Inhalt
[Cover]
Titel
KURZ DAVOR
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
VORMITTAG
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
MITTAG
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
SPÄTER NACHMITTAG
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
ABEND
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
MITTERNACHT
23. Kapitel
24. Kapitel
ALLES DANACH
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
DANKSAGUNG
Autorenporträt
Übersetzerporträt
Kurzbeschreibung
Impressum
IST ALLES
DEINS!
KURZ DAVOR
1
Er war ein wütender Mann, und er war ein hässlicher Mann, und er war hochgewachsen, und wieder einmal schritt er auf und ab. Dafür gab es kaum Platz im neuen Zuhause, bloß ein paar Durchgangszimmer unter einer Reihe langsam rotierender Deckenventilatoren, ein ganzes Aufgebot antiker Uhren tickte an der Wand. Vom einen Ende der Wohnung zum anderen schaffte er es in kürzester Zeit – Tempo als Scheitern und als Erfolg zugleich –, und dann wieder von vorn, auf dem Absatz kehrt und sich dabei in den Fußboden bohren, in die Erde, in diese Welt.
Das Ausschreiten kam nach der Zigarre und dem Scotch. Beides war unbefriedigend gewesen. Die Flasche hatte monatelang zu dicht am Fenster gestanden, und so war der Scotch in der Nachmittagssonne verdorben, was sich jedoch gerade erst erwiesen hatte, weil der Scotch so bitter schmeckte, dass er ihn ausspucken musste. Und bei der Zigarre hatte er ständig husten müssen, weil der Rauch heute Abend so gemein im Hals kratzte. All das, was er so schätzte, rauchen, trinken, im Gehen seinen Frust loswerden – mit diesen Vergnügungen war es vorbei. Zuvor war er im Casino gewesen, hatte sich zu den jungen Kerlen gesellt. Und mithalten wollen. Doch auch dieses Vergnügen hatte sich schnell erschöpft. Ein paartausend Dollar futsch, ein Abstecher in die Toilettenkabine. Was ihm das bringen sollte? Es gab nur noch so wenig, was ihm Freude machte oder dem zumindest nahekam. Erlösung, das hatte er immer darin gesehen. Erlösung aus dem Klammergriff des Lebens.
Seine Frau Barbra saß auf der Couch, lasche Haltung, hängende Schultern, schiefer Kopf, ohne seine Existenz zur Kenntnis zu nehmen. Als er nun vor ihr stehen blieb, warf sie ihm wenigstens einen Blick zu, und dann ließ sie den Kopf wieder sinken. Schwarz gefärbtes Haar, leicht erschlafftes Kinn, aber selbst jetzt, mit achtundsechzig, so zierlich und großäugig wie eh und je. Früher war sie der Große Preis gewesen. Er hatte sie gewonnen, dachte er, wie ein Plüschtier auf dem Jahrmarkt. Sie blätterte in einem Architectural Digest-Heft. Diese Zeiten sind vorbei, Schätzchen, dachte er. An solche Dinge kommst du nicht mehr ran. Ihr Leben war zu einer Blamage geworden.
Das wäre nun ein sehr guter Zeitpunkt gewesen, seine Irrwege all dieser Jahre einzugestehen, sämtliche Fehltritte zu beichten, sich für sein Handeln zu entschuldigen. Bei wem? Bei ihr. Bei seinen Kindern. Bei allen anderen. Es wäre exakt der Moment gewesen, all die Verbrechen einzuräumen, die er im Leben begangen hatte und die schließlich genau hierhergeführt hatten. Seine Fehler schwebten und rotierten kaleidoskopartig vor seinen Augen, bunte, lebendige, atmende, bewegte Scherben aus Schuld. Könnte er diese Bruchstücke doch zu einem größeren Bild fügen, damit man verstand, welche Entscheidungen er getroffen hatte, wie er auf die falsche Seite geraten war, vielleicht schon immer. Und für immer.
Stattdessen ärgerte er sich über den Geschmack einer Flasche Scotch und wies seine Frau darauf hin, dass das nicht passiert wäre, wenn sie den Haushalt besser führen würde, und ob sie bitte aufhören könne, am Thermostat herumzufummeln, und die Temperatur einfach so lassen, wie er es mochte. Und sie hatte weitergeblättert, angeödet von seinem Scotch, angeödet von seinem Gemecker.
»Der Kerl von unten hat wieder etwas gesagt«, sagte sie. »Deswegen.« Sie zeigte auf seine Beine. Die Schritte, man hörte sie durch den Boden.
»Ich darf ja wohl in meiner eigenen Wohnung herumlaufen«, sagte er.
»Klar«, sagte sie. »Aber so spät am Abend lässt du es vielleicht.«
Er marschierte unter lautem Stapfen ins Schlafzimmer und kippte mit dem Kopf voran aufs Bett. Keiner liebt mich, dachte er. Aber das macht mir nichts aus. Kurz hatte er geglaubt, er könnte noch einmal Liebe finden, selbst jetzt, als alter Mann, doch das hatte sich als Irrtum erwiesen. Schön, dann eben ohne Liebe, dachte er. Er schloss die Augen und gönnte sich einen letzten Gedankengang: ein Strand, zu undurchdringlichem Weiß gebleichter Sand, ein reglos blauer Himmel, in der Nähe Vogellaute, ein Schenkel, über den sein Finger strich. Der Schenkel gehörte zu keiner Bestimmten. Irgendeiner, der zur Verfügung stand aus dem Fundus an Körpern in seiner Erinnerung. Seine imaginäre Hand drückte den imaginären Schenkel. Es sollte wehtun. Er wartete auf das Einsetzen der Erregung, doch stattdessen schnappte er plötzlich nach Luft. Sein Herz krampfte. Erlöse mich, dachte er. Doch er konnte sich nicht bewegen, mit dem Gesicht im Kissen, ein erstickter Laut. Frischer Wäscheduft. Ein Lavendelfeld, die Kühlflüssigkeitsfarbe der Blüte, unterbrochen von leuchtenden Spasmen aus Grün. Erlöse mich. Diese Zeiten sind vorbei.
Anderthalb Stunden später nahm ein Rettungssanitäter namens Corey seinen letzten Anruf des Tages entgegen. Garden District. Herzinfarkt, dreiundsiebzigjähriger Mann. Die Frau des Patienten ließ ihn und seinen Kollegen wortlos ein, und dann hatte sie in der Tür zum Schlafzimmer gelehnt und ihnen bei der Arbeit zugesehen, bis sie sich schließlich auf der Couch im Wohnzimmer niederließ. Eiskönigin, kalt wie ein Stein. Vorstehende Froschaugen. Eine tickende Reihe gruseliger Uhren über ihrem Kopf. Massenhaft Diamanten an Händen und Hals. Unbewusst streichelte er die beiden Diamantstecker in seinem rechten Ohr – einen hatte ihm seine Exfrau geschenkt, für den anderen hatte er eisern gespart.
