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Andreas Wollbold
Holy Palace

Andreas Wollbold

Holy Palace

Ein römischer Krimi

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Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären reiner Zufall und sind auf keinen Fall intendiert. Auch unmittelbare Bezüge zu real existierenden Institutionen oder Orten entbehren jeglicher Absicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei diesem Buch auf die Folienverpackung.

1. Auflage 2021

© 2021 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de

Coverfoto: Brian A. Jackson / Shutterstock

Satz: Crossmediabureau, Gerolzhofen

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05589-9

978-3-429-05134-1 (PDF)

978-3-429-06518-8 (ePub)

Inhalt

Himmelbett und Höllenlärm

Goldmarie und Pechmarie

Kaffee und Cocktail

Fit und k. o.

Offene Fenster und verschlossene Gesichter

Tot und lebendig

Aufstieg und Fall

Lüge und Wahrheit

Himmelbett und Höllenlärm

Wumm, wumm, wumm. Im Innenhof unten feierten sie Hochzeit, tief in der Nacht. Prominentenhochzeit im Hotel Holy Palace. Längst eine Party. Die Reflexe von Discokugeln warfen einen irren Rhythmus an die Decke seines Zimmers. Tat sich der Himmel auf, und das Jüngste Gericht war bereits in vollem Gange? Auf Erden unten verdoppelte sich jedenfalls alle zehn Minuten die Lautstärke. Nur dass nicht Posaunenengel schmetterten, sondern ein DJ die Lautstärkeregler seiner Anlage hochgefahren hatte, dazwischen kehlige und zischende Laute der gut hundert Gäste. Reden, sich unterhalten, freundlich scherzen, das war von diesem akustischen Inferno längst verschlungen worden. Seine Hand krampfte sich am Bettrand fest. Tu irgendetwas, egal was! Das Fenster schließen? Die dumpfen Bässe brachten auch dann noch Walter Hanselers Bett zum Beben, selbst über den Abstand von vier Stockwerken hinweg. Außerdem wurde die Zimmerluft in dieser römischen Spätsommernacht dann zur stickigen Bleilast. Zerschlagen und müde nach der Anreise heute Nachmittag, hatte er sich erst einmal nur aufs Bett gefreut. Doch wie sich bei diesem Höllenlärm entspannen, wie wegdämmern? In seiner Verzweiflung hatte er schon zweimal kalt geduscht. Das wirkte immer nur für Minuten, dann trat ihm schon wieder der Schweiß aus den Poren. Die Klimaanlage? Sie war ein Witz. Egal wie man am Regler drehte, sie lief immer auf Minimum.

Wumm, wumm, wumm. Wenn du dein Herz spürst, dann ist es krank. Musste denen da unten eingehämmert werden, sie haben noch ein Herz? Noch? Nein, schon – schon ein künstliches Herz, eines mit fünftausend Watt. Ein kaltes Herz, das sich heißer Rhythmen bedient. Wumm, wumm, wumm. Warum hatte er nur sein Ohropax vergessen? Die einfachsten Dinge bewältigte er nicht. Zwei linke Hände fürs Leben. Im Luxus eines Vier-Sterne-Hotels kann nächtliche Ruhestörung nicht vorkommen? O doch, gerade da! Wie naiv, sich darauf zu verlassen, hier werde ihm schon jede Sorge abgenommen werden! Doch hatten seine betagten Eltern sich nicht genau das dabei gedacht, als sie ihm zum fünfzigsten Geburtstag diesen fünftägigen Romaufenthalt geschenkt hatten?

Wumm, wumm, wumm. O Gott, du wirst noch wahnsinnig. Walter warf sich nach links, er warf sich nach rechts. Längst hatte sich das veilchenduftende Kopfkissen, noch ein schokoladenes Betthupferl darauf, in ein Schlachtfeld verwandelt. Er zog sich die Decke über die Ohren. Doch gegen den Lärm bot sie gerade einmal so viel Schutz wie ein Pappkarton gegen radioaktiven Fallout. Wütend warf er die Decke von sich. Er schwitzte am ganzen Körper. War es von diesen unmenschlichen Temperaturen oder war es vor Erregung? Wie lange die da unten weitermachen würden? Die ganze Nacht natürlich, bis morgen früh. Solche Feierorgien waren doch auf der ganzen Welt gleich. Zweimal hatte er zur Rezeption telefoniert, aber natürlich hatte niemand abgehoben. Diese Geschäftemacher wussten genau, worüber die Gäste sich zu dieser Stunde beschweren würden. Kühle Berechnung, kalte Pracht. Holy Palace, schon der Name des Hotels war Hohn. Mit dem Besucher kommt das Geld, und das bleibt, wenn er längst wieder abgereist ist.

Was für eine Schnapsidee, zurückzukommen nach Rom, wo alles angefangen hatte, damals im Studium! Walter Hanseler, drittes Kind und verwöhnter Nachzügler einer gut katholischen Familie, Einserschüler mit dem Lieblingsfach Latein und zuhause bekannt dafür, dass er lieber seinen Horaz in die Hand nahm als den Mädchen nachzulaufen, wurde nur zwei Jahre nach dem Abitur von den kirchlichen Oberen für das Weiterstudium in Rom bestimmt. Welche Ehre, welche Aussichten! „Denk dran, es ist mit den Germanikern wie mit dem Spargel: Wenn er violett wird, wird er ungenießbar.“ Mindestens dreimal musste sein reines Herz diese Mischung aus Besserwisserei und Neid auf den violetten Bischofstalar über sich ergehen lassen. Nein, nicht Karriere hatte er im Sinn, sondern sich aufzuzehren im Dienst an den Menschen. Ach! Damals also, im Herbst 1991, die Finger noch krumm vom Koffertragen, betrat er als blutjunger Priesteramtskandidat die heiligen Hallen des Germanikums. Fünf Studienjahre folgten. Fünf Jahre voll von jugendlichem Großmut, von heiliger Begeisterung und von Freundschaften fürs Leben: „Wir werden Priester, wir alle zusammen. Niemanden von uns lassen wir allein.“ Ach, einem Theologen gehen die großen Worte so leicht über die Lippen, als würde er mit Falschgeld den Krösus spielen. Ja, beim Abschied von Rom hatte sich ihre Gruppe Treue geschworen. Zusammenhalt durch dick und dünn. Kein Tag ohne ein Lebenszeichen – SMS war damals der neueste Schrei –, einmal pro Woche Telefonkonferenz und schließlich ganz altmodisch die Abmachung: Viermal im Jahr würden sie zusammenkommen, versprochen, wenigstens viermal, immer abwechselnd bei einem von ihrem Quartett. So waren sie in die Heimat aufgebrochen, und jeder hatte seine erste Stelle als Kaplan angetreten. Schon beim zweiten Mal waren sie nur noch zu zweit. Das dritte Treffen wurde verschoben und verschoben. Jeder hatte genug mit sich und seiner neuen Aufgabe zu tun. Das fing nicht gut an. Praxisschock? Sie waren eben in eine völlig andere Welt eingetaucht, und die verschlang sie mit Haut und Haar. Bürokratische Ausbildungsordnungen umspülten sie, Wellen unberechenbarer Lehrproben brachen über sie herein, die Launen ihrer Chefs und die Gleichgültigkeit derer, die man Gemeinde nannte, schufen gefährliche Strömungen und ließen einen Charakter wie Kaplan Hanseler schon bald abdriften. Die einen bewährten sich darin wie der Fels in der Brandung – oder waren sie eher Fische, die im Strom mitschwammen? Jedenfalls erkannte man schon im ersten Jahr, wer einmal Karriere machen würde. Über anderen schlugen die Wogen dieser neuen Welt zusammen wie die Salzfluten über einem Ertrinkenden. Zu dieser Sorte gehörte er, ganz eindeutig. Nur dass er es sich erst spät eingestand. Zu spät. Priester auf ewig? Fünf Jahre hielt sein Kahn zusammen, dann trieben nur noch ein paar lose Planken auf dem Ozean.

