Der fabelhafte Jizō von Sugamo
Aus dem Japanischen
und mit einem Nachwort
und Anmerkungen von
Irmela Hijiya-Kirschnereit
1
Itō kehrt nach Japan zurück und gerät in eine extreme Notlage
2
Der Weg von Iwanosaka nach Sugamo, in Begleitung der Mutter
3
Wie, nach Überquerung des Ozeans, Pfirsiche geschleudert und Hügel überwunden werden
4
Der geworfene Pfirsich fault, und Itō gewinnt ihre animalische Kraft zurück
5
Die bösen Kräfte werden immer stärker, und eine Begegnung mit dem Jizō am helllichten Tag
6
Ein Kranker verreist und pilgert zur heißen Quelle
7
Ohne ihr die Zunge abzubeißen, schickt der Spatz die Alte fort
8
Die Regenzeit dauert an, und Mutter leidet heftige Qualen
9
Die heilige Blüte wendet sich nach Westen, blüht still und schrumpft
10
Aus dem Nō-Stück Buddhas Lehre von der Hilfe durch Helfen heraushören
11
Ohr, höre! Die Einsamkeit des Plätscherns in der Urinflasche
12
Unter dem klaren Herbsthimmel steigt Rauch aus Urashimas Kasten auf
13
Der Alte mit der Wangengeschwulst trifft endlich auf den Teufel, und die Anhängerinnen des Spatzenhunds versammeln sich
14
Itō gerät wieder in eine extreme Notlage, und wegen ihres Kindes rast sie durch die Dunkelheit
15
Von Verzweiflung getrieben, attackieren die Verehrerinnen des Dornausziehers den Ehemann
16
Gut sterben und schlecht sterben: Eine Dichterin sieht dem Tod ins Auge
17
Itō erkrankt, ein Vogel verwandelt sich in eine Blume, und die Mammutbäume stehen immer noch
Anmerkungen
Irmela Hijiya-Kirschnereit: In den Transitzonen des Lebens
Wann kommst du denn wieder?, fragte meine Mutter. Wir telefonierten.
Diesen Monat noch nicht, Mutter. Ich hab hier noch viel zu tun.
Das ist gut. Viel zu tun haben ist immer gut, sagte Mutter.
Aber dann im August komme ich.
Ich telefoniere jeden zweiten Tag von Amerika aus mit meinen Eltern. Aber wenn ich nun, brave Tochter, die ich bin, nur von mir aus anrufe, vergessen sie womöglich, wie man das macht, und so pausiere ich manchmal drei Tage.
Zwei Tage, nachdem ich ihr erklärt hatte: diesen Monat noch nicht, aber im August, fragte sie wieder: Wann kommst du zurück?
Diesen Monat noch nicht, Mutter. Ich habe noch zu tun.
Das ist gut. Viel zu tun haben ist immer gut, sagte Mutter.
Aber im August komme ich.
Am dritten Tag, nachdem sie schon zweimal einverstanden war: viel zu tun haben ist immer gut, fragte sie wieder: Wann kommst du zurück?
Im August. Sag mal, gibt es etwas, das ich für dich tun soll? Im April hatte meine Mutter auch zum wiederholten Male wissen wollen, wann ich zurückkäme, und als ich mich erkundigte, warum, meinte sie: Na ja, so wichtig ist es nicht, aber ich will, dass du für mich zum Postamt gehst. Ich kehrte im Mai nach Japan zurück und ging für sie zum Postamt.
Na ja, so wichtig ist es nicht, sagte meine Mutter auch diesmal. Ich will, dass du zur Klinik gehst. Die Chirurgie, wo wir neulich schon waren. Die sind auf Thrombosen spezialisiert. Der Doktor sagt, wenn ich’s operieren lasse, wird es wieder. Deshalb komm doch mit mir mit, damit er’s uns erklärt. Es eilt ja nicht. Der Doktor meinte, es reicht im September.
Am 24. August traf ich in Kumamoto ein.
Es war entsetzlich heiß.
Die Leute meinten, so schlimm sei’s doch nicht, aber für meinen Körper, der das trockene Klima Südkaliforniens gewöhnt ist, war es eine Qual, als ob ich verbrannt oder wachsweich geschmolzen würde. Meine Tochter, die ich mitgebracht hatte, war sofort am ganzen Körper schweißnass, und ihre feinen, weichen Haare klebten überall fest. Ich konnte es kaum mitansehen.
Warum hörst du auch nicht, was ich sage? Du kennst den japanischen Sommer doch nicht! Du musst mir gehorchen, schalt ich sie schweißgebadet. Ich hab dir doch gesagt, du sollst die Haare zum Zopf flechten.
Am folgenden Tag ging mein PC kaputt. Er ließ sich nicht mehr hochfahren. Ich hatte schon lange vorgehabt, einen neuen anzuschaffen, daher ging ich gefasst ins Geschäft, kaufte einen PC mit Monitor, Keyboard und Software und wollte ihn in Betrieb nehmen, aber dann merkte ich, dass ich einen Fehler begangen hatte. Er hatte ein neues Betriebssystem. Mit anderen Worten, es war, als ob ich mich vom bisherigen Leben verabschiedet und ein neues Leben begonnen hätte, ich verstand weder rechts noch links, nichts lief, wie es sollte, nichts konnte ich schreiben, wozu war der PC eigentlich nutze? Ich konnte noch nicht einmal Mails auf Japanisch schreiben; endlich war die japanische Dichterin in die Heimat zurückgekehrt und musste in Alphabetschrift im Betreff HIER ITO HIROMI und dann DRUCKFAHNEN OK schreiben, das ist doch reine Idiotie! Derweil hatte meine Mutter keine Ahnung, in welcher Klemme ich steckte und wie sehr ich mich mit meinem neuen PC rumschlagen musste. Jedes Mal, wenn wir meine Eltern besuchten, fing sie an, von ihrem Bein zu sprechen, und zeigte es mir. Ein Bein voller Falten. Ein Bein, von der Wade bis zum Knöchel mit schwarzen Flecken gesprenkelt.
Guck mal, dieses Bein, klagte meine Mutter. Das ist doch kein Bein von einem Menschen. So was Fleckiges! Was soll denn das? Muss ja nicht sofort sein, aber ich möchte, dass du zu dem Chirurgen Sowieso mitkommst und dass er’s uns beiden erklärt. Der Doktor hat gesagt, wenn er’s operiert, wird’s wieder gut.
Geht das im September?, fragte ich, worauf Mutter sagte: Der Doktor meinte, ich solle im September kommen. Aber am folgenden Tag, sobald meine Mutter mich sah, fing sie wieder mit ihrem Bein an.
Hör mal, Mutter! Ich glaubte, ihr klar und deutlich erklärt zu haben: Im September fängt Aikos Schule an. Dann habe ich mehr Zeit, und dann gehen wir, ja?
In Ordnung. Der Doktor sagte ja, ich solle im September kommen.
