Hier möchte ich nicht einmal tot überm Zaun hängen, dachte Sebastian und zog die Vorhänge zu. Er hatte Kopfschmerzen. Schlimmer als die anderen Gastspielorte war dieser im Grunde auch nicht, allerdings bot das Beeschauer ›Theater im Park‹ neben der gewohnten Tristesse ländlicher Oberzentren ein weiteres perverses Vergnügen: den Blick auf die wartende Menge. In die wartende Menge, um genau zu sein, denn seine Garderobe, die nichts anderes war als das Büro des Kulturvereins, befand sich auf der Vorderseite des Gebäudes, direkt neben dem Haupteingang, und so staute sich die gesamte Kleinstadt aufgerüscht und erwartungsfroh vor seinem Fenster. Schlecht war ihm auch.
Ursprünglich war der stillgelegte Bahnhof dem Kulturverein nur ›übergangsweise‹ von der Stadt zur Verfügung gestellt worden, und weder der Kultur noch dem kleinen Backsteingebäude hatte man angesichts des derzeitigen konservativen Bürgermeisters eine lange Lebensdauer attestiert. Doch Totgesagte leben bekanntlich länger, und schnell war der hübsche Bau mit den überwucherten Geleisen den Beeschauern ans Herz gewachsen. Spender und Gönner ermöglichten Umbauten, Einbauten, Anbauten, und als das ›Theater im Park‹ schließlich offiziell und feierlich eröffnet wurde, pries die Witwe des Bürgermeisters seine Liebe zur Kultur.
Oh ja, die Bürger Beeschaus waren stolz auf ihr Theater. Was hatte es nicht schon für Gastspiele gegeben! Steppende Iren hatten die Statik auf die Probe gestellt, wehmütige Russen die Weisen ihres Landes gesungen, wobei allerdings nicht einmal die ortsansässigen, ehemals natürlich vertriebenen, Wolgadeutschen sie verstanden hatten, und auch abgehalfterte Musical-Sängerinnen waren schon beim Absingen ihrer Erinnerungen belauscht worden. Gruppen der benachbarten Kreise traten ebenfalls hier auf, denn eigentlich durfte jeder das Haus buchen, wenn er nur freundlich anfragte. Der Bibelkreis etwa, der jeden Dienstag mit seinen drei Mitgliedern auf größeren Zulauf harrte, oder die Theater AG des Gymnasiums. Mit dem Eifer der Jugend und dem sicheren Wissen, danach die Stadt zu verlassen, prügelte sich der jeweilige Abijahrgang durch ›Romeo und Julia‹, eine Tradition, deren Faszination vermutlich in ihrem Schrecken bestand. Natürlich hatten auch einige, vornehmlich mit Freizeit gesegnete Beeschauer Hausfrauen und Rentner ihre Liebe zu den Brettern entdeckt. So war das ›Ensemble Eva‹ entstanden, benannt nach seiner Gründerin Eva Nackenschneider, und die ›Combo Comedia‹ war die ganze Freude von Horst Zimmer, dem Geschichtslehrer.
Highlights blieben jedoch die Gastspiele, sie brachten die große Welt in den kleinen Ort. Recht selten. In der Zwischenzeit gab es andere Zerstreuungen. Frühjahrsmarkt, Herbstmarkt, Erdbeerfest, Schützenfest.
»Ich bin schon so gespannt«, sagte Susanne Bodenhaupt, die erste in der Warteschlange, zu ihrer Schwester Elisabeth, die, wie stets, einen Schritt hinter ihr stand.
Ihr kotzt mich ja so an, dachte Sebastian und bereute, dass er doch noch einen winzigen neugierigen Blick auf die Wartenden geworfen hatte. Wenn er Frauen wie die Bodenhaupt-Schwestern sah, vielleicht Mitte fünfzig, aber ganz bestimmt Kern des Bibelkreises, mit ihren ständig zu kurz gekommenen Körpern und den platt gekämmten mittellangen mittelblonden Haaren, fragte er sich stets aufs Neue, warum so wenig Leute soffen. Na, er tat es wenigstens. Immerhin musste er nicht mehr persönlich mit diesen Frauen reden. Die Verkaufspräsentationen selbst, das reine Anpreisen der vollkommen überteuerten Heizdecken und Steppbetten und Fußwärmer und was nicht noch, hatten ihm bei seinem alten Job nie Probleme bereitet. »Sehen Sie her, schlagen Sie zu, scheißteuer, aber billig verarscht«, das war ihm leicht von den Lippen gegangen, das hatte ihm an guten Tagen sogar Spaß gemacht. Zermürbend hingegen waren die Busfahrten gewesen. Denn zunächst einmal musste man den vergnügungssüchtigen Rentnern die Möglichkeit nehmen, vor dem angepriesenen Nepp davonzulaufen. Man karrte sie also irgendwo in die Pampa und versperrte ihnen den Fluchtweg. Während der Hinfahrt wollten die netten Damen noch unbedingt mit dem netten Herrn reden, weil sie sich so auf die nette Veranstaltung freuten, wo es doch sicher auch nett Mittagessen gab. Auf der Rückfahrt schwärmten sie dann gemeinschaftlich von ihren unglaublichen Schnäppchen.
Auch nicht angenehm. Zum Glück lag das hinter ihm.
