„Was verlangt man denn schon vom Geschick?
Bisschen Liebe, bisschen Glück!
Bisschen Rausch und Vergessen, bisschen Gefühl,
lieber Gott, sag doch selbst, ist das denn so viel?
Wir brauchen so wenig zum Glück!
Bisschen Wein und ein bisschen Musik!
Und ein Herz, dem ein und alles man ist,
bis man sich und die Welt ringsum vergisst.“
Aus der Operette Mit dir allein auf einer einsamen Insel von Ralph Benatzky, ab Mai 1930 am Metropol-Theater
Berlin-Mitte, Friedrichstraße, um 1926
Ein Leben zwischen
Theaterglanz
und Tod im Exil
VORSPIEL
Herzhaft weinen
„Morgen geht’s uns gut!“
Die Rotterbühnen
Hoffen auf Fritzi Massary
AKT I
„Schaie & Simonson, Herren- und Knaben-Konfektion“
Zerfetzte Reclamhefte unter der Schulbank
Der gute Ruf
Der misslungene Versuch, das Theater statt das Deutsche Reich zu retten
Beobachtung des Geisteszustands
„Der Lebensschüler“
Zeiten der Ruhe, Zeiten des Sturms
AKT II
Verlorene Jahre – und die verweigerte Theaterkonzession
Novemberrevolution 1918 und ihr Ende: Ein ganz persönlicher Kampf mit der Theaterpolizei
Salonkomödien – das Spiel geht weiter
„Sich amüsieren“ – Theater wie im Kino
Die beiden Bindelbands
Frivoles Berlin: Die Rotters als „Publikumsbarometer“
Im Spiel bleiben – Kultur der Hyperinflation
„Filigran aus Luft, Lust, Lächeln“
„Reklame macht nicht den Erfolg“
Der Vorwurf: „Nackte Spekulation auf den Sexus“
Die „gefährlichsten Menschen“ in der „lustigsten Stadt der Welt“
AKT III
Bälle, Mode und Film – Berlin 1925
Das andere Leben von Fritz Rotter
Ein Skandal, eine Ohrfeige und ein mysteriöser Tod
Verhängnis Börse
Richard Tauber und Käthe Dorsch: „O Mädchen, mein Mädchen“
„Land des Lächelns“ 1929
Operette und Große Depression: Das „wahre Zeittheater“
Rhythmus und Glücksrausch der Liebe: Ralph Benatzky und Paul Abraham
Der Bruch mit Lehár
Rückschläge
Ku’damm-Krawall 1931 – und ein Entschluss
Weihnachten 1931
Bitteres Ende eines Mäzens
Die Erschütterungen des Sommers 1932
Triumphe und böse Überraschungen
Einfach weitermachen
„Ball im Savoy“ und die Aussicht auf „kolossale Gelder“
AKT IV
Tumult um „Hitlers Bart“
In der Silvesternacht über den Tisch gezogen
Keine Schonung
Zeit gewinnen
Die letzte Chance – oder: „Sein oder Nichtsein des größten Theater-Konzerns“
Eine Pressekonferenz und ihre Folgen
Die Motive von Richard Bars
Endspiel
Nichts geht mehr
Abschied von Berlin: Fritz Rotters überstürzte Abreise
Wetterwechsel
AKT V
Warum die Operette den Untergang der Weimarer Republik nicht verhindern kann
„Nicht um zu hassen, um zu lieben, bin ich da“
Der Plan „dreier Wirrköpfe“
Die Bedeutung der Zahlen
Propaganda
„Hiebe prasseln“ – der Boykott vom 1. April 1933
Die Vorbereitung des Anschlags
Das Drama vom 5. April 1933
Trauerfeier und Flucht Fritz Rotters nach Paris
Der Prozess gegen die liechtensteinischen Täter
Der Prozess gegen die deutschen Täter
„Mich massakrieren lassen“ – der Tod von Fritz Rotter
NACHSPIEL
ANHANG
Danksagung
Editorische Notiz
Quellen
Anmerkungen
Register
Bildnachweis
Zuschauerraum des Metropol-Theaters in Berlin, ca. 1936
Wer im Garten lauscht, hört als Klavierklangwolke, was Monate später auf den Operettenbühnen der Brüder Rotter Beifallsstürme entfesselt und selbst in Amerika wahrgenommen wird. Die gemietete Villa an der Kunz-Buntschuh-Straße 16–18 („die eisernen Tore“ sind „mit vergoldetem R geziert“)1 in Grunewald halten Kritiker wie der Berliner Journalist Stefan Großmann für „pompös“2 – sie ist für Fritz und Alfred Rotter Mittelpunkt des Lebens. Auch wenn sie mit den Zahlungen im Rückstand sind: Die rauschenden Premierenfeiern hier müssen weitergehen. Es geht „bis mittags gewöhnlich leise zu“, denn „ein Theaterdirektor kann erst um 2 Uhr anfangen“, zitiert Alfred Rotter sein Vorbild und ersten Förderer, den Regisseur Otto Brahm3. „Von zwei Uhr an war dieses vielräumige Haus in allen Zimmern besetzt und mit Geschäften und Mahlzeiten, Projekten und Konferenzen, mit Musik und Debatten angefüllt.“4
In der Villa erklingt auch zum ersten Mal ein langsamer Tangorhythmus.
Irgendwie, irgendwo, irgendwann, trat auch an mich der Augenblick heran, wo ich die Freiheit des Herzens verspielt und wo beklommen ich gefühlt: Ich bin verliebt … irgendwo, irgendwann, irgendwie, fliegt durch die Luft ein Fünkchen Sympathie, sucht ein fremdes Herz, wo es zündelt und brennt, bis man, schon halb verbrannt, erkennt: Ich bin verliebt …
Der Ohrwurm Ich bin verliebt stammt aus der Operette Mit dir allein auf einer einsamen Insel des Komponisten Ralph Benatzky. Im Dezember 1929 haben die Brüder Rotter die Aufführung in Dresden am Residenz-Theater getestet, ehe sie sie nach Berlin in ihr Metropol-Theater bringen – in jenes Haus, das nach dem Krieg als Komische Oper wiedererstehen wird.
