Wave of Lies

Sarah Epstein

Wave of Lies

Aus dem australischen Englisch von Alexandra Ernst

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Sarah Epstein

Sarah Epstein wuchs in Sydney auf und lebt inzwischen in Melbourne, zusammen mit ihrem Mann, zwei Söhnen und einer Hundedame namens Luna. Sie studierte Graphikdesign, doch Sarah fand schnell heraus, dass nicht das Gestalten von Büchern, sondern das Schreiben sie wirklich glücklich macht. Genau wie ihre Leser. In Australien hat sie bereits zahlreiche Preise gewonnen.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Sechs beste Freunde:

Einer von ihnen fehlt.

Einer ist ein Mörder.

Alle sind schuldig.

 

Vor drei Monaten verschwand Henry Weaver in einer verheerenden Sturmnacht. Für die Polizei ist schnell klar: Abgehauen! Doch als seine beste Freundin ist Chloe sich sicher: Henry wäre nicht weggegangen, ohne sie vorher in seine Pläne einzuweihen. Chloe beginnt, die Ereignisse jener Nacht zu rekonstruieren, und was sie herausfindet, verändert alles. Denn jeder einzelne ihrer Freunde verbirgt ein Geheimnis. Und einer von ihnen ist ein Mörder.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Das englischsprachige Original erschien 2020 unter dem Titel Deep Water bei Allen & Unwin, Crows Nest, Australia.

Text © 2020 by Sarah Epstein

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2021 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: somchaij, shutterstock.com

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-7336-0414-1

Chloe

Heute

Im Abwasserkanal suchten wir Henry zuerst. Dann an den überfluteten Ufern des Shallow Reservoir. Der Sturm der vergangenen Nacht war seit Jahren der stärkste und wildeste in dieser Gegend gewesen. Innerhalb einer Stunde regnete und hagelte es so viel wie normalerweise in zwei Monaten, Äste brachen von den Bäumen ab, und Rinnsteine verwandelten sich in reißende Bäche. Vom Dach des Postgebäudes wurden Wellblechplatten gerissen, und bei Cutler Bend, wo erst vor einem Jahr ein Buschfeuer gewütet hatte, ging eine Schlammlawine ab.

Es war eine Nacht, die alles gründlich durchkaute und wieder ausspuckte. Keiner von uns wollte darüber nachdenken, dass sie womöglich Henry zwischen die Zähne bekommen hatte.

Wir klopften an Haustüren und fragten in den Läden, sahen auch in der Bibliothek und an seinem angestammten Angelplatz nach. Erst am frühen Nachmittag stolperte jemand über ein schlammiges Mountainbike im Wartebereich des Bahnhofs. Es war ordentlich auf dem Ständer abgestellt, und das Vorderrad stand in einem koketten Winkel, als ob es sagen wollte: »Wo bleibt ihr denn?« Anfangs waren wir erleichtert, dass Henry es unbeschadet zum Bahnhof geschafft hatte. Vermutlich hatte er den Nachtzug genommen oder einen der ersten Züge am frühen Morgen. Wir mussten nur ein paar Stunden lang warten, bis er wieder nach Hause kam.

Aus Tagen Wochen.

Und mittlerweile haben sich die Wochen zu Monaten ausgedehnt.

Seit Januar lese ich alles über vermisste Personen, was ich auftreiben kann. Einige Menschen gehen absichtlich fort, sie laufen weg oder brauchen einfach eine Auszeit; andere gehen verloren, ohne es zu wollen, durch einen Unfall oder eine psychische Störung. Manchmal, wie bei Entführungen oder Mord, ist Gewalt im Spiel.

Und wenn eine Person länger als drei Monate nicht auftaucht, dann gilt sie als langzeit-vermisst. Henry ist jetzt seit zwei Monaten und dreißig Tagen fort.

Ab morgen ist er ein Langzeit-Vermisster.

Am nächsten Freitag wird er vierzehn.

Ich habe früher nie großartig über verschwundene Teenager nachgedacht. Die meisten, von denen man in den Social Media liest, tauchen nach ein paar Tagen – ein bisschen zerschlissen – wieder auf und müssen eine Menge Fragen beantworten. Aber abgesehen von der flüchtigen Überlegung, warum sie überhaupt abgehauen waren, hatte ich nie darüber nachgedacht, was in diesen verschwundenen Tagen passiert war, in diesem schwarzen Abgrund zwischen Davonlaufen und ihrem Wiederauftauchen.

Jetzt kann ich an nichts anderes mehr denken.

Wo schlafen diese Kids? Haben sie es warm genug? Haben sie Geld, um sich etwas zu essen zu kaufen? Können sie sich duschen und die Zähne putzen? Fällt es ihnen leicht, einzuschlafen, oder liegen sie stundenlang in der Dunkelheit wach und fühlen sich allein?