Bevor sie mit dem Patienten im Schlepptau gingen, erklärte Corey ihr, in welches Krankenhaus sie ihren Mann brachten. Es kam kein Wort der Bestätigung. Sie starrte einfach weiter geradeaus. Er wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. Geduld war knapp bei ihm. Nie bekam er genügend Schlaf. Dass er die jetzt auch noch aufnehmen musste, konnte er als Letztes gebrauchen.
»Na kommen Sie, Lady«, sagte er.
Schließlich atmete sie ungeheuer tief aus und schnappte dann plötzlich nach Luft. Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte geschworen, dass sie im Sterben gelegen hatte und gerade ins Leben zurückgekehrt war.
2
Alex im Bett, aber wach. Füße angewinkelt. Die Klimaanlage auf Hochtouren, grundlos. Yogahosen, weiches, lappiges T-Shirt und Kaschmirsocken, ein Geburtstagsgeschenk, vor vier Jahren, als sie noch nicht geschieden war und ein Mann ihr noch etwas Gutes tun wollte. Laptop bei neunundzwanzig Prozent, gehalten von ihren ausgestreckten Schenkeln. Darauf ein Schriftsatz, auf den sie eintippte, als könnte die schiere Intensität ihrer Fingerspitzen aus diesem Fall einen machen, den man gewinnen konnte, was aussichtslos war.
Alex mit den ungeheuer großen braunen Augen und dem intensiven Blick, mit den schmalen, ernsten, angespannten Lippen und einer zarten Membrane aus Trauer, an die sie immer wieder stieß, die sie geradezu liebkoste – so vertraut war die Trauer inzwischen, dass es ein gutes Gefühl war, sich darauf einzulassen. Es gab kein Gut oder Schlecht; es gab nur Empfindung.
Alex, allein diesen Sommer, in einem Haus in einer Sackgasse im Wohngebiet eines Städtchens fünfundvierzig Minuten westlich von Chicago, während ihre Tochter ihn woanders verbrachte, bei ihrem Exmann. Auf dem Nachttisch ein Becher mit Baldriantee, den sie allabendlich trank, obwohl er nie bewirkte, was er sollte. Zum Beispiel, dass sie einschlief. Weit davon entfernt. Sie steht unter Strom wie eine Glühbirne, eingeschraubt und gesichert. Aber es ist eine Gewohnheit, das mit dem Tee. Vielleicht zieht er ihr eines Tages doch mal den Stecker.
Das Telefon klingelte. Es war ihre Mutter, mit der sie selten sprach, abgesehen von einer trostlosen Unterhaltung hier und da. Zum allgemeinen Austausch unwichtiger Fakten. Ihre Eltern hatte sie schon vor Jahren abgeschrieben. Sie würden niemals ehrlich miteinander umgehen. Warum dann überhaupt Beziehungen pflegen? Alex ging trotzdem ran. Kein Mensch meldet sich so spät abends mit einer guten Nachricht. Wenn sie nicht ranging, würde sie die ganze Nacht wach liegen und sich fragen, was los war. Besser also, es gleich zu erfahren.
Barbra klang zart und gebrechlich, die Stimme hatte etwas Raues und Süßes zugleich. »Es gibt Neuigkeiten«, sagte sie. Alex’ Vater liege im Krankenhaus. Wahrscheinlich werde er sterben. Alex schnappte nach Luft. »Das habe ich jetzt gesagt«, sagte ihre Mutter, ein guter Spruch – Barbra konnte auch witzig sein, schoss Alex durch den Kopf –, aber sie lachte nicht. Egal, ihre Mutter wollte bloß wissen, ob sie sofort nach New Orleans kommen konnte.
»Ich brauche Hilfe«, sagte ihre Mutter. Barbra, die nie um etwas gebeten hatte, außer darum, dass ihre Tochter lieb war, und manchmal auch, dass sie still war – eine Erwartung so unrealistisch wie die andere, hatte Alex immer gedacht.
»Ich komme morgen«, sagte Alex.
Sie war zutiefst aufgewühlt, auf beinahe erotische Art. Jetzt passiert es. Jetzt kann sich etwas ändern.
Jetzt würde sie gar nicht mehr schlafen.
3
Im Griffith Park sah Gary unverwandt und konzentriert dem Sonnenuntergang über Los Angeles zu. Suchte Klarheit, während sein Herzschlag langsamer wurde. Seit seiner Ankunft hatte er jeden Tag eine Runde gedreht, zwischen allen erdenklichen Terminen, ein schwieriges Unterfangen, vor allem Ende August. Jeden Morgen marschierte er entschlossen immer wieder um das Reservoir in Silver Lake herum, früh, wenn es noch kühl war, und jeden Nachmittag machte er eine gemächlichere Wanderung im Griffith Park, wo er auf staubigen Pfaden das Gelände durchstreifte bis hinauf zum Observatorium. Umging dabei vergnügte Touristenrudel, die abrupt stehen geblieben waren und die Kameras hochhielten, weil sie wussten, wie man jede unvorteilhafte Perspektive vermied. Zu Hause in New Orleans kam er nie dazu, sich die Beine zu vertreten, nicht so. Heute versuchte er, bei seiner Runde an nichts zu denken. Das war sein Ziel. Im Hirn runterkommen auf null.
Zwei Stunden zuvor hatte er einen Haschkeks verspeist, zur Stärkung seines Projekts, nicht zu denken. Eins mit Schokoladenglasur.
Sein Handy klingelte und er ging nicht ran, weil es seine Mutter war, und warum sollte er mit ihr reden? Vor Kurzem war sie, zusammen mit seinem Vater, wieder aufgekreuzt in seinem Leben, nach Jahren vernünftiger, gesunder Distanz. Die jahrzehntelang unausgesprochene Abmachung, im jeweils eigenen Winkel des Landes zu bleiben, war irgendwie spontan kollabiert: Seine Eltern waren nach New Orleans gezogen – keine Ahnung warum. Ganz bestimmt nicht aus dem ernsthaften Verlangen heraus, emotionale Bindungen an ihn und seine Familie zu etablieren. Nähe war nicht ihr Ding, nicht das seiner Eltern. Aber da waren die beiden nun, da saßen sie nun alle vierzehn Tage in seinem Wohnzimmer und erwarteten, dass er ihnen einen Drink anbot. Auf ihre Bedürfnisse einging. Während sie seine Frau und sein Kind kennenlernten, die er lieber vor ihnen geschützt hätte – am liebsten hätte er eine Mauer gebaut, um die vier voneinander zu trennen. Aber jetzt unterhielt man sich die ganze Zeit. Plauderte. Reichte es denn nicht, dass er seine Mutter regelmäßig zum Abendessen treffen musste? Musste er wirklich auch noch ans Telefon gehen?
