eine Möglichkeit! Dann bist du einer der seltenen Fälle von Kind, bei denen die gute Erziehung Früchte getragen hat! Gut erzogene Kinder widersprechen eben nicht!« Vielleicht hat meine Schwester recht damit.Aber so gut erzogen, dass ich mich widerspruchslos in ein Oxforder College verfrachten lasse, bin ich nun gottlob auch wieder nicht!
Es gibt sicher haufenweise Kinder, die gern in so ein College fahren würden. In unserer Klasse waren damals fünf Stück schon fix angemeldet und freuten sich enorm. Drei Stück versuchten noch, ihre Eltern zur Fahrerlaubnis zu überreden. Und zwei waren todtraurig, weil sie nicht nach England ins College fahren durften.
Aber ich hatte überhaupt keine Lust auf ein englisches College unter Leitung des Herrn Prof. Tannegeist. Und jeder, der mich auch nur ein bisschen kennt – und meine Mutter sollte eigentlich zu diesem Personenkreis zählen –, hätte das wissen müssen. Ich mag weder Skikurse noch Landschulwochen. Ich mag überhaupt nichts, wo ein Haufen Schüler unter Obhut von ein paar Lehrern rund um die Uhr leben muss! Skikurse und Schullandwochen haben wenigstens das Gute, dass während ihrer qualvollen Dauer die auch nicht angenehmen Schulstunden entfallen. Doch ein Oxford-College findet in der Ferienzeit statt. Da sehe ich nur Nachteile: mieses Frühstück, noch mieseres Mittagessen, eingeteilte Freizeit, einen Schnarcher im Stockbett über mir, dreckige Socken zum Selberwaschen, Ausflüge mit vorher und hinterher Abzählen, ob auch keiner verlorengegangen ist, und wenn du nur hundert Schritt hinter dem Rudel hergehst oder drei Minuten einmal allein die Hinterseite von einem Kirchenaltar betrachten willst, dann wirst du gleich angekeppelt, dass du dich ausschließt und abhandenzugehen drohst!
Und überhaupt und sowieso! Mir reicht es bei weitem, Lehrer und Klassenkollegen sechsmal die Woche, vormittags, das Schuljahr über, zu ertragen. Freiwillig und in den Ferien nehme ich das nicht auch noch auf mich.
Diese Gedankengänge versuchte ich meiner Mutter am Nachmittag klarzulegen. Meine Mutter ging nicht auf sie ein. Stur erklärte sie bloß, dass ein College-Aufenthalt in England meinen Wortschatz und meine Aussprache enorm verbessern werde und dass ich dann im nächsten Schuljahr in Englisch spielend auf ein Gut oder Sehr gut kommen könne. Und sie hielt mir auch vor, dass ich ein undankbares Kind sei. Nicht so ganz direkt natürlich. So ist meine Mutter nicht. »Von Kindern darf man sich keinen Dank erwarten«, ist ja ein ständiger Spruch von ihr. Also kann sie mir auch nicht direkt Undankbarkeit vorwerfen. Sie sagte aber an die zehnmal: »Andere Kinder wären heilfroh, wenn sie Eltern hätten, die ihnen einen Englandaufenthalt ermöglichen! So billig ist das schließlich auch wieder nicht! Und so wohlhabend, dass das für uns ein Klacks wäre, sind wir beileibe nicht!«
Mein Vater dann, am Abend, war auch gleich dafür, mich nach England zu verfrachten. Weniger wegen der einwandfrei gezischten th’s, die davon fürs nächste Schuljahr zu erwarten gewesen wären, sondern aus tiefer Besorgnis um mein Wesen.