Auf einer Website stand, dass eine vermisste Person Opfer sein könnte, was sich total dämlich anhört, so als hätte man sich auf einem Ausflug den Fuß verstaucht. Das erinnert mich an eine Unterhaltung mit Henry ein paar Monate vor seinem Verschwinden. Wir standen an der Tankstelle auf der Bridge Road, von wo aus man die Gleise sehen kann, und Henry blickte einem Zug nach, der gerade aus dem Bahnhof ausfuhr und allmählich Geschwindigkeit aufnahm, während er in Richtung Sydney davontuckerte.

»Wenn ich von hier weggehe«, sagte er zu mir, »dann nicht so wie du. Ich werde nicht immer wieder zurückkommen.«

So, wie er das sagte, hätte man meinen können, dass ich eine Wahl habe. Seit Jahren springe ich zwischen meinen Eltern hin und her wie ein Pingpongball. Nach der Trennung hat sich mein Dad auf jede Sorgerechtsvereinbarung eingelassen, die Mum ihm vorschrieb, weil er nicht wollte, dass wir vor dem Familiengericht landen.

»Aber hier ist dein Zuhause«, sagte ich und schaute von dem Fahrradreifen hoch, den ich gerade aufpumpte. »Wirst du das alles nicht vermissen?«

Henry zuckte mit den Schultern. »Nö. Manchmal, wenn ich aufs Rad steige, dann will ich einfach nur weiterfahren und nicht zurückschauen.« Er fuhr mit der Hand durch sein Haar und setzte dann die grüne Baseballkappe mit dem Lucky-7-Schriftzug wieder auf, die sein Gesicht beschattete. »Erinnerst du dich an diese alten Schwarzweißfilme, die Onkel Bernie so toll findet?«

»Die Western?«

»Ja«, sagte er. »Du weißt schon, wenn der Cowboy am Ende auf sein Pferd steigt und in den Sonnenaufgang reitet. Alle Kinder kommen angerannt und bleiben am Rand der Stadt stehen, bis er nur noch ein winziger Fleck am Horizont ist.

»Mm-hmm.«

»Das bin ich. Auf zu neuen Abenteuern.«

Damals habe ich nur mit halbem Ohr zugehört. Vielleicht habe ich gelacht oder etwas Wegwerfendes gesagt.

Dann habe ich geblinzelt, Henry.

Und jetzt bist du weg.

 

Ich gehe der Länge nach durch den Wartebereich des Bahnhofs und einmal rund um die mit Waschbetonplatten belegte Stelle, wo man Henrys Fahrrad gefunden hat. Seit Januar wurde hier regelmäßig gefegt, vermutlich auch nass gewischt oder der Boden sogar mit einem Schlauch abgespritzt. Jede Spur von Henry wurde weggewaschen, genau wie The Shallows von jenem Sturm durchgespült und ausgewrungen wurde.

Ich kann ihn hier nicht fühlen. Nicht auf eine psychische oder spirituelle Art, an so etwas glaube ich nicht. Ich halte mich an Fakten, Hinweise, an alles, was ich sehen und greifen kann, was mir hilft, die Dinge zusammenzusetzen. Aber ich glaube an Bauchgefühl. Und im Moment kann ich mir einfach nicht vorstellen, wie Henrys nasse Fußspuren von dem Wartebereich hinaus auf den Bahnsteig führen, und genauso schwer fällt es mir zu akzeptieren, dass er ein Ausreißer ist. Er ist wie ein Bruder für mich. Er würde nicht einfach so für immer weggehen, ohne sich zu verabschieden.

Aber vielleicht redet mir das auch nur mein Schuldgefühl ein.

Ich gehe auf den Bahnsteig, wobei ich rechts und links die Gleise entlangblicke. Ein kleines Stinktier huscht über eine Eisenbahnschwelle in ein Büschel totes Gras. Es ist immer noch Nachmittag. Trübe und bewölkt. Ich schließe die

»Tach«, sagt eine Stimme hinter mir.

Ruckartig drehe ich mich um. Ein alter Mann schlurft durch das Eingangsgatter in den Wartebereich. Er legt grüßend seine Finger an den Schirm seiner Mütze und scheint mich nicht zu erkennen, obwohl ich ihn auf der Straße anlächele, seit ich sechs bin.

»Hallo Mr. Milburn«, sage ich. »Ich bin’s, Chloe Baxter.«

Er stutzt und legt den Kopf in den Nacken, um mich durch seine Bifokalbrille zu mustern. Er braucht eine Weile, um das Bild der Sechzehnjährigen, die vor ein paar Monaten von hier wegging, mit der Person in Einklang zu bringen, die zurückgekehrt ist. Als es ihm gelingt, ist ein Zucken seiner Augenbrauen der einzige Hinweis darauf, dass er mich erkennt, obwohl ich meine langen, dunkelblonden Haare abgeschnitten habe und jetzt einen mausbraunen Kurzhaarschnitt trage. Die Sommerbräune meiner Haut ist einem teigigen Weiß gewichen, und statt der luftigen Blumenkleider trage ich ein düsteres, schwarzes T-Shirt und Jeans. So ist das in The Shallows – die Leute tun so, als würden sie sich um ihren eigenen Kram kümmern, und niemand sagt einem offen die Meinung ins Gesicht. Wenn es um Flohmärkte und Grillabende geht, wird Gemeinschaft zwar großgeschrieben, aber sobald auch nur der Hauch einer Missstimmung auftaucht, will niemand etwas damit zu tun haben.