Fahrig tastete Sebastian seine Jackettaschen nach Magentabletten ab, fand aber nur eine leere Schachtel, die er wütend neben den Papierkorb schleuderte. Dann eben nicht. Trotzig nahm er einen weiteren Schluck Asbach und zündete sich eine Zigarette an. »Dass Sie mir da aber nicht rauchen!«, hatte ihm eine wirklich hübsche, grässlich arrogante Göre beim Zuweisen der Garderobe zugeraunt, und wen interessierte das? Vielleicht wäre er dieser Göre gegenüber freundlicher gestimmt gewesen, wenn ihm jemand verraten hätte, dass es sich um die amtierende Beeschauer Erdbeerkönigin handelte. Garantiert hätte er höhere Stücke von ihr gehalten, wenn ihm klar gewesen wäre, dass sie die Gästebegrüßung nur übernommen hatte, um danach für den Rest des Abends sturmfreie Bude zu haben und just, während Sebastian sein verkorkstes Leben bedauerte, im elterlichen Ehebett endlich ihre Unschuld verlor.
»Sogar der Hammermörder Hamann?« Ungläubig schüttelte Elisabeth Bodenhaupt den Kopf.
»Ach…«, schnaubte ihre Schwester gereizt, um nicht zugeben zu müssen, dass sie selbst keine Ahnung hatte. Schließlich wollten sie sich heute Abend ein Stück ansehen, das bereits in über zwanzig deutschen Städten gelaufen war. In kleinen Städten, zugegeben, aber erfolgreich. Sehr erfolgreich. Ausverkaufte Häuser. Natürlich wusste sie, worum es ging! ›Die Gerechten‹ hieß die Truppe, und ihre Show nannte sich ›Deutsches Justiztheater‹. Eine ›RealityJustizsatire‹, hieß es in der Vorankündigung, die ›wahre Verhandlungen zeigen wird, die bereits in ihrer Skurrilität zum Brüllen komisch sind und einen Bühnenabend voller Spaß und Unterhaltung garantieren‹.
Na bitte, stand alles da, was musste ihre Schwester plötzlich so blöde fragen? Aber um eine Antwort kam sie wohl nicht herum.
»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was am Hammermörder nun so komisch sein soll. Außerdem hat meine Freundin aus Hannover …«, und diese Freundin aus Hannover, die nicht nur keinen Namen hatte, sondern vermutlich nicht einmal eine Existenz, kam grundsätzlich dann ins Spiel, wenn es um Kultur ging, sie war gewissermaßen Susanne Bodenhaupts Kulturdiplom, »… das Stück schon in Berlin gesehen. Sie sagt, es gehe eher um die ulkigen Bonmots der Rechtsgeschichte.« Damit war die bewährte Hannoveranerin genau genommen schon disqualifiziert, denn in Berlin war das Stück nie gezeigt worden, aber das wusste niemand in der Warteschlange. Nicht einmal der Rentner Willy Großspur, obwohl Berlin sein Fachgebiet war. Sozusagen.
»In Berlin? In meiner alten Heimat? Ach, ick jloob et ja wohl nich.« Jede angemessene Distanz mühsam vermeidend schob er sich an die Schwestern heran. »Und wissense wat? In Berlin ha ick mal jelebt, und dit war juut. Wenn dit hier aus Berlin kommt, dann is dit och juut. Is ja logisch, wa?«
Susanne Bodenhaupt honorierte den Einwurf des pensionierten Kunstfreundes angesichts seiner weltmännischen Herkunft mit einem anerkennenden Nicken. Elisabeth hielt den Mund. Na also.
»In Berlin wurde das Stück sehr gut besprochen«, warf Susanne Bodenhaupt noch einmal unüberhörbar in die Menge der Wartenden und ruhte dann zufrieden in ihrer Überlegenheit. Auf Höhe ihrer immerhin vorhandenen Oberweite ruhte der Blick von Willibald Großspur, und so warteten alle etwas gelassener auf die Öffnung des Theaters und den Beginn der Vorstellung.
»Meine Damen und Herren, meine Ärsche und Sterze, meine … bäähh!« Vielleicht hätte ich vor der Vorstellung noch duschen sollen, dachte Sebastian Hemd und zog die Nase schnell wieder aus seiner Achselhöhle. Aber war das nicht scheißegal? War das nicht der eine Luxus, den man sich gönnen durfte, weil man es zu, nun ja, etwas gebracht hatte. Zweihundert Leute saßen da draußen. Bummelig. Und wie viel hatte jeder einzelne davon bezahlt? Na? So fünfzehn Euro vielleicht. Bitte schön! Nur, um ihn zu sehen. Also, seine Show. Sein Theater, seine Idee, seine Vision. Da durfte er ja wohl einen ganz leichten Achselgeruch haben. Künstlerschweiß. L’ eau de Genie! »Yes!« Noch einmal gönnte er sich einen großen Schluck aus der Flasche. Jawohl, fünfzehn Euro! Mehr war es denen nicht wert. Und dann musste er sich auch noch von Dorfklitsche zu Dorfklitsche hangeln, wo er die ›besseren‹ Büros als Einzelgarderoben bekam, und seine Truppe sich auf Sporthallenbänken für Zweitklässler die Wartezeit vertreiben musste. Mausgraue Zukunftsaussichten.