Nein, abgesehen von dem Beinproblem (und dem Postamt) ist Mutter zwar alt geworden, aber sie lebt ein normales Leben, und wir können uns normal unterhalten.
Das ist eine Depression, sagte mein Vater, als meine Mutter einmal nicht da war. Mein Vater, der sich kaum noch bewegen kann, nachdem er einen Teil seines Magens durch Krebs verloren hat und gebrechlich geworden ist, außerdem schwerhörig, und der es meidet, mit Menschen zu reden, lebt, gestützt durch Mutters Pflege und ihr Schimpfen, ein kümmerliches Leben.
Das ist eine Depression. Sie will nur von hier weg.
Früh am Morgen des nächsten Tages rief Mutter an und sagte unvermittelt: Gehen wir heute nicht zur Klinik? Du hast doch gestern gesagt, wir gehen im September, sagte ich, worauf Mutter meinte: Ich will aber heute. Du brauchst ja nicht mitzukommen. – Ich soll nicht mitkommen? (Wenn nicht ich, wer geht denn dann mit?), protestierte ich leise. Natürlich sprach ich nicht aus, was in der Klammer steht.
Natürlich wär es am besten, du kämst mit.
Gestern hast du doch noch gesagt, September ist in Ordnung. Warum musst du denn heute gehen?, fragte ich. Seit gestern tut es furchtbar weh, antwortete sie.
Wenn’s wehtut, kann man nichts machen, also ließ ich alles stehen und liegen und nahm Mutter und meine Tochter Aiko in die Klinik mit, die für Thrombosebehandlung bekannt ist.
Ein Krankenhaus ist ein trüber Ort. Das Gebäude ist alt, schief und hier und da verrottet. Versuchen Sie da mal, mit dem Stock zu gehen. Sofort entstehen Löcher im Boden. Man bleibt im Loch stecken und kommt gar nicht wieder raus. So war’s auch mit dieser chirurgischen Klinik. Auf dem langen Flur warteten Dutzende Leute mit geschwollenen Beinen, die meisten alt wie meine Mutter, sie warteten still, als ob sie schon tot wären. Und während sie so warteten, wussten sie nicht mehr, worauf sie warteten und auf wen. Warum gab es kein Bestellsystem? Wie würde es sich anfühlen, wenn man endlich von dieser Warterei erlöst wurde? Mit so viel Zeit hätte ich doch lesen oder eine Arbeit mitbringen können, aber dafür fehlte mir die Konzentration. Warum eigentlich? Während ich all das überlegte, verstrich Schritt für Schritt die Zeit.
Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, klammerte sich Aiko an mich. Lies das! Ich gab ihr ein Buch. Ich hab alles im Kopf, alle Wörter. Ich hab’s schon zigmal gelesen. Seit ich von Kalifornien weg bin, behauptete Aiko. In der Tat, das Buch hatte sie von zu Hause mitgebracht, sie las es im Flughafen, im Flugzeug, und in Japan hatte sie nichts zu lesen, also hatte sie es immer wieder zur Hand genommen. Wie mickrig amerikanische Paperbacks doch sind! Es war schon fast zerfleddert. Ich wünsch mir. Wenn ich jetzt einen Gameboy hätte, murmelte Aiko vorwurfsvoll.
Gameboy. Alle ihre Freundinnen in Kalifornien haben einen Gameboy.
Mutters Bein war von der Wade bis zu den Zehenspitzen mit violetten Flecken gesprenkelt und dick geschwollen. Stellenweise gab es Geschwüre, Entzündungen, Löcher mit schwarzen Rändern. Es gab kein Feuer und kein Fieber, doch diese Stellen waren wie verbrannt.
Wie ich Ihnen neulich schon mitteilte, sagte der Chirurg, der das Bein meiner Mutter hielt und es mit einem Gerät abhörte. Es ist nicht so schlimm, dass man einen chirurgischen Eingriff vornehmen müsste. Die Venen sind durchblutet. Ich denke, das gehört in den dermatologischen Bereich. Gehen Sie doch zum Dermatologen, sagte der Chirurg und setzte einen Brief für den Dermatologen auf. Als wir die Klinik verließen, stolperte meine Mutter und fiel hin, obwohl es nichts zum Stolpern gab. Ein Mann eilte herbei und versuchte, sie aufzurichten. Mutter wand sich eine Weile und richtete sich wacklig auf. Meine Güte, da hab ich mich ja richtig hingelegt, und lächelte verschämt.
Und am nächsten Tag besuchten wir den Dermatologen.
Im Wartezimmer Dutzende von Leuten, die schweigend ihren Juckreiz, Ausschlag und Quaddeln ertrugen und warteten; Aiko, die »ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr« stöhnte, gab ich etwas Kleingeld: Geh raus und kauf dir einen Saft.
Ist das in Ordnung? Ein Kind, das gerade aus dem Ausland gekommen ist und sich hier gar nicht auskennt, einfach allein gehen zu lassen, sagte Mutter. Geh nicht mit jemand mit, Aiko. Hast du verstanden?
Sie denkt, ich weiß nichts, ich kann nichts, grummelte Aiko auf Englisch, ging erhobenen Hauptes hinaus und kam überstürzt zurück. Die Maschine hat verschluckt. Das Geld. Ich hab nix bekommen. Ich wusste nicht, was ich machen soll. Sie war wirklich ein ahnungsloses Kind. Ich musste mitgehen und den Leuten im Laden die Sache erklären.
Meiner Ansicht nach ist das ein Venenproblem, sagte der Dermatologe. Er blätterte ein dickes Buch durch und fand ein Bild von einem faulenden Bein, es sah nach schwerer Verbrennung aus, voller eitriger Blasen. Das ist eine Nekrose. Wenn es so weit kommt, wird’s ernst, sagte der Dermatologe. Doktor Sowieso von der Großklinik kennt sich da, glaub ich, gut aus. Ich werde Ihnen einen Empfehlungsbrief schreiben.
Der nächste Tag war zufällig der Tag, an dem Mutter ihre Mittel abholen musste. Ich muss meinem zuständigen Arzt berichten, dass ich zur Großklinik gehe. Also ging ich mit Mutter zu ihrem zuständigen Arzt in der Klinik, die sie alle vierzehn Tage aufsuchte. Und an diesem Tag begann Aikos Schule.