»Ewald«, sagte mein Vater nach der Zeit im Bild zu mir, »Ewald, du wirst merken, wie dir das taugen wird! Einmal einen ganzen Monat lang mit Gleichaltrigen zusammen! In deinem Alter gibt es nichts Schöneres! In deinem Alter sind die Freunde das Wichtigste im Leben! In Oxford wirst du richtige Freunde bekommen! Du wirst sehen, Ewald, ein Ferienlager, das schweißt Freundschaften zusammen!«
Logo! Das hätte ich mir ja denken können. Seit meiner Kindergartenzeit ist mein Vater bekümmert und besorgt, weil ich keine »richtigen« Freunde habe. Andauernd löchert er mich deswegen. Er hat in seiner Jugendzeit angeblich immer mindestens vier »richtige« Freunde gehabt und war der verehrte Boss von diesen vier Knaben. Als ob ich ein Fall für den Psychologen wäre, schaut er mich jedes Mal an, wenn ich ihm wieder nichts von »richtigen« Freunden erzählen kann. Weil er nämlich nicht begreifen will, dass ich absolut keine Sehnsucht nach »richtigen« Freunden habe. Er denkt, ich kriege einfach keine. Keiner mag mich zum Freund haben, denkt er. Und wenn mich keiner zum Freund haben will, folgert er, muss bei mir irgendetwas nicht stimmen. Und das beunruhigt ihn natürlich. Er hätte gern einen Sohn, bei dem alles stimmt.
Meine Eltern hätten mich also, trotz meiner Proteste, glatt nach Oxford geschickt, wäre mir meine Schwester nicht zu Hilfe gekommen. Meine Schwester, die Sybille, ist fünfzehn Jahre alt und ein äußerst kluges Mädchen. Enorm gescheit ist sie sogar. Damit meine ich aber nicht ihr grandioses Kurzzeitgedächtnis, das es ihr möglich macht, einen faden Lernstoff in kürzester Zeit für kurze Zeit in ihren Gehirnwindungen zu fixieren, um sich hurtig auf ein Sehr gut prüfen zu lassen und den ganzen Krempel dann schnell wieder zu vergessen. Sybille ist auch schlau-gescheit! Wie sie gemerkt hat, dass ich mich verzweifelt und erfolglos gegen die Englandtour zu wehren versuche, hat sie mir zugezwinkert und zugeflüstert, dass sie versuchen werde, das Unheil von mir zu wenden. Zuerst hatte ich ja sehr wenig Hoffnung. Aber Bille ist schon eine sehr Abgefeimte! Sie setzte sich mir gegenüber und sagte sehr laut: »Na, Waldi-Bursche, dann wirst du dich ja in Oxford mit der Verena verloben! Die ist ja dein Schwarm, oder?«
»Spinnst?«, fragte ich. Aber ich fragte es ziemlich leise, weil ich ja begriffen hatte, dass Bille irgendetwas plante.
Sybille stupste mich mit der Schuhspitze gegen das Schienbein, blinzelte mir wieder zu und fuhr – noch lauter – fort: »Na logo, Waldi! Wirst schon sehen! Das ist im England-Camp so Brauch. Jede Nacht um Mitternacht, wenn die Lehrer schlafen, gibt’s da Verlobungen im Büschel! Aus meiner Klasse, vorigen Sommer, haben sich vier verlobt!« Sie kicherte vor sich hin. »Und die Gertrud, die darf heuer deswegen nimmer mitfahren.«
Schön langsam kapierte ich, wie die Sache laufen sollte.
»Man kann nie wissen«, murmelte ich, grinste dazu und kam mir ziemlich blöde vor. Natürlich gibt es in den Sommercamps unserer Schule etwas Ähnliches wie ein Liebesleben. Zumindest erzählen die, die mitgefahren sind, nachher viel davon. Aber so eine Art von Liebesleben gibt es ja auch schon auf den Skikursen und den Schullandwochen. Und wenn es mit dem Liebesleben so viel auf sich hat wie mit den »Saufereien«, dann kann das nicht sehr aufregend sein. Bei uns am Skikurs hat einmal der Werwenka Otti heimlich, in die dicken Socken gewickelt, eine Flasche Schnaps mitgenommen. Einen