Gut sieht das aus, dachte Anna Haberland, die vom seitlichen Bühnenaufgang aus beobachtete, wie sich der Saal füllte. Platzreservierungen wurden von den Besuchern verglichen, einige standen wieder auf, setzten sich woanders hin, andere besetzten Plätze, um wenig später mal mehr, mal weniger freundlich, eines Besseren belehrt zu werden, kurzum: man benahm sich wie in einem richtigen, großen Theater und spielte die obligatorische Reise nach Jerusalem, die vor allem in den vorderen Reihen für entzückten Unmut sorgte, bot doch das Verwechseln der Plätze die schönste Möglichkeit, Rang-, Hack-, Platz- oder was für eine Ordnung auch immer frisch ins Gedächtnis zu rufen. Natürlich ging es nicht nur darum, Reviere zu markieren. Ein älterer Herr etwa fühlte sich schlicht zu weit von der Bühne platziert und fürchtete nun, kein Wort verstehen zu können, ein Pärchen wollte einfach nebeneinander sitzen und, was im Interesse aller lag, durfte es dann auch. Schließlich gab es noch eine junge Frau, die fünf Plätze gebucht hatte, weil ihr ihre Klaustrophobie gar keine andere Wahl ließ, und die nun mit Willibald Großspur einen Gegner vor sich hatte, der sie wahrlich zum Heulen brachte. Alles prima, dachte Anna und ging aufs Klo. Schon wieder. Die Leiterin des Beeschauer Kulturvereins hatte sich nämlich eine böse Blasenentzündung zugezogen, das passierte ihr häufiger, und irgendwie passte dieses latente Angeschlagensein auch zu ihrem Typ. Eine auffällige Schönheit war sie nicht, doch man könnte durchaus sagen, klassisch: mittelgroß, schlank und mit blondem Haar, das ihr schlicht gescheitelt auf die Schultern hing. Die wachen Augen zeugten von Intelligenz und ihr Lächeln, von dem vermutlich nicht einmal sie selbst wusste, ob es absichtlich oder zufällig auf ihrem Gesicht lag, verlieh ihr genau die richtige Portion friedlicher Melancholie. Die Rose unter den Mauerblümchen. Als Leiterin des Kulturvereins oblag Anna Haberland die Leitung des Theaters, dazu die Organisation sämtlicher Ereignisse, die sich irgendwie unter den Begriff Kultur drängen ließen. Waren alle anderen froh, einen Haufen Arbeit abgeschoben zu haben, so freute sich Anna ganz besonders, diese Tätigkeiten übernehmen zu dürfen. Als ehemalige ABM-Kraft der mickrigen Stadtteilbibliothek hätte sie sich keine steilere Karriere wünschen können.
»Nabend, schön, Sie zu sehen. Tschuldigung.« Zügig umschiffte sie die letzten Besucher, die noch im Foyer herumlungerten, und schob sich eilig in die Damentoilette, dankbar, es rechtzeitig geschafft zu haben.
»Scheiße, verdammte, das war knapp. Leck mich am Arsch, bin ich genervt von diesem Mist.« Laut aussprechen würde sie so etwas natürlich nicht, aber als stummen Stoßseufzer fand sie die Worte in so einer Situation ziemlich angemessen. Auf diese Aufführung hatte sie sich wirklich gefreut, und nun würde sie den Abend vor dem Theater verbringen müssen, weil sie schließlich nicht ständig Türen klappernd aus dem Saal rennen konnte. Der anstehenden Vorstellung stand sie zwar durchaus skeptisch gegenüber, aber ihre Neugier war groß. Schließlich hatte sie das ›Justiztheater‹ nach Beeschau geholt.
Ihre Skepsis hatte auch persönliche Gründe. Bevor sie an die Garderobe von Sebastian Hemd klopfte, atmete sie tief und genervt durch. Es fiel ihr schwer, zu so einem Schnösel freundlich zu sein. Bereits am Telefon, schon beim ersten Gespräch und auch bei der Buchung, hatte sie vermutet, dass er nicht ganz nüchtern gewesen war. Als sie ihm gegenüberstand, wusste sie, dass er schon lange nicht mehr ganz nüchtern gewesen war. Intendant, Chefdramaturg, Autor, Hauptdarsteller, da konnte er sich sonst was auf seine beißende Fahne schreiben, für sie war dieser Mann nichts anderes als ein mieser kleiner Heizdeckenverkäufer. Eine besondere Stärke von Anna war, sehr schnell sehr genau zu wissen, wen sie vor sich hatte.
»Herein!«
»Herr Hemd …«, säuselte sie professionell beim Öffnen der Tür und wusste im gleichen Moment, dass es ein Fehler war.
»Warum denn so förmlich? Wir sind doch Kollegen. Sebastian …« Schief grinsend hielt er ihr seine fischige Hand hin, besann sich, seiner Ansicht nach, noch einer eleganteren Lösung und bot ihr eine schlecht rasierte grünstichige Wange an. Anna schüttelte sich. Den Talar hatte er bereits übergestreift, doch hatte sich das sperrige Kleidungsstück seitlich an seinem Hosenbund verfangen und umrahmte somit feierlich den geöffneten Hosenschlitz, aus dem ein Hemdzipfel hervorlugte. Bislang hatte sie geglaubt, solche Figuren würde es nur auf schlechten Karikaturen geben.
»Herr Hemd«, wiederholte sie, diesmal keineswegs säuselig. Das da würde sie bestimmt nicht duzen. Lieber wäre sie mit den Bodenhaupts verwandt. Na gut, ganz entfernt verwandt. Dennoch war es kein schöner Anblick. Ein Häufchen Elend, das gerade fast über ihrem eigenen Schreibtisch zusammenbrach.
»Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie behilflich sein?«, fragte sie spitz. Meine Güte, hätte er sich nicht wenigstens die Mühe machen können, die Schnapsflasche vor ihr zu verstecken? Wie dem auch sei, beruhigte sie sich, mindestens zwanzig Auftritte hatte die Truppe schon hinter sich gebracht, vermutlich jedes mal mit diesem volltrunkenen Kipplaster, da würde es heute auch gut gehen.
Behilflich sein könntest du mir bestimmt, dachte Hemd, hatte sich aber tatsächlich noch so weit im Griff, dass er diese peinlichste aller Repliken für sich behielt. Irgendwie kam ihm die Frau bekannt vor. Das sagte er natürlich auch nicht. Schwerfällig stand er auf, fummelte mit fahrigen Bewegungen den Talar aus dem Hosenbund und hielt nach seiner Perücke Ausschau.