Wie war das alles anders während des Studiums in der Ewigen Stadt gewesen, reiner, klarer, idealer. Von diesem Rom bekam er nun fünf Tagesdosen als Medizin verordnet. Das war der wahre Grund, warum die Hanseler-Eltern ihm diese Reise geschenkt hatten. Papa, ein treuer, aufrechter Kolpingbruder, glaubte immer noch daran, irgendwann werde sein verlorener Sohn wieder zurückkehren und ihm einmal die Begräbnismesse halten. Ende gut, alles gut, und wenn sein guter Walter wieder Priester auf ewig wäre, dann wäre die Welt doch wieder in Ordnung. Oh, Vater, du ahnst ja nicht, wie weit weg das ist. Ja, damals, im Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende, da war er ein angehender Mann der Kirche, wie er im Buche steht. In ihrem Quartett fühlten sie sich auf einer großen, weltweiten Woge getragen: der Papst, die neue Evangelisierung, die Weltjugendtage. „Wir werden es schaffen. Wir fallen dem Rad der Geschichte in die Speichen. Wir, die Elite, die Römer.“ In Paris, beim Weltjugendtag 1997, ach, da hatten sie auf den Straßen getanzt, in einem großen Kreis von fünfzig jungen Leuten aus aller Welt. Sie hatten einander die Arme um die Hüften gelegt, lachend, ausgelassen, vor verdutzten Passanten. Sogar in den Bistros waren die Gäste aufgestanden und waren an den Straßenrand getreten, einige hatten sogar geklatscht. Neben ihm tanzte Mireille, Mireille de Soundso aus bestem Hause. Anschließend begleitete er sie alleine nach Notre-Dame. Jeder normale junge Mann hätte sich gleich in sie verliebt. Aber sie sprachen von der Katechese über den Heiligen Geist, die irgendein Bischof aus Argentinien morgens gehalten hatte, und beim Abschied sagte sie nur: „Du bringst den Menschen den Heiligen Geist, und ich werde für dich beten.“

Das war damals. Und dann zuhause? Fünf Jahre war Walter Priester geblieben, vier davon mit immer schlechterem Gewissen. Im fünften ging es nicht mehr. Er warf den Priesterrock hin. Sandy.

Sandy war alleinerziehende Mutter. Mit ihrem vierjährigen Ronny war sie sichtlich überfordert. Es fing an wie in einem Kitschroman. Erstes Kapitel: Sie war Erzieherin in ihrem Pfarrkindergarten und betreute ihren schwierigen Kleinen in der eigenen Gruppe. Eines Nachmittags um fünf standen sie beide draußen vor dem Kindergarten, Mutter und Kind, mitten im Regen. Sie warteten auf Oma, die aber nicht kam. Klitschnass waren die beiden. Sandy hingen die Strähnen ins Gesicht und klebten am Ohr, und das Kind heulte zum Herzerweichen. Der großmütige Kaplan fuhr mit dem Auto vor und packte die beiden kurzentschlossen ein. Der Retter auf vier Rädern, als „Deus in“ nicht „Deus ex machina“. Damals hatte er noch diesen Muntermacher-Gottes-Ton darauf: „Wohin soll denn die Reise gehen?“ Oh, sie ging weiter als gedacht, viel weiter, ganz unter der Hand. Zweites Kapitel: vom Kurzurlaub zur Lebensreise. Oder eigentlich zum Schiffbruchunternehmen. Er hätte noch rechtzeitig an sich bemerken können, dass alles ganz rasch in eine ganz andere Richtung steuerte. Etwa daran, dass er von jetzt an in jeder zweiten Predigt vor der Diskriminierung alleinerziehender Mütter warnte und die Höllenfeuer unter allen bösen Pharisäerseelen schon züngeln sah. Ja, ein bisschen etwas vom Oberlehrer hatte er schon als Einserkandidat in der Schule an den Tag gelegt, und ohne den Wunsch, die Leute gelegentlich einmal so richtig glattzubügeln, hätte er wohl niemals eine Berufung gespürt. Seine großen Predigerphrasen hüllten seine tatsächlichen Seelenregungen wie in dichten Nebel. Bei all seinem Geblubber sah er das Nächstliegende nicht mehr: dass man manchmal am besten einfach das Schlechteste von sich selbst annimmt, von den anderen ganz zu schweigen. Hatte Sandy vielleicht schon gleich bei der ersten Begegnung begriffen, was hier abging? Oder was doch wenigstens in Reichweite lag? Er war ihre Chance, wer wollte ihr das verdenken? Kaplan hin oder Kaplan her. Ein Sechser im Lotto war er sicher nicht, aber immerhin noch ein Vierer und noch keine Niete wie später auf seiner abschüssigen Lebensbahn, und damit konnte sie fürs Erste leben. Sie musste an sich denken, denn jeder ist sich selbst der Nächste, gerade mit einem quengelnden Kind am Bändel und wachsenden Schulden auf dem Konto. Und er? Natürlich, am Anfang war er nur ihr Einer und Einziger, so sagte sie, ihr Lebensretter. Für Walter war es einfach wunderbar, gebraucht zu sein, stark, der Helfer in der Not. Dann bot sie ihm selbst einen Ort, sein Herz auszuschütten, ganz abseits von seinen Kirchenleuten. Oft bis spät in die Nacht saß er bei ihr in der kleinen Wohnung, in der Küche, die klammen Finger auf dem lauwarmen Heizkörper. Er redete ohne Unterlass, wenn Ronny einmal gerade nicht schrie oder den Teppich mit Filzstiften verzierte. Und nach der Küche, dann… Nein, was war er dumm. Als er aufwachte, war es zu spät – das dritte Kapitel. Sie sagte ihm, dass sie ein Kind erwartete. Böses Erwachen aus Tränen und Illusionen. Etwa dass er sich vorher mit Petrarca verglichen hatte, dem seine Laura den Weg nach oben verlockend machte, den Weg zu Tugend und Seligkeit. Veredelung des Mannes durch die tief empfindende Frauenseele. Ach, er, der Lesemeister und Lebensversager! Jäh abgestürzt war er auf seinem Höhenflug wie Phaeton auf seinem Sonnenwagen. Jetzt sah er sich auf einmal unter Zugzwang und musste zu dem Kind stehen. Das dann nie kam. Bis heute wusste er nicht, war es eine Fehlgeburt oder einfach nur eine Lüge? Eine Notlüge, so hätte Sandy es genannt. Zimperlich war sie nie.