Als Stefan Großmann, der die Rotter-Villa von innen und außen kennt, seine oben zitierte Rückschau im Januar 1933 veröffentlicht, trennen Berlin nur noch zwei Tage vom Beginn der Diktatur. Zu diesem Zeitpunkt sind die Rotters seit gut zwei Wochen insolvent und bereits außer Landes, aber scheinbar noch nicht am Ende ihrer Karriere: „Die Brüder Rotter stellen einen Typus dar, auf den Berlin nicht leicht verzichten kann, sie sind die letzten Theaterunternehmer“5, so Großmann. „Jeder, der seit fünf Jahren in Berlin als freier Unternehmer Theater betreiben wollte, ist mehr oder weniger schnell zusammengebrochen“, währenddessen „blieben die Rotters quicklebendig, sie hatten Schulden, aber immer wieder kam ein ungewöhnlicher Publikumserfolg, der sie rettete“.6
Die Erfolgsoperetten der untergehenden Weimarer Republik sind melancholisch, geheimnisvoll, wehmütig und fröhlich zugleich, berückend im Glücksversprechen, furios euphorisch und frivol, schmerzhaft sehnsuchtsvoll, mit schmachtenden Schlagern. O Mädchen, mein Mädchen, wie lieb ich dich! Wie leuchtet dein Auge, wie liebst du mich!, stimmt Richard Tauber 1928 in Franz Lehárs Goethe-Singspiel Friederike7 an. Der Tenor ist jahrelang der größte Star der Rotterbühnen, und diese Lehár-Operette, unter der „Direktion“ von Fritz und Alfred Rotter, bricht alle Rekorde: „Und so ist denn das Wunder zustandegekommen: in diesem Haus, in dem sich das getrüffeltste Publikum von Berlin […] zu versammeln pflegte, wird in die Taschentücher geschluchzt …“8
Auch der New York Times fällt die spezielle Wehmut der Rotter-Produktionen auf: Die Zeitung zitiert Alfred Rotter, den älteren der beiden Brüder, mit den Worten, das Publikum komme in eine Operette, um herzhaft zu weinen.9
Und doch: Am 25. Dezember 1931 wechseln die Brüder mit Morgen geht’s uns gut! von Ralph Benatzky das Genre zur jazzbetonten Musical-Komödie, als ob die Weltwirtschaftskrise schon fast vorüber wäre und ihnen das Wasser nicht selbst bis zum Hals stünde. Sie spüren, dass das Publikum nach Neuem verlangt, und sind sich sicher, auf der richtigen Fährte zu sein. Im Schlussgesang heißt es:
Ja, morgen geht’s uns gut, ich weiß das, morgen geht’s uns gut, was heißt das, noch ein bisschen Mut, und auf einmal blitzt auf ein Sonnenstrahl! Wie schwer’s jetzt auch ist, ich bin und bleib’ Optimist, und rufe: Morgen geht’s uns gut, das Glück, es ist uns nah! Hurrah! Hurrah!
Ein halbes Jahr nach der Premiere von Morgen geht’s uns gut!, im Sommer 1932, sind Fritz und sein Bruder Alfred vierundvierzig und sechsundvierzig Jahre alt. Sie beide und, wie anzunehmen ist, auch eine Anzahl ihrer Angestellten folgen einem Gerichtsvollzieher namens Schablin, der das Verzeichnis der gepfändeten Gegenstände diktiert. Schauplatz ist immer noch die Villa in Berlin-Grunewald. Der Blick durch die Fenster auf das Grün kann in Anwesenheit des Pfändungsbeamten nicht beruhigen.
Das 8 Uhr-Blatt in Nürnberg, dem Fritz Rotter im folgenden Jahr im liechtensteinischen Exil das längste Interview seines Lebens geben wird, bezeichnet ihn, den Jüngeren, als „Pfiffikus, wie er im Buche steht“, als „eigentliche Triebfeder der Rotter’schen Unternehmungen“.10 Er ist der stillere, aber wenn er redet, der gewandtere der Brüder.
Alfred hingegen, einen Kopf größer, stets auf etwas unsichere Weise um Dominanz bemüht, gilt als heftiger. Vielleicht geht also der ältere Bruder neben Schablin her und macht lautstark Einwände geltend. In einem Brief betont er nur wenige Wochen später: „Wir haben die größte Mühe, trotz der großen äußeren Erfolge die täglichen Betriebskosten einschließlich der für die Premiere gemachten Vorspesen zu decken. Es ist ja auch ganz selbstverständlich, dass heute selbst ein erfolgreich arbeitendes Unternehmen nicht noch Rücklagen machen kann, denn dann hätten wir ja keine Wirtschaftsmisere.“11
Sie lassen das Speisezimmer hinter sich – den großen runden Tisch, um den herum vierundzwanzig Personen Platz finden, aber lediglich achtzehn Sessel mit Arm- und Rückenlehne verteilt sind. An der Unterseite tragen diese bereits den Pfändungs-„Kuckuck“, wie es in Berlin heißt. Auch die drei Ölbilder – zwei mit goldenem, eines mit schwarzem Rahmen, so der Beamte lapidar – sind auf diese Weise markiert, ebenso der über sieben Meter lange Orientteppich und der Wandgobelin, letzterer drei mal fünf Meter groß.
Viel Platz ist in der seit der Inflationszeit angemieteten Villa mit sechzehn Zimmern, die dem Kunstmaler Richard Mette und seiner Frau gehört und am westlichen Ende des Kurfürstendamms unweit des Halensees liegt. Fritz und Alfred Rotter müssen sich unter den Augen des Gerichtsvollziehers nicht eigens verständigen. Niemals wird von Außenstehenden auch nur ein Anzeichen einer Uneinigkeit zwischen ihnen wahrgenommen, so verschieden sie als Charaktere sein mögen. Alfred inszeniert an den Rotterbühnen und vertritt sie nach außen, die Verhandlungen führt meist Fritz. Beide wissen, es wird diesmal eng.
Der Gerichtsvollzieher schätzt auch in der Diele die breiten Teppiche, den 24-flammigen Kronleuchter, die elf Ölgemälde und die Gruppe mit Ledersofa, sechs Armlehnsesseln und rundem Tisch – und gibt einen lächerlich geringen Preis an. Während Fritz sich vermutlich zurückhält, wird Alfred, womöglich auch persönlich gekränkt, weiter auf den Mann einreden. Der wird ihm antworten, dass bei Zwangsversteigerungen – sollte es dazu kommen – nur wenig reinzuholen ist. Wer macht schon nicht Konkurs dieser Tage? Alfred Rotter mag erwidern, dass sie mehrere Theaterhäuser bespielen, hunderten von Menschen auf und hinter der Bühne Arbeit verschaffen. Doch ein Gerichtsvollzieher ist Menschen im Ausnahmezustand gewöhnt und wird sich weder einfühlend noch abweisend verhalten. Möglicherweise sagt er: Ich bin hierherbestellt worden, der Rest ist Sache der Klagenden, die ihre Ansprüche verteidigen. Zwei Leuchter zu sieben Flammen auf dem Kamin: 60 Reichsmark.12
Die Villa in der Kunz-Buntschuh-Straße 16–18 in Berlin-Grunewald (einzig erhaltene Fotografie von 1933)
Sicher macht sich auch Alfreds Frau, Gertrud Rotter-Leers, bemerkbar. Sie stammt aus Hannover, ist am 25. Dezember 1894 geboren13 und hat vermutlich selbst einmal auf Theaterbühnen gestanden – von ihrem verschollenen Tagebuch sind nur zwei Eintragungen überliefert. Trude, wie alle sie nennen, ist nicht nur öfter bei den Proben dabei, sondern auch in die Finanzverwaltung eingebunden – täglich rechnet sie mit den Kassiererinnen an den Theatern ab. Sie habe sich „zuerst in Fritz verliebt“, dann aber Alfred geheiratet,14 noch im Krieg, am 10. Juli 1917.