Haben Sie den dreizehnjährigen Henry Weaver gesehen?, steht darauf. Henrys Hautfarbe ist weiß, er ist etwa 1,53 m groß, von schlankem Wuchs, mit blauen Augen und hellbraunen Haaren. Er trägt möglicherweise eine grüne Baseballkappe und schwarze Sneaker und hat einen blau-gelben Rucksack bei sich.

»Würden Sie das bitte im Bowling-Club aufhängen?«, frage ich. »Es sind neue Poster, mit einem anderen Foto.«

Mr. Milburns Lippen werden schmal, als er den Zettel betrachtet. Er und seine Frau waren Nachbarn der Weavers, bis Mrs. Milburn starb. Er kennt Henry und seinen älteren Bruder Mason. Er kennt ihre Mutter.

Andererseits: Wer nicht?

Schließlich nimmt er das Blatt mit seinen von Altersflecken übersäten Händen und mustert Henrys Foto und die Beschreibung.

Henry wurde zuletzt am Abend des 10. Januar in The Shallows in den Southern Highlands von New South Wales gesehen. Möglicherweise ist er an diesem Abend zwischen 22 Uhr und 1 Uhr morgens dort in einen Zug gestiegen.

Ich starre ihm nach, wie er langsam in den Wartebereich schlurft. Ich habe keine Ahnung, was ich darauf sagen soll, denn diese Vorstellung habe ich bislang einfach nicht zugelassen.

Langsam gehe ich wieder zu meinem Koffer. Plötzlich überkommt mich die Einsamkeit mit voller Wucht. Ich wünschte, Dad würde sich beeilen und herkommen. Meine Mutter beklagt sich immer, in den Leuten aus den Southern Highlands würde eine ländliche Uhr ticken, und in den zehn Jahren, die mein Vater hier lebt, sei sein Sinn für Pünktlichkeit vollkommen verkümmert. Aber ehrlich gesagt lässt meine Mutter sowieso kein gutes Haar an dieser Stadt, um zu rechtfertigen, dass sie The Shallows vor drei Jahren den Rücken gekehrt hat.

Ich hole mein Smartphone aus der Tasche und wähle Dads Büronummer. Gleich nach dem ersten Klingeln wird abgehoben.

»Reservoir Motel«, zwitschert eine weibliche Stimme. »Wir haben noch Zimmer frei!«

»Oh, ähm …« Diese Art der Begrüßung ist mir fremd, und erst einmal verschlägt es mir die Sprache. Seit wann hat das Motel einen neuen Namen? »Ist David da?«

»Sie haben ihn gerade verpasst. Er ist zum Bahnhof gefahren, um seine Tochter abzuholen.«

Ich schaue den Railway Parade entlang. »Das bin ich«, sage ich. »Ich bin seine Tochter.«

»Oh, Chloe! Er ist bestimmt gleich da. Hier spricht Luisa. Luisa de Souza.«

Rina de Souzas Mutter? Sie hat uns früher in Jazztanz unterrichtet, dienstags nach der Schule, im Pfadfinderhaus. Luisa war der einzige Mensch, mit dem sich meine Mutter während ihres siebenjährigen Exils in dieser Stadt angefreundet hatte – wenn wir Sergeant Familienkaputtmacher nicht mitzählen. Was ich nie tue.

»David hat sich etwas verspätet«, redet Luisa weiter. »Er hat noch auf den Glaser gewartet. Wir hatten letzte Nacht ein bisschen Ärger.«

Ich will sie fragen, warum sie wir sagt und woher sie so genau über das Kommen und Gehen meines Vaters Bescheid weiß, aber meine Aufmerksamkeit saugt sich an ihrem letzten Satz fest.

»Was für Ärger? Ist Dad okay?«

Meine Stimme klingt klein und abgehackt im Vergleich zu Luisas. Ihre Sätze besitzen eine luftige Dramatik, die durch ihren weichen, portugiesischen Akzent noch verstärkt wird.

»Ja sicher«, sagt sie. »Uns beiden geht es gut. Es war schon ein Schock, aber niemand wurde verletzt. Na ja, außer ihm natürlich. Aber er hat schon geblutet, bevor er überhaupt hergekommen ist.«

»Wer …«, will ich fragen, aber in dem Moment taucht Dads weißer Lieferwagen oben auf dem Hügel auf. »Er ist da. Ich muss los, Luisa.«

»Bis gleich!« Sie legt auf, bevor ich sie fragen kann, wie sie zu dieser Annahme kommt.

