Umschlag

Gabriela Kasperski war als Moderatorin im Radio- und TV-Bereich und als Theaterschauspielerin tätig. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Familie in Zürich und ist Dozentin für Kreatives Schreiben, Figurenentwicklung und Synchronisation.

www.gabrielakasperski.com

www.geschichtenbaeckerei.ch

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

 

 

Für Beni

 

Some say the world will end in fire,

Some say in ice.

From what I’ve tasted of desire

I hold with those who favor fire.

Robert Frost, «Fire and Ice»

Prolog

Es zischte, als sie das Streichholz über die Fläche rieb. Die Flamme war bläulich im Herzen, golden an den Rändern. Sie tanzte um den Kopf des Dochts, umfing ihn, spiegelte sich im geschmolzenen Wachs. Das Blau wuchs in dem Mass, wie das Gold weniger wurde, bis es fast nur noch die Glut gab. Sie wurde ruhig. Fühlte sich eins mit der Flamme. Dann warf sie das Streichholz ins Ofenrohr und schloss die Klappe.

1

Montag

Werner Meier stieg am Bürkliplatz aus dem Tram und eilte durch den dicken Nebel in Richtung Limmatquai. Nach einem hektischen Januarmontag, der mit der Abreise seiner Partnerin Zita Schnyder begonnen hatte, befand er sich auf einer besonderen Mission. Von der Kirche St. Peter her ertönten neun Schläge. Meier war zu spät, er hätte längst am Empfang des Botschafters sein müssen.

Er wählte den Uferweg links der Limmat, ging an der Gemüsebrücke vorbei und passierte die Schipfe, um in die Fortunagasse einzubiegen, die steil nach oben führte. Es war unangenehm feuchtkalt, kaum jemand war unterwegs.

Vor der Treppe schnappte er nach Luft. Ein gebeugter Mann hinkte zügig an ihm vorbei, in blauer Arbeitsmontur mit Stock und Rucksack, Meiers Gruss erwiderte er knapp. Hatte Meier richtig gesehen, trug der Alte tatsächlich einen Zirkel in der Hand? Eigenartig. Meier vergass ihn jedoch auf der Stelle, als er den Lichtschein wahrnahm. Eine Art vernebeltes Glimmen, das sich beim Näherkommen verstärkte. Ob die ein Feuerwerk abhielten? Er zückte sein Notizbuch und überprüfte die Adresse. «Zur Lindenpfalz» hiess das historische Haus, alles korrekt. Ausser Atem blieb Meier stehen und sah nach oben. Die hohe Glasfront im ersten Geschoss zog sich über die ganze Hausbreite und war hell erleuchtet, in einem Zimmer zwei Stockwerke darüber brannte es. Schtärnesiech. Meier riss sein Handy heraus und informierte die Feuerwehr – ein Standort lag in der Nähe, zum Glück –, bevor er vergeblich nach dem Hauseingang suchte.

«Achtung, Feuer, es brennt!»

«Halt den Rand», ertönte eine Stimme von oben.

Ein unermesslich lauter Knall erfolgte, ein Funkenregen, glühende Kleinteile fielen auf die Gasse. Meier wurde an der Stirn getroffen. Dann ertönte eine Sirene. Schon näherte sich ein Löschzug, ein zweiter parkte dicht dahinter, orange gekleidete Gestalten sprangen heraus. Meier kannte den Feuerwehrhauptmann nicht, wies sich als Kollege aus und bot seine Hilfe an. Das Angebot wurde abgelehnt, dafür bekam er ein Pflaster für die blutende Stirn.

«Vielen Dank für alles. Und nun gehen Sie am besten heim.»

Meier ignorierte den Ratschlag und beschloss stattdessen, zum Lindenhofplatz hinaufzusteigen, der etwas erhöht über der Fortunagasse lag. Normalerweise war die Aussicht von da oben gigantisch, nun konnte Meier kaum die Laternen von den Lindenbäumen unterscheiden. Vorsichtig trat er an die Mauer. Keine fünf Meter Luftlinie und der Gassengraben trennten ihn von dem brennenden Zimmer. Er stand so nah, dass er die Hitze spürte, schwer von Asche und Rauch. Eine weitere Sirene ertönte und eine Art Summen, als ob ein Schwarm Bienen durch die Luft flöge. Es musste eine Drohne sein, sie fuhren wirklich das ganze Geschütz auf. Fasziniert beobachtete Meier das Ballett der Feuerwehrleute. Zwei von ihnen befestigten ein Gewinde an einem Hydranten, während die anderen den Schlauch ausrollten. Ein mächtiger Wasserstrahl ergoss sich in die Flammen, das Geräusch war schwer zu beschreiben, eine Art kämpferisches Fauchen. Meier musste husten. Innert Bruchteilen von Sekunden hatte er das Gefühl, durch seine Lederjacke und bis in die innersten Poren gänzlich von dem Brandgeruch durchdrungen zu sein.

Ein weiterer Schlauch war angehängt worden, der Wasserstrahl erging in Brandhöhe auf das Haus links des betroffenen, gleich darauf ein nächster auf das Haus rechts, während ein Kran bestückt mit zwei weiteren Feuerwehrleuten nach oben ausgefahren wurde. Aus den Eingängen drängten erste Menschen in die Gasse, einige mit Mänteln über Pyjamas. Eine rundliche Stadtpolizistin in Uniform versuchte, Panik zu verhindern, ihre Kollegin wies den Leuten den Weg. Wenn Meier nicht hier gewesen wäre … Er bekam das Kniezittern bei dem Gedanken.