»Suchen Sie die?« Angewidert fischte Anna eine Art ehemaligen Wischmob aus ihrer Postablage.
»Ganz bestimmt.« Mit einer, wie er glaubte, schmissigen Bewegung nahm er ihr die Perücke aus der Hand und setzte sie sich auf die dünnen Haare. Ist ja ein ganz aufgewecktes Ding, diese Frau Kulturdingsda, hat alles im Blick. Alles im Griff, was? Die wär genau das Richtige für eine ganz persönliche After-Show-Party. Die hat was … Galantes, das war es. Er konnte sich wirklich nicht erklären, warum er das dringende Bedürfnis verspürte, ihr die Hand zu küssen. Wahrscheinlich sollte er auf Wodka umsteigen.
»Schön zu sehen, dass Sie ja dann so weit sind, Herr Hemd. Die Vorstellung beginnt in fünf Minuten.«
»Sie haben nicht zufällig ne Magentablette dabei?«
»Bitte?« Anna wippte inzwischen schon wieder sachte von einem Bein aufs andere, dabei wollte sie eigentlich vor Vorstellungsbeginn auch noch schnell beim Rest der Truppe in der Hauptgarderobe vorbeischauen.
»Na, einen Säureblocker. Ne Tablette. Oder meinetwegen auch so ein kleines Beutelchen mit Schleimzeug.«
»Bedaure. Dass gerade ihnen ein Schleimbeutel abgeht, überrascht mich allerdings.«
Absatzkehre, Tür zuschmeißen. Hemd lachte.
Keine halbe Stunde später hatte das Publikum bereits mehr als einmal herzhaft gelacht. Griffige Zoten, billige Kalauer, knapp zwanzig Jahre Kaffeefahrt und Aktionsfläche waren eine exzellente Schule gewesen. Hemd wusste, wo die sicheren Gags zu finden waren. Ich weiß, was ihr wollt, sagte er sich zum wiederholten Mal, während er auf der mit mickrigen Requisiten zum Gerichtssaal umgebauten Bühne saß, auf seinem Richterstuhl kippelte und sich durch den ersten Akt hetzte. Das Verfahren um den allseits bekannten ›Hauptmann von Köpenick‹ war von ihm um ein paar verbriefte Äußerungen gekürzt, dafür um ein paar Pointen erweitert worden, und wurde nun von seiner miesen Truppe zu Tode geleiert. Er brauchte etwas zu trinken.
»Der Hauptmann haben Befehl erteilt, und ich habe Befehl ausgeführt«, gab Bernd, armselig als Wachsoldat verkleidet, mit der Leidenschaft einer Frühkartoffel zu Protokoll, woraufhin Fred Vogel, der seine Aussage schon mühsam hinter sich gebracht hatte, demonstrativ auf der Zeugenbank zur Seite kippte, laut zu schnarchen begann und schließlich polternd auf den Boden krachte. Welch Überraschung. Slapstick geht immer. Das Publikum freute sich.
»Und dazu hatte er einen Befehl bekommen?«, fuhr der Richter den gefallenen Soldaten an, der sich langsam und ungelenk wieder aufrappelte. Ein blöder Kalauer, der Sebastian selbst nicht sonderlich gefiel, aber immer funktionierte. Und um etwas anderes ging es ja auch nicht.
»Hatte er …?«, stammelte Fred debil, denn noch war der Witz nicht tot. Mit überzogen Gesten und fragenden Blicken, die er zwischen Bank, Hinterteil und Richtertisch hin und her warf, konnte Fred die Lacher soweit anheizen, dass ein ernstes »Ich bitte um Ruhe im Gerichtssaal!« nötig wurde, unterstützt von den donnernden Schlägen eines übergroßen Holzhammers. Zunächst nahm das Gelächter dank dieser allzu erwarteten Pose noch einmal zu, wurde von Hammerschlag zu Hammerschlag leiser, bis nur noch vereinzelt Gekicher zu hören war, und auch das verstummte.
»Danke!« Das Publikum blieb ruhig. »Grenadier, sag Er, ist Ihm denn an dem falschen Hauptmann nichts aufgefallen?«
»Doch«, gab Bernd reumütig zu verstehen. »Er war so anständig. Nicht ein einziges Mal hat er mit uns geschimpft.«
»Das ist wirklich blöd«, stimmte Ingo zu, nachdem Anna über ihre Blasenentzündung und die damit verdorbene Abendplanung geschimpft hatte. Zur restlichen Theatertruppe war sie bis Vorstellungsbeginn auch nicht mehr gekommen, und nun stand sie gemeinsam mit dem Mann von der Abendkasse vor dem Theater auf der Straße und rauchte. Ingo war buchstäblich der Mann von der Abendkasse, nämlich von Gertrud, die am Nachmittag plötzlich krank geworden war. Ingo war ein netter Kerl. Etwas geknickt sah Anna auf ihre Armbanduhr, vermutlich gab es drinnen jetzt den zweiten Akt. Natürlich hatte sie das Stück nicht nach Beeschau geholt, ohne sich vorher bei Freunden und Bekannten, deren kulturellen Urteilen sie vertraute, darüber zu informieren. Ein Exfreund von ihr, der in einem kleinen Theater in Umsch beschäftigt war, hielt es für das ›mieseste Machwerk seit Erfindung der Doku-Soaps‹, was Anna als Garantie für einen Publikumserfolg wertete, und eine liebe Freundin, die mit dem Theaterbetrieb nichts zu tun hatte, war zwar nicht hellauf begeistert gewesen, sah im zweiten Akt aber ›durchaus ein gewisses Potential‹. Ein gewisses Potential konnte man in allem entdecken, dachte Anna, und wenn man weiß, dass es sich im zweiten Akt versteckt, steht man hinterher nicht ganz unbeholfen da. Sie warf ihre Zigarette in den sandgefüllten Blumenkübel und genoss für eine paar Minuten den schönen Sommerabend. Rasch wurde diese Freude jedoch getrübt, diesmal allerdings nicht durch stechenden Harndrang, sondern durch eine ziemlich attraktive Frau. Schwungvoll und ungelenk, diese motorische Kombination gelang nur Else Immerda. So parkte sie ihren Wagen auf dem Bordstein, und so stelzte sie auf Anna zu.