Er wollte heiraten, wenigstens auf dem Standesamt, aber sie hielt ihn hin. Bis nach der Geburt, damit sie richtig schön in Weiß… Später wollte sie zuerst eine größere Wohnung. Schließlich war vom Heiraten gar nicht mehr die Rede. Ständig stritten sie oder ödeten sich an. Bis sie ihn eines Tages vor die Tür setzte, ganz ohne Tränen und als würde sie ihn nur zum Einkaufen von einer Tüte Haferflocken schicken: „Ich habe einen anderen. Es ist aus. Du siehst selbst, es geht nicht.“ Das war das triste letzte Kapitel. Oder war es nur banal, weil völlig vorhersehbar? Am besten, wenn er es einfach vergessen könnte. Wenn da nicht das Nachspiel gewesen wäre, die vielen Jahre des Chaos seitdem. Sechseinhalb Jobs, drei Beziehungen oder was das war, flüchtig, lieblos und schon im Keim erstickt. Seit Jahren lebte er nun wieder zölibatär, wider Willen und von seinem Priesteramt suspendiert. Immerhin, finanziell kam er hin, er war ja nicht anspruchsvoll und seine Eltern ließen ihn niemals im Stich.

Vor vier Monaten ging Ronny selbst schon den Bund fürs Leben ein oder was auch immer er mit diesem Fest verband. Er, der kleine Quengler von damals. So lange war das alles schon her. Im Mai und in der Barockkirche, alles musste stimmen, außer dem schon vorher chronisch in den roten Zahlen befindlichen Konto. Zuerst wollte es Sandy Walter verbieten zu kommen: „Er ist nicht dein Sohn, du gehörst nicht zur Verwandtschaft, was willst du da?“ Das war ihr letzter Streit in einer Reihe von vielen Auseinandersetzungen, seitdem sie sich von ihm getrennt hatte. Bockig gab er zurück: „Wenigstens in die Kirche werde ich kommen, das kannst du mir nicht verbieten.“ Auch diese Idee war schon wieder ein Fehler. Gleich beim Hochzeitsmarsch gingen bei ihm alle Lichter aus. Was wurde hier gespielt? Eine große Show, weiter nichts. Liebe?

Ach, Liebe. Wenn das mit Sandy wenigstens die große Liebe gewesen wäre. Romantik. Oder der Zauber aus seinen unschuldigen Jugendphantasien. Zum Beispiel Grisilda, die Tochter aus der Pizzeria Famiglia Mangel. „Mangel“ deshalb, weil die italienischen Gastarbeiter zwanzig Jahre lang in seinem Heimatort eine Heißmangel betrieben hatten, und dort hießen sie bald nur noch „Familie Mangel“. Zuhause war eben eine Karnevalshochburg, da war man immer für einen Spaß zu haben. Außerdem war „Strazzogucci“, ihr richtiger Name, viel zu schwer auszusprechen, und „die Strazzis“ gefiel den guten Leuten ganz und gar nicht. Erst später mit seinen besseren Italienischkenntnissen begriff er, das hieß so etwas wie „Fetzen“, und so wollten diese durch und durch strebsamen Leute sicher nicht heißen, ganz zu schweigen davon, dass „Fetzen“ nicht gerade ein Aushängeschild für eine Heißmangel war. Irgendwann jedenfalls hatten die Süditaliener genug Geld zusammen, und sie eröffneten eine Pizzeria in ihrer Heimat, einem Vorort von Messina. Bei einer Ferienfahrt in seinem zweiten römischen Studienjahr hatte er seine Begleiter, zwei weitere Germaniker, überredet, die „Mangels“ zu besuchen. In Erinnerung an zuhause, wenn er Mamas Wäsche bei ihnen abholte und die sechzehnjährige Grisilda ihm das Paket überreichte, wortlos, aber mit was für einem Lächeln… Fünf Jahre später in Messina, wenn sie ihm da blühend, lachend und beflügelt von ihrer Heimatluft entgegengetreten wäre, tausend Worte hervorsprudelnd, von denen er höchstens die Hälfte verstanden hätte, aber immer noch genug, um zu begreifen, dass sie ihn mochte, ihn ins Herz schloss, dass sie… die Braut von Messina – unschuldige Jugendträume! Die alten Strazzoguccis erkannten ihn gleich wieder, aber Grisilda? Nein, sie lebte mit ihrem Freund in Neapel zusammen, und was sie da genau trieb – die Alten wechselten rasch das Thema.

Wumm, wumm, wumm. Oh nein, das war nicht mehr auszuhalten. Walter schoss im Bett hoch, warf das Leinen von sich und fasste sich an die Schläfen. Sch…, jetzt auch noch Kopfweh! Ein Viertel Rotwein hatte er heute Abend zu sich genommen, mehr nicht, und jetzt brummte ihm der Schädel. Wie ungerecht! Die da unten tranken und betranken sich seit Stunden, und sie lachten nur blöde. Jetzt gerade wieder eine Salve. Irgendein blödes Partyspiel. Walter schlich zur Zimmerbar, griff nach einem kühlen Mineralwasser und stürzte es in einem Zug hinunter. Wenigstens ein bisschen Erfrischung. Nein, in diesem Zimmer hielt er es wirklich nicht mehr aus. Hier erstickte man ja. Im Bad fuhr er sich mit Wasser durchs Gesicht, kleidete sich nachlässig an und verließ das Zimmer. Wohin? Hinab in dieses Inferno, zur Rezeption, wohin denn sonst? So einfach wollte er sich nicht abspeisen lassen. Wo waren sie denn, dass da unten einfach niemand abhob? Schon stand er im Flur. Die von der hohen Decke wie prall gefüllte Würste aus gelber Seide herunterhängenden Lichter glommen im Energiesparmodus. Sobald er sich einer näherte, flammte sie hell auf, als wollte sie platzen. Dabei blieb alles totenstill. Eine Szene wie aus einem Autorenfilm. Immerhin, still ist still. Das wäre doch etwas: Auf dem Gang müsste man sein Bett stehen haben. Warum konnten die Zimmer nicht genauso schallisoliert sein wie die Flure?

Mit dem Aufzug fuhr er nach unten. Die Empfangshalle war taghell erleuchtet, mit einem kalten Licht, das jeden Winkel erfasste, gerade wie ein Supermarkt bei Nacht, den man vor Einbrechern schützen will. Natürlich war die Rezeption unbesetzt. „Ask Dad!“, verkündete ein fröhliches Schild mit dem Konterfei eines Angestellten oder wohl besser eines männlichen Fotomodells, der sich lässig den Zylinder mit dem Zeigefinger hochschob. Schaumschlägerei ist alles! Statt „Dad“ verbreitete aber bloß der verwaiste Monitor des PC ein bläuliches Licht, und die herumirrenden Blasen des Bildschirmschoners in kalten Farben bewiesen, dass der Zuständige nicht nur gerade einmal eine Minute seinen Posten verlassen hatte. „Vengo subito. – Bin gleich wieder da.“ Das war doch eine glatte Lüge! Sicher tollte dieser Kerl bei der Horde Wilder im Innenhof mit.