Die siebenunddreißigjährige Trude also fängt vielleicht einen verzweifelten Blick ihrer Zofe Klara Walter auf, weil auch ihre Worte den Gerichtsvollzieher nicht umstimmen können. Die andere Hausbedienstete, Marta Juraschewski, wird sich im Hintergrund halten, genauso wie Fritz Rotters Friseur und Diener August Wittmoser, genannt Archibald, der von sich sagt, er sei „als Faktotum“ für alles Mögliche angestellt. Archibalds besonderes Merkmal, nämlich dass er nicht größer als ein Meter vierzig und „bucklig“ ist, kümmert hier niemanden. Die bei der Tageskasse anfallenden Münzbeträge und kleinen Scheine bringt er jeweils zur Bank und kehrt mit großen Scheinen zurück.
Nicht gefehlt haben dürfte auch der Oberbuchhalter der Rotterbühnen, Conrad Wolff, der mehr weiß, als er sagen kann oder darf. Seine Räume hat er im obersten Stockwerk der Villa, sämtliche Geschäftsbücher der einzelnen Gesellschaften werden dort geführt und aufbewahrt. Es ist nicht seine Schuld, dass sich die Bücher in einem „haarsträubenden Zustand“15 befinden.
Sie schreiten ins sogenannte Herrenzimmer. Neun Ölbilder. Gleiche Geschichte. Eine Bibliothek, Eiche geschnitzt: 200 Reichsmark. Als Nächstes das Musikzimmer: Der Flügel von der Firma Grotrian-Steinweg ist zum Glück nur gemietet, seit Dezember 1929. Der Buchhalter wird den Vertrag zur Hand haben, 35 Reichsmark monatlich. Fünf Bilder. Alles wird taxiert und mit den blaugefärbten Reichsadlern als Pfandsache markiert. Zum Schluss geht es in den Salon: acht Bilder für 1340 Reichsmark. – Es ist einfach nur zum Weinen.
Alfred Rotter verweigert die Unterschrift. Schablin, der Gerichtsvollzieher, wird dessen Bruder Fritz Rotter gar nicht erst auffordern und erklärt den Vorgang trotzdem für „geschlossen“: 31 290 Reichsmark, in Gänze. Bis zur Versteigerung bleibe genügend Zeit.
Fritz Rotter
Alfred Rotter
Gertrud Rotter
Von den beiden Brüdern bespielt werden im Frühjahr 1932 folgende Bühnen: Metropol-Theater, Theater des Westens, Lessing-Theater, Admiralspalast, Lustspielhaus, Zentraltheater Berlin, Zentraltheater Dresden, Albertheater Dresden, Mellini-Theater Hannover.16 1931 haben sie in Breslau für kurze Zeit auch das Stadttheater gemietet.
Doch man muss ein Theater wie etwa das Metropol nicht besitzen, um darin zu spielen. Mitten in der Wirtschaftskrise ist es nicht schwer, Pachtverträge zu bekommen. Und nach den großen Theaterpleiten 1930 und 1931 geht kaum noch jemand dieses Risiko ein – viele Bühnen stehen leer.
Mit Grundstück und Gebäude gehören ihnen das Lessing-Theater auf dem Boden des heutigen Ministeriums für Bildung und Forschung am Kapelle-Ufer in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs, zweitens das öfter mal leerstehende Lustspielhaus am unteren Ende der Friedrichstraße sowie drittens das Zentraltheater an der Alten Jakobstraße in Berlin, beide in Kreuzberg. Jede einzelne Liegenschaft ist mit Hypotheken schwer belastet.
Für Dramen und Komödien nehmen die Rotters noch das Deutsche Künstlertheater und das Theater in der Stresemannstraße (heutiges Hebbel am Ufer) hinzu.
Seit 1931 bespielen sie von Fall zu Fall auch das Theater im Admiralspalast schräg gegenüber des Bahnhofs Friedrichstraße und teilen sich mit dem Verpächter die Kasseneinnahmen – das Risiko tragen die Brüder Rotter selbst.
In Dauerpacht halten sie hingegen seit Frühjahr 1931 die Plaza, das Varieté-Theater in der alten umgebauten Halle des verlegten Ostbahnhofs in Friedrichshain mit 3000 Plätzen, wo im vierzehntägigen Wechsel „Billigversionen jener im Westen der Stadt erfolgreich inszenierten Rotter-Operetten“ gezeigt werden.17
Eine Anekdote über die Rotters in der Plaza erzählt der Direktor des Theaters am Schiffbauerdamm, Ernst Josef Aufricht, in seinen Erinnerungen18: Als er selbst nach dem großen künstlerischen Erfolg des Revolutionsstücks von Ernst Toller über den Matrosenaufstand in Kiel 1918, Feuer aus den Kesseln (31.8.1930), zu seiner Enttäuschung am Schiffbauerdamm auf den Eintrittskarten sitzenbleibt, genauso wie schon mit Bertolt Brechts Happy End (2.9.1929) – bezahlt gemacht hat sich nur die Dreigroschenoper (31.8.1928) –, verschickt er „tausende von Freikarten an Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen, um das Theater wenigstens einen Monat zu füllen“. Aber die Leute sind nicht in das Toller-Stück zu bringen. Aufricht:
„Die Freikarten wurden nicht angenommen. ‚Wollen Sie wissen, was die Arbeiter und die Arbeitslosen sich ansehen?‘, fragte mich jemand. ‚Gehen Sie in die Plaza!‘ Eine als Theater umgebaute ehemalige Bahnhofshalle war am Nachmittag ausverkauft. Man spielte drei Vorstellungen am Tag. Ein billiger Platz kostete 30 Pfennig. Die Brüder Rotter brachten ihre abgespielten Operetten in die Plaza und hatten im Vertrag mit der Direktion des Hauses, nur drittrangige Kräfte zu engagieren, um das Publikum nicht zu verwöhnen und anspruchslos zu halten. Als der Graf von Luxemburg [Operette von Franz Lehár] sich seine Zigarette mit einem Hundertmarkschein anzündete, vergaßen die Zuschauer ihre graue Misere und applaudierten begeistert.“
Hubert Marischka und Adele Sandrock in Der Graf von Luxemburg, 1928
Im Mai 1932 schon haben die Rotters kurz geglaubt, alle ihre Theater schließen zu müssen. Die nationalsozialistische Zeitung Der Angriff höhnt: „[…] aber es wird sicher allgemein interessieren, dass die Theaterdirektoren Rotter (mit jüdischem Namen Scheye) am 2. Mai den Offenbarungseid geleistet haben.“19 Das ist in mehrerer Hinsicht falsch: Erstens heißen sie richtig Schaie mit ai (der Name leitet sich vom hebräischen Namen des Propheten Jesaja ab), zweitens haben sie, wie es der Theaterkritiker der Vossischen Zeitung Monty Jacobs richtigstellt, „das Recht, auf dem Theater einen falschen Namen anzulegen“20, und drittens: Es geht weiter! Der Dresdner Bank allein schulden die Rotters zwar über eine Million, sie bieten aber auch Sicherheiten, und die Bank hält still. Andere Gläubiger stimmen einer Umschuldung und Teilzahlungen aus der täglichen Theaterkasse zu.