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Sonne und dem leuchtenden Pink zu, das sie umgab. Runterkommen auf null war nicht ganz korrekt. Was er eigentlich suchte, war die Abwesenheit jeglicher Rücksichtnahme auf Frauen. Er wollte sich nicht mehr darum kümmern müssen, was sie dachten oder empfanden. Er hatte sein ganzes Leben mit Kümmern verbracht, im Gegensatz zu seinem Vater, der sich sein Leben lang um gar nichts gekümmert hatte. Doch dieses Leben wollte er nicht mehr. Er wollte das Nichts. Eine gerade Linie im Kopf.
Abgesehen von seiner Tochter Avery – um die würde er sich immer kümmern.
Als Nächstes kam eine Textnachricht von seiner Frau. Er sah ihren Namen, zog sich aber nicht rein, was sie schrieb. Dort standen Dutzende Nachrichten untereinander, auf die er noch nicht reagiert hatte, und wenn er lange genug wartete, würde sich das vielleicht erübrigen. Er dachte: Wenn eine Nachricht aus dem Blickfeld verschwindet – existiert sie dann überhaupt noch? Sie wird einfach zu einem Gedanken, den irgendjemand mal hatte. Ich bin echt an was Großem dran, dachte er. Er stieß kurz mit der Faust in die Luft. Ich muss einfach noch fünf Minuten in diesen scheiß Sonnenuntergang starren, und dann hab ich garantiert alles geklärt. Verlass mich noch nicht, Sonnenuntergang, geh mir jetzt bloß nicht weg, kleiner Klecks in Orange und Rosa, nicht, wenn ich so kurz davor bin, endlich klarzusehen.
Sein Telefon klingelte wieder, und diesmal war es seine Schwester.
Und abgesehen von meiner Schwester, dachte er. Dieser Plan mit dem Nicht-Kümmern, er wackelte schon.
Mit Alex wollte er immer reden, sie waren nämlich nicht nur Geschwister, sondern auch Freunde, und außerdem hatten sie beide zusammen dieses Haus in Connecticut überlebt, also war der Impuls, jede Hand zu nehmen, die sie nach ihm ausstreckte, ganz natürlich, auch wenn er mit dem Rangehen vielleicht noch einen Tick hätte warten können, weil, dieser Dreier aus Mutter-Ehefrau-Schwester konnte nichts Gutes bedeuten, und einen Sonnenuntergang verdirbt man sich am allerbesten, indem man ans Telefon geht. Aber es war Alex und er liebte sie, also ging er ran, und sie berichtete so atemlos vom Herzinfarkt ihres Vaters, dass es geradezu froh klang, was jeder andere vielleicht als unangemessen empfunden hätte, er aber nicht, er war ganz bei ihr und sie ganz bei ihm, und als sie das Gespräch beendet hatten, war die Sonne weg und er auf einmal in Tränen aufgelöst.
Da war er, sein Moment der Klarheit. Denn auch wenn er jeden Gedanken an Frauen gern ausgelöscht hätte – noch lieber hätte er jeden Gedanken an seinen Vater ausgelöscht. Und das rückte nun in den Bereich des Möglichen. Endlich.
In der Nähe ruhte eine Frau von ihrer Runde aus. Sie musterte Gary verstohlen, seine langen Beine, das enge, verschwitzte T-Shirt, das gefühlsgeladene Gesicht mit der großen, auffälligen Nase, seine dunklen Locken, die ihm feucht in die Stirn hingen. Er weint, dachte sie. Ist das jetzt rührend, oder ist das ein Warnsignal? Sie wusste es nicht. Dann blickte sie auf seine riesigen Hände. Kein Ring in Sicht.
Sie dachte im Stillen: Wenn ich noch mal einen Mann im Internet kennenlernen muss, springe ich von dieser Klippe da – ich kann das nicht, ich kann nicht, nicht mehr.
Die Frau war Pilateslehrerin; sie bot Einzeltraining für reiche Leute an, die keine Lust hatten, ihr Büro oder Zuhause zu verlassen. Diesen Job machte sie hervorragend. Sie führte eine Warteliste. Ihr Körper war makellos. Sie besaß eine Eigentumswohnung. Aber das war egal. All das war egal. Sie lernte einfach niemanden kennen.
Sie betrachtete eingehend seine Gestalt und dachte: Und wenn dieser Mann der Richtige ist, warum nicht er? Und wenn er jetzt gleich den Kopf dreht und mich anschaut und lächelt. Heißt das vielleicht, er könnte mich lieben. Lieb mich, lieb mich, lieb mich, dachte sie, sogar noch, als Gary sich umwandte und den gewundenen Pfad wieder hinunter auf sein restliches Leben zuging. Kurz kam sie sich vor wie eine Versagerin. Aber es lag nicht an dir, Lady. Du konntest ganz einfach nicht wissen, was gerade mit Gary vorging.
4
Avery lag nach dem Frühstück in der unteren Koje und starrte mit glasigem, verträumtem Blick auf die Unterseite des oberen Betts und die vielen gekritzelten Namen der Mädchen, die vor ihr dort geschlafen hatten. Wer hätte gedacht, dass es so viele Namen gab? Wer hatte sich dort als Erste verewigt? Abby, Natasha, Tori, Latoya und ein paar Dutzend weitere. Ihr Revier abgesteckt. Avery hätte ihren Namen gern dazugeschrieben, war aber nicht sicher, ob sie bereits existierte wie all die anderen.
Oder zum Beispiel wie Schlangen. Gerade war Woche der Schlangen im Camp. Sie existierten, weil sie wussten, was ihre Bestimmung war. Sie schlängelten sich, sie jagten ihre Beute. Avery war zwölf – was machte sie? Sie aß, sie atmete, sie erledigte ihre Hausaufgaben. Aber was war damit erreicht? Was, wenn Schlangen ihre Bestimmung waren?
Sie dachte daran, wen sie liebte, welche Exemplare des Homo sapiens. Ihre Mutter, ihren Vater, ihre Cousine Sadie, die sie nie sah, mit der sie aber ständig chattete, ihre Großmutter wahrscheinlich, ihren Großvater … Die Tür der Hütte ging auf. Es war eine Betreuerin, Gabrielle, die mit der unrasierten Bikinizone. Avery hatte es gesehen, am See. Alle anderen auch. Haare, die unter dem Badeanzug hervorsprossen. Avery wusste nicht, ob das gut war oder schlecht. Einfach Haare eben, vermutete sie. Wieso weiß ich es aber nicht? Wieso kann ich das nicht entscheiden? Bei Schlangen ist es einfach. Bei Schlangen weiß ich Bescheid.
Gabrielle kam auf Avery zu und sagte sanft zu ihr, sie müssten sich mal unterhalten. Alle anderen Mädchen in der Hütte machten gleichzeitig »Oooh«. Sie gingen nach draußen und spazierten ein Stück, wobei die Ältere eine Hand auf Averys Schulter legte, und dann drückte sie Avery ihr Telefon in die Hand. Handys waren im Camp verboten, und für Avery war es ein kurzer Kick, wieder eins in der Hand zu haben. Handys waren ihre Freunde, fand sie. Sie waren für sie da, wenn es sonst niemanden gab. Gechattet wurde immer. Instagram gab es immer. Schlangenvideos gab es immer.