Unschlüssig sah Walter sich um. Der weite Raum war öde und leer. Die Wände zierten riesige Ölgemälde, auf die wohl der Geldadel der Gäste ansprechen sollte: lauter stolze afrikanische Stammesfürsten, postmodern verfremdet, der eine mit einem Sicherheitsschloss im Ohr, der andere mit einer makellos weißen FFP2-Maske. Dazwischen eine Frau, komplett in Leinentücher eingehüllt wie eine Mumie, jedoch so hauteng, dass jede Kurve ihres Körpers zu sehen war. Neben dem Portal stand ein ausgestopfter Hengst: War er echt, eine Tiermumie, oder die Glanzleistung eines 3-D-Druckers? Geschmacklos, unheimlich und lebensverachtend! Noch missmutiger machte der schlaflose Walter einen Schritt hierhin und einen dorthin. Gespenstisch kam ihm diese Eingangshalle vor, eine Art Touristenschluckmaschine. Die langen Schatten irgendwelcher künstlicher Pflanzen links und rechts wirkten wie die Mistgabeln der Unterteufel, die ihre reiche Ernte einbrachten. Urlaubsgefühle? Unwillig schüttelte Walter seine halbwachen Phantasien ab. Nein, der Nachtportier würde so schnell nicht wiederkommen. Italien war das eben, daran änderte auch das Vier-Sterne-Niveau nichts.

Notgedrungen entfernte er sich von der Rezeption. Eine breite Tür führte in die Lounge. In einer kurzen Pause zwischen zwei Disco-Titeln draußen vernahm er von dort vereinzelt Stimmen, dazwischen das Klingen von Gläsern, dann ein heftiges Auflachen. Unschlüssig versuchte er, durch einen Glasstreifen in der Tür etwas auszumachen. Vergebens. Kraftlos drückte er sie einen Spalt breit auf und schob sich seitwärts hindurch. Erst mal nicht auffallen! Mitten darin erkannte er die Bar in lackiertem Schwarz als Blickfang, von kalten Streifen Silber durchzogen, und einen Barkeeper in Uniform, in die Gazzetta dello Sport vertieft und die Krawatte mehr als gelockert. Auf dem Tresen stand eine Batterie umgedrehter funkelnder Gläser, die auf Kunden warteten. Direkt zur Hand war eine blankgeputzte Kaffeemaschine mit viel technischem Schnickschnack. Hinten reihten sich Liköre, Aperitifs, Digestifs, Proseccos und manche andere Flasche auf. Die Mitte war ausgespart für eine Art geöffneter Schrank, der von innen ringsum mit einem LED-Band ausgeleuchtet war – ein Tabernakel des Genusses. Dahinter antworteten die von Schmiermustern gezierten Wände der Bar in ihrem hellen Grau. Bagdad-Grau, so hatte er sich heute Nachmittag im Hotelprospekt auf seinem Zimmer belehren lassen. Ansonsten herrschte um diese Stunde gähnende Leere. Wer noch auf war, war im Getümmel da draußen untergegangen oder hatte die Flucht ergriffen. Überall Sessel, Stühle und Schemel, alles violett bezogen, dahinter pseudo-antike Statuetten nackter Heroen und Kämpfer. Holy Palace hieß das Hotel. Weil es früher einmal ein kirchliches Tagungszentrum gewesen war. „Palace“ ja, aber „holy“ sicher nicht mehr. Der Mammon hatte alles aufgefressen. Allenfalls meinte „holy“ jetzt die Muskel- und Schenkelheiligkeit der alten Heiden, die ihre Wiederkunft feierte.

Da hinten saßen zwei Männer nebeneinander. Walter wandten sie den Rücken zu, und so fiel ihm zuerst nur wieder die violette Farbe der Stuhlpolsterung auf. Die Lehnen verdeckten den Blick bis auf die beiden Köpfe: bei dem einen das spärliche Grau weniger Haare über der Kopfhaut, bei dem anderen eine edle Kurzhaarfrisur im nach hinten gekämmten Nass-Look. Auf dem Marmortischchen, das Walter zwischen den Stühlen erspähen konnte, befand sich eine edle Flasche Rotwein mit zwei Gläsern, daneben eine Kerze auf einem postmodernen Ständer. Das Rund der Platte war von einer Silberkonstruktion gehalten, die in römischen Ziffern die zwölf Stunden des Tages bezeichnete. Wie passend, wenn sich die Nacht ohne Schlaf quälend dahinzieht!

Was in Gottes Namen hatte diese beiden von der Party vertrieben? Waren sie Strandgut unter den Hochzeitsgästen? Oder gar verzweifelte Nicht-Schläfer wie er? Nein, sie schlugen hier unten nicht einfach die Zeit tot, abwechselnd mit einem Schluck Alkohol und ein paar müden Bemerkungen mit halbgeschlossenen Augen. Vertieft waren sie ins Gespräch, wie in Wellenbewegungen flüsterten sie Heimlichkeiten, und dann brach der Alte plötzlich in ein joviales Lachen aus. Doch es fand kein Echo und verstummte, als hätte ein Drache mit einem Mal „Happ“ gemacht. Kein Wort konnte Walter verstehen, die Party dröhnte auch bis hierher. Von hinten konnte er gerade noch das Halbprofil des Jüngeren ausmachen. Ja, genau so stellte er sich einen Teilnehmer an einer Prominentenhochzeit vor: scharf geschnittene Gesichtszüge, eine perfekte Modefrisur, die Wangen glattrasiert, als wäre er gerade erst aufgestanden, und ohne jede Nachlässigkeit in der Kleidung, wie um jederzeit auf einem Foto für den Werbeprospekt des Hotels posieren zu können. Nur eines passte überhaupt nicht: Sein Nackenansatz war dicht behaart, so als wäre ein Bankergesicht in einer Collage auf den Rumpf eines Waldmenschen gesetzt worden. Unsinn, was er nur immer dachte! Dass irgendetwas mit dem Jungen nicht stimmte, das war aber doch nicht zu übersehen. Zweimal in fünf Minuten nahm er hastig einen Schluck aus seinem Glas zu sich, und einmal hätte er es beinahe umgestoßen.

Der Ältere wandte Walter leider niemals den Kopf zu, sodass es diesem nicht gelang, seine Gesichtszüge auszumachen. Doch auch schon so fesselte etwas die Aufmerksamkeit des schlaflosen Gastes aus Deutschland. Auf einem leeren Stuhl lag, für ihn gut sichtbar, sein tiefschwarzer Hut, dessen breite Krempe auf der einen Seite etwas nach oben gebogen war. So einer wollte sich von der Menge unterscheiden, auffallen und auf jeder Bühne den Protagonisten spielen. Fest in der Hand hielt er einen Spazierstock. Und was für einen – der Griff aus Elfenbein zeigte einen Adlerkopf. Er hielt ihn noch im Sitzen fest. Wozu das? Warum lehnte er ihn nicht an die Wand oder legte ihn zu Boden? Als ob er damit einen überdimensionalen Taktstock in Händen halten wollte, mit dem er das Orchester seiner Worte, Gesten und Stimmungen fest im Griff behielt. So bewegte er ihn in einem undurchschaubaren Rhythmus vor und zurück, und bei besonderen Momenten stampfte er ihn auf den Boden, allerdings nicht wild und unbeherrscht, sondern in einer großen, präzise in Szene gesetzten Geste, einstudiert und effektsicher. Genauso wie sein kleiner Schluck aus dem Glas, überlegen, in einer geschmeidigen Bewegung, als handelte es sich um eine liturgische Geste. Oh nein, so einer überließ nichts dem Zufall, und vor großem Publikum zu spielen war ihm so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche. Das bewies allein schon seine Kleidung: teuer, aber bis zu den Manschettenknöpfen passend. Das edle Jackett, das er über die Lehne des Stuhls gehängt hatte, ließ daran keinen Zweifel. Wenn er damals in so etwas vor der Tür gestanden hätte, hätte Sandy ihn gleich heruntergeputzt, was er sich denn einbilde, für solchen Firlefanz so viel Geld auszugeben.