Der erste September. Ein Tag für einen Taifun. Heulender, jaulender, klappernder, scheppernder Wind. Und natürlich, wie könnte es anders sein, auch ein Tag für Neueinschulungen. Zwar war es auch wegen meiner Eltern, doch ich hatte umsichtig geplant, um just zu dieser Zeit nach Japan zurückzukehren, denn ich wollte Aiko zum zweiten Halbjahr der japanischen Grundschule einschulen, damit sich ihr Japanisch verbesserte. Für ihre Einschulung hatten wir bereits eine Schuluniform, Sportsachen und, falls ein Taifun aufziehen sollte, einen gelben Schirm und orangefarbene Gummistiefel gekauft. In Kürze würde es einen großen Taifun geben, sagten alle. Ein Riesentaifun wie ein amerikanischer Hurrikan, bei dem Strom und Wasser ausfallen und Hunderte von Leuten in der Flut weggetragen würden, hieß es überall. Ist denn Ihr Haus in Amerika bei Hurrikan sicher, fragten die Leute. Das ist an der Ostküste, aber wir wohnen an der Westküste, musste ich wieder und wieder erklären. Wenn’s bei uns eine Gefahr gibt, dann sind’s Waldbrände. Gefährlich sind Waldbrände, die Waldbrände sind gefährlich, die Waldbrände.
Und dann kam der erste September.
Heulender, jaulender, klappernder, scheppernder Wind. Der Taifun kam nicht. Er bewegte sich weit entfernt im tropischen Meer. An diesem Tag wachten wir wegen der Zeitverschiebung um halb sechs in der Früh auf, doch die Sonne schien schon stark ins Zimmer und erhitzte die Luft. Wir mussten die ganze Nacht die Klimaanlage laufen lassen. Der Himmel war klar und blau, in der Ferne bildeten sich weiße Kumuluswolken, die Temperatur stieg rapide. Aus den Gassen und aus den Wohnblocks tauchten Kinder auf, in der Hand ihre Bastelarbeiten, die sie als Hausaufgabe in den Ferien angefertigt hatten. Auch ich wollte mit Aiko, die nichts in der Hand hatte, zur Schule gehen. Die Erziehungsberechtigten der neuen Mitschüler sollten bei der Eröffnungszeremonie anwesend sein.
Es war um 7 Uhr morgens an diesem Tag.
Das Telefon klingelte. Der Anruf kam von einer Nachbarin in Kalifornien, die uns gut kennt und bei uns ein und aus geht. Mein Mann hatte einen Termin im Krankenhaus, um zwecks Herzuntersuchung einen Venenkatheter gelegt zu bekommen. Schon seit Monaten hatte er geklagt: Mein Herz ist nicht in Ordnung. Mein Herz ist nicht in Ordnung. Seine Stimmung sank immer mehr. Ich fand das reichlich trübsinnig. Womöglich machte er aus einer Mücke einen Elefanten und bauschte eine winzige Unpässlichkeit unmäßig auf. Zwar teilen wir unseren Alltag und unsere Finanzen, aber unsere Körper teilen wir nicht. Wie stark seine Schmerzen sind oder wie schlecht es ihm geht, kann ich nicht sagen, denn ich selber spüre es ja nicht, also kümmerte ich mich nicht weiter. Doch bevor ich nach Japan flog, fing er an, es mir ausführlicher zu erklären, und als ich das Wort, das er wiederholt benutzte, im Wörterbuch nachschlug, hieß es: Angina pectoris. Angina pectoris! Das hätte er mir doch nun wirklich sagen können! (Weil er es auf Englisch sagte, verstand ich es nicht); jetzt erst wurde mir klar, warum er keinen Sex haben wollte und immer so stark keuchte. Ob ich mir Sorgen mache? Nicht unbedingt. Klar gibt es da die Ungewissheit, dass meine jetzige Welt zusammenbrechen könnte, aber wer weiß, vielleicht ergibt sich ja auch eine neue Entwicklung. Sterben müssen wir alle einmal. Wenn’s so weit ist, kann ich’s auch nicht aufhalten, dachte ich. Nun traf es sich, dass heute die Untersuchung stattfinden sollte. Das wusste ich. Ich hatte auch vorgehabt, später anzurufen und nach dem Ergebnis zu fragen. Erst einmal die Schulzeremonie, dann mit Mutter zur Klinik, dann der Anruf in Kalifornien, so war es gedacht.
Meine Nachbarin sagte: Er muss operiert werden. Bei der Untersuchung habe sich herausgestellt, dass sein Zustand unerwartet schlecht ist, sodass der Arzt eine sofortige Operation anordnete. Er sei schon im Krankenhaus, in drei Tagen werde er eine Bypass-Operation haben. Das sei zwar nicht selten, aber doch eine große Sache mit Öffnung des Brustraums. Was ich denn tun wolle, fragte sie.
Heute, gerade kurz vor dem Schulbeginn: Die Schulsachen sind alle besorgt, ein Mietwagen ist bestellt, Telefon, Computer und Internet sind installiert, endlich steht das Fundament für das tägliche Leben hier, und der Rückflug ist schon für vier Monate später gebucht. Das alles ignorieren und nach Kalifornien zurückkehren? Während seiner Operation untätig herumhängen und dann sein blasses, noch von der Narkose gezeichnetes Gesicht ansehen, sollte es das sein?
In Kumamoto wohnen keine Verwandten. Ich kam wegen der Arbeit meines Ex-Mannes in diese Gegend, und meine Eltern sind unseretwegen hergezogen. Es gab nur uns drei, um einander zu stützen, aber die Tochter, das einzige Kind, hat sich scheiden lassen, wieder geheiratet und ist nach Amerika gezogen; nun altern die Eltern hier auf sich selbst gestellt.
Du musst nicht sofort entscheiden, sagte meine Nachbarin. Wart ab, wie es wird. Sie ist deutlich älter als ich, ich kann ihr vertrauen.
Also ging ich erst einmal wie geplant zur Schulzeremonie. Ich begrüßte die Klassenlehrerin und den Direktor, wartete ab, bis Aiko sich auf der Bühne vor den versammelten Schülern verbeugte, dann schlich ich mich aus der Schule heraus. Ich ging zu Mutter und brachte sie zu ihrem Arzt in die Klinik.
Bis Mutter im Auto saß, brauchte sie unendlich lange. Und bis sie dann wieder aus dem Auto ausgestiegen war, dauerte es nochmal endlos lang.
Irgendwas ist komisch, sagte Mutter. Seit ich vorgestern gestürzt bin, kann ich nicht mehr richtig gehen.