Am Telefon sprach Averys Mutter mit ihr über den Großvater. Dass er im Krankenhaus lag und vielleicht sterben würde. »Ich dachte, das möchtest du wissen«, sagte sie. »Ich weiß doch, ihr zwei wart Kumpels.«
Wirklich? Auf dem Weg zurück zur Hütte an diesem bereits brütend heißen Augustmorgen dachte Avery an all die Zeit, die sie mit ihrem Großvater verbracht hatte im letzten halben Jahr. Oft hatte er sie nach der Schule abgeholt und in seinem neuen Auto herumgefahren, in der ganzen Stadt, und dabei über sein Leben schwadroniert, seine geschäftlichen Projekte. Im ersten Monat hatte sie ihm noch aufmerksam zugehört, aber nur wenig verstanden von dem, was er da sagte. In den folgenden Monaten hatte sie aus dem Fenster gestarrt und von Tieren und Bäumen und Gras und dem Fluss und der Küste geträumt, wo Männer vom Austern- und Garnelenfang lebten. Doch in letzter Zeit war sie wieder darauf eingestiegen, und da war ihr klar geworden, dass die Geschichten, die er erzählte, richtig schlimm waren, dass er schlimme Dinge tat. Auch wenn er sich für den Helden hielt.
Gelangweilt und fasziniert zugleich fragte sie ihn, ob das, was er machte, illegal war.
»Keiner ist unschuldig in diesem Leben. Alle sind sie Verbrecher, vertrau mir. Außer dir wahrscheinlich. Du bist ziemlich unschuldig, stimmt’s?«
»Ich weiß nicht, was ich bin«, sagte sie, was zutraf.
»Bleib bloß, wie du bist, Kind«, sagte er. Was für Avery wenig überzeugend klang. Es hörte sich eher nach Feststellung an, nicht nach Anweisung. Dann zündete er sich eine Zigarre an, und bald war das Auto voller Qualm. Sie wedelte ihn von ihrem Gesicht weg. Als er sie absetzte, sagte er: »Deine Mutter braucht nicht zu wissen, dass ich in deiner Nähe geraucht habe.« Er reichte ihr einen Hundertdollarschein. »Weißt du, wenn sie fragt, dann sagst du einfach, wir haben zufällig einen Kumpel von mir getroffen, und der hat geraucht.« Sie starrte auf das Geld in ihrer Hand und blickte dann schweigend und erschrocken zu ihm auf. »Du verhandelst knallhart«, hatte er gesagt und ihr noch einen Schein gegeben. Er taxierte sie kurz. »Das ist gut, wenn man das kann.« Sie nickte als Zustimmung – zu all dem.
Sie mochte Geld, glaubte sie. Geld musste man wohl einfach mögen. Doch nun war Avery eine Lügnerin. Bis vorhin war sie keine Lügnerin gewesen, und jetzt war sie plötzlich eine. Hatte er das bewirkt oder sie?
Zwanzig Jahre später sollte sie mit einem Mann zusammen sein, der Zigarren rauchte. Gut war er nicht zu ihr – im Grunde war die Beziehung ziemlich belastet. Sie schnauzten einander an und stritten über Politik, über den Chef des Mannes, weil Avery nicht verstand, dass er für ihn arbeitete, über Moral, über Ethik, über Kapitalismus. Sie blieben viel zu lange zusammen, und jedes Mal, wenn er eine Zigarre rauchte, verabscheute Avery diesen Geruch, doch auch wenn sie ihm ständig die Hölle heiß machte – darüber verlor sie, warum auch immer, niemals ein Wort. Nach dem Ende dieser Beziehung wurde ihr klar: Dort hätte ich ansetzen müssen, bei den Zigarren. Die ganze Geschichte wäre viel schneller vorbei gewesen.
Als Avery zu der Hütte kam, wo sich ihre Mitbewohnerinnen plaudernd auf der Veranda rekelten, versuchte sie, an ein Gefühl anzudocken. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte mit ihrem Großvater. Dass sie womöglich besser dran wäre ohne ihn. Aber gleichzeitig dachte sie: Der Tod ist traurig. Niemand sollte sterben. Kein lebendiges Wesen hatte das verdient. Sie wusste, dass es zur Natur gehörte. Sie wusste, dass es Zyklen gab. Ihre anderen Großeltern waren schon gestorben. (Viel bessere Menschen als dieser Großvater, auch das wusste sie.) Doch irgendjemand sollte irgendwo traurig sein wegen ihres Großvaters. Also weinte sie.
Als sie wieder in ihrer Koje war, legte sie sich rücklings auf die Matratze und zückte einen Stift. Neben die Namen all der anderen Mädchen schrieb sie ihren eigenen. Und dann schrieb sie neben ihren auch seinen. Victor.
5
Zehn Uhr morgens, und das Haus weckte Corey auf, bevor er bereit war. Ein Fundament, das bebte, wenn in der Nähe Laster über die Claiborne Avenue donnerten. Einen halben Block weiter die Rampe zur Autobahn – der Verkehr hörte anscheinend nie auf. Eine Exfrau, die für jedes Gespräch ihr Telefon auf Lautsprecher stellte, als wäre die ganze Welt an ihrem Kram interessiert. Ganz zu schweigen von den drei Kindern, eins gerade so aus den Windeln, die allesamt kamen und gingen, wie es ihnen passte. Corey pennte auf einer Couch im zweiten Zimmer vom Garten aus, dem ehemaligen Büro. Irgendein Kind marschierte da immer durch, unterwegs zum Extrafernseher, um irgendwas anzuschauen, wenn sich nicht alle einigen konnten, was auf dem großen im vorderen Zimmer laufen sollte, oder wenn sein Ältester, Pablo, ein Teenager, zum Zigarettenrauchen in den Garten ging. Außerdem verbrachten sie gern ihre Zeit mit ihm, und er liebte sie alle sehr, lachte mit ihnen, neckte sie, piekste sie. Was sollte er dagegen sagen, wenn seine Kinder kamen, um ihren Daddy zu sehen?
Ansonsten war es fast wie ein eigenes Zimmer. Er hatte einen Kleiderständer reingestellt, an den er seine Dienstkleidung hängte, seine Jeans, seine T-Shirts, alles gebügelt, die Schuhe darunter aufgereiht. Ein Familienfoto – minus Corey – hing an der Wand. Drei dunkelhaarige Kinder, lächelnd mit jeweils unterschiedlichem Zahnstatus – ohne Milchzähne, mit Zahnspange, zahnspangenbefreit –, und Camila mit glitzernden Creolen und rosigem Dekolleté und müden Augen. Das Foto hatte sie im Spätstadium ihrer Scheidung machen lassen. Aber er blickte gern zu ihnen auf und machte sich dann vor, er wäre an diesem Tag auf der Arbeit gewesen.