»Meine liebe Anna«, flötete sie, hauchte Wangenküsschen in die Luft und war schon vorbeigerauscht, hinein ins Foyer, jeden Protest bereits im Gedanken erstickend. Ernsthaft protestiert hätte sowieso niemand, denn Else Immerda war Journalistin beim Beeschauer Kurier, zuständig für den Bereich ›Feuilleton und Kultur‹, um genau zu sein, war sie der gesamte Bereich ›Feuilleton und Kultur‹. Die Presse, was für Einwände hätte man da wohl anbringen sollen. Gut, sie sah sich niemals ein Stück zu Ende an, häufig nicht einmal das Öffnen des Vorhangs, eigentlich lief sie grundsätzlich erst dann in den Zuschauerraum, wenn sich die Darsteller verbeugten. Dann fotografierte sie eifrig, und am nächsten Morgen zerriss sie das Stück. Oder lobte es in den Himmel, je nach Mondstand, Laune oder Hormonpegel. Aber all diese Dinge und die dadurch hervorgerufene abgrundtiefe Abneigung, die sie empfand, waren, so wusste Anna, ausschließlich privater Natur und mussten professionell ignoriert werden. Als Leiterin des Kulturvereins hatte sie gefälligst erfreut darüber zu sein, dass die Presse kam und schrieb. Und heute Abend, gestand sich Anna beschämt ein, hatte sie die Vorstellung ja selbst nicht gesehen. Himmel, konnte sie diese Zeitungselse nicht leiden.
»Danke, dass Sie heute einspringen konnten«, wandte sie sich an Ingo.
»Dafür nicht«, winkte er ab und drehte sich noch eine Zigarette. »Mach ich doch gern, wissen Sie ja. Komm ich mal raus. Seh ein paar Leute und so. Nicht wahr, was für die Birne, Kultur und so, nicht wahr. Theater ist schon spannend, find ich, nicht wahr?«
»Warum sehen Sie sich das Stück dann nicht an?«, hakte Anna nach.
»Ich hab schon mal eins gesehen. Und Gertrud meinte, die Stücke sind immer ähnlich. Beziehungskisten und so, nicht wahr?«
»Oft«, bestätigte sie, obwohl es nicht ganz die Antwort war, mit der sie gerechnet hatte.
»Sehen Sie, Frau Haberland. Und damals, ich meine, als ich da mal im Theater war, das hat mir nicht so gut gefallen, nicht wahr. Weil, also, nach ner halben Stunde tat mir der Hintern weh. Tschuldigung, mein Gesäß, nicht wahr. Und einfach so aufstehen kann man ja auch nicht. Stimmt’s oder hab ich recht?«
»Jaja.«
»Sag ich doch. Na, und wenn die alle ähnlich sind, mit den komplizierten Beziehungssachen und sowas, dann würd mir ja immer gleich …« Er beendete seinen Satz mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck und rieb sich, um seiner Aussage Ausdruck zu verleihen, andächtig das Hinterteil. Wie gesagt, Ingo war ein netter Kerl, und Anna freute sich ernsthaft und ausgiebig über seine bestechende Logik. Schön, wenn jemand nicht versuchte, sie mit Weltwissen, unnützer Bildung oder gar Eloquenz zu beeindrucken. Ganz aus ihrer Haut konnte sie dennoch nicht. Irgendwie fühlte sie sich bemüßigt, den sitzschwachen Mann auf den Theatergeschmack zu bringen. War ja auch Ehrensache.
»Aber dieses Stück ist keine Beziehungskiste.«
»Aha…«
»Es ist wirklich etwas anderes. Nachgestellte Gerichtsverhandlungen. Und die im zweiten Akt sind besonders lustig.« Das hielt sie für das verführerischste Argument, wenn es auch gewissermaßen improvisiert war.
»So«, entgegnete Ingo, ganz leicht interessiert. »Worum geht das denn da?«
»Na, zum Beispiel …« Um einen Moment überlegen zu können, ließ sich Anna von Ingo noch einmal das Tabakpäckchen reichen. »Vor etlichen Jahren gab es doch die Verfahren um die Brandstifter, die später Terroristen wurden und sich ›rfa‹ nannten«, entschied sie sich schließlich für diesen Programmpunkt zur Beschreibung des Stückes. Daran konnte sich wohl jeder noch gut erinnern. Beinahe ein Jahrzehnt waren die Typen ja fast durch alle Zeitungen gegeistert, nahezu wöchentlich hatten neue Schreckensmeldungen für Aufregung und Panik in der entsetzten Republik gesorgt. Wer zu jung war, um sich selbst zu erinnern, hatte es dennoch oft genug zu hören bekommen.
»Wieso ›rfa‹?«, nahm Ingo ihr umgehend den Wind aus den Segeln.