Der Lieferwagen fährt durch den Wendehammer vor dem Bahnhof und hält neben dem leeren Fahrkartenschalter an. Die Fahrertür geht auf, und Dad steigt aus, das Gesicht wettergegerbt und voller silbriger Dreitagebartstoppeln.

»Du bist spät dran«, gebe ich zurück.

Dad grunzt zustimmend. Er lässt die Ladeklappe des Lieferwagens herunter und beäugt meinen einsamen Koffer. »Das ist alles?«

»Wie immer.«

Wenn man zwischen zwei Elternhäusern hin und her pendelt, lernt man, seine gesamte Existenz auf koffergroße Dinge zu beschränken. Seine Besitztümer immer wieder ein- und auszupacken, ist ein bisschen so, als würde man versuchen, ein Trauma zu verarbeiten. Wenn man nicht effizient genug handelt, bleibt irgendetwas zurück.

Dad schiebt meinen Koffer zwischen zwei Säcke mit Rindenmulch und dreht sich dann mit ausgebreiteten Armen zu mir um. Er lässt sich länger als gewöhnlich von mir drücken und klopft mir mit seinen schmirgelpapierrauen Handflächen zweimal auf den Rücken, um mir zu signalisieren, dass die Umarmung vorbei ist. Mein Vater hat eine ruppige Art, einen knochentrockenen Humor und raue Kanten, die man für Feindseligkeit halten kann. Aber in Wahrheit fühle ich von ihm mehr echte Zuneigung als von meiner Mutter, die ständig alle Leute umarmt.

»Okay«, sage ich mit einem letzten Blick zum Wartebereich des Bahnhofs, während ich in die Fahrerkabine steige. »Jetzt erzähl mir mal, was gestern Abend im Motel los war.«

Er schaut mich von der Seite her an. »Du hast mit Luisa geredet?«

»Ja. Und darüber unterhalten wir uns auch noch. Aber zuerst will ich wissen, wer das Fenster kaputtgemacht hat.«

 

Den Namen und ein Schulterzucken ist alles, was ich aus Dad herausbekomme, obwohl ich alle Einzelheiten wissen will. Aber er sagt mir weder, womit Mason die Scheibe eingeschlagen hat, noch, ob er wusste, was er tat, oder ob er so besoffen war, dass er nicht mehr oben von unten unterscheiden konnte. Ich beiße mir auf die Zunge und schlucke die Worte hinunter, die mir in den Sinn kommen – Ich hab’s dir ja gesagt –, weil Dad so etwas nicht verdient. In den vergangenen drei Monaten hat er Zimmer Nr. 15 immer freigehalten, für den Fall, dass Henrys älterer Bruder einen Platz zum Schlafen braucht. Oder zum Abkühlen.

»Was ist das denn?«, frage ich, als wir in die Einfahrt zum Motel einbiegen. Mitten auf dem Rasen thront ein protziger Springbrunnen aus Beton. Er scheint außer Betrieb zu sein, und rings um das Becken stehen ein paar traurig schlaffe Pflanzen in Plastiktöpfen. Bedenkt man die Regenrinnen, die der Sturm abgerissen hat, und das zerfetzte Sonnensegel, überrascht mich diese Neuanschaffung. Ich werfe Dad einen fragenden Blick zu, aber seine Aufmerksamkeit liegt auf der anderen Seite der Einfahrt, wo ein Streifenwagen quer über zwei Parkbuchten vor dem Büro des Motels parkt.

Hoffnung flattert in meiner Brust auf.

Henry?

Aber die Vernunft erstickt die Hoffnung im Keim. Wenn Henry gefunden worden wäre, wäre die Polizei nicht hier, sondern bei den Weavers. Wir gehören nicht zur Familie, wie ich Henry in der Nacht des Sturms so herzlos zu verstehen gegeben habe.

»Wer zum Teufel hat diesen Clown hier reingelassen?«, faucht Dad leise.

»Ich habe gehört, dass es letzte Nacht zu einem Vorfall kam«, sagt Doherty. »Eine zerbrochene Fensterscheibe; Tumult hier draußen in der Einfahrt. Aber niemand hat uns benachrichtigt.«

Dad reibt an einer kleinen Schramme an der Fahrertür. »Das war nicht der Rede wert.«

»Wie wäre es, wenn Sie mir die Beurteilung überlassen?« Doherty legt seine Hände auf seinen Waffengürtel, die Ellbogen rechtwinkelig abgespreizt: die Pose des harten Cops. Ich muss mich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. »Würden Sie mir bitte erklären, was passiert ist?«

Dad schaut ihn nicht an, während er die Wagenschlüssel in seine Tasche schiebt. »Nee.«

»Wer hat das Fenster zerbrochen?«

»Das war ich«, sagt Dad.