Jetzt erhob der Dirigent seiner selbst sich, trat zum Fenster und riss es unwillig auf. So jemand war es nicht gewohnt, dass etwas nicht nach seinem Willen geschah. Walter war also nicht der Einzige, der es in der stickigen Hotelluft nicht mehr aushielt. Die Hand am Fenstergriff, stöhnte der Mann der Luft entgegen, aber es schlug ihm nur eine weitere Lachsalve der Partymeute entgegen. Er ließ das Fenster offen, wandte sich aber ab und ließ sich missmutig auf seinen Stuhl fallen. Diese Bewegung gab Walter für einen Moment die Gelegenheit, ihn von vorne zu sehen. Da erkannte er ihn wieder. Genau, das war doch der Priester, den er heute Nachmittag bereits in der Menge der Feiernden ausgemacht hatte. Da war der Geistliche umringt gewesen, bewundert, ein geistlicher Star, stets im Mittelpunkt. Gewiss hatte er die Trauung gehalten.

Walter riss sich aus seinen fruchtlosen Beobachtungen. Der Lärm draußen, der ungehindert durch das geöffnete Fenster drang, erinnerte ihn, wozu er eigentlich nach unten gekommen war: sich gehörig zu beschweren. Er trat auf den Barkeeper zu. Der dunkelgraue Teppichboden schluckte jedes Geräusch. Zweimal musste er ihn ansprechen, dann erst senkte dieser seine Gazzetta ganz langsam herunter, als wollte er dem Gast damit ausdrücken, wie ungewöhnlich es war, ihn jetzt noch zu behelligen. „Sie wünschen?“

„Wo ist der Rezeptionist? Ich habe die ganze Zeit versucht, den Rezeptionisten zu erreichen. Von meinem Zimmer aus und jetzt auch drüben. Ist niemals jemand zu sprechen?“ Der Mann hinter dem Tresen zuckte nur mit den Schultern.

„Aber Sie müssen doch wissen, wo er ist“, insistierte Walter, der sich keine Abfuhr erteilen lassen wollte.

„Das ist nicht mein Job“, antwortete sein Gegenüber schließlich. „Ich muss mich um meine Gäste in der Lounge kümmern.“

„Sehr viel haben Sie ja momentan nicht zu tun“, brauste Walter auf. Der andere machte nur eine gelangweilte Geste. Schließlich deutete er nach dem Innenhof: „Wenn Sie es auf dem Zimmer nicht aushalten, dann stürzen Sie sich doch in das Treiben da draußen. Auf einen mehr oder weniger kommt es dort nicht mehr an.“

„Und wenn ich genau das nicht will?“ Walter war wieder auf hundertachtzig. Dieses Verhalten hier würde eine bitterböse Bewertung im Internetportal auslösen. Jetzt endlich schien der Barkeeper aus seiner Lethargie zu erwachen: „Es ist nur diese Nacht. Die nächsten Nächte werden Sie schlafen wie ein Toter.“

„Aber diese Nacht will ich schlafen!“ Beschwichtigen zählte nicht.

„Nehmen Sie einen Grappa auf das Haus!“ Ohne die Antwort abzuwarten, füllte er Walter ein Glas bis zum oberen Rand und schob es ihm zu. Der geprellte Gast aus Deutschland sah ein, dass er seinem Ziel an diesem Ort keinen Meter mehr näher kam und verzog sich erst einmal mit seinem Glas in die hinterste Ecke der Lounge. Dort ließ er sich zwischen zwei Palmen auf einem der violetten Stühle nieder. Der Grappa war tatsächlich nicht von schlechten Eltern. Er nippte und nahm danach einen größeren Schluck. Langsam und tief atmete er ein und aus. Vielleicht würde er auf diese Weise noch zur Ruhe kommen und irgendeine Lösung finden. Nur nicht mehr zurück auf das Zimmer, das stand fest. Nicht mehr in dieser Nacht. Er ließ seinen Blick nach allen Seiten schweifen und fixierte schließlich wieder den Priester und sein Gegenüber. Jetzt hatte der Geistliche seinen Arm um die Schulter des anderen gelegt und ihn zu sich herangezogen. Irgendetwas flüsterte er ihm ins Ohr. Doch der schüttelte nur widerwillig den Kopf und rückte samt seinem Stuhl ein Stück weg, sodass der Arm des Priesters wieder von seinen Schultern herunterrutschte. Worum ging es da? Was wollte der Alte von dem Jungen? Der Alte verlangte etwas von ihm, aber dann wirkte er auch wieder so selbstsicher, lässig und von oben herab, als hätte er ihn gar nicht nötig. Ein ungleiches Paar. Entschlossen leerte Walter sein Glas. Jetzt nur keinen weiteren Grappa. Er schüttelte sich und stand auf.

In der Lounge war es entschieden zu trist. Wohin aber dann? Es war wohl der tief nächtlichen Stunde und seiner Benommenheit geschuldet, dass er jetzt in den Innenhof taumelte, über die Schwelle dieses akustischen Infernos – ein gewiefter Psychoanalytiker hätte ihm sein widersinniges Verhalten wohl in Analogie zu von Terroristen Entführten gedeutet, die sich in die verliebten, die ihre Herren über Leben und Tod waren. Leben und Tod, Wachen und Schlafen, ach, auf solche Feinheiten wollte und konnte er in diesem Augenblick nicht achtgeben. Irgendwie hatte er mit einem Ausbund an Bewegung, an eng umschlungenen Paaren und an beim Tanz wild herumgewirbelten Haaren gerechnet. Aber nur noch eine Minderheit tanzte, die meisten standen mit leeren Gesichtern einfach nur herum und warteten auf die nächste Unterhaltungsnummer. Triste Tropen! Angewidert und ernüchtert zugleich drängte Walter sich an der Wand entlang, in der vagen Hoffnung, da hinten gehe es in den Garten und damit an die frische Luft. Als er die Querseite des Innenhofes erreichte, entdeckte er auf einmal eine große Bronzetür, die hinter einer Palme versteckt war. Nein, keine bloße Tür, das war ein Portal. War das auch so eine postmoderne Verfremdung? Seltsam, sie wirkte wie eine alte Kirchentür. Er legte die Hand an die Klinke. Verschlossen!