Den Gerichtsvollzieher im Nacken, beginnen sie Ende August und Anfang September 1932 die neue Saison wieder mit drei Produktionen. Ihr Überleben hängt von Fritzi Massary ab, dem Star von Eine Frau, die weiß, was sie will.21
Am Abend des 1. September 1932 steht alles auf dem Spiel – im Metropol-Theater. Seit Ende 1927 haben die Rotters es für 15 000 Reichsmark monatlich gepachtet, zuzüglich Nebenabgaben. Mit wie viel sie im Rückstand sind, darf jetzt nicht das Thema sein. Den Antrag auf Konkurseröffnung haben sie gerade noch abwenden können, indem sie für das Metropol tägliche Ratenzahlungen leisten.
Der Montag Morgen berichtet, Alfred sei derjenige, der an den Rotterbühnen die Stücke „auswählt, umdichtet und inszeniert“.22 Doch das trifft nur bedingt zu. Bis zuletzt hat auch Fritz die Neufassung der Stücke besorgt und ist als Autor wichtiger als Alfred. Heinz Hentschke von der Gesellschaft der Funkfreunde sagt später: „Im übrigen hatte Alfred die Zahlen in groben Zügen ohnehin immer im Kopf.“ Ihr Vetter dagegen, Werner Guthmann, der seit 1918 bei ihnen Bühnenleiter ist, hält ihnen vor, dass „die Bücher nicht in Ordnung“ seien: „Seit Jahren haben wir eine Unmenge Zahlungsbefehle gehabt und ebenso viele Prozesse geführt. Freiwillig wurden überhaupt fast keine Rechnungen bezahlt“ – so wird er es 1933 dem Staatsanwalt schildern.
Die Brüder beschäftigen zudem ihren Schwager Ludwig Apel als Verwaltungsdirektor, der ihnen trotz der familiären Bindung nicht gewogen ist. Er ist der Ehemann von Marianne Leers, der Schwester von Alfred Rotters Ehefrau Gertrud. Apel bedauert, dass er wegen seiner jüdischen Frau die Mitgliedschaft in der NSDAP verloren hat. Aus deutlicher Missgunst gegen die Rotter-Brüder wird er 1933 ein hartes Bild von ihnen zeichnen und eine Chronologie ihrer Verschuldung den Behörden übergeben – die beiden hätten sich 1927/28 „über den Winter hin durchgewurstelt“, dann in Friederike die „Hauptrollen Tauber und Käthe Dorsch zu bisher noch nicht gekannten Rekordgagen herausgestellt“: „Man spielte eben va banque, und das mit vollem Bewusstsein.“
Aber ist diese behauptete größte Schwäche der Rotters – ihr spielerischer, zu jedem Risiko bereiter Wagemut – nicht insgeheim ihre größte Stärke?
Apel sieht das anders: „Hätte Friederike versagt, so wären die Rotters schon damals erledigt gewesen“, meint er, „denn die Hauptdarsteller hatten ihre langfristigen Verträge, die erfüllt werden mussten, in der Tasche“. Apel in missmutigem Ton weiter: „Im nächsten Winter 29/30 gab es im Metro[pol] Lehárs Land des Lächelns, eine Operette, die vor Jahren unter der Bezeichnung Die gelbe Jacke in Wien nicht angesprochen hatte. Lehár hatte alles zur Restaurierung dieses Werkes getan und besonders für Tauber den großen Schlager Dein ist mein ganzes Herz eingefügt. Vera Schwarz glänzte mit ihrer großen Kunst, und so war ein zweiter bedeutender Erfolg gezeitigt, wenn auch nicht in dem Ausmaße wie der von Friederike. Die Rotters waren in dieser Zeit auf ihrer höchsten Höhe. Die Schuldenlast war erträglich, die Gläubiger, besonders die Banken, die noch alte Forderungen hatten, drängten nicht nennenswert, aber trotz allem begann damals schon die Theaterkonjunktur, ebenso wie die der gesamten Wirtschaft, abzuflauen.“23
Fritz Rotter hat ein sehr künstlerisches Verhältnis zum Geld – für ihn ist es der Stoff, der die Wirklichkeit mit der Welt der Fiktion verbindet und am Ende selbst ein Stück Fiktion wird, reine Phantasie: Haben nicht Krieg, Inflation, Deflation und nun die Große Depression gezeigt, dass Geld die Wandelhaftigkeit selbst ist? Ein Ausdruck von Irrealität – und gerade deswegen Spielmittel und Bühne aller Spiele?
Zurück ins Metropol-Theater im September 1932.
Mit mir ist nicht zu spaßen … Ich werde das Kind schon schaukeln … nehme die Sache selbst in die Hand, ich rette das Vaterland, singt Massary. Die Sache, die man Liebe nennt, ob einst, ob jetzt … wird überschätzt. Die ganze große Leidenschaft – la grande passion –, wenn’s auch mitunter Freuden schafft, was hat man schon davon?
Operetten wie Eine Frau, die weiß, was sie will brauchen ein Chanson, das der Hauptfigur auf den Leib geschrieben ist und dem Publikum noch Tage und Wochen im Kopf nachklingt. Fritzi Massary singt:
Was so die Gesellschaft redet zwischen Lunch und Dinner nachmittags bei Five o’clock von Madame X und Madame U. Am besten ist’s, man hörte den Leuten gar nicht zu! ‚Die hat ihren Mann betrogen, die ist dem Chauffeur gewogen.‘ Und man urteilt ganz en bloc: ‚Mit Mister Z ist sie intim, er hat mit ihr etwas und sie hat was mit ihm.‘ Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben, kein Verhältnis haben, kein Verhältnis haben? Ist sie hübsch, wird man sagen: ‚Na die muss doch eins haben, ’s wär zu dumm!‘ Na, und wenn man schon so redet und sie hat keins, na dann ist es doch viel besser gleich, sie hat eins! Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben? Können Sie mir sagen: Warum? Man lacht diskret und maliziös, und so entsteht die ganze Chronique scandaleuse!