Der Arzt in der friedlichen Reha-Klinik für Senioren, der meine Mutter schon seit Jahren dort betreut, hörte ihr wie immer geduldig zu und sagte: Der Doktor Sowieso von der Großklinik, die haben eine bessere Ausstattung und das neueste MRT-Gerät, ich kenne ihn auch persönlich. Einverstanden? Aber als er sah, wie meine Mutter nach der Untersuchung wieder aufstand und losgehen wollte, wurde er blass: Lassen Sie uns das MRT hier machen, Frau Itō. Wir haben zwar nur ein altes Gerät, aber vielleicht finden wir etwas heraus. Sie sollten gleich hierbleiben. Es klang nach Einladung. Doch mit gedämpfter Stimme sagte er zu mir: Wie Ihre Mutter sich bewegt, das sieht ganz nach einem Hirnschlag aus. Also musste meine Mutter gleich in der Klinik bleiben. Mein Vater, dem ich das am Telefon erklärte, reagierte mit heftiger Frustration: Oje, oje, was ist das schon wieder? Während ich die Aufnahmeformulare ausfüllte, fiel mir Aiko ein, die an ihrem ersten Schultag in der ungewohnten, mörderischen japanischen Hitze ihren zwanzigminütigen Heimweg nehmen musste. Als ich an Aiko dachte, wie sie im Hitzeflimmer langsam den Weg unter der erbarmungslosen Sonne ging, wurde ich unruhig, und wenn ich mir ihren schweißnassen Rücken, ihre Beine und ihre Stirn vorstellte, wurde ich fast wahnsinnig. Als ich endlich alles erledigt hatte und nach Hause hetzte, war ich erleichtert: Sie war noch nicht zurück. Schweißnass, endlich zu Hause angekommen, und niemand ist da – wenigstens das war nicht eingetreten. Also rief ich in Kalifornien auf dem Apparat direkt am Bett meines Mannes im Hospital an und hörte seine Stimme, die klang wie immer.
Ich wollte gerade schlafen. Im Krankenhaus kann ich nicht gut einschlafen, sagte mein Mann. Ich erklärte ihm kurz, dass Mutter in der Klinik bleiben musste; ich hätte kurz überlegt, ob ich zurückfliegen sollte, doch ich könne hier nicht weg. Ich bin die Einzige, die ihnen hier helfen kann, aber du kannst ja selber alle Formalitäten erledigen, und du hast auch Nachbarn, Freunde und Verwandte, die dir alle helfen werden. Wir leben doch in einer Kultur des gegenseitigen Helfens, sagte ich. Einverstanden, ich schaff’s allein. Wenn ich dich brauche, sag ich’s dir offen, also keine Sorge, sagte mein Mann, worauf ich ihn bedrängte: Versprich mir eins.
In Ordnung, egal was es ist, ich versprech’s. Was ist es denn?, sagte er.
In Zukunft, wenn du hundert oder zweihundert Jahre alt wirst, sagte ich.
In Zukunft, wenn ich hundert oder zweihundert Jahre alt werde, wiederholte er.
Solange wir zusammenbleiben.
Solange wir zusammenbleiben.
Egal, wie sehr wir streiten.
Egal, wie sehr wir streiten.
Ich bin sicher, wir werden streiten.
Ich vermute, wir werden streiten.
Niemals, versprich’s mir.
Niemals, ich verspreche.
Nie sollst du mir vorwerfen, dass ich bei deiner Operation nicht dabeigewesen bin.
Nie werde ich dir vorwerfen, dass du bei meiner Operation nicht dabeigewesen bist.
Als er meine Mutter sah, sagte der zuständige Arzt: Das könnte ein Schlaganfall sein. Allerdings war das MRT-Gerät der Klinik so alt wie die Patientin selbst, und es kam nichts dabei heraus. Aber schon an diesem Tag konnte Mutter ihren rechten großen Zeh nicht mehr bewegen. Und zwei Wochen später hing der rechte Arm schlaff herunter. Zwei Wochen danach auch die Finger der linken Hand. Die Lähmung breitete sich rapide aus. Und dann begann unsere Krankenhaus-Odyssee: von der Reha-Klinik für Senioren, die nur begrenzte Behandlungsmöglichkeiten hatte, mit einem Bericht von Doktor Soundso von der Großklinik wieder zur Chirurgischen Klinik, und mit einem Brief ihres zuständigen Arztes zur Orthopädie, und von der Orthopädie mit einem Empfehlungsschreiben zu einem anderen großen Krankenhaus in die Innere und Neurologische Abteilung. Ich holte Mutter von der Klinik ab, setzte sie in einen Rollstuhl und fuhr sie in die diversen Krankenhäuser, brachte sie wieder zurück, und jedes Mal dauerte es furchtbar lange. Morgens fuhren wir los, mittags kaufte ich am Kiosk für uns Reisklöße, wir aßen sie im Warteraum, und nachmittags, wenn Aiko aus der Schule kommen würde, waren wir immer noch im Krankenhaus. Ich war unruhig, rief in der Schule an, verlangte nach ihrer Klassenlehrerin und sagte: Hier Itō. Bitte behalten Sie das Kind noch in der Schule. Dann rief ich Vater an: Vater, hol Aiko mit dem Taxi von der Schule ab. Oder ich rief Nachbarn an: Entschuldigung, könnten Sie bitte Aiko ins Haus lassen? Ich bin bestimmt bis halb fünf zurück. Und dann fahre ich los, besser gesagt, ich rase los. Ampeln beachte ich noch, alles andere ignoriere ich. Ich biege sogar rechts ab, was ich sonst nie tue. Weil ich nämlich furchtbare Angst habe vorm Rechtsabbiegen [in Japan herrscht Linksverkehr].1 Aber wenn ich nicht rechts abbiege, schaffe ich es nicht. Also bleibt mir nichts anderes übrig. Durch enge Straßen mit Gegenverkehr erzwinge ich mir kühn meinen Weg. Jemand hupt. Jawohl, ich war gemeint. Ich fahre nicht langsamer. Heimlich fluche ich: Ich lass mich nicht verarschen. Selber schuld. Von wegen Kleinwagen-Zicke!
Das Alltagsleben geht weiter, im Briefkasten sammeln sich die Rechnungen für Gas und Strom. Außerdem die Aufforderung zur Führerschein-Erneuerung und Gedichtbände von Unbekannten. Gas- oder Stromrechnungen können wir jetzt im Supermarkt begleichen. Gedichtbände von Unbekannten lassen sich ignorieren. Nicht aber die Aufforderung, den Führerschein zu erneuern; wenn nur das Amt nicht so elend weit weg wäre. Ich schob es immer weiter vor mir her, doch allmählich lief die Frist aus, und so machte ich mich schließlich eines Sonntagmorgens mit Aiko auf den Weg zum Führerscheinamt, das weit draußen am Fuße der Berge lag. Nachdem das geschafft war, wollte ich mit Aiko zu einem großen Spielwarengeschäft am Rande der Stadt.
Wenn ich doch einen Tamagotchi hätte, hatte Aiko immer wieder gesagt. Ich könnte die Zeit verbringen. Mit Spaß. Wenn ich im Krankenhaus warten muss. Im Flughafen. Im Flugzeug.
Alle japanischen Mädchen haben einen Tamagotchi, ohne Ausnahme, sagte Aiko.
Ich will nicht anders sein als die anderen, sagte Aiko. Ich möchte genauso sein wie die Freundinnen. In Kalifornien war ich ganz anders als die anderen.
Was sie in diesem Fall meinte, waren die Mädchen mit europäischen Gesichtern und Haaren.