Neugierig war der Barkeeper ihm nachgegangen, hatte ihn beobachtet, tippte ihm auf die Schulter und schrie ihm durch das wieder aufbrandende Getöse zu: „Die Kirche ist geschlossen. Was wollen Sie noch darin? Sie sehen doch, die Hochzeitsgäste sind längst betrunken.“

„Eine Kirche?“, gab Walter zurück. „Was macht denn hier eine Kirche?“ Der Blick die Fassade empor glitt an schlichten Lisenen entlang bis zu einer Rosette und dem flachen Giebel, unverkennbar in Nachahmung altrömischer Basiliken. Ach, was musste das Gotteshaus hier mit ansehen!

Der Hotelangestellte zog ihn in eine stillere Ecke der Lounge zurück und taute auf einmal auf. Wer sich in einem Vier-Sterne-Hotel für eine Kirche interessierte, war aufregender als die Ergebnisse der dritten italienischen Fußballliga, zu deren Lektüre er sich in der Gazzetta inzwischen durchgearbeitet hatte. So erzählte Giovanni – auch seinen Namen ließ er nun einfließen –, dass das ganze Areal des Palazzo bis vor sieben Jahren die Zentrale der katholischen Laienbewegung Gaudium et Spes gewesen war. Dazu machte er eine bewundernde Miene, als spräche er von Inter Mailand oder dem AS Rom, diesen imposanten Fußballimperien. Ja, Gaudium et Spes, früher die „Kämpfer der Immaculata“, war die mächtigste Massenorganisation der Kirche hierzulande und hatte über viele Jahrzehnte hinweg einen beträchtlichen Teil der Regierungselite der Democrazia Cristiana gestellt. In den Jahren nach dem Konzil war diese schlagkräftige Vereinigung ins Trudeln geraten und hatte innerhalb eines Jahrzehnts mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Inzwischen hatte sie sich zwar programmatisch erholt, war aber dennoch stetig weiter geschrumpft. Ein repräsentativer Palazzo nur fünfhundert Meter vom Vatikan entfernt, den die Organisation Anfang der fünfziger Jahre erworben hatte, war aus diesem Grund auch kaum mehr zu halten. Beraten von der italienischen Bischofskonferenz, behielt man nur einige Büroräume, baute den Rest zu einem Hotel höheren Standards um und verpachtete ihn. „Eine großzügige Wohnung haben sie sich dann doch auch noch reserviert, zweihundertachtzig Quadratmeter groß, für den Prälaten von Gaudium et Spes. Den da hinten.“ Giovanni deutete mit dem Kopf auf den Priester in dem violetten Stuhl. „Prälat Gaudium nennt man ihn. Seit über dreißig Jahren ist er der geistliche Präsident der Bewegung. Ohne ihn geschieht hier nichts. Eminenza grigia, capisci?“, meinte Giovanni vielsagend.

„Und heute?“, fragte Walter. „Hat er diese Hochzeit zelebriert?“

„Eine Prominentenhochzeit, ja. Politik und Kirche sind hier immer noch…“ Giovanni schloss Daumen und Zeigefinger beider Hände zu zwei ineinandergreifenden Ringen. „Così!

„Und die Kirche hat man nicht auch noch zu Hotelzimmern gemacht?“, fragte der Gast aus Deutschland sarkastisch.

„Nein, das wäre auch schön dumm. Hochzeiten wie diese sind doch die beste Einnahmequelle. Sie ahnen nicht, wie viel die Italiener für den schönsten Tag des Lebens ausgeben, wenn sie nur irgendwie an das Geld dafür herankommen.“

„Aber jetzt ist die Kirche geschlossen?“, fragte Walter nach.

„Für normale Gäste schon“, meinte Giovanni und grinste Walter an, „aber wenn Sie unbedingt wollen…“ Walter dachte schon, nun würde er ein gehöriges Trinkgeld verlangen, aber da hatte er sich in dessen Charakter getäuscht. „Die große Sakristei wird nicht mehr gebraucht, da haben wir das Lager für unsere Bar installiert. Ich habe einen Schlüssel.“ Ohne zu fragen gab er ein Zeichen, ihm zu folgen. Über zwei Gänge betraten sie einen halbdunklen Vorraum, und mit dem Klick eines Transponders sprang eine Nebentür zur Kirche auf. Walter stolperte beinahe hinein, während Giovanni sich gleich wieder zurückzog. Beim Betreten der Kirche ging automatisch die Beleuchtung an. Eine ausgeklügelte Effekt-Beleuchtung auf Säulen, Bankreihen und Deckengewölbe. Träumte er oder war das wirklich? Eben noch in der hypermodernen Lounge des Vier-Sterne-Hotels und jetzt das Muster einer frühchristlichen Basilika, die aber in Wirklichkeit erst 1953 errichtet und von Papst Pius XII. persönlich geweiht worden war. Glänzender Marmorboden, zu jeder Seite glatte Travertin-Säulen, die das Hauptschiff von zwei niedrigeren Seitenschiffen trennten, oben ringsum eine geräumige Empore. Der Blick wanderte nach vorne zum Altarraum, den eine sicher acht Meter hohe züchtige Madonnenstatue beherrschte. „Tota pulchra es, Maria, et macula originalis non est in te. – Ganz schön bist du, Maria, und kein Makel der Erbsünde haftet an dir“, so stand über dem Triumphbogen. Der allerreinsten, makellosen, vor jeder Sünde bewahrten Jungfrau und Gottesmutter Maria war dieses Heiligtum geweiht. 1953, also bald nach dem Dogma der Aufnahme Mariens in den Himmel. Walter hielt den Atem an. Mit einem Mal spielte sich eine triumphale Orgelmusik ein, ebenso von unsichtbarer Hand wie das Licht. Unter dem Triumphbogen wurde ein elektronisches Spruchband sichtbar, welches das gespielte Orgelstück bezeichnete: Louis Vierne, Orgelsymphonie Nr. 1 d-Moll, Pastorale.

Was suchte Walter hier am heiligen Ort, er, der abgefallene Priester? Mitten in der Nacht war er alleine in diese Kirche geraten, die ihm jetzt ein Programm vorspielte wie von Geisterhand, ihm, mutterseelenallein, während sie draußen mit teuren Orgien Hochzeit feierten. Walter schritt den Mittelgang entlang, auf dem heute Nachmittag der Vater die Braut dem Bräutigam zugeführt hatte. Die Gummisohlen seiner Schuhe quietschten auf dem glatten Stein, und der große Klangkörper der Kirche warf das Echo hämisch zurück. Wirklich, was hatte er hier zu suchen? Er trat seitlich in eine Bank. Aber nein, die Sitzflächen hatte man entfernt und stattdessen weich gepolsterte Sessel wie in einem Kino aufgestellt. Im Violett der Lounge? Nein, rot. Rot wie die Liebe und rot wie das Blut. Walter wandte sich zur Rechten und dann zur Linken. Aus den Seitenschiffen starrten ihn grobe Holzblöcke an, Skulpturen, die wohl entfernt an Michelangelos Schiavi erinnern sollten, an Giganten und Heroen, die um ihr Leben kämpften. Wieder diese Inbilder des alten Heidentums. Walter holte tief Luft. Und wenn er sich jetzt einfach hier hinlegte, ob er dann vor lauter Müdigkeit vielleicht doch noch einschlafen könnte? Wohin sollte er sich aber legen? Flache Bänke gab es ja nicht, und die Sitze waren ergonomisch geformt, nichts anderes als sitzen war darauf vorgesehen. Wenn schon, dann müsste er sich auf den Steinboden legen. Und dann diese eingespielte Musik. Das hörte doch niemals auf, solange der Bewegungsmelder auch nur einen Besucher registrierte. Jetzt war es Soft-Pop, der wohl eine vage Stimmung von Weite und Sehnsucht verbreiten sollte, dazu natürlich aus dem Hintergrund immer noch das gnadenlose Wumm-wumm-wumm von draußen. Nein, er hielt es auch hier nicht aus, ebenso wenig wie auf seinem Zimmer. Dann doch lieber die Nacht in der Lounge versacken und morgen den Tag auf dem Zimmer verschlafen. Es war sowieso alles egal. Noch einmal quietschten seine Sohlen. Dann hatte er den heiligen Raum verlassen.