Scheinbar eine Luxus-Sorge in der Metropole der schreienden Gegensätze, aber überall nachgesungen in Berlin. Obwohl die für Herbst 1932 angekündigte Mode extrem lange und eng geschnittene Damenmäntel mit Pelzbesatz am Hals und kleinem Hütchen vorsieht, preisen die Zeitungen Mittel gegen Magerkeit an: „Von den Männern bewundert – weil sie schön ist. Vor kurzem war sie noch mager, zeigte zu viel Knochen statt gesunden glatten Fleisches und war noch blass dazu. Sie nahm ‚Eta-Tragol-Bonbons‘.“ Mit denen lasse sich „das Körpergewicht in einigen Wochen um 10 bis 30 Pfund erhöhen“: „Die unschönen Knochenvorsprünge an Wangen und Schultern schwinden.“24 Als Schönheitsideal gilt ein absichtlich sehr schmal geschminkter Mund, vielleicht weil dies die Augen größer erscheinen lässt.
Das werden Fritz und Alfred kaum noch wahrnehmen, bei ihnen geht es ums Ganze. Mit Pfändungen und Schulden sind sie mittlerweile so übel dran, dass ein Großerfolg allein nicht reicht – sie brauchen pro Spielzeit deren drei.
Zwei haben sie in diesem bitteren Sommer bereits.
Am 19. August 1932 hatte im Theater des Westens das Singspiel Dreimäderlhaus (1916) über den Komponisten Franz Schubert Premiere. „Ein umjubelter Sänger wie Richard Tauber tritt in der Maske des Meisters auf, stellt ihn respektvoll dar, der Operettenform überlegen. Taubers Beliebtheit, seine bemerkenswerte Leistung holen die Verbrauchtheit des Dreimäderlhauses auf. Bei einem Höchstgrad sommerlicher Temperatur musste der Künstler jede Gesangsnummer, jedes Duett wiederholen.“25 „Gitta Alpár warf aus der Direktions-Loge, in der übrigens Fritz Rotter fehlte, dem großen Kollegen Blumen zu“26, das Dreimäderlhaus „trägt der Direktion Rotter und den Sängern den erhofften Erfolg ein“.27
Den zweiten Erfolg haben sie drei Tage später errungen, am 22. August 1932, mit Gitta Alpár im Admiralspalast in der Uraufführung von Katharina. Eine russische Ballade unter Alfreds Regie. „Eine Premiere mit Siedetemperatur des Beifalls“28, „das Publikum ist hingerissen“ – „so bedeutet die Katharina die völlige Abkehr von einem Operettenschema, das schon zur Landplage geworden war“.29
In der linken Rangloge zeigten sich beide, Fritz und Alfred Rotter, vor Aufführungsbeginn, und zwar mit den Schauspielstars Grete Mosheim und Oskar Homolka, „und grüßen die Abgesandten der Filmindustrie“, die „Platz genommen haben“.30
„Trotz Hitze nahm der Jubel unbeschreibliche Formen an. Wer war da? Ist das noch Gegenwart? Sind wir nicht am Ende um ein Jahrzehnt zurückverschlagen? Eine Welt stürzt zusammen, eine Zeit gebiert unter Qualen eine neue Welt – und in der Friedrichstraße, im Berlin von 1932, findet eine Premiere mit einem Gepränge statt, das man nicht fassen kann. Verstopft ist die breite Passage in den Theaterhof von neugierigen Menschen, blockiert ist der ganze Stadtteil bis Unter den Linden von Autos. In der Pause eilt alles aus der Hitze des Parketts auf den luftigen Hof; es ist ein Kommen und Sich-Begegnen, einer riesigen Familie gleich. Groß angezogene Frauen stoßen auf hemdsärmelige Gestalten. In der ersten Reihe der General von Schleicher neben dem Reichskanzler von Papen, der sicherlich beschließt, auch die nächsten vier Alpár-Premieren als Kanzler erleben zu wollen.“31
Wer das liest, kann nicht ahnen, dass vier Monate später, am 17. November 1932, Papen zum Rücktritt gezwungen und Schleicher die Kanzlerschaft übernehmen wird. Doch auch Schleicher entgeht dem Sturz nicht. „Papen wollte seine Rache an Schleicher nehmen, was ihm unter den obwaltenden Verhältnissen nur mit Hitler gelingen konnte.“32 Die vor Intrigen strotzende Operette Katharina sieht sich von der Gegenwart schon bald überholt.
Deutliche Vorbehalte gegenüber der Aufführung äußert Herbert Jhering, der den Rotter-Brüdern kaum etwas durchgehen lässt. Lob hat er nur für den Star dieses Abends übrig: „Gitta Alpár hat in ihrer Stimme jenes erregende Fluidum, das Menschen hinreißt, jenen sinnlichen Glanz, der Tausende berauscht. Sie tritt auf und beherrscht Bühne und Zuschauerraum. […] Niemand kann der Direktion Rotter nachsagen, dass sie das Publikum nicht kenne, dass sie vom Erfolg nichts verstände. Diesmal hat sie sich geirrt. Selbst wenn man sich ganz auf das Genre einstellt, das im Admiralspalast gepflegt wird, war die Operette schlecht.“33
Nun hängt alles am dritten Wurf, somit an Fritzi Massary im Metropol-Theater. Massary ist gerade fünfzig geworden, lässt aber das Publikum über ihr Alter rätseln. Verheiratet ist sie mit dem ihr an Ruhm und Wirkung in nichts nachstehenden Schauspieler Max Pallenberg. Ihr Erfolg würde den Bestand der Rotterbühnen für die kommenden Monate sichern – wenigstens bis Dezember 1932. Dann müssten drei weitere Reißer her – so steht, mitten in der Weltwirtschaftskrise, die Wette.
Am Morgen nach der Uraufführung von Eine Frau, die weiß, was sie will heißt es: „Fritzi Massary spielt wieder Operette, spielt wieder eine Frau von Format, die weiß, was sie will, die kann, was sie will. Energiegeladen steht sie auf der Szene. Man hört die Funken knistern. Achtung, Hochspannung, Lebensgefahr!“34 Von „zärtlichen und witzigen Chansons“ ist die Rede, an denen Massary „ihre noch immer unerreichte Vortragskunst bekunden“ kann. Diese Chansons „sind die Höhepunkte des Abends, von denen das Publikum nicht herunterwill. Man hört jedes einzelne zwei-, drei-, viermal und hat noch immer nicht genug.“35
Die Frau, die weiß, was sie will wird Massary noch vier Monate lang en suite bis Ende Dezember geben. Selbst Herbert Jhering, hartnäckigster Kritiker der Brüder Rotter, weil er zeitkritische Gegenwartsschauspiele bevorzugt und in den Rotterbühnen nur ein Merkmal der „Geschäftsbetriebsamkeit“ sieht, urteilt beinahe enthusiastisch: Fritzi Massary vertrete „einen Typus, den es in Deutschland nur selten gegeben hat: den Typus der großen Dame, der großen Primadonna“. „Ihre Kunst ist absolute Schauspielkunst, die auf den Tonfall an sich, auf die Geste als solche gestellt ist. Fritzi Massary ist die große Ausnahme, die die Regel bestätigt. Sie kann mondäne Rollen spielen in einer Zeit, in der das alte Gesellschaftsstück sich erledigt.“36
Früher hat die Presse die Rotters wegen der Claqueure verspottet, die mit ihrem übertriebenen Applaus Begeisterung vorgetäuscht haben. Nun brauchen sie das nicht mehr: Der „Jubel“, „der die Massary umtost […], ist keine Claque; das ist die Stimme des Volkes, das einer Darstellerin huldigt, die in ihrer Art nicht ihresgleichen hat.“37 Und es heißt: „Gemäß dem faustischen Grundsatz ‚Ihr müsst es dreimal sagen‘ hat die Direktion Rotter nach dem Tauber- und Alpár-Theater nun auch die Massary-Bühne und damit zum dritten (und unwiderruflich letzten) Male die neue Operettensaison eröffnet.“38 Die Hoffnung erfüllt sich, die beiden Brüder können sich im Sommer 1932 noch einmal retten, bekommen Luft.