Als ich einwarf, in deiner Klasse gibt’s doch viele mexikanische Kinder, meinte sie: Die sind Mexikaner. Davon gibt’s viele. Aber die Kinder, die nicht Mexikaner sind, sind Amerikaner, die sind auch viele. Und sie sehen alle gleich aus, mit blondem Haar. Nur ich bin anders. Ich und noch jemand. (Die hat eine philippinische Mutter.) Nur ich und sie. Ach nein, noch jemand. Ich und sie und noch jemand. (Er hat Eltern aus Indien.) Nur wir.
Ich bin sicher, ihr werdet immer mehr, sagte ich, worauf sie antwortete: Aber trotzdem sind wir weniger.
Ich will nicht auffallen. Ich will nicht anders sein als die anderen.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als nachzugeben und mit ihr den großen Spielzeugladen in dem riesigen Shoppingcenter am Rande der Stadt aufzusuchen.
Ausverkauft! Vor ein paar Tagen war ein neues Modell herausgekommen und sofort ausverkauft. Die nächste Lieferung kommt in zwei Wochen. Aiko war schrecklich enttäuscht, ihr kleiner Körper schien auf die Hälfte geschrumpft zu sein. Sie tat mir so leid. Als wir aus dem Spielwarengeschäft heraustraten, sah ich einen kleinen Gemischtwarenladen, eine ziemliche Bruchbude. Ich gab ihr Geld und sagte: Du, die verkaufen Gummibälle, so einen hätt ich gern. Holst du mir einen? Fast tanzend kam Aiko zurück, mit dem Ball in der Hand, und rief mit hoher Stimme: Mama, ich hab ihn. Ich hab ihn, ich hab ihn. Sie hatten ihn, sagte sie auf Japanisch.
Was hatten sie?, fragte ich. Einen Tamagotchi. Das kann doch nicht wahr sein! In diesem kleinen Laden, wie eine Trödelbude!, dachte ich, aber tatsächlich, es war ein Tamagotchi. Das neueste Modell sei es nicht, sagte die junge Verkäuferin, das ist ein Vorgänger, deshalb sind noch zwei übrig.
In Ordnung, in Ordnung! Die hat auch so einen in meiner Klasse, und die auch, schrie Aiko auf Japanisch. Sie war glücklich, endlich hatte sie ihn. Einen Tamagotchi. Endlich.
Sie konnte es kaum erwarten, bis wir zu Hause waren. Sofort belebte sie den Tamagotchi, gab ihm einen Namen (es war ein Männchen), hängte ihn sich augenblicklich um den Hals und suchte ihre Freundin in der Nachbarschaft auf. Von ihr lernte sie, wie man ihn Winterschlaf halten lässt, und sie spielte den Rest des Tages mit ihm, ließ ihn essen und sein Geschäft verrichten und sammelte Gotchi Points. Mehrmals ermahnte ich sie, du sollst nicht immer damit spielen, hörst du mir überhaupt zu? Du tust ja gar nichts anderes mehr. Trotzdem legte sie vor dem Zubettgehen erst den Tamagotchi schlafen, und kaum war sie am nächsten Morgen wach, war sie gleich wieder mit dem Tamagotchi zugange, dann legte sie ihn wieder schlafen, bevor sie zufrieden zur Schule ging. So jedenfalls sollte man es sich vorstellen.
Ich hatte alle Hände voll zu tun. Mit Mutter, mit Vater, mit mir selbst, dann wieder mit Mutter und mit Vater. Kurz bevor ich erneut aus dem Haus gehen musste, ergab sich eine kleine Pause von vielleicht zehn, zwanzig Minuten. Da fiel mein Blick auf den Tamagotchi auf Aikos Tisch. Eigentlich hätte er schlafen sollen, aber sah der Bildschirm nicht so aus, als wäre er gar nicht aktiviert worden? Datum und Uhrzeit blinkten, auch stimmten beide Einstellungen überhaupt nicht. Womöglich hatte ihn Aiko, als sie an ihm herumhantierte, plötzlich sterben lassen, überlegte ich, oder vielleicht war er fast tot und atmete nur noch schwach. Da muss ich Erste Hilfe leisten, dachte ich und versuchte, die Zeit richtig einzustellen. Plötzlich änderte sich der Bildschirm, der Tamagotchi tauchte auf und tanzte hüpfend herum. Er war noch ganz fidel. Das blinkende Datum zeigte den Winterschlaf an, und als ich die Taste drückte, wachte er auf. Das waren im wahrsten Sinne des Wortes die schlafenden Hunde, die geweckt wurden. Gut ausgeruht und quicklebendig schaute der Tamagotchi mich gut gelaunt an und verlangte: Ich will pinkeln. Als ich verdattert zusah, war es schon geschehen. Zu spät. Nun wollte ich ihn wieder schlafen legen und drückte versuchsweise verschiedene Tasten, aber es klappte nicht. Ausgerechnet ich, die vor lauter Arbeit weder ein noch aus weiß, die wegen Vater, Mutter, Aiko und Ehemann kein Geld, keine Zeit und noch nicht mal ein Selbst hat, muss mit dem Tamagotchi in der Hand rumspielen! Doch wenn ich ihn links liegen lasse, wird er wahrscheinlich hungern, frieren, mit seinem Kot beschmiert, und bis Aiko zurückkommt, würde er mausetot sein. Widerwillig blieb mir nichts anderes übrig, ich musste mich mit ihm abgeben. Plötzlich kam mir dabei eine geniale Idee. Ich ging zum PC, loggte mich ins Internet ein und suchte unter dem Stichwort »Tamagotchi, Schlafen«. Und so bekam ich umgehend Instruktionen, wie man den Tamagotchi schlafen legt.
Unterdessen gewöhnte Mutter sich rasch an den Rollstuhl und wurde eins mit ihm. Nicht nur der große Zeh am rechten Fuß, auch der Daumen der rechten Hand, der Zeigefinger, der Mittelfinger und der kleine Finger, alle restlichen Zehen des rechten Fußes, die Zehen am linken Fuß, der Daumen der linken Hand, der Zeige- und der Mittelfinger, nach und nach wurden sie alle steif, und schließlich konnte sie nur noch den Ringfinger und den kleinen Finger der linken Hand bewegen. Wenn ich ihr einen Reiskloß vom Kiosk gab, krallte sie ihn, im Rollstuhl in einer Ecke des Speisesaals der Klinik sitzend, mit den zwei noch beweglichen Fingern und führte ihren Mund daran. Hör doch auf, so unappetitlich zu essen, hatte ich seit meiner Kindheit oft zu hören bekommen. Genau das war es doch, oder? Jetzt tust du’s ja selber, hätte ich fast gesagt, mit dem Echo ihrer Rügen im Ohr.