Er war bereit, mit der Situation umzugehen. Und alle hatten das Recht, sich frei zu bewegen. Aber konnten sie nicht manchmal respektieren, dass er Spätschicht gehabt hatte?
Nicht mein Haus, rief er sich ins Gedächtnis. Nicht meine Regeln. Er war vor einem Dreivierteljahr dort gelandet, völlig überschuldet. Ein paar miese Mitbewohner hintereinander, offene Schulrechnungen, und natürlich diese Kinder da, die auch nicht gratis waren. Er sah einfach kein Land, sosehr er sich auch bemühte. Trotzdem, er hatte Glück, sicher und solide untergekommen zu sein, das wusste er. Die Kinder gingen zur Schule, das Haus war sauber. Aber er wollte mehr. Er träumte nun einmal davon, ganz ohne Lärm zu leben. Er war kein stiller Mensch, aber er stellte sich vor, mit dem richtigen Platz zum Leben einer werden zu können. Eine leise, stabile, kraftvolle Macht in der Welt. Wie ein Ninja.
Echte Ruhe fand man nur in Camilas Zimmer, aber bei ihr zu schlafen brachte lauter Probleme mit sich, außerdem erinnerte sie ihn gern daran, wer die Rechnungen bezahlte, wodurch ihm alles Sexuelle verging. Und in letzter Zeit nahm sie ihn nicht gerade freundlich auf. Er machte ihr auch viele Probleme, das war ihm klar. Die Ehe hatte geendet, weil sie nicht aufhören konnten zu streiten. Geld war das Hauptthema, auch wenn es in unterschiedlichem Gewand daherkam: Sex, Essen und allerhand ästhetische Meinungsverschiedenheiten. Erschöpft hatten sie in den letzten Monaten zu einem gewissen Frieden gefunden. Solange sie nicht so taten, als könnte es sie – im Sinne von »sie« beide als Paar – noch einmal geben, als würde dieses Eheleute-Ding jemals funktionieren, konnten sie dieses Haus auch teilen. Dieses höllisch laute Haus.
Aber er hatte einen Plan. Es gab eine neue Frau in seinem Leben: Sharon. Sie liebte ihn nicht, glaubte er. Er liebte sie auch noch nicht, konnte sich das aber vorstellen, oder zumindest näherungsweise. Er war etwas unsicher bei ihr – wie viel Liebe sie in sich hatte. Sharon war sowohl herzlich als auch undurchdringlich. Aber er arbeitete daran. In drei Tagen würde er seinen Plan auf den Weg bringen. Ich habe noch Spielraum, Baby, dachte er, da geht noch was.
VORMITTAG
6
Alex in New Orleans. Es gab Veränderung, es gab Bewegung – ein lange vereister Fluss in ihr taute und die Stromschnellen sprudelten. Auch wenn sie das nie laut gesagt hätte, konnte sie nun kaum erwarten, dass ihr Vater starb, damit sie endlich die Wahrheit über ihn erfuhr. Victor Tuchmann lag bewusstlos in einem Krankenhausbett, drei Meilen stadtauswärts von ihrem Hotel entfernt. Er war dem Tod mit Sicherheit nah, welche Rolle spielte es also, ob gleich oder später? Als ein Arzt sie über die stark verkürzte Lebenserwartung ihres Vaters aufklärte, was für andere vielleicht eine schlechte Nachricht gewesen wäre, hätte sie fast gesagt: »Hand drauf?«
Alex war zwei Tage zuvor in die Stadt gekommen und es war eine einzige Hetzerei gewesen, Telefonate mit mehreren Verwandten und ein paar früheren Geschäftspartnern aus seiner Zeit als Bauunternehmer, einer Versicherung, einer Bank. Außerdem hatte sie mit jemandem von der Krankenhausverwaltung ein langes Gespräch über die notwendigen nächsten Schritte geführt, sollte ihr Vater versterben, in dem es auch zu der vagen Andeutung kam, man werde den Leichnam zur Obduktion zum Coroner schicken müssen, ein Detail, über das Alex kurz nachdachte – aus ihrem Jahr in der Kanzlei des Pflichtverteidigers wusste sie, dass eine Untersuchung durch den Coroner nur erforderlich war, wenn es strafrechtliche Ermittlungen gab –, um es dann ad acta zu legen, nicht ohne sich zuvor noch zu sagen: Probleme bis zum bitteren Ende, Dad? Echt jetzt?
Unterdessen hatte sie immer wieder versucht, den abwesenden, verhangenen Blick ihrer Mutter auf sich zu ziehen, nur um ihr klarzumachen, dass es bald so weit sein würde – ihre Mutter würde keinen mehr haben, hinter dem sie sich verstecken konnte, und keinen Grund, ihr länger etwas zu verschweigen. Ihre Mutter war all die Jahre loyal gewesen und hatte sich oft eher verhalten wie der Consigliere ihres Mannes, nicht wie seine Frau, und Alex wusste, Barbra würde kein böses Wort über Victor verlieren, solange er noch lebte. Doch inzwischen war Alex überzeugt, sie eines Tages knacken zu können, möglicherweise schon bald. Vielleicht noch vor der Beerdigung. Vielleicht noch heute. Alex wusste, mit der gemeinsamen Lebensgeschichte der beiden hatte es noch viel mehr auf sich, und sie war entschlossen, dahinterzukommen.
Auch wenn es erbärmlich war, das wusste sie! Oh, sie wusste es. Eigentlich hatte sie keinen vernünftigen Grund, sich überhaupt dafür zu interessieren. Früher war sie von ihren Eltern zutiefst fasziniert gewesen. Sie hatte gelechzt nach Wissen über sie. Als Kind hatte sie an verschlossenen Türen und Schubladen herumgefummelt, auf den Knien Schränke durchwühlt, hatte während geschäftlicher Telefonate vor dem Arbeitszimmer ihres Vaters herumgelungert, bis ihre Mutter sie verscheuchte.
Vor fünfzehn Jahren hatte sie dann endlich erkannt, wie sinnlos jeder Versuch war, die Wahrheit von einem Mann zu erfahren, der niemals irgendwie überführt worden war, und von einer Frau, die ihre Gefühle schon seit Jahrzehnten unter Verschluss hielt. Und natürlich hatte Alex inzwischen ihr eigenes, echtes Erwachsenenleben: Da war der erste Job (von vielen) in Chicago gewesen, und dann ihre Ehe mit einem gut aussehenden Mann mit Fehlern, gefolgt von der Geburt eines klar denkenden, hübschen, liebevollen Kinds, das furchtbar schlecht in Mathe war, aber ansonsten ziemlich intelligent – alles in allem eine für sie nicht unbedingt reich oder lebhaft zu nennende Existenz, aber definitiv eine ausgefüllte. Wer hatte die Zeit, Leuten hinterherzulaufen, die sehr versiert darin waren, sich nicht einfangen zu lassen? Warum sich das antun, wenn es direkt vor ihrer Nase reichlich Grund zum Kopfzerbrechen gab?