„Die kleinere, dickere Hälfte heißt Fritz, die andere Alfred“, scherzt die Zeitschrift Querschnitt einmal über sie. „Beide zusammengelegt, ergeben einen Leib und eine Seele.“39
Komponist Oscar Straus und Fritzi Massary während einer Probe zu Eine Frau, die weiß, was sie will, August 1932
Weidendammer Brücke in Richtung Bahnhof Friedrichstraße, links das Gebäude der Komischen Oper, 1906
Das Todesdatum der Mutter von Alfred und Fritz ist nicht bekannt, doch sie ist schon nicht mehr am Leben, als am 20. September 1923 auch der Vater, Hermann (Heymann genannt) Schaie, stirbt. Sein Grab liegt auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee. Er hinterlässt ihnen sowie den zwei jüngeren Schwestern Lucie und Ella ein beachtliches Vermögen.
Heymann Schaie wird am 12. März 1856 in Inowracław geboren; das einstige „a“ der mittleren Silbe wandelt sich später zu einem „o“. Das heute polnische Inowrocław gehört damals, nach der durch nichts zu rechtfertigenden Aufteilung Polens von 1795, zur preußischen Provinz Posen, Regierungsbezirk Bromberg. Es ist eine stark jüdisch geprägte Stadt, von ihren Bewohnern wird sie auf Jiddisch Lesla oder auch Leslau genannt. 1805 werden 996 „jüdische Seelen“ und 1011 christliche gezählt. Ab 1904 heißt die Stadt Hohensalza.
1884 wird ein Schriftstück in eine Kugel gelegt und auf der Synagoge der Stadt angebracht. Der Inhalt: Die jüdische Gemeinde hier sei „eine uralte, die nach Jahrhunderten zählt“ – so schildern es 1907 die Autoren Aron Heppner und Isaac Herzberg. „Auch bei den Juden in Hohensalza hatte seit etwa 1774 deutsche Sitte und deutsche Bildung immer mehr Geltung erlangt, so dass bald darauf die polnische fast ganz verdrängt wurde“1 – das sei ihnen von polnischen Aufständischen, die die Herrschaft Preußens ablehnten, übelgenommen worden.
Die Kaufleute der Stadt, darunter auch der junge und noch ledige Heymann, fahren zur Messe in Frankfurt am Main und nach Leipzig. Vor allem Michael Levy (1807–1879) hat die Stadt viel zu verdanken: Durch Bohrungen auf eigene Rechnung entdeckt er in Inowracław ein mächtiges Steinsalzlager – das wird „seiner Vaterstadt eine Quelle reichen Segens“. „Als die Regierung ihn für seine Bemühungen und Ausgaben entschädigen wollte, lehnte er jede Vergütung, jede Dankesbezeugung ab. Die Straße aber, in der das Steinsalzlager in den Tiefen der Erde ruht, erhielt auf Beschluss der Stadtverwaltung für ewige Zeiten den Namen Michael-Levy-Straße.“2 Doch die Geschichte kennt keine Ewigkeiten. Die Erinnerung an diese einst blühende Zeit und an diese Straße wird während der deutschen Besatzung ausgelöscht.
Heymann Schaie übersiedelt noch als lediger Mann im November 1879 nach Leipzig – gewiss hat er in seiner alten Heimat vorher noch am 30. Januar 1879 den verstorbenen Salzentdecker Michael Levy mit zu Grabe getragen.
Leipzig hat sich lange Zeit gegenüber Juden sehr feindlich gezeigt. Sie wurden nur zur Leipziger Messe zugelassen, ansonsten hat sich die lokale Wirtschaftselite gegen die Ansiedlung jüdischer Familien gesperrt. Doch eine neue Zeit bricht an, die Türen werden etwas weiter aufgestoßen. Sein Herren-Garderobe-Geschäft en gros (Herrenmode-Großhandel) in der Reichsstraße 41 ermöglicht Heymann am 9. November 1885 die Heirat mit Emilie Simonson. Da alle Familienalben verloren sind, wissen wir nur ihr Geburtsdatum: 7. Juni 1866. Sie arbeitet sicherlich im Geschäft mit. Unter dem Namen Heymann Schaie steht die Firma seit 1880 im Handelsregister. Und sie floriert offenbar. Am 14. November 1886 kommt Alfred und am 3. September 1888 Fritz zur Welt.
Mit den ein- und dreijährigen Söhnen zieht die Familie Schaie schließlich 1889 von Leipzig nach Berlin, wo die beiden Töchter Lucie (1892) und Ella (1894) geboren werden. Schaie & Simonson, Herren- und Knaben-Konfektion, en gros – unter diesem Namen findet die Firma zuerst Räumlichkeiten im ersten Stock des Gebäudes Kaiser-Wilhelm-Straße 27. Gewohnt wird direkt eine Etage darüber. Siegmund Simonson, Bruder von Emilie und Onkel von Fritz und Alfred, ist Mitinhaber. Ab 1896 sind Firma und Wohnung getrennt, was auch die Geschichte eines Aufstiegs dokumentiert: Das Geschäft befindet sich in der Poststraße 29, im ersten Stock, und die Familie zieht zunächst in die Claudiusstraße 11, dann 1898 in die Burgstraße 31, 1910 schließlich in die Mommsenstraße 48, unweit des Kurfürstendamms. Im Jahr 1921 ist der fünfundsechzigjährige Vater als „Rentier“ im Berliner Adressbuch verzeichnet.