Du, ich will mal aufs Klo, sagte Mutter, und so schob ich sie zum Behindertenklo. Hau ruck, hau ruck!, sagte Mutter und versuchte, sich auf die Klobrille zu hieven. Ich bemühte mich mit aller Kraft, sie auf die Klobrille zu setzen und gleichzeitig ihre Hose und Unterhose runterzuziehen. Sie pinkelte. Aber da sie nur noch zwei bewegliche Finger hatte, konnte sie sich nicht abwischen. Also bat sie mich: Tut mir leid. Kannst du mir helfen? Ich wischte ihr also den Hintern. Feuchter Kot war ausgetreten, doch sie hatte es nicht bemerkt. Es war schwer, sie sauber zu machen, also betätigte ich die eingebaute Wasserdusche im Klo, warmes Wasser sprühte heraus, und ich wusch ihr mit meinen Händen den Hintern mit dem warmen Wasser aus der Kloschüssel ab. Dass Mutter unwissentlich Kot ausschied oder dass sie ihren Hintern waschen ließ, störte mich nicht unbedingt, aber dass sie Reisklöße krallte und den Mund an sie ranführte und sie fraß, das konnte ich nicht mitansehen. Und Mutters Kot ist natürlich Kot und stinkt. Essen und scheißen. Kot riecht. Die natürlichste Sache der Welt.
Um sieben Uhr morgens wecke ich Aiko.
Muss ich heute gehen?, fragt sie jeden Morgen auf Japanisch. Ich will nicht zur Schule, murmelt sie auf Japanisch. Das Schulessen heute ist ge-grill-te Ma-kre-le, Suppe mit Nat-tō, kurz einge-legte Au-ber-gi-ne, las sie nur die Wörter in Silbenschrift und stöhnte: Muss ich wirklich hin? Die ist fies, und die ist auch fies, gegen mich, ohne Grund, sprudelte es auf Englisch aus ihr heraus. Ich fuhr sie mit dem Auto bis vors Schultor und ließ sie aussteigen. Die Schulklingel ertönte, die im Schulhof lärmenden Kinder gingen alle ins Gebäude hinein. Ich sah Aiko nach, wie sie mit versteinertem Gesicht in der Masse der Schüler verschwand. Dann fuhr ich bei Vater vorbei. Der Hund bellte. Er bellte vor Freude. Er bellte und verstreute Hundehaare. Kurz nach neun fuhr ich zur Klinik, um Mutter abzuholen. Ich brachte sie mit dem Rollstuhl bis zum Wagen, umarmte sie, ließ sie aufstehen, packte sie an der Hose und schob ihren schweren Körper auf den Autositz. Hau ruck!, sagte Mutter. Ich faltete den Rollstuhl zusammen. Ich quetschte ihn auf den Fondsitz meines Kleinwagens. Ich war von Anfang an geschickt und praktisch veranlagt, eine solche Prozedur ging mir sofort in Fleisch und Blut über. Vielleicht könnte ich auch Altenpflegerin werden, scherzte ich beim Fahren, und dann kamen wir in der Großklinik an. Ich lud den Rollstuhl aus, baute ihn auf, packte Mutter an der Hose und hievte sie hinein. Mutter sagte: Hau ruck! Sie sackte im Rollstuhl zusammen. Dann ging ich rollstuhlschiebend durch die Klinik, ich gehe und gehe noch weiter, stelle schließlich den Rollstuhl in einer Ecke des Wartezimmers ab und verbringe dort einen halben Tag. Du, ich muss wieder mal, sagte Mutter. In meinem Mittel gegen Bluthochdruck ist was Harntreibendes drin. Ich packte sie an der Hose und hievte sie auf die Klobrille. Mutter pinkelte. Ach, ich muss auch noch Groß, sagte sie. Weicher Stuhl trat aus. Ich wischte sie ab. Mutter, rutsch doch etwas nach vorn. Hau ruck!, sagte sie und robbte sich vor.
Früher, als junge Mutter, habe ich das oft gemacht, immer und immer wieder. Die glatten, rosafarbenen Popos. Auch was herauskam, gelb oder grünlich, war so schön, dass ich fast Lust gehabt hätte, es mit der Fingerspitze aufzunehmen und abzulecken, säuerlich riechend wie Yoghurt, zu schade, es Kot zu nennen, also nannte ich es Häufchen.
Verglichen damit war Mutters weicher Stuhl einfache Scheiße. Er riecht genauso wie das, was ich täglich von mir gebe. Da ich ihr immer mit meiner bloßen Hand den Hintern reinige, riecht sie, egal, wie oft ich sie danach wasche, immer nach Scheiße. Während ich meine Hand in den Wasserstrahl aus der elektrischen Klodüse hielt und ihr den Hintern wusch, wünschte ich mir, diesen Gestank loszuwerden.
In solchen Momenten erscheint der heilige Jizō.
Im Gewühle des Pilgerpfads, den ich einst gegangen war,
das große eiserne Becken am Ende des Wegs erreichen,
den Rauch der Räucherstäbchen tief einatmen.
Mutters Finger, Mutters Zehen,
die Nerven des ganzen Körpers durchströmen lassen.
Zieh den hineingetriebenen Dorn heraus,
nimm auch den Gestank meiner Hand fort.
Über deine kleine Brust und den Leib aus Stein
klares Wasser gießen.
Die Qual,
schrubben wir sie ab.
Ich habe mir Stimmen aus Miyazawa Kenji: Kaze no Matasaburō [Matasaburō, der Windkobold] sowie von Yamamoto Naoki, Hagiwara Sakutarō, Yamaguchi Momoe (Aki Yōko) und anderen geliehen.
1Alle in eckige Klammern gesetzten Textteile sind Zusätze der Übersetzerin.
Besonders markant am Dialekt von Tokyo ist, dass der Laut »hi« als »shi« ausgesprochen wird.
In Shibuya gibt es die Statue vom treuen Hund Hachikō, und in Shibiya [Hibiya] gibt es die vielen Kinos. Über Shiroshima wurde die Atombombe abgeworfen, und shitode [hitode] – wenn sich viele Menschen versammeln – ist Tempelfest. Bei Sonnenaufgang shinode [hinode] legt man die Hände zum Gebet aneinander, und Katzen sonnen sich gern [shinata bokko – hinata bokko (Sonnenbad)]. Die Zeitung namens Asashi-Hinbun [Asahi shinbun, eine der wichtigsten japanischen Zeitungen] ist eins von den Wörtern, die sich partout nicht aussprechen lassen.*2
Mein Name lautet dann natürlich Shiromi, und von klein auf haben mich Mutter, Großmutter und Tanten so gerufen. In der kleinen Gasse, in der ich aufwuchs, wohnte im gegenüberliegenden Haus ein Junge namens Masashiro, seine Mutter rief ihn immer »Masashiro, Masashiro«, aber das »shiro« hatte nichts mit dem Tokyoter Dialekt zu tun wie in meinem Fall, sondern sein Name lautete tatsächlich so, nicht etwa Masahiro, und als ich das erfuhr, dachte ich in meinem Kinderherzen: Das ist ja unfair!