»Na, die Terrorgruppe ›rot für alle‹«, erklärte Anna verwirrt. »Sie lesen sicher eine Tageszeitung, oder? Vielleicht nicht jeden Tag, aber manchmal …? Da kam man um die ganze Geschichte doch gar nicht herum. Die Anschläge von Andreas A., Gudrun D., der ganze …«
»Ach, wissen Sie, das Zeitunglesen überlass ich meiner Frau. Steht doch bloß nur was über Krieg, Hunger und Tod drin, nicht wahr? Warum sollte ich mich damit belasten.«
»Stimmt’s oder hab ich recht?«, ergänzte Anna stumm für sich und war entzückt. Jemand, der so bereitwillig seine Unkenntnis preisgab und obendrein eine einleuchtende Erklärung dafür anbieten konnte, war Gold wert.
»Manchmal lese ich diese kleinen Comics mit dem Tiger und den beiden Meerschweinchen. So oft aber auch nicht.«
»Das ist ja …« Ausgiebig pulte sie sich einen Tabakkrümel von den Lippen. Sollte sie ihm jetzt etwas erklären oder nicht? Ach, natürlich sollte sie, niemand kann aus seiner Haut. »Na, das war irgendwann Ende der sechziger Jahre, und, zugegeben, es hatte wirklich etwas mit Krieg zu tun.«
Ingo nickte.
»Die drei, um die es in der Verhandlung geht, haben zwei Kaufhäuser angezündet. Symbolisch, also aus Protest … Ich meine, die hatten da ihren ganz eigenen theoretischen Überbau.«
»Also brannten die Kaufhäuser nur theoretisch?«
»Nein, ich meine als Symbol gegen den Krieg. Die brannten auch praktisch. Die Brandstifter kamen vor Gericht, und da kam es dann zu durchaus komischen und absurden Wortwechseln. Bis hin zum Urteil.«
»Komisch? Sie meinen Klamauk und so?« Wenn er sich auch nicht vorstellen konnte, was an einer Gerichtsverhandlung komisch sein sollte, so machte ihn die Aussicht auf einen lustigen Abend langsam neugierig. Zudem gab sich Frau Haberland so viel Mühe. Sollte er nicht wenigstens mal reinschauen?
»Ob man jetzt direkt Klamauk …« Anna beendete den Satz nicht. Offenbar hatten ihre Überredungskünste gefruchtet, Ingo wollte ins Theater, und ob es da auf der Bühne nicht tatsächlich Klamauk gab, wusste sie ja selbst nicht. Wo sie schon wieder hinmusste, wusste sie allerdings ganz genau.
»Sie trippeln ja schon wieder. Dann lassen Sie uns mal reingehen, oder nicht?« Galant bot er ihr seinen Arm an.
»Warum haben die noch mal die Kaufhäuser angezündet?«
»Wegen des Krieges. Als Symbol gegen den imperialistischen Vernichtungsfeldzug der USA in Südostasien«, zitierte Anna automatisch die Phrasen vergangener Zeiten und Kämpfe.
»Die haben gegen den Krieg der Amerikaner in Deutschland Kaufhäuser angezündet? Das versteh ich nicht. Klingt ja langsam doch wie ne komplizierte Beziehungskiste.«
»Genau!«, lachte Anna und löste sich aus der Umarmung, inzwischen standen sie vor der Damentoilette. »Aber …«
»Schon gut. Schnell rein mit Ihnen.«
Langsam und so leise wie möglich schlich Ingo in den Saal und blieb direkt an der Tür stehen. Er kam gerade rechtzeitig zur Urteilsverkündung.
»Für jeden der drei Angeklagten ergeht folgendes Urteil: Drei Jahre Haft … « Sebastian machte eine Pause, um dem Publikum etwas Zeit zu geben, und wie erwartet stöhnte es bestürzt auf, und dann noch einmal, entsetzt über die eigene Reaktion. Unversehens waren die Zuschauer in der letzten halben Stunde zu Sympathisanten geworden, hatten die jungen Leute auf der Anklagebank in ihr Herz geschlossen. Gut, die hatten etwas Schlimmes getan, manchmal redeten sie auch gar zu unverständlich daher, aber charmant waren sie schon, aufgeweckt. Wie sie dem Richter widersprachen, witzig und pointiert, so würde jeder selbst gern einmal der satten Obrigkeit den Spiegel vors Gesicht halten. Drei Jahre! Da wurde eindeutig mit viel zu großen Kanonen auf diese kleinen Spatzen gefeuert.
»Drei Jahre Haft wegen schwerer Brandstiftung und versuchter Körperverletzung.«
Stille. Einige Zuschauer fragten sich, ob sie irgendetwas verpasst hatten. Brandstiftung leuchtete ihnen ja ein.
»Versuchte Körperverletzung?«, stellte dann Fred Vogel auch die Frage, die allen durch den Kopf ging. »An wem denn, um Mitternacht in einem Kaufhaus?«
»Guter Einwand«, rief jemand aus dem Publikum.
»Wie jeder weiß«, sprach der Richter weiter, »hätte die gesamte Stadt niederbrennen können.«
»Die Kaufhäuser standen durch Straßen von allen anderen Geschäften separiert. Und die nächsten Wohnhäuser liegen fünfhundert Meter entfernt«, beschwerte sich Bernd. Die ersten Zuschauer kicherten zaghaft.