Doherty betrachtet die streifenfreie, neue Scheibe. Er ist nur ein Jahr jünger als mein Vater, unterscheidet sich aber körperlich in jeder Hinsicht von ihm. Dad ist untersetzt und stoppelbärtig, Doherty schlank und glatt rasiert. Dad hat einen kantigen Kiefer und ist bullig gebaut, Doherty dagegen so geschmeidig wie ein Fuchs, mit einem spitzen Gesicht. Vielleicht ist es dieser Gegensatz, dieser Unterschied zu meinem Vater, den meine Mum anfangs an dem Polizeichef von The Shallows so attraktiv fand. Und vielleicht ist das auch der Grund, warum ihre Affäre nur sechs Monate dauerte.

Doherty mustert meinen Vater mit unergründlicher Miene. »Ach tatsächlich?«

»Um ein Uhr morgens?«

»Als Geschäftsmann hat man nie Feierabend.«

Doherty betrachtet die Lampe, auf die Dad gezeigt hat. Sie ist mit Spinnweben und Rost überkrustet. Er begreift nicht, warum mein Vater für Mason Weaver lügt, und ich muss zugeben, dass ich es auch nicht so genau weiß.

Luisa taucht im Türrahmen des Büros auf, in einer weiten, geblümten Bluse und weißen Jeans. Ihr breites Lächeln ist eine willkommene Ablenkung von der testosteronhaltigen Anspannung auf dem Parkplatz. Sie hält ein schnurloses Telefon hoch und gestikuliert meinem Vater. Mit der anderen Hand winkt sie mir fröhlich zu.

Während Dad im Büro verschwindet, gehe ich zur Ladeklappe des Lieferwagens.

»Hör mal«, sagte Doherty, der meinen Koffer von der Ladefläche hebt, ehe ich danach greifen kann. »Wegen diesem Weaver-Jungen … Wir wissen, dass er letzte Nacht sturzbetrunken war und im Pub Streit gesucht hat.« Er dreht den Koffer um und hält ihn mir so hin, dass ich den Griff packen kann. »Dein alter Herr hilft niemandem, wenn er die zerstörerische Ader dieses Kerls deckt. Also, rede mal mit ihm, ja?«

»Klar doch, Barry.«

Doherty fixiert mich einen oder zwei Herzschläge lang und schüttelt dann nur den Kopf. Du kannst mich Ben nennen, hat er mir mal gesagt und dabei mit einem selbstgefälligen Grinsen den Arm auf den unteren Fensterrand seines Streifenwagens gelegt. In dem Moment wusste ich, dass zwischen ihm und meiner Mutter etwas lief, denn er hatte mich davor noch nie auch nur eines Blickes gewürdigt.

Ich höre das Schaben von Dohertys Absätzen auf dem Asphalt, das dumpfe Klicken seiner sich öffnenden Autotür. Einen Moment lang dringt das statisch zischende Gebrabbel aus dem Polizeifunk zu mir hin, dann schlägt die Tür wieder zu. Ich mache mich am Reißverschluss meines Koffers zu schaffen, bis Doherty endlich davongefahren ist. Dann marschiere ich zu Zimmer Nr. 15 und hämmere mit der Faust gegen die Tür.

Der gestreifte Vorhang am Fenster erzittert. Mason hat alles beobachtet. Die Tür schwingt auf, und da steht er im Türrahmen, einen Kopf größer als ich, sonnengebräunt und sommersprossig, die blonden Haare auf der einen Seite plattgedrückt. Seine hohen Wangenknochen und der verdrießlich verzogene Mund erinnern mich an die Schwarzweißfotos der jungen Soldaten in Onkel Bernies Sammelalben – der gleiche abwesende Ausdruck in den Augen.

Mason verschränkt trotzig die Arme vor der Brust. Die Knöchel seiner beiden Hände sind rot und geschwollen. Unter einem Nasenloch hat sich ein Ring aus verkrustetem Blut gebildet, und auf seinem Nasenrücken kann ich eine leichte Schwellung ausmachen. Er hat das graue T-Shirt verkehrt herum angezogen, aber am Halsausschnitt schimmern Blutspritzer durch den Stoff.

, will ich sagen. »Was ist mit deinen Händen passiert?«

Doherty hat mir ja schon erzählt, dass Mason sich geprügelt hat. Ich will es nur von ihm hören.

Mason löst die verschränkten Arme und schiebt die Hände in die Hosentaschen. »Da ist mir auf der Arbeit eine Motorhaube draufgefallen. Keine große Sache.«

Er verlässt das Zimmer, macht einen Schritt auf den Hof und zieht die Tür hinter sich zu. Dann bückt er sich zu einer verwelkten Pflanze neben der Tür, hebt den Terrakottatopf ein Stück an und schiebt den Türschlüssel darunter.

»Mason«, sage ich.

Er richtet sich auf und geht über den Hof, wobei er ein Schlagloch im Beton umschifft.

»Mason!«

Als er an der Rezeption vorbeikommt, schaut er nicht auf, sondern geht mit ruhigen Schritten und gesenktem Kopf daran vorbei. Erst als er um die Biegung der Einfahrt verschwindet, wird mir klar, dass er vollkommen falschliegt.

Es ist eine große Sache.