Doch plötzlich gab es nun diese Möglichkeit, diese Gelegenheit, die sich drei Tage zuvor eröffnet hatte, zu einer Zeit, in der sie gerade genug emotionalen Raum zur Verfügung hatte, um sich überhaupt noch einmal um diese Leute zu scheren. Was empfand Barbra für Victor? Warum war sie bei ihm geblieben? Und war er noch schlimmer, als Alex all die Jahre gedacht hatte?
Sie brauchte Verbündete für diese Mission. Und gerade versuchte sie, wenigstens ein bisschen Unterstützung von ihrer Schwägerin Twyla zu bekommen, die neben ihr im Liegestuhl lag. Sie befanden sich in Alex’ Hotel, auf dem Dach, am Pool, wo sie in den Hitzeschwaden unter zwei riesigen Sonnenschirmen schwitzten. Garys voraussichtliche Ankunftszeit war immer noch unklar, also hatte sie Twyla eingeladen, ein paar Stunden mit ihr zu verbringen, eine Pause für beide von diesem Stress, der ihren Vater umgab. »Ja, super, Hotelpool«, hatte sie gesagt, als Alex sie anrief. Dann hatte Twyla die erste Dreiviertelstunde nach ihrem Eintreffen mit der äußerst schwierigen Frage verbracht, ob sie so früh am Tag schon Alkohol trinken sollte, und schließlich hatte Alex ihr einen Drink bestellt, an dem Twyla nun mit großer Befriedigung nippte, als hätte sie die Entscheidung ganz allein getroffen.
»Glaubst du, Barbra packt aus, wenn mein Vater gestorben ist?«, sagte Alex.
»Wie meinst du das?«, sagte Twyla.
Twyla hatte eine rauchige Stimme und extrem blondes Haar, Unmengen davon, und statt es irgendwie zu frisieren, verließ sie sich lieber lässig auf diese Blondheit und Fülle, um im Leben klarzukommen. Sie müffelte nach Lippenstift, den sie ständig neu auftrug – ihre Handtasche war voll mit diesem billigen Zeug, das sie, wie sie Alex erzählte, zwanghaft jedes Mal kaufte, wenn sie im Drogeriemarkt war, immer auf der Jagd nach einer neuen Lieblingsfarbe. Sie trug einen Batikbikini und so viel Sunblocker, dass er nicht vollständig eingezogen war und eine dicke Schicht auf ihrem ganzen Körper hinterlassen hatte. Alex hätte sie vermutlich mit dem Fingernagel abkratzen können.
»Was ich meine, ist«, sagte Alex, »sie hat sich nie über ihn beklagt, wirklich ihr ganzes Leben lang, ich habe das kaum je erlebt, und wenn doch, dann immer dermaßen abstrakt – ›dein Vater‹, und dann ein Seufzer, und fertig. Aber innerlich muss sich doch etwas angestaut haben. Fast fünfzig Jahre Wahrheit. Und Gefühle.« Sie fügte ganz unschuldig hinzu: »Und vielleicht würde es ihr ja besser gehen, wenn sie es mal ausspricht.«
»Ich glaube, das ist nicht die Art deiner Mutter«, sagte Twyla. Sie schlürfte ihre Margarita. »Sie will bloß, dass alle ruhig sind. Und zufrieden.«
»Meinst du wirklich?«, fragte Alex. Sie will, dass er zufrieden ist, weiter nichts, dachte sie.
Twyla schützte ihre Augen mit der Hand vor der Sonne und blickte über die gleißend weiße Betonterrasse mit dem Pool. »Gott, ich wünschte, ich hätte eine Zigarette. Meinst du, es ist okay, hier draußen zu rauchen?« Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihr Telefon und fing an, in wildem Tempo zu tippen. Über ihre Schulter konnte Alex erkennen, dass sie versuchte, die Aufmerksamkeit einer gewissen Sierra zu erwecken, die sie mit einer üppigen, schrillen Auswahl von Emojis aus einem offensichtlich gewaltigen Digitalarsenal bombardierte.
Gary war in Los Angeles gewesen und hatte Leute getroffen, um seine Karriere wieder anzuschieben, und die Tochter der beiden war für zwei Monate in so einem Naturcamp, und in ihrer Abwesenheit hatte sich Twyla offenbar gehen lassen, und Alex genoss diese Spielart von ihr. Nachgiebig, locker, leicht dekadent, näher an dieser netten Südstaatenmaus, die ihr Bruder vor fünfzehn Jahren geheiratet hatte. Auch Alex’ Tochter war inzwischen weg für den Sommer, in Colorado bei ihrem Vater (angeblich zum Wandern, wahrscheinlich vor einer stattlichen Reihe von Bildschirmen), und Alex hatte vorgehabt, die Zeit ohne sie zu genießen, doch dann hatte ihr Vater den Herzinfarkt gehabt, und jetzt war sie wieder mehr sie selbst, die Spielart, die sie nicht sein wollte.
Wie hätte ihr Sommer eigentlich sonst ausgesehen? Sie hätte an den Wochenenden ausgeschlafen, unter der Woche allerdings Überstunden gemacht. Sie hätte sich – vielleicht – verabredet und – hoffentlich – Sex gehabt und daraufhin sowohl erfüllt als auch verletzlich gefühlt. Und Alex hätte ein paar Tage mit ernsthaftem Nachdenken über die Frage verbracht, wie sie zur nächsten Spielart ihrer selbst nach der Scheidung werden konnte, etwas, das sie sich bisher nicht einmal ansatzweise überlegt hatte – sie war so sehr damit beschäftigt gewesen, sich scheiden zu lassen und das Glück ihrer Tochter zu regeln, dass sie nicht einen einzigen Tag für sich gehabt hatte. Sie hatte auch keine Zeit gehabt, an ihren Freundschaften zu arbeiten – Menschen waren abgetaucht, vielleicht aber auch sie. Für Ende Juli stand sogar in ihrem Kalender: »Krieg deinen Kram auf die Reihe.« Mit Bleistift allerdings.
»Und wenn es mich einfach glücklich macht, diesen ganzen Dreck zu erfahren?«, sagte Alex. »Nur einmal zu hören, dass sie ehrlich ist. Sie ist meine Mutter. Dann sollte sie mich doch glücklich machen wollen?«
Twyla legte ihre fettige Hand auf Alex’ Schulter. »Der Tod ist für alle schwer«, sagte sie.
»Twyla! Willst du denn nicht selbst die Wahrheit wissen?« Alex suchte verzweifelt nach Anteilnahme.