»Außerdem ist ja wohl bekannt, dass gerade zu dieser Zeit eine besonders hohe Frequenz an Menschen an solchen Orten herrscht, also durchaus von einem stark bevölkerten Zustand des Kaufhauses ausgegangen werden muss!« Mit einem lauten Hammerschlag unterstrich Sebastian seine Worte. »Damit ist die Verhandlung beendet. Der Nächste bitte!«
Die Ruhe im Saal währte nicht lang. »Menschen im Kaufhaus? Um Mitternacht?«, kam es höhnisch aus einer der Mittelreihen. »Nee, is klar!«, brummte jemand von ganz vorn, und Katja Siebel, die gerade dreizehn und gegen alles war, pöbelte am Lautesten. »Das soll komisch sein? Das is ja sowas von voll zu weit hergeholt, null authentisch, typisch Scheiß-Provinz-Verarsche!«, und zog eine Flunsch. Ihre Mutter sagte nichts, immerhin saß das Kind im Theater. Die meisten lachten dann doch. Ingo nicht, er schüttelte verständnislos den Kopf. Bei einem Feuer wurden Menschen gefährdet, für ihn stand das völlig außer Frage. Wo war denn nun der Witz? Vermutlich fehlte ihm einfach der Zusammenhang, tröstete er sich, Humor hatte er nämlich eine ganze Menge. Zu weiteren Gedanken über sein Humorverständnis kam er nicht, da die Technik auf Flutlicht umschaltete und somit unmissverständlich zur Pause rief. Eilig verließ er den Saal, um den kleinen Verkaufstresen der Garderobe zu erreichen und die Theaterbesucher mit Getränken und winzigen Häppchen zu versorgen.
Die Häppchen waren für Sebastian weniger von Interesse, seine Pausenverköstigung war flüssiger Form.
»Prost, mein Knabe«, gratulierte er sich. »Läuft ja alles wie geschmiert.« Überraschungen hatte es keine gegeben, das Publikum war so dankbar wie erwartet. Das war ehrlich schön an diesen winzigen Bühnen, dachte er, so ausgehungerte Zuschauer gab es nur in Orten ohne Unterhaltungsangebot. Wenn die mal etwas vorgesetzt bekamen, wo ›Kultur‹ draufstand, waren sie schon begeistert, und wenn dann auch noch Lachen offiziell erlaubt war, gingen die ab wie Schmidts Katze. Solch naive Freude am Sein brauchten sie auch, wenn sie dem Akt nach der Pause mehr als ein paar höfliche Lacher abgewinnen wollten. Und sie würden, wusste Hemd. Denn trotz der abfallenden Qualität des Stücks nahm die Stimmung der Zuschauer bis zum Ende stets zu, ein Umstand, der in schlichtestem Zusammenhang mit dem Pausencatering stand. Ihm ging es ja nicht anders. »One for the road«, und hinaus ging es in den dürftigen dritten Akt. Ziemlich karnevalistisch mutete der Fall an, den Sebastian dafür ausgegraben hatte, und obwohl man es auf den ersten Blick nicht vermutete, Auslöser der Streitigkeiten war nämlich ein Pferd, handelte es sich um ein juristisches Problem der neueren Zeit. Dieses Pferd, braves Mitglied eines Brauerei-Gespanns, hatte gegen ein Auto getreten und es dabei, wenig überraschend, prompt beschädigt. Zumindest nach Ansicht des Klägers. Der Beklagte bestritt, zur fraglichen Zeit am Tatort gewesen zu sein. Die Kutsche schon, aber er selbst war viel zu besoffen gewesen, um als ›anwesend‹ bezeichnet werden zu können. Die Wortwechsel zwischen den beiden waren ganz amüsant, die Stimmung im ›Theater im Park‹ war bestens.
Ingo verspürte nach der Pause keine Lust mehr auf die Vorstellung, die kurze Auffrischung seiner Vorurteile hatte ihm genügt. Theater war seine Sache nicht.
»So schlimm?«, fragte Anna mitfühlend und half ihm bei den Vorbereitungen für das kleine Schnittchengeplänkel nach der Aufführung.
»Nee, Frau Haberland, für unsereins ist das wohl nichts, nicht wahr.« Kopfschüttelnd schob er ein paar Gläser hin und her. »Ne Beziehungskiste war das nun wirklich nicht, nicht wahr, da haben Sie wohl Recht. Aber das waren trotzdem so Sachen …«
Die Sache mit dem Pferd entwickelte sich auf der Bühne derweil weiter. Das Vieh hatte nun einmal gegen das Auto getreten, und auch wenn der Kutscher weiterhin beteuerte, nicht dabei gewesen zu sein, musste er für den Schaden aufkommen. Langsam begriff der gute Mann, dass er so nicht weiter kam, deshalb änderte er seine Strategie.
»Psychologie«, rief er, also Fred. »Die Psychologie ist Schuld.«
Zur Freude des Publikums führte er eine psychische Aversion des Huftieres gegen Blech an, womit der Schaden folglich krankheitsbedingt entstanden wäre. Um auf Nummer Sicher zu gehen, wies er außerdem auf die »unbestreitbare Tatsache« hin, dass es sich bei einem Pferdefuhrwerk ja auch um ein Fahrzeug handelte.
»Das Fahrzeug hat völlig eigenständig gehandelt«, provozierte er den nächsten sicheren Lacher und landete wieder bei seiner Anfangsthese. Er war bei der ganzen Sache nicht dabei gewesen und hatte nichts damit zu tun. Sebastian lachte nicht, er blieb bei seinem richterlichen Urteil.
»Der Beklagte haftet als Halter des Pferdefuhrwerkes insgesamt, weil dieses das Auto des Klägers beschädigt hat. Ein Pferd ist, auch wenn es durch PS angetrieben wird, kein Fahrzeug nach StVO, sondern nach §833 BGB ein Haustier, das mit dem beschädigenden Huftritt gegen das Auto des Klägers im Rahmen der typischen Tiergefahr im Sinne §833 BGB gehandelt hat.«
Verständnisvolles Nicken wippte durch das Publikum, alle hielten dies für einen gelungenen Abschluss der Geschichte und waren bereit für den nächsten Fall. Doch Sebastian Hemd wäre nicht der König des Zusatzverkaufes, wenn er an dieser Stelle die Klappe gehalten hätte.