Von der Haltestelle Itabashi Honmachi aus erreicht man über enge, gewundene Gassen die Gegend namens Iwanosaka, »Felsenhügel«. Dass dort adoptierte Kinder ermordet wurden, spielte sich lange vor meiner Geburt ab. Die billigen Herbergen und armseligen Holzreihenhäuser am Rande der heruntergekommenen Station Itabashi wurden von Bettlern, Arbeitslosen, Räucherstäbchenverkäufern vom Jizō in Sugamo oder Gelegenheitsarbeitern bewohnt. Eines Tages wurde bekannt, dass unerwünschte Kinder von anderswo, die man hier adoptiert hatte, nicht selten starben, und es stellte sich heraus, dass das nicht etwa Einzelfälle, begangen von ein, zwei Bösewichten waren, sondern ein System, das die gesamte Gegend miteinbezog. Die adoptierten Kinder brachten einiges Geld oder Kleidung von ihren leiblichen Eltern mit, und bei der Ankunft feierten die Leute eine Art Fest; die Kinder mussten entweder arbeiten oder sie wurden gleich getötet, man weiß allein von mehreren Dutzend Kindern, die ermordet wurden. Das geschah lange bevor ich geboren wurde, als meine Mutter noch ein kleines Mädchen war. Damals wohnte die Familie meiner Mutter im Ryūsen-Tempelbezirk in Shitaya, sie hatten also mit Iwanosaka noch nichts zu tun. Doch die Familie konnte dort nicht mehr bleiben und zog nach Iwanosaka um, wo sie aber weiterhin arm waren und darbten; mein Großvater ging dann zur Insel Sado, um in der Goldmine zu arbeiten, und kam gelähmt zurück. Da begann für meine Großmutter die eigentliche Mühsal. Mit ihrem halben Dutzend Kindern. Das zweitälteste war meine Mutter. Das älteste war eine kränkliche Halbschwester, dann kam meine gesunde, kräftige Mutter. Sie hatte, so hörte ich’s, eine schwere Zeit. Schwerer als jedes andere Kind.
Schwerer als alle anderen.
Komm und besuch
Iwanosaka
Wo die Tränenbrücke
Den Oshito Fluss quert.
Großvater Tatsugorō war ein gutaussehender Mann, hochgewachsen, eine männlichherbe Erscheinung, einigermaßen gebildet und abenteuerlustig, natürlich trank er, wettete und kaufte sich Frauen, aber er war voller Gerechtigkeitssinn, gesellig, half den Schwachen und trotzte den Starken, und die Frau, in die er sich verliebte und die er heiratete, war meine Großmutter Toyoko, eine Witwe mit einem kleinen Mädchen, eine nette Frau, die nähen und sogar alte Lieder aus der Edo-Zeit singen konnte. Aber nachdem sie zusammenzogen, kam ein Kind nach dem anderen, ihr Auskommen war kümmerlich, sodass Tatsugorō sich sagte, mir bleibt nichts anderes übrig, als mein Glück in der Goldmine zu versuchen, also zog er auf die Insel Sado, aber er kam gelähmt zurück, und danach wurde das Leben für Toyoko noch schwieriger, sie gab die älteren Mädchen als Mägde außer Haus und tat auch selber alles nur Erdenkliche, was Geld einbrachte. Alles nur Erdenkliche. Sie schuftete bis zum Gehtnichtmehr. Sie nähte, trat als Sängerin auf, hat sich bis zm Letzten eingesetzt, um Kinder und Ehemann zu ernähren. Da fuhr eines Tages ein Geist in sie. Schon lange hatte sie morgens und abends vor dem buddhistischen Altar inbrünstig gebetet. Auch an diesem Tag betete sie wie immer, aber ihre Stimme wurde plötzlich schrill, sie fiel um mit Schaum vor dem Mund, dann stand sie abrupt auf, starrte ihren Mann an und begann, ihn mit tiefer Stimme zu schelten. Ähnliches war schon einmal vorgefallen, und damals verstand nur die zweitälteste Tochter Māko, was sie sagte, diesmal hatten der Ehemann und die Nachbarn zwar begriffen, dass sie von einem Geist besessen war, aber sie wollten wissen, um was für einen Geist es sich handelte und warum er von ihr Besitz ergriffen hatte, also schickten sie eilig nach Māko, die in einer Kaufmannsfamilie in Ōtsuka als Kindermädchen arbeitete, herbeieilte und alles verstand, was ihre Mutter sagte.
Was sagt sie?
Ich bin die Gottheit von Soundso, und wenn ihr nicht auf mich hört, dann wird es schlimm enden.
Und was sagt sie noch?
Der verschwundene Geldbeutel ist hinter die Kommode gefallen, und die Art, wie Herr Soundso die Schulden eintreibt, ist derart gnadenlos, dass er dafür bestraft werden wird!
Der verschwundene Geldbeutel wurde hinter der Kommode gefunden, und Herr Soundso fiel auf dem Heimweg von der Arbeit in einen Abwassergraben. Daraufhin kamen alle zu ihr.
Der Ehemann von Frau Soundso ist in Suehiro im Stadtteil Itabashi.
Der Sohn von Herrn Soundso hält sich in der Gegend von Shinagawa oder Gotanda auf.
Wie war das noch? Wie ging das noch?
Komm her und schau
Kuzunoha, die Blätter vom Pfeilwurz,
ihre dunkle Rückseite
ihren Groll
Potz Blitz, wenn sie nun schon so oft richtig liegt, dachte ihr Ehemann, der gelähmte Tatsugorō, derselbe Tatsugorō, der den Starken widersteht und den Schwachen hilft, mit zitternder Hand seine Kiseru-Pfeife rauchend. So viele Menschen suchen sie auf; wenn man also von jedem Geld nähme, könnten wir gut verdienen. Doch von dem Moment an, in dem sie Geld nahmen, wurde Toyoko nie mehr vom Geist heimgesucht.
So ist mir, nachdem mich die Gottheiten und Buddhas verließen, die von mir Besitz ergriffen hatten, nichts, aber auch gar nichts mehr geblieben. Mein Mann ist halb gelähmt, Töchter und Söhne sind alle noch klein. Nicht genug, dass so viele Münder ernährt werden müssen, ist die Älteste auch noch kränklich. Ein Sohn ist schwachsinnig. Die jüngere Tochter hustet dauernd. Doch damit nicht genug, mein gelähmter Mann hat anscheinend schon wieder irgendwo eine Frau. Sieht man von seinen ständig zitternden Händen ab, ist er ein hochgewachsener, gutaussehender Mann. Wenn er nachts nicht nach Hause kommt, bin ich vor Eifersucht außer mir.