Die Lounge war leer. Das ungleiche Paar von eben war verschwunden und die Bar verwaist. Wo war Giovanni? Gerade wo es interessant geworden war, ergriff er die Flucht. Was für ein Laden! Walter hatte die Schnauze voll. Er würde den Barkeeper suchen, und wenn er ihn eigenhändig zurück an seinen Arbeitsplatz befördern müsste! Ach Quatsch, was spielte er sich den Helden vor? Er würde ja doch nur in einem der Sessel hier versinken, vor sich hin stieren, und, wenn Giovanni sich dann irgendwann zurückbequemt hätte, schön artig „Un’altra grappa“ bestellen, diesmal allerdings nicht aufs Haus. Nein, was wollte er? Er wollte auf einmal doch nicht an diesem Ort hängenbleiben und einen Grappa nach dem anderen in sich hineinschütten, bis die Sonne aufging. Was blieb ihm stattdessen übrig, als auf den bitteren Ton der Kriegstrompete zu hören: Rückzug aufs Zimmer und Fügung ins Unvermeidliche? Lustlos, todmüde und mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge begab er sich in Richtung Aufzug. Seltsamerweise war er besetzt. Da hinten, war da nicht das Signal eines weiteren Aufzugs erkennbar? Er steuerte ihn an, den Flur im Erdgeschoss entlang. Er war erst ein paar Schritte gegangen, da beschlich ihn schon das Gefühl, in diesem Bereich des Hotels fehl am Platz zu sein. Hier brannte nur ein Notlicht. Fremde waren hier also gar nicht vorgesehen. Egal, er wollte den Aufzug nehmen, und ihm leuchtete ja das rote Signal entgegen. Was machten da schon die paar Schritte im Halbdunkeln? Ein paar Meter weiter konnte er kaum mehr etwas erkennen. Vorsichtig tastete er sich voran, die Fußspitzen als Ortungsgerät. Warum um Himmels willen sprang hier keine Beleuchtung an wie sonst auf den Fluren? Es fiel ihm alles so schwer, er musste endlich ins Bett, um jeden Preis. Kapitulation auf der ganzen Linie. Wie er nun mal war. Oh Gott, dieser Grappa eben, der hätte nicht noch sein müssen. Konnte er schon nicht mehr sicher auftreten? Seine Rechte tastete sich an der Wand entlang, so gewann er Meter um Meter auf das Rotlicht zu. Da, was war das? Um ein Haar wäre er gestolpert. Sein Fuß war an etwas am Boden gestoßen, es schepperte leicht. Etwas Leichtes, Längliches, ein Rohr, ein Ast oder so etwas. Walter griff danach und führte es an seine Augen. Er erkannte es, selbst in diesem Dämmerlicht: Das war der Spazierstock des Priesters. Unverkennbar der versilberte Griff, an dem ein großer Adler prangte, der König der Lüfte. Sein Besitzer hatte ihn fallen gelassen. Wo war er?

Walter beschleunigte seinen Schritt. Er hatte gerade den halben Flur geschafft, da kam ihm ein seltsames Schnaufen entgegen. Er starrte ins Dunkel. Niemand war zu sehen. Aber zu hören: Jemand stöhnte, ein schwaches, hilfloses Jammern. Was war das? Wer war das? In der Mitte des Flurs stand eine Pflanze, vielleicht ein Ficus. Dahinter, wie denn? Da lag doch einer. Waren das hinter dem Topf nicht Beine? Walter kam dem Geräusch näher. Jemand war gestolpert, vielleicht weil er im Halbdunkel den Kübel nicht erkannt hatte. Oh, das war ja … das war ja tatsächlich dieser Priester, dieser Prälat von Gaudium et Spes. Jetzt nur keine Panik! Es war alles ganz harmlos, und ein Hotelgast aus Deutschland konnte doch so tun, als habe er nichts gesehen. Wirklich? Konnte er einfach weitergehen? Der da war doch sicher nur betrunken, was denn sonst? Nein, keine Ausreden! Vorhin hatte der Prälat nicht gewirkt wie jemand, der schon schwer geladen hatte. Nur, was sollte Walter denn tun? Giovanni rufen? Aber wohin war der verschwunden, zum Teufel nochmal? Und wenn er auftauchte, er würde ja doch nur müde lächeln. Der kannte das doch sicher schon, vielleicht sogar jeden dritten Abend. Priester und Alkohol! Oder doch etwas anderes? Das Alter, ein plötzlicher Schwindel, ganz harmlos? Die späte Stunde hätte auch schon jemanden an seine Grenzen geführt, der noch in der Blüte seiner Jahre stand, wieviel mehr dann einen Mann von weit über siebzig? Ja, gekrümmt und mit fahler Gesichtsfarbe, da sah man ihm das Alter ganz anders an als vorhin. Im Halbdunkel wirkte das alles noch beängstigender. Nein, vorbeigehen durfte er auf keinen Fall. Wie war das mit Priester, Levit und Samariter? Ach, zum Predigen war er wirklich nicht hier, und das mitten in der Nacht. Walter kniete nieder und fasste den Liegenden an der Hand. „Ich helfe Ihnen, Herr Prälat!“ Woher kamen diese alten katholischen Reflexe, diese Anrede mit dem Titel „Prälat“ noch in der Stunde der Not? Der Geistliche wimmerte nur etwas.