Über Kindheit und erste Schulzeit der beiden Brüder in Berlin ist nur wenig bekannt. Mindestens Fritz lernt eine Zeit lang Klavier. Er wird als „hilfsbereit und gütig“ beschrieben.3 In einem Lebenslauf von 1917 erwähnt Fritz Rotter, dass er das Sophien-Gymnasium4 besucht hat – es befindet sich in Berlin-Mitte, an der Weinmeisterstraße 15. Aus diesem Gymnasium sei schon „mancher besessene Theatermann“ hervorgegangen, „man braucht dabei nur den Namen Ernst Lubitsch zu nennen“5 – vier Jahre jünger als Fritz. Die Backsteinfassade der Schule zieren Rundbögen. Passend zu den goldenen Antikengestalten unter dem tempelartigen Dachvorsprung gibt es zehn Wochenstunden Latein und sechs Stunden Griechisch, aber nur etwa drei Stunden Rechnen oder Mathematik. Im Fach Deutsch wird auswendig gelernt – Poetisches und Prosaisches – und mit Aufsätzen das Erzählen und Beschreiben geübt. Immerhin steht auch Französisch auf dem Lehrplan. Die Decke im Durchgang von der Straße zum Hof besteht aus gekachelten, spitz zulaufenden Gewölben. An den Wänden sind Terrakotta-Reliefs eingelassen, auf denen sich Jünglinge als Maler und Bildhauer betätigen und Nacktheit zeigen. Nackt stellen sich auch abgebildete Engel dar, und es gibt Liebesszenen unter jungen Männern. Ein Junge ist in Ekstase dargestellt, als könne er fliegen. Das lässt offenbar den Jüngeren, Fritz, nicht ganz gleichgültig, wie sich zeigen wird.
Fritz und Alfred Rotter, um 1905
Über die Brüder heißt es: „Noch als sie vor sich auf dem Tisch Caesars Bellum gallicum übersetzten, hatten sie unter der Bank kleine zerfetzte Reclamhefte liegen. Der Theaterteufel hatte sie schon in frühester Jugend gepackt. Sie waren es, die ihre Mitschüler zu Theateraufführungen zusammenzutrommeln versuchten, die auf die große Autogrammjagd gingen und zum ersten Mal das Autogrammfieber in ihrer Schule ‚inszenierten‘.“ Als „Statisten“ haben sie mitgewirkt und „sich die Dramen aus den Kulissen“ angesehen.6 Diese gemeinsame Liebe zum Theater habe diese brüderliche Beziehung „vertieft und gefestigt“.7
Später, im liechtensteinischen Exil, wird Fritz Rotter erzählen, er habe mit achtzehn Jahren sein erstes Theater gegründet.8 Welches meint er? 1908 sind Fritz und Alfred zwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt. Sie rufen den Verein Akademie Bühne an der Universität Berlin ins Leben, „gemeinsam mit gleichgesinnten Kommilitonen“.9 Aus dieser Zeit stammt wohl auch die früheste Fotografie von Fritz und Alfred: beide noch sehr schlank, in perfekt sitzendem Anzug mit Bügelfalten – nicht weiter erstaunlich, wenn der Vater in der Modebranche tätig war. Fritz, mit weißem Stehkragen und dunkler Halsbinde, wirkt leicht verunsichert – möglicherweise aufgrund seiner Körpergröße: Er misst einen Meter sechsundsechzig. Doch stolz legt er seinem älteren Bruder, der ein moderneres Hemd mit heller Krawatte trägt, die linke Hand auf die Schulter. Er muss Alfred bewundert haben, dessen Blick völlig gelöst, beinahe meditativ wirkt. Damals werden Porträtierte angehalten, nicht in das Objektiv der Kamera zu blicken. Alfred ist besser aussehend, Fritz, der Jüngere, erscheint etwas kindlich-überdreht, als wolle er über die Foto-Inszenierung gleich loslachen; später beweist er unbestreitbar ein komödiantisches Gespür.
Im Winter 1908/1909 pochen sie als „blutjunge Studenten der Berliner Universität an der Tür des gefürchteten Lessingtheater-Direktors Otto Brahm“, wird später im Neuen Wiener Journal berichtet. „Der Große hört sie an […]. Hört, dass für das große Drama von den Berliner Bühnen noch zu wenig geschehe. Dass deshalb ein neuer Verein Akademische Bühne gegründet worden sei, der dem Berliner Publikum diejenigen theatralischen Erlebnisse schenken wolle, die ihnen die Impotenz der Direktoren bisher vorenthalten habe. Ob er dafür das Lessing-Theater zu gelegentlichen Sonderaufführungen zu Verfügung stellen wolle? Otto Brahm sagt Ja.“10
Dass der berühmte Otto Brahm überhaupt zuhört, haben die Brüder dem Germanistikprofessor und Goethe-Kenner Erich Schmidt zu verdanken, der sogar literarischer Beirat der Akademischen Bühne wird11 und mit Brahm befreundet ist. Weitere Gönner finden sich. Ihr wohlhabender Vater indes, der ihre Theaterleidenschaft „milde belächelt“, unterstützt sie zunächst nicht.12
Bei der allerersten Aufführung der Akademischen Bühne am 8. Januar 1909 im Lessing-Theater führen sie auch noch nicht selbst Regie. Gegeben wird Der letzte Streich der Königin von Navarra, ein Trauerspiel von Johannes Raff von 1907. Das Urteil ist vernichtend: Von einem „literarischen Durchfall mit Donnerhall“ ist die Rede, und davon, dass das „hoffentlich auch der letzte Streich der neuen Unternehmer“ ist.13 Doch Brahm nimmt ihnen den „Durchfall“ nicht übel. Im Gegenteil: Er bedauert, dass der „zweite Abend [mit Die junge Welt von Wedekind] nicht in seinem Hause, sondern im Hebbel-Theater stattfinden soll“. Er möchte, dass der dritte Abend wieder in seinem Theater gespielt wird – und die Brüder „genießen in der Folge sein dauerndes Wohlwollen.“14
Schauspieler und Regisseur Rudolf Frank erzählt später in seiner Autobiografie15, eine Agentur habe ihn „zu einem Brüderpaar“ geschickt, „das unweit der Börse wohnte und das Lessing-Theater für eine Nacht gepachtet hatte“. „Bei der Aufführung des letzten und ersten Streiches stand ich als Hofherr in einer Höflingsgruppe, sprach, wie es in meiner Rolle stand: ‚Man lacht wohl über uns –‘, und aus dem bereits unruhigen Zuschauerraum scholl ein lautes: ‚Hahahaah! Und ob man lacht!!‘“
Danach wenden sie sich den Stücken von August Strindberg zu. Wenn Otto Brahm „die Gebrüder Rotter gemeldet werden, sagt er mit dem Augenzwinkern, das alles oder nichts bedeuten kann: ‚Aha, da kommen die Herren in Sachen Strindbergs.‘“16 Auch Herbert Jhering, fast gleich alt wie Fritz, sitzt einmal im Publikum. Trotz seiner Kritik an ihrem späteren Theaterstil erinnert er sich 1933 in der Weltbühne: „So begannen sie [die Rotter-Brüder] mit einem Autor, den Otto Brahm nicht gespielt hatte, mit Strindberg, aber sie spielten ihn in der Weise Otto Brahms, ohne Aufwand, menschlich, taktvoll […]. Es war eine gute Vorstellung, auffallend durch die Begabung Helene Ritschers, die damals zum ersten Male mit einer Rolle in Berlin durchschlug.“17
Regie führt Fritz, der Agilere; er übernimmt auch den Vorsitz der Literarischen Gesellschaft, die sich aus der Akademischen Bühne heraus entwickelt. Die General-Intendantur der Königlichen Schauspiele wird auf ihn aufmerksam und überlässt ihm 1910, da ist er gerade 22 Jahre alt, die Leitung des Neuen Königlichen Opern-Theaters, der sogenannten Kroll-Oper. Theaterdirektor Adolf Lantz bestätigt, dass Fritz und Alfred „bei Kroll ein gemeinsames gutgehendes Unternehmen“ haben. Für die Pacht der Kroll-Oper ist Direktor Fritz Helmer verantwortlich. Fritz Rotter erzählt acht Jahre später, dass „dieses Institut, welches für die General-Intendantur stets ein Sorgenkind gewesen war“, unter seiner Leitung „ausgezeichnet reüssierte“: unter anderem mit den von ihm eingeführten und stets ausverkauften Klassiker-Vorstellungen zu „volkstümlichen Preisen“ sowie Gastspielen des russischen Balletts mit „Nijinsky, der Karsawina und der Pawlowa“. Sogar der Kaiser kommt.