Mason Weaver hat mir gerade ins Gesicht gelogen.

Und zwar nicht zum ersten Mal.

Mason

Vierzehn Wochen vor dem Sturm

Mason ballte die Hände zu Fäusten und stopfte sie in die Hosentaschen, während er eine Kerbe in der Arbeitsplatte fixierte. Seine Mutter saß zusammengesunken auf einem Stuhl am anderen Ende der Küche, wohin es das Sonnenlicht nicht schaffte. Sie starrte in die Vitrine mit ihren Wedgwood-Tellern, die auf kleine Plastikständer gestellt waren. Sie besaß Dutzende davon, alle in demselben Blau mit den weißen Blattornamenten am Rand, die aussahen wie geschlagene Sahne. Sie hatte die Sammlung ihrer Mutter geerbt und jedes Jahr etwas dazugekauft. Jeder Teller zeigte ein anderes Motiv, entweder ein prächtiges Schloss oder ein Mitglied der königlichen Familie. Als er sieben gewesen war, hatte Mason versehentlich bei Prinzessin Diana für einen Abplatzer gesorgt, woraufhin seine Mutter eine Woche lang nicht mit ihm redete.

»Ivy?«, sagte er jetzt, und seine Gereiztheit spiegelte sich in seiner Stimme wider. Es war nicht seine Idee gewesen, sie beim Vornamen zu nennen; sie mochte Mum nicht. Sie meinte, dann käme sie sich vor wie in einem Käfig.

Seine Mutter riss sich von dem Anblick der Vitrine los und machte schmale Augen, wie ein verzogenes Kind, das getadelt wurde. An einer Seite ihres Gesichts hing eine Strähne ihres strohblonden Haars herab, und ihre Haut war wachsbleich.

Herrgott noch mal, wie er das hasste. Wenn sie betrunken war, sagte sie zu allem Ja und Amen, und später, mit Katerkopfschmerzen, nahm sie alles wieder zurück. So war es schon

Damals hatte das Leben aus Schmeicheleien und Bitten bestanden, aus Versprechungen, die so leer waren wie die Whiskyflaschen, die sie ganz hinten in den Küchenschränken stapelte. Und Mason ließ sich auf alles ein, denn er war nur ein kleiner Junge, dessen Hoffnungen noch nicht durch endlose Enttäuschungen und Vertrauensbrüche zerstört worden waren. Damals konnte sie sich in der Öffentlichkeit noch besser verstellen, und erst hinter verschlossenen Türen zeigten sich die Risse und Abgründe. Aber der Suff seiner Mutter durchlief die unterschiedlichsten Phasen aus Höhen und Tiefen, und Mason wusste nie, wann der Punkt erreicht war, von dem aus eine neuerliche Spirale abwärts begann.

Das vergangene Jahr war das schlimmste gewesen, an das er sich erinnern konnte. Sie versuchte nicht einmal mehr, kürzerzutreten, wie sie es in der Vergangenheit immer wieder getan hatte. Er konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob sie so viel trank, weil sie ihren Job verloren hatte, oder ob der Alkohol daran schuld war, dass sie entlassen worden war. Ihre Stimmung wurde düsterer, ihre Wutausbrüche häufiger. Und sie gab sich immer weniger Mühe, ihre Sucht vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Das Gerede hinter vorgehaltener Hand und die abfälligen Blicke bewiesen, dass sich niemand mehr täuschen ließ.

»Du brauchst gar nicht so zu gucken, Mason«, sagte sie jetzt. »Hast du gehört? Du nimmst keinen Job an, ist das klar? Du wirst hier gebraucht.«

»Wir haben vor ein paar Tagen darüber geredet.« Er

»O-ohhh.« Sie drückte ihre Zigarette am Rand ihres Frühstückstellers aus und ignorierte den Glasaschenbecher, den Mason gerade ausgeleert und neben sie gestellt hatte. »Und vermutlich hat Stu Macleod angeboten, an deiner Stelle hier sauberzumachen und sich um alles zu kümmern, ja?«

Krieg du doch zur Abwechslung mal deinen pickeligen Hintern hoch und mach es selbst, dachte er. »Ich kann beides machen. Es muss sich nichts ändern.«

Er sagte das mit aller Vorsicht – damit hatte er sie am Donnerstag überzeugt, aber daran durfte er sie jetzt nicht erinnern, sonst würde sie vermutlich irgendetwas gegen die Wand pfeffern und aus dem Haus stürmen. Sie mochte es nicht, wenn man ihr Dinge vorhielt, die sie gesagt oder getan hatte und an die sie sich mit ihren alkoholtriefenden grauen Zellen nicht erinnern konnte. Und er hatte auch keine Lust auf ihre Paranoia danach, die eine Woche lang anhalten konnte: Dann ließ sie ihn nicht aus den Augen, als ob er sie ausrauben, hintergehen oder gar im Schlaf ermorden wollte. Als hätte er die Absicht, dieses termitenverseuchte Scheißloch bis auf die Grundmauern abzufackeln.