„Soll ich Hilfe holen?“ Ein schwaches Kopfschütteln war die Antwort. Walter fragte weiter: „Wo ist Ihre Wohnung? Ich bringe Sie hin. Sie haben ein bisschen zu viel getrunken. Schlafen Sie, und morgen geht es wieder besser. Vielleicht auch mit zwei, drei Aspirin.“

War das ein Lächeln auf seinem Gesicht? Verdammt, warum war es hier nur so dunkel? Er hörte den alten Priester leise, aber deutlich sprechen: „Alleine. Ich werde den Weg schon alleine schaffen. Ich brauche nur etwas Zeit, viel Zeit. Lassen Sie mich.“ Dabei hielt er seinen Hut auf der Brust wie ein Panier. Doch Walter täuschte sich nicht, der da am Boden wirkte zu elend, er durfte ihn auf keinen Fall im Stich lassen. Wer weiß, was noch geschehen würde? Er müsste sein Vertrauen gewinnen. Verstand er überhaupt sein Italienisch? Wie in einer Eingebung offenbarte er ihm: „Sie können mir vertrauen. Ich bin auch ein Priester, das heißt, ich war es. Ich war es fünf Jahre lang, bis …“ Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Prälaten aus. Keine Frage, er hatte ihn verstanden. Er zog Walter mit seiner rechten Hand näher zu sich. Den anderen Arm legte er ihm auf die Schulter, ganz ähnlich wie vorhin dem jungen Mann. Wie in Zeitlupe zog er Walters Kopf zu sich, sein Ohr ganz nahe an seinen Mund. Dann sprach er, und jede Silbe war wie der Stundenschlag einer Standuhr: „Voglio confessarmi. – Ich möchte beichten.“

„Bei mir?“ Walter wollte sich aufrichten, aber der Italiener hatte erstaunlich viel Kraft in seiner Rechten und hielt ihn zurück. Der Deutsche protestierte: „Aber ich bin kein Priester mehr, wenn ich es Ihnen doch sage.“

Der Prälat schüttelte den Kopf: „Doch, du musst. Danach kannst du gehen!“ Er atmete dreimal tief aus und ein, schloss die Augen und schwieg lange. Walter meinte schon, er sei am Boden einfach eingeschlafen. Endlich formten die Lippen des Bußfertigen ein einziges Wort: „Grazia.“ Was war das, sein Bekenntnis? Die Bitte um Gnade für den Sünder? Schon folgte die Vergebungsbitte: „Pater, peccavi“, dann verfiel er wieder in sein leises Stöhnen, mit unverständlichen Worten vermischt.

Was ging hier vor? Was sollte Walter tun? War das der Irrwitz eines Betrunkenen, Altersverwirrtheit, ein schlechter Scherz? Natürlich, das war der rettende Gedanke. Eine gespielte Beichte war das, was denn sonst? Genau genommen war es ja auch gar keine richtige Beichte. Sünden hatte er ja keine bekannt. Nichts als „Grazia“. Gnade mit einem alten Genießer? Oder was sollte das Wort bedeuten? Verrückt das Ganze, das war doch nur noch absurd. Der Tiefpunkt einer schrecklichen Nacht. Hilfesuchend schaute Walter sich um, doch vergeblich. Wie sollte denn auch auf diesem abseits gelegenen Flur nachts um halb drei jemand daher stolziert kommen? Der da am Boden musste ins Bett, weiter nichts. „Wollen Sie heim?“ Eine blödere Frage hätte er sich nicht einfallen lassen können. Doch auch Tatkraft war nicht Walters Stärke, und so sah er ihn nur ratlos an, anstatt ihn beherzt mit einem Rettungsgriff zu seiner Wohnung zu ziehen. So nahm ihm der Gestrauchelte die Antwort ab: „Und jetzt du! Sprich mich los!“ Da gab es kein Widerwort, das war unmissverständlich. Walter war wie betäubt. Er konnte doch nicht … Oder musste er? In der Todesstunde muss selbst ein solcher Priester seines Amtes walten, der eben dieses Amtes enthoben ist. In der Todesstunde? Nichts begriff er, nur dass es diesem Geistlichen unendlich ernst war. Ganz langsam stützte er sich auf Walter, richtete sich auf und verneigte sich. Wie in Trance sprach Walter Hanseler die Worte der Absolution. Ohne ein weiteres Wort drückte der Prälat sich empor, wandte sich ab, schlich in Richtung seiner Wohnung und verschwand im Halbdunkel des Flurs.

Goldmarie und Pechmarie

Es war ein schweres Erwachen. Gerade so wie Walter in dieser Nacht um ein paar Krumen Schlaf gebettelt hatte, so klammerte er sich an diesem Morgen mit allen Fasern an seinen Halbdämmerzustand wie ein Hungerkind an seine Brotkruste. Zweimal musste das Zimmermädchen sich räuspern und ihn verlegen stören: „Entschuldigen Sie, ich wusste nicht, dass Sie noch im Zimmer sind. Es ist schon halb zehn.“

Oh nein! In seinem zerwühlten Bett kam sich Walter vor wie das zerzauste Staatsschiff des Horaz, mit gebrochenem Mast, zerrissenem Segel, fehlenden Rudern und ohnmächtigem Steuer. So sollte er in den neuen Tag treten? „O navis. – Trägt von Neuem, o Schiff, dich in das Meer die Flut? / O, was tust du? Mit Macht strebe dem Hafen zu!“ Der sichere Hafen – Walter verkroch sich tiefer unter die Bettdecke. Doch gleich dämmerte ihm, dass ihn jemand angesprochen hatte, und er fügte sich ins Unvermeidliche. Natürlich, heute Nacht war er von dem Vorgefallenen viel zu verwirrt gewesen, um noch das rote „Bitte nicht stören“-Schild an die Tür zu hängen. War es tatsächlich schon halb zehn? War er also doch noch eingeschlafen und hatte heißhungrig die restlichen Rationen an Nachtruhe verschlungen, die ihm diese unmögliche Hochzeitsgesellschaft nicht entreißen konnte?

Stand da wirklich jemand in seinem Zimmer? Eine leibhaftige Person und kein Schreckgespenst aus seinen Träumen? Beim Erwachen von jemandem beobachtet zu werden, das war bei ihm doch gar nicht vorgesehen. Er wachte immer alleine auf. Und dann, wie konnte ihn dieses Mädchen auch noch auf Deutsch ansprechen? In einem gebrochenen Deutsch, aber doch viel besser als das der durchschnittlichen Angestellten in diesem Hotel. Weil Deutschland das Land ihrer Träume war? Mühsam richtete er sich im Bett auf und murmelte etwas wie eine Entschuldigung. Der Kopf war ihm schwer, die Augen verquollen. Welchen Anblick bot er wohl? Hastig stand er auf und hüllte sich in den Morgenmantel.

„Oh, Sie sind aber ordentlich. Das erlebe ich nur selten“, beachtete sie seine Geste. Walter sah zu dem Mädchen auf. Sie war eine Ausländerin, bestimmt als Flüchtling nach Italien gekommen. Eine Afrikanerin aus Äthiopien, unverkennbar mit ihren hervortretenden Backenknochen, der markant gezogenen Nase und dem schokoladenbraunen Teint. Nein, ordentlich, so sah sie aus, nicht er. Richtig edel, mit tiefem Blick und einem gewissen Stolz im Auftreten. Er konnte sich die Anzüglichkeiten lebhaft vorstellen, denen sie beim Saubermachen der Zimmer ausgesetzt war.

„Ordentlich? Ich und ordentlich?“ Walter lachte in jenem scharfen Ton, den ihm die letzten achtzehn Jahre beigebracht hatten. „Wenn Sie wüssten …“

Sie schien seinen Einwurf nicht zu beachten. „Ich kann auch wieder gehen. Dann mache ich Ihr Zimmer als letztes, vielleicht in einer Dreiviertelstunde.“