In dieser Lage hörte ich vom Jizō. Eine Frau aus der Nachbarschaft, die Räucherstäbchen beim Jizō verkauft, kam eines Tages zu uns und wollte Reis leihen – wie kann man bei einer so armen Familie Reis leihen, dachte ich! –, aber mein Mann sagte, nun ist sie extra gekommen, gib ihr doch Reis, also gab ich ihr etwas, da sagte sie: Frau Toyo, Sie müssen unbedingt einmal zum Jizō pilgern, egal, wie schwer auch Ihr Leid ist, es wird dort aus Ihnen herausgezogen. So ging ich also hin, es war eine riesige Menschenmenge, meine Nachbarin, die Räucherstäbchen-Verkäuferin, konnte ich in dem Gewühle nicht finden, also kaufte ich bei jemand anderem, und Schulter an Schulter mit den anderen Pilgern warf ich die Räucherstäbchen in den riesigen Kessel und versuchte, mit der Hand den Rauch auf mich zu ziehen, und streichelte dabei den Hals der kleinen Tochter, die ich mitgebracht hatte.
Möge der Husten aufhören.
Ich streichelte ihr Gesicht: Möge sie eine hübsche Frau werden.
Ich streichelte über ihren Kopf: Möge sie klug werden.
Ich streichelte Schultern und Bauch: Möge sie gesund sein.
Ich streichelte sanft meinen Bauch über der Gebärmutter:
Möge ich nicht mehr Qualen als bisher erleiden müssen.
Ich streichelte meine Leisten: Möge Tatsugorō mit dem Fremdgehen aufhören.
Ich streichelte meine Brust: Möge alle Qual herausgezogen werden.
Ich streichelte meinen Hals (möge der Husten aufhören).
Ich streichelte meine Augen (möge die Müdigkeit meiner Augen schwinden).
Ich streichelte meine Schultern (mögen die Verspannungen schwinden).
Möge Māko es nicht mehr schwer haben.
Möge Chiyoko es auch nicht mehr schwer haben.
Dann stand ich lange in der Schlange,
um den kleinen steinernen Jizō zu waschen.
Diese Qual,
jene Qual,
zieh sie alle heraus.
Im Jahre 1966 wurde die Shimura-Straßenbahnlinie eingestellt.
Nun sollten wir eine U-Bahn bekommen. Nach Sugamo fuhren derweil Busse. Außer den Arbeiten für die U-Bahn wurde auch noch an einer Schnellstraße auf Hochtrassen gebaut, überall gebaggert und gewühlt. Die U-Bahn-Linie führte über die Stationen Honchō, Nakajiku, Vor dem Bezirksamt, die Strecke lag also im Vergleich zur bisherigen Straßenbahnlinie näher am Gastank von Itabashi. Dann kamen Kōshinzuka, Yattchaba und schließlich Sugamo. Die Busse fädelten sich im Zickzack zwischen den aufgewühlten Baustellen durch, bis Ende 1968 endlich die U-Bahn-Linie 6 von Sugamo bis Shimura eröffnet wurde.
Oje, der neue Bahnhof von Sugamo hat viel zu viele Treppen. Vierundzwanzig Stufen, vierundzwanzig Stufen, dreizehn Stufen, dann, nach der Fahrkartenkontrolle, wieder fünfundvierzig, fünfundvierzig und sechsundvierzig, insgesamt hundertsiebenundneunzig Stufen! Sugamo war jetzt weit, richtig weit, weit ferngerückt. Man gerät in Atemnot, seitdem die U-Bahn fertig ist, ist es viel mühsamer geworden als früher, den Jizō zu besuchen, doch es scheint, als würden deshalb die Gebete mehr noch als früher erhört.
Die Treppe hoch. Eine Stufe. Noch eine Stufe. Und noch eine Stufe. Außer Atem endlich oben angekommen. Dann ist man plötzlich draußen. Beim Ausgang der Station Itabashi Honchō der U-Bahn-Linie 6. Froh, endlich draußen zu sein, steht man genau unter der Hochtrasse der Tokyoter Ringstraße 7. Tosende Unruhe. Und hier beginnt Iwanosaka. Es geht bergab.
Die Geschäfte werden weniger, stattdessen säumen Wohnhäuser den Weg. Und noch mehr Wohnhäuser. Ein Bestattungsinstitut, so klein, dass man es fast übersehen könnte. Kneipe, Apotheke. Teegeschäft, Zigarettenladen, Elektrogeschäft, Geschäft für Arbeitskleidung. Davor sitzt auf einem Schemel eine alte Frau.
Reisgeschäft. Polizeiwache. Dahinter der Eingang zum öffentlichen Badehaus. Der Eingang zu einer Pension, die hinter dem Bad liegt. Auf halbem Wege bergab steht ein chinesischer Nesselbaum, von dem es heißt, dass er Beziehungen beendet. Und zwar, wenn man seine Rinde einnimmt. Ich habe sie zerrieben und in Miso-Suppe eingestreut. So machen’s alle, sie machen’s immer wieder. Jeder hatte Beziehungen, die wohl nicht hätten sein sollen. Es wirkte immer, alle gingen auseinander, und so sind wir nun, wie wir sind.
Der Stamm des alten Nesselbaums ist kahl und rau. Dahinter steht ein kleiner Schrein. Daneben drei Schemel. Gegenüber dem Baum ein Gebrauchtwarenladen und ein Friseur. Geht man weiter am Baum vorbei und biegt nach links ein, trifft man auf eine Grundschule, die vollkommen still daliegt. Daneben eine Papierfabrik. Sie ist ganz von einer Mauer umgeben, und der enge Weg läuft um die Mauer herum. Oben auf der Mauer Stacheldraht. Wenn man auf die Mauer starrt, fangen die Mauerflecken an zu sprechen. Das passierte mehr als einmal.
Gerätst du in solch rostige Stacheln, bist du am Ende.
Mit Kot beschmiert, wirkt’s nochmal schneller.
Neinnein, neinnein, das darf nicht sein.
Geht man die sprechende Mauer entlang, kommt man zu dem Haus, in dem Tatsugorōs Familie lebte. Er wurde, wie man heute sagen würde, dement, und manchmal verschwand er, sodass die Polizei ihn suchen musste, und schließlich starb er über achtzigjährig zu Hause an Altersschwäche. In den Papieren stand, er sei an Lungenentzündung gestorben, aber man weiß nichts Genaues, der Arzt, den man gerufen hatte, sagte, das brächte Erleichterung, und spritzte ihm irgendetwas ein, das flüsterten sich die Töchter Māko und Chiyoko zu. Einige Jahre später starb Oma Toyoko im Krankenhaus.
Geht man die Mauer entlang weiter bergab, gelangt man zum Shakujii-Fluss, zwischen der Banba-Brücke und Itabashi.
Als ich ein kleines Mädchen war, hieß es: Wir haben dich unter der Banba-Brücke aufgelesen, doch so hieß es nicht nur bei mir. Auch meine Cousins, Onkel und Tanten, alle sind damit aufgewachsen, und auch ich habe es meinen Töchtern gesagt.
Eigentlich sagte ich das nur zum Spaß, doch es gab Momente, wo ich mir im Innern wünschte, es wäre wirklich so gewesen, und wenn ich das so direkt meinen Kindern gegenüber aussprach, erschraken sie und taten mir leid.