Nicht, dass er nicht schon darüber nachgedacht hätte.

»Warum gibt er dir überhaupt ein Auto?«, wollte seine Mutter wissen. Sie hatte offenbar keine Lust, nach einem Feuerzeug zu suchen, denn sie hievte sich vom Stuhl hoch und schlurfte zum Gasherd, wobei der Bademantel um ihren knochigen Leib schlackerte. »Was will er als Gegenleistung, häh?« Sie musterte

Mason wurde wütend. Stu Macleod war ein feiner Kerl, der den Fehler begangen hatte, vor fünf Jahren einmal im Suff eine Nacht mit Ivy verbracht zu haben. Jetzt erzählte sie jedem, der es hören wollte, dass er ein gruseliger Perverser wäre, nur weil er so viel Verstand besessen hatte, einen Rückzieher zu machen, bevor sie auch ihn mit ihrem Gift hatte zerstören können. Seine Mutter war wie eine Krankheit, und zwar eine, die schleichend voranschritt und einen aushöhlte, eine Krankheit, die einem alles Gute raubte. Es hatte vier Jahre gedauert, ehe Wayne, Masons Stiefvater, es geschafft hatte, das Geschwür ihrer Krankheit aus sich herauszuschneiden. Nachdem sie sein Bankkonto und seine Schnapsflaschen geleert hatte, war ihm irgendwann nicht einmal mehr der Wille geblieben, es weiter mit ihr zu versuchen. Mason machte Wayne keinen Vorwurf, dass er vor neun Jahren nach Sydney abgehauen war und kein einziges Mal zurückgeblickt hatte.

Obwohl er ihn trotzdem dafür hasste, diesen egoistischen Arsch.

»Mr. Macleod möchte, dass ich als Gegenleistung für den Wagen bei ihm arbeite«, erklärte Mason. »Das ist der Deal. Dass ich für ihn arbeite, bis er abgezahlt ist.«

»Also arbeitest du drei Tage in der Woche ohne Bezahlung? Was hast du denn davon, du Genie?«

Den Wagen, du Genie, dachte Mason. Meine Freiheit. Die Möglichkeit, von dieser Müllhalde wegzukommen. Etwas zu haben, das du nicht kaputt machen kannst.

»Es ist ja nur so lange, bis der Wagen abgezahlt ist«, sagte er ruhig. »Dann bezahlt er mich pro Schicht.«

So war es vermutlich auch besser. Erst jetzt kam Mason der

Ivy achtete bereits nicht mehr auf ihn, sondern fummelte an den Knöpfen des Gasherds herum. Ein Brenner entzündete sich mit einem leisen Wump. Blaue Flammen züngelten gefährlich nah an ihrem Gesicht, während sie sich mit der Zigarette zwischen ihren rissigen Lippen vorbeugte. Wie einfach es wäre, ihren dürren Vogelnacken zu packen und ihr Gesicht auf die Gasflamme zu drücken.

Masons Handfläche juckte, und er wandte sich ab.

»Wir können später darüber reden«, sagte er und ging auf Abstand zu ihr.

Er hatte die Gelegenheit verpasst, das war ihm jetzt klar. Er hätte sie vor einer halben Stunde darauf ansprechen sollen, bevor die Kopfschmerzen einsetzten, bevor ihr das halb aufgegessene Frühstück wieder hochkam. Diese eine klare Stunde nach dem Schlaf und der Dusche, bevor die Bosheit sich wieder in ihren Knochen festsetzte. Er hätte sie an den Job erinnern und dann schnell verschwinden sollen, ehe sie alles niedertrampeln konnte. Er wünschte sich, dass er nur einmal – nur ein einziges Mal – etwas hätte haben dürfen, ohne wie ein Hund darum betteln zu müssen.

»Ich muss los«, sagte er.

»Ich bin heute nicht da. Sieh zu, dass du zum Mittagessen wieder hier bist und dich um deinen Bruder kümmerst.«

»Du bist zum Mittag wieder da, hast du gehört?«

Weiß glühender Zorn schoss durch Masons Brustkorb. Alles in ihm schien zu brennen, und in seinen Ohren klingelte es, während er versuchte, sich zu beherrschen.

»Warum?«, fuhr er sie an. »Warum kannst du das nicht machen? Warum immer ich?«

Ivy ließ sich wieder auf den Stuhl fallen und nahm mit schmalen Augen einen Zug von ihrer Zigarette. »Du weißt genau warum.« Sie blies den Rauch in seine Richtung. »Du schuldest es mir.«

Ja, und diese Schuld war ein Fass ohne Boden. Egal, wie sehr Mason versuchte, das Fass zu füllen, es würde ihm nie gelingen.

Aber die Bemerkung reichte aus, damit Mason aufgab. Diese Diskussion führte zu nichts, und er hatte keine Lust, jetzt damit anzufangen. Tom wartete in der Stadt auf ihn, mit einem alten Smartphone, das sein Großvater nicht mehr brauchte. Er meinte, Mason könnte es haben, und eine Prepaid-Karte konnte er sich leisten, wenn er einen kleinen Betrag vom Haushaltsgeld abzweigte.