»Die Fahrerlaubnis kann ihm jedoch nicht entzogen werden, da er zur Tatzeit nicht anwesend war.« Man stellte sich also auf eine weitere Wendung ein.
»Aber wie soll ich ein Pferd mit einer psychisch bedingten Aversion gegen Blech davon abhalten, Autos zu treten, wenn ich nicht anwesend bin?« Dezentes Brummen hing zwischen den Stühlen, das hatte man ja schon mal gehört. »Außerdem bin ich mir sicher, dass Julie, mein Pferd, nur mit dem Huf blinken wollte und nicht schlagen.«
»Es ist mir völlig egal, ob das Pferd gegen das Auto getreten hat, weil es kein Blech mag oder weil es sein Herz in seiner Einsamkeit mit schönem Klang erfreuen wollte. Und wenn es seinen Huf als Warnblinker genutzt hat, damit das liegen gebliebene Fahrzeug rechtzeitig als Hindernis erkannt wird, ist mir das auch schnurz.«
Besänftig mit dieser platten Pointe entließ Sebastian sein durchaus vergnügtes Publikum in den Rest des Abends.
»Das könnte ich schon noch ne ganze Weile machen.« Applausberauscht und asbachvergnügt stand Sebastian zur letzten Verbeugung auf der Bühne. »Und das auch!«, freute er sich, als Anna ihm einen Blumenstrauß überreichte. Dass sie eilig einen Schritt zurücktrat, als er ihr einen Kuss auf die Wange drücken wollte, ignorierte er großmütig. Eine Sekunde zuvor hatte Else Immerda auf den Auslöser gedrückt, und auf ihrem Foto lächelten sich die beiden noch über Rosen und Schleierkraut hinweg strahlend an. Das Licht ging an, ›Die Gerechten‹ gingen von der Bühne, und die Journalistin rannte mit gut gefülltem Wonderbra und ausgestreckter Hand direkt auf Sebastian zu.
»Holaha«, entfuhr es ihm, und Anna entschuldigte sich kurz, obwohl sie gerade jetzt eigentlich nicht musste.
»Herr …«
»Hemd. Aber sagen Sie doch Sebastian.«
»Sagen Sie doch Else. Else Immerda vom ›Beeschauer Kurier‹, hallo!«
»Hallo Else«, näselte er.
»Hihihi«, kicherte sie. Und dann verschwanden die beiden für eine ganze Weile in der Garderobe, um die Blumen ins Wasser zu stellen, die Schminke vom Gesicht zu kratzen, über das Stück zu plaudern und zu tun was sonst noch nötig war, um das symbiotische Verhältnis zwischen Künstler und Kunstkritik im Gleichgewicht zu halten.
»Ich hab das doch alles wirklich nicht nötig«, maulte Anna, ein Tablett mit leeren Gläsern auf den kleinen Tresen donnernd.
»Aber es macht Ihnen doch immer ne Menge Spaß, nicht wahr«, widersprach Ingo zaghaft und brachte schnell ein paar Flaschen in Sicherheit. So kannte er Frau Haberland noch gar nicht.
»Ach…« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah sich schmollend um. Das Foyer war sehr klein, die Garderobe wurde nach der Vorstellung zur Bartheke umfunktioniert und die Saaltüren blieben einfach geöffnet, damit die Bestuhlung dort genutzt werden konnte. Es war ja ganz schön, wenn die Zuschauer nicht nach Hause gehen wollten, wenn sie lieber hier im Theater blieben, miteinander quatschten, noch einen tranken. Sie fühlten sich wohl, waren zufrieden gewesen mit dem Unterhaltungsprogramm. Aber wo blieb, zum Henker noch mal, der Star des Abends?
»Star, dass ich nicht lache.«
»Bitte?«
»Ach, nix.« Die Künstler, zumindest wenn es sich um eine wenig bekannte Truppe wie diese hier handelte, sollten sich nach der Vorstellung noch unter die Gäste mischen. So war es abgemacht. Zumindest sollten sie kurz auf der kleinen Nachfeier auftauchen, das gab den Gästen ein Gefühl von … Was auch immer, sie mochten das einfach.
»Sind doch alle da.« Mit einem Nicken wies Ingo zur Bühne, dort saßen die Darsteller auf dem Rand wie Hühner auf der Stange.
»Ja, alle da«, bestätigte sie knapp und wappnete sich mit einem klirrend süßen Lächeln gegen die beiden Bodenhaupts, die zur Verabschiedung auf sie zustürzten.
Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er aus einem Hochhaus gestürzt. Und dann von einem Zug überrollt worden. Durch einen Häcksler gejagt, von einem Coyoten verschleppt, und dann … Stöhnend hielt Sebastian eine Hand vor die Augen und schnupperte an seinem Kaffee. Warum hatten die in diesem mickrigen Hotel kein Aspirin? Die Gäste hier fragten doch bestimmt ständig nach Schmerzmitteln, bei der Einrichtung taten einem sogar die Haare in der Nase weh. Er trank einen Schluck. Okay, der Kaffee war ganz gut. Aber diese Tapete, der Teppichboden, die Stühle, die Bedienung, diese Ansammlung von Staub und Muff und Kleinstadtfrust. Schlecht war ihm auch schon wieder. War es nicht genau das, was er loswerden wollte? Diese kleinbürgerliche kleingeistige Kleinkrämerei? Konnte er ja gleich wieder Gemüsehobel verhökern.
»Krieg ich noch mal n Kaffee, oder was?«
Der gemütliche Mann hinter dem Tresen überhörte einfach den zickigen Tonfall, Hemd war schließlich nicht der erste Morgenmuffel, den er bedienen musste.
»Soll ich Ihnen vielleicht ein paar Spiegeleier dazu machen?«, bot er freundlich an.