Für einen Moment war Twyla ganz still und ruhig, eine leichte Brise zauste ihre Haare. Sie machte den Mund auf, um etwas zu sagen, und dann noch mal, und kam schließlich bei einem Gedanken an. »Nichts für ungut, aber warum sollte mich das kümmern?«, sagte sie. »Die waren es nicht, die mich verkorkst haben.« Sie saugte ihren Drink leer. »Was meinst du«, sagte sie. »Soll ich noch einen bestellen?«
Im Hotelzimmer sehnte sich Alex sofort zurück auf die Dachterrasse, wo sie von der Welt nichts mitbekommen hatte. Sie warf einen Blick durchs Fenster auf die verlassene Baustelle nebenan, ein von der restlichen Stadt verbanntes Gebäude, ungeliebt, für immer unvollendet, und dann gab sie auf und schaltete den Fernseher ein. Damit war sie aufgewachsen – ein Fernseher in so gut wie jedem Zimmer des Hauses. In Küche, Wohnzimmer, sämtlichen Schlafzimmern, dem Arbeitszimmer ihres Vaters, sogar noch einer hinten auf der Terrasse, da, wo ihn das Poolwasser nicht erreichte. Der einzige fernsehfreie Ort war das Esszimmer gewesen, doch während der Mahlzeiten lief oft der in der Küche weiter, den ihr Vater von seinem Platz am Kopfende sah, damit er sich zurücklehnen konnte und so die Sportergebnisse mitbekam. Klare Gedanken waren bei ihnen daheim gefährlich gewesen. Erst das Hintergrundrauschen machte ein Zusammenleben möglich. Auf diese Weise musste sich niemand artikulieren – jedes Gespräch erlag dem Gemurmel von Zimmer zu Zimmer. Ihr Vater wünschte eine gedämpfte Geräuschkulisse. Außer natürlich, er wollte komplette scheiß Stille haben. Was immer ihn beruhigte, er bekam es.
Doch mittlerweile hatte das Fernsehen nichts Beruhigendes mehr. Alle Nachrichten waren schlecht. Der Präsident war ein Vollidiot und die Welt zerfiel – das dachte sie an jedem geschlagenen Tag. Trotzdem lümmelte Alex bäuchlings auf dem Bett und sah sich an, was da gesprochen wurde. Welche Schrecken standen bevor? Sie hatte keine Freude daran, es zu erfahren, doch informiert zu sein machte etwas in ihr zufrieden. Es war möglich, gleichzeitig zufrieden und unglücklich zu sein – das wusste sie schon sehr lange. Welche Seite der Waage sich neigte, lag in jedem Moment an ihr. In letzter Zeit hatte sie sich für unglücklich entschieden. Irgendwie kam ihr das einfacher vor.
Aber sie war nach wie vor Mutter, eine Berufsbezeichnung, die sie zwang, zumindest ein bisschen zufrieden zu tun. Ihr iPad piepste: Das war ihre Tochter Sadie, per FaceTime aus Colorado. Alex schaltete den Fernseher stumm, aktivierte aber die Untertitel. Für alle Fälle.
Alex und Sadie winkten einander zu, wobei in Sadies metallischem Lächeln die teuersten Zahnspangen der Geschichte glänzten, so dauerhaft wie ein vielgeliebtes, sentimentales Broadway-Musical. Sadie rollte sich auf den Rücken und nahm dabei das iPad mit. Ihr Haar breitete sich über das Bett. Wie hübsch meine Tochter doch ist, dachte Alex. Ganz der Vater. Ein Viertel koreanisch, ein Viertel schwedisch, eine Hälfte russisch. Da hätte alles passieren können. Zum Glück kam sie nach Daddy.
»Wie geht’s Opa?«, sagte Sadie.
»Immer noch krank«, sagte Alex.
»Immer noch krank wie: es wird besser, oder krank wie sterbenskrank?«
»Damit macht man keine Scherze. Er ist sehr krank, und er ist nicht bei Bewusstsein, und wahrscheinlich wird er sterben.«
»Bist du traurig?«
»Traurig, ich weiß nicht. Das ist jetzt ein ganz neues Gefühl«, sagte Alex. »Bist du traurig?«
»Ich kannte ihn eigentlich gar nicht, also werd ich mich nur mies fühlen, wenn du es tust, weil ich dich liebe«, sagte Sadie.
Mein Herz, dachte Alex. »Du bist ein tolles Kind«, sagte sie. »Wie läuft’s denn bei dir?«
Seit Sadie in Denver war, sah man auf ihrem Instagram-Feed fast nur noch Bilder von den Fassaden der Pot-Verkaufsstellen, und als sich Alex darüber bei ihrem Exmann beschwert hatte, war seine Antwort gewesen: »Was soll ich machen? Die sind überall. Es ist ja nicht so, dass sie kifft. Ich kann sie nicht daran hindern, solche Fotos zu machen, wenn ich nicht dabei bin.« Also hatte sie ein ernstes Gespräch mit ihrer Tochter führen müssen: »Rauchst du Gras?« »Mom, nein.« »Wenn ja, kannst du es mir sagen.« »Mom.« Alex machte sich jedes Mal, wenn sie miteinander sprachen, auf das Schlimmste gefasst.
»Also, Daddy hat zwei Freundinnen«, sagte Sadie.
»Woher weißt du das?«
»Weil ich die eine Freundin kennengelernt habe, und wir waren mit ihr essen, und sie heißt Natasha – sie ist nett –, und seiner anderen Freundin sind wir in der Mall begegnet.«
»Vielleicht war das nur eine Bekannte von ihm.«
»Nein, sie hat seine Hand ganz fest gedrückt, ich hab’s gesehen.«
»Okay«, sagte Alex. Dieser Kerl, dachte sie, wahrscheinlich vögelt er sich durch ganz Denver. Na ja, Bobby kann machen, was er will. Macht er sowieso.
»Und dann hat sie gesagt, sie hätte ihn am Abend zuvor angerufen, und er hat gesagt, er hatte das Telefon aus, weil er mit mir im Kino war, aber er war gar nicht mit mir im Kino, weil er mit Natasha im Kino war. Also, er hat nicht mal überlegt, er hat die Frau einfach total angelogen, und da wusste ich nicht, ob ich jetzt auch lügen soll oder nicht.«
Alex fasste sich an den Kopf.
»Sekunde mal, Honey«, sagte sie und wandte das iPad von ihrem Kopf ab, damit Sadie nicht sah, wie sie körperlich reagierte, nämlich mit einer drastischen Ekelgrimasse.
»Mom?«
Alex stellte das iPad stumm und schrie, stellte den Ton dann wieder an und kehrte zum Bildschirm zurück.