In einer späteren biografischen Notiz heißt es: „Bis zum Kriege veranstalteten sie in verschiedenen Städten Deutschlands, hauptsächlich in Hannover, Düsseldorf, Köln und Nürnberg, Gastspiele, in denen Opern- und Operettenabende gegeben oder Stücke von Ibsen oder Strindberg aufgeführt wurden. Auf einer Gastspielreise lernte Alfred Rotter 1909 in [Bad] Pyrmont seine jetzige Frau Trude [Gertrud] geb. Leers kennen.“18
Erfolg und jäher Absturz sind nur durch einen Wimpernschlag getrennt. Das erleben die beiden Brüder schon in der Frühzeit ihrer Karriere. Zu Beginn der Theaterspielzeit 1912 lassen sie sich, zusätzlich zum Engagement in der Kroll-Oper, auf ein neues Wagnis ein: Sie übernehmen wichtige Funktionen in der Komischen Oper – damals an der Friedrichstraße 104 gelegen, direkt an der Weidendammer-Brücke über der Spree. Direktor Adolf Lantz ist der Pächter, er sowie Fritz und Alfred benennen das Theater – durchaus programmatisch – in Deutsches Schauspielhaus um.
Die Kroll-Oper um 1924
Das zerstörte Gebäude, 1946
Sie kennen Lantz gut: An der Akademischen Bühne wie im Neuen Königlichen Operntheater – eben der Kroll-Oper – hat er als Regisseur gearbeitet. An einmal gefestigten, engen persönlichen Arbeitsbeziehungen halten Fritz und Alfred nach Möglichkeit fest – dieser Zug kennzeichnet ihre ganze Theaterlaufbahn.
Nun, von September 1912 bis Ende August 1913 im Deutschen Schauspielhaus, arbeiten beide für Adolf Lantz. An dem 1905 erbauten Theater, das 1150 Personen Platz bietet, wird Fritz Erster Regisseur und Alfred Chefdramaturg. Erstmals hilft ihr Vater mit einer nicht unbedeutenden Summe. Alfred entscheidet sich für den Künstlernamen Alfred Hansemann und verpflichtet sich per Vertrag, drei Jahre lang jährlich 60 000 Mark in vierteljährlichen Raten an Lantz als Darlehen zu zahlen. Fritz wählt den Vornamen des Vaters Hermann – was auf eine tiefere Identifikation mit ihm hinweist – und dazu erstmals den Namen Rotter: Im Neuen Bühnen-Almanach des Jahres 1913 erscheint er unter Hermann Rotter.
Ein halbes Jahr lang geht am Deutschen Schauspielhaus alles gut. Lantz nimmt später die Brüder ausdrücklich in Schutz: „Wie ich das Unternehmen des Deutschen Schauspielhauses ins Werk setzte, habe ich mich der Beihilfe der beiden Herren versichert. Ich würde ohne sie […] das Unternehmen überhaupt nicht begonnen haben. […] Mit den Gebrüdern Schaie war ich vollständig einig über die künstlerische Auffassung, insbesondere auch über die Auswahl der zu spielenden Stücke, und hatte an ihnen […] eine wertvolle Unterstützung und Hilfe.“19
Fritz inszeniert Goethes Egmont, von Strindberg die Stücke Gläubiger, Mit dem Feuer spielen und Ostern sowie vom aus Ungarn stammenden Schriftsteller Gabriel [ungarisch: Gábor] Drégely die Lustspiele Der König und Der gutsitzende Frack. Im Januar 1913 besorgen sie Hermann Sudermanns Schauspiel Der gute Ruf. Die Rotters haben sich auch die Rechte an den Stücken Strindbergs gesichert und sind mit Lantz überzeugt, „dass die Strindberg’schen Stücke neben ihrer künstlerischen Wirkung auch große Einnahmen bringen müssten“.20
Doch nach hoffnungsvollen ersten Monaten kommt es im Deutschen Schauspielhaus zu einer Intrige: Oskar Groteck, Schauspieler und Stellvertreter des Direktors, sowie ein später hinzugekommener Regisseur fühlen sich durch die Brüder „beengt“. Groteck bietet Lantz an, „die damals bestehende Schuldenlast hinwegzusanieren […], wenn die Gebrüder Schaie ihre überragende Stellung verlören“.21 In der Folge gibt Groteck dem Direktor 100 000 Mark.
Fritz und Alfred verlassen daraufhin das Theater und verabschieden sich mit einem „sehr bitteren Brief“ an Lantz. Alfred stellt die an sein Verbleiben geknüpfte Gewährung weiterer Darlehen ein. Die neue Theaterleitung ändert den Stückplan – statt Strindberg gibt es zunächst eine „Posse“. Neun Monate später, Ende Januar 1914, kommt der Konkurs. Ein Gerichtsurteil bescheinigt Alfred, dass ihn keine Schuld trifft und er zu keinen weiteren Darlehen verpflichtet ist.22
Zutage tritt allerdings die damals schon buchhalterische Nachlässigkeit des Bruderpaars. Die werden sie auch später nicht mehr los. Direktor Lantz als der eigentlich Verantwortliche für die Bilanzen hat sich nicht um die Buchführung gekümmert, Fritz und Alfred offenbar ebenfalls nicht – sie waren aber dazu auch nicht verpflichtet. 1913, nach dem frühzeitigen Ausscheiden des Brüderpaars, kann sich der hinzugezogene Bücherrevisor Bachmann in den Büchern „nicht zurechtfinden“ und hält fest, dass „die Bücher sehr unordentlich geführt“ sind. Lantz erklärt, „dass Schaies sich beliebige Gelder aus der Kasse genommen hätten“ – laut Vertrag gehören ihnen jedoch auch „35 Pfennig für jedes Billet“23.
Deutschen Schauspielhauses