Mit einem Mobiltelefon und einem Auto hatte Mason eine Chance. Und wenn das Auto abgezahlt war, bekam er von Stu Macleod sogar Cash. Er konnte Pläne schmieden. Er konnte einen Ausweg finden.

Aber …

Henry. Was sollte er nur mit Henry machen?

Mason stopfte die Frage in die Zu schwierig-Kiste und ging schnell zur Haustür.

»Moment mal«, sagte seine Mutter. »Was ist damit?«

»Das mache ich nachher«, sagte er.

»Nachher wird es regnen. Die Wäsche muss heute Vormittag gewaschen und aufgehängt werden.«

Er drehte sich wieder zur Tür und murmelte: »Dann mach du’s doch.«

»Was hast du gesagt?«

Mason presste die Lippen aufeinander und zwang sich, den Mund zu halten. Sie hatte einen Kater, er durfte den schlafenden Tiger nicht wecken.

»Was hast du gerade zu mir gesagt?«

Mason ignorierte sie und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. In dem Moment, als er ihn berührte, spürte er einen Luftzug neben seinem Ohr.

Krach!

Einen halben Meter neben seinem Kopf explodierte etwas an der Wand. Er zuckte zusammen und duckte sich, als winzige Teilchen an seiner Haut abprallten und in seinen Kapuzenpulli und zu Boden regneten. Einen Augenblick lang dachte er, eine Glühbirne in der Lampe an der Wand wäre geplatzt. Dann erkannte er, dass er die grünen Glassplitter des Aschenbechers aus dem Haar schüttelte.

Er wirbelte herum und starrte seine Mutter mit offenem Mund an. Sie war aufgestanden und beugte sich über den Küchentisch, die brennende Zigarette, von der sich eine lange, zitternde Rauchfahne wie eine giftige Blume zwischen ihnen in die Luft schlängelte, immer noch in der Hand.

Mason schluckte. Er konnte es nicht fassen; ihm fehlten die Worte.

Der harte Ausdruck in ihren Augen gab ihm Antwort. Ich weiß.

Er packte den Türgriff, diesmal mit zitternden, ungeschickten Händen. Ivy hatte schon oft Sachen im Haus zerschlagen, aber sie hatte noch nie etwas nach ihm oder Henry geworfen. Im schlimmsten Fall war es zu einer verbalen Attacke gekommen oder einem groben Rütteln an der Schulter. Mit seiner Mutter ging es eindeutig bergab.

Mason mühte sich mit dem schwergängigen Schloss ab und versuchte, nicht auf das Knirschen der Glassplitter unter seinen Schuhen zu achten. Als sich der Türgriff endlich bewegte, holte er tief Luft, um sich zu fangen, und riss dann die Tür auf.

Vor ihm stand Chloe Baxter mit erhobener Hand, als ob sie gerade an die Tür klopfen wollte.

Sie trug eins dieser geblümten Kleider, die Raf so mochte, und hatte die Haare zu zwei Zöpfen geflochten. Sie sah aus wie ein süßes Mädchen vom Lande, was in krassem Gegensatz zu ihrer dickköpfigen Persönlichkeit stand. Sie schaute zu Boden und betrachtete das Chaos, das Mason später würde aufräumen müssen. Er trat hinaus auf die Veranda und zog die Tür hinter sich zu, um ihr weitere Einblicke in das Haus zu verwehren.

In der rechten Hand hielt Chloe einen Eimer mit Haken und Ködern. An der Vordertreppe lehnte ihr Fahrrad, und aus dem Korb am Lenker ragte ein kleines Fischernetz.

»Er ist nicht zu Hause«, sagte Mason. Er hasste den Klang seiner Stimme. Erschüttert. Schwach.

»Ist alles in Ordnung?«

Er räusperte sich. »Ich sagte, Henry ist nicht zu Hause.«

Chloe runzelte leicht die Stirn über seinen schroffen Ton.

»Weißt du, wo er ist?«, fragte sie.

»Nein«, fauchte Mason. »Ich bin nicht der Ersatzvater meines Bruders.« Aber als er die Worte ausgesprochen hatte, trafen sie ihn wie ein Schlag: Genau das war er. Es war ein erstickender Gedanke, als ob sich die Schlinge um Mason zusammenziehen würde, je mehr er versuchte, ihr zu entkommen. Er biss die Zähne zusammen, als diese nagende Frage wieder von ihm Besitz ergriff.

Was würde mit Henry geschehen, wenn Mason ihn mit seiner Mutter allein ließ?

»Hat Henry …?«

»Hör zu, Chloe«, sagte Mason bitter. Er wollte das Gespräch beenden, wollte nur noch weg von diesem Haus. »Geh ihn suchen, klar? Wenn irgendjemand Henry finden kann, dann du.«

Chloe