»Entschuldige, da kam eine Textnachricht.«
»Was soll ich denn machen, wenn so was passiert?«, sagte Sadie. »Lüge ich, oder lüge ich nicht?«
Alex begriff, dass dieser Moment wichtig war in der Entwicklung ihres Kindes. Es stand eine Frage im Raum, die verantwortungsvoll beantwortet werden musste. Nun konnte sie ihrem Kind etwas über Ehrlichkeit vermitteln und darüber, welche Behandlung durch einen Mann sie verdiente, aber auch, dass man jemanden lieben konnte, obwohl er viele, viele, viele dunkle Punkte hatte. (Und, um ihrem Exmann gegenüber fair zu sein, dass es möglich war, sich zu zwei Menschen gleichzeitig hingezogen zu fühlen, sogar zwei separate Beziehungen zu haben – doch das war seine Abwehrstrategie, nicht ihre.)
Oder sollte sie Sadie sagen, dass ihr Vater seinen Schwanz einfach nicht in der Hose behalten konnte, dass er das noch nie gekonnt hatte, nicht, seit sie ihn kannte, nicht auf dem College, als er eine Freundin hatte, die er mit ihr betrog, nicht, als sie zusammen in Chicago wohnten und Jura studierten, nicht, nachdem sie geheiratet hatten und in die Vorstadt gezogen waren, wo sie sich beide gleichermaßen langweilten, sie selbst es aber irgendwie immer geschafft hatte, treu zu bleiben, im Gegensatz zu ihm. Niemals hatte es Zeiten gegeben, in denen der Penis dieses Mannes blieb, wo er hingehörte, statt ein Eigenleben als dilettierender Freeflyer zu führen, als Party-Penis, als wäre er irgend so ein verschnöselter DJ, der in neuen Hotspots aufschlug, London, Paris, Ibiza, nur dass diese Städte für die Vaginas diverser Anwaltsgehilfinnen standen.
»Weißt du was? Gib mir mal deinen Vater«, sagte Alex.
Sie sah zu, wie ihre Tochter durch das neue Heim ihres Vaters spazierte, eine Eigentumswohnung hoch über der Stadt. Fenster, Licht, Fenster, Licht. Das gerahmte Foto eines Motorrads? Das kann doch nicht sein. Bestimmt nicht. Das Wackeln und Beben der iPad-Kamera machte sie schwindlig, und als ihre Tochter im augenscheinlichen Wohnzimmer ankam, in dem es ausschließlich weiße Möbel gab, so weit man sah – Gott, wer hatte denn ausschließlich weiße Möbel? –, war sie ein bisschen seekrank. Kipp irgendwas auf diese Couch, Sadie, dachte sie. Kipp alles aus.
»Honey, lass uns ein Momentchen allein«, sagte Alex.
»Aber was mache ich denn ohne mein iPad?«, sagte Sadie.
»Lies mal ein Buch«, sagte Alex.
»Meine Bücher sind aber alle auf meinem iPad.«
»Geh an den Computer in meinem Büro«, sagte Bobby. »Aber nichts anschauen, nur ins Internet.«
»Von einem Bildschirm zum anderen«, sagte Alex. Sie sah zu, wie ihr Mann ihrer Tochter nachsah, und dann hörte sie, dass eine Tür sich schloss.
gebraucht
»Na schön. Ich habe hier eine Menge an der Backe«, sagte sie. Sie ertrug es nicht länger, ihn anzuschauen, diesen so ungemein gut aussehenden Mann. Wenn man heiratet, stellt man sich nicht vor, wie es ist, geschieden zu sein. »Reiß dich zusammen, Bobby«, sagte sie. Er hörte auf, sie anzustarren, richtete seinen Blick woandershin, bewegte die Kamera wieder, sodass die Sonne über sein Kinn strich, über die schlaffe Haut darunter. Sie wurden beide alt, sah sie zu ihrer Freude. Nicht nur ich, hätte sie gern gesagt, sondern auch du.
Er stand auf und nahm sie mit auf einen weiteren holprigen Rundgang durch die Wohnung. Blick auf einen Berg, klarer blauer Himmel, ein Wölkchen wie hingehustet. Ihr Magen rebellierte. Sie blickte vom Bildschirm auf zum Fernseher am Horizont. Ein Staatsanwalt sprach in die Kamera. Wieder erhob man Anklage gegen einen gewählten Amtsträger. Vor dem Hotelzimmer, ein Stück entfernt an der Straße, schwenkte ein Kran. Am anderen Ende des Landes beugte sich ihre Tochter in die Kamera.
»Hey, meine Süße«, sagte Alex. »Bist du allein?«
»Ja, er ist wieder ins Wohnzimmer gegangen.«
»Dein Vater ist kein schlechter Mensch«, sagte sie. »Er ist nur manchmal kein guter Mensch.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Aber lüge ich jetzt oder nicht?« Sadie klang gelangweilt. Dieses ganze Ding von wegen schlecht gegen gut, das kannte sie alles schon. Doch woher sollte Alex die ganze Zeit wissen, wie man das Richtige tat?
»Kann ich mich später wieder melden?«, sagte Alex.
Acht Stockwerke weiter unten, im Fitnessstudio, rannte Alex und hasste dabei. Sie rannte sich den Hass auf ihren Exmann vom Leib, einen verwirrenden Mann, der nun weitgehend nutzlos für sie war. Sie rannte sich den Hass auf ihren Vater vom Leib, dreiundsiebzig Jahre Verschlagenheit und Kontrolle. Sie rannte sich jenen Hass auf sich selbst vom Leib, den ihr schon in jungen Jahren ein hypnotisches Spektrum von Einflüssen eingepflanzt hatte: das, was ihr Vater sagte und tat, das, was ihre Mutter nicht sagte und tat, Zeitschriften, Fernsehsendungen, Mädchen, mit denen sie auf die Highschool ging, hundert Männer, die ihr auf der Straße hinterherpfiffen, Amerika im Allgemeinen. Sie verabscheute sich, aber sie vergab sich. Die anderen verabscheute sie auch, aber sie vergab ihnen nicht. Sie rannte. Beim Training schnitt sie schlimme Gesichter, das wusste sie, weil sie sich immer wieder kurz in den Spiegeln an den Wänden ihres Fitnessstudios sah. Hier in diesem Hotel gab es auch einen Spiegel, und beim Aufblicken sah sie sich mit gerunzelter Stirn. Schwitzend und mit gerunzelter Stirn, rot im Gesicht wie ein Kleinkind, aufgelöste, strähnige Haare, ein an der Brust klebendes T-Shirt. Aber die Arme sahen gut aus. Ja, schaut euch die Muckis an. Sie rannte schneller. Sie hasste die anderen. Warum sollte sie ihnen verzeihen? Warum musste eigentlich sie in jeder Situation die Erwachsene sein? War es wirklich so wichtig, etwas abzuschließen? Unwillkürlich knurrte Alex und brüllte dann los. »Fickt euch! Fiiiiickt euch!«
Sie riss in Siegerpose die Arme hoch und rannte weiter, bis die Maschine sich abschaltete und ihr nur noch ganz kurz zum Abschluss des Trainings gratulierte.