Seine Mission fiel ihm ein. Er fasste in die Tasche der Lederjacke, erwischte zuerst einen Stoffhasen, dann das Paket, flach und handtellergross, das er im Auftrag von Eli Apfelbaum abgeben sollte. Eli war sein ehemaliger Feldenkrais-Lehrer, der seit einiger Zeit eine Agentur für besondere Affären führte und nur darauf wartete, dass Meier bei ihm einstieg. Er hatte sich jedoch bislang noch nicht zu dem Schritt entschliessen können, obwohl seine Fünfzig-Prozent-Anstellung alles andere als befriedigend war. Meier fühlte sich unterfordert, andrerseits konnte er leichter freimachen, was der Familie zugutekam. Er schrieb Eli eine Nachricht und bekam postwendend Antwort, allerdings nicht auf die Frage, was er jetzt mit dem Päckchen tun sollte.

Vielmehr interessierte sich Eli für den Brand. «Brennt die Lindenpfalz? Gibt es Verletzte? Tote? In dem Haus residiert immerhin ein Schweizer Botschafter.»

Meier versprach Eli weitere Informationen und bot ihm an, dass er versuchen würde, Mischa Hare, die Empfängerin des Pakets, ausfindig zu machen. Während des Gesprächs beobachtete er die Menschen, die sich immer zahlreicher hinter den errichteten Absperrungen versammelten. Brandstifter kehren meist an den Tatort zurück, hörte Meier die Stimme seines ehemaligen Vorgesetzten im Geiste. Er mischte sich unter die Leute, zückte sein Handy, schoss diskret ein Foto da, eines dort.

Ein weinendes Mädchen weckte seine Aufmerksamkeit. Es stand neben seinem Papa und liess sich partout nicht wegziehen. «Will meine Plüschschnecke», schluchzte es.

«Möchtest du den?» Meier kniete sich vor das Mädchen und drückte ihm den Stoffhasen in die Hand. «Von meiner Tochter Lily. Ich bin sicher, dass sie ihn dir schenken würde. Jetzt geh mit deinem Papa. Es gibt Tee und was Süsses. Und jemand erzählt euch bestimmt eine Geschichte.»

Der Mann warf ihm einen dankbaren Blick zu, nahm das Mädchen an der Hand und reihte sich in den Strom der Evakuierten ein, die sich mehr oder weniger geordnet zur Limmat hinunterbewegten. Da wurde Meier von der rundlichen Stadtpolizistin angehalten, offenbar fand sie sein Verhalten auffällig. Aufmerksam, die Kollegin, dachte Meier und zeigte ihr seinen Ausweis.

«Ich habe die Feuerwehr gerufen und wollte fragen –»

Sie unterbrach ihn. «Alles unter Kontrolle. Wir räumen laufend die umliegenden Häuser. Die genaue Brandursache ist zurzeit nicht geklärt, sicher ist, dass es eine Explosion gegeben hat, bei der wie durch ein Wunder niemand verletzt wurde.»

«Ist es möglich, mit einem der Gäste zu sprechen?»

Die Polizistin verneinte. «Die Leute müssen erst durch uns befragt werden.»

Das sollten Sie eigentlich wissen, Herr Kollege, sagte ihr Blick.

Er schrieb daraufhin an Eli: «Entschuldige, aber ich habe keine Möglichkeit, deinen Auftrag auszuführen.»

Eli textete seinerseits eine Neuigkeit. «Ich habe Mischa Hare erreicht, die Polizei hat sie gehen lassen. Sie sitzt bereits im Taxi zum Flughafen und wird hoffentlich ihren Flug noch erreichen. – Kannst du das Paket für mich aufbewahren, Werner?»

«Was ist denn da drin?»

«Das darfst du nicht wissen als Angestellter der Kantonspolizei Uster.»

«Aber Botengänge ausführen darf ich? Wieso hast du es nicht selbst gemacht?»

«Das kann ich dir nicht sagen.»

Bevor Meier nachfragen konnte, wechselte Eli das Thema. «Wann entscheidest du dich endlich gegen den Staat und für mich? ‹Apfelbaum & Meier›, ich seh das Schild vor mir.»

«Das Kündigungsschreiben ist entworfen», textete Meier zurück.

«Dir fehlen die Briefmarken?»

«Und der Mut. Aber vielleicht, wenn du mir einen Whisky anbietest. Oder noch besser, eine Gratislektion Feldenkrais.»

Elis ursprünglicher Beruf hatte Meiers geplagtem Rücken oft Erleichterung verschafft, in letzter Zeit allerdings hatte Eli keine Zeit mehr dafür.

«Alter Erpresser.» Eli verabschiedete sich mit einem Emoji und dem Satz: «Mal sehen, was sich machen lässt.»

Eine SMS erreichte Meier. Seine Schwiegermutter wollte wissen, wann er heimkäme.

«Jetzt», antwortete er.

Seine Pflicht war getan, mehr konnte er nicht ausrichten, ausserdem schmerzte die Stirn. Meier wählte den Rückweg über die schmale Kaminfegergasse, die auf der einen Seite an den Hinterhof der Lindenpfalz grenzte. Da kreuzte er wieder den krummen Alten. Diesmal hielt Meier ihn auf und informierte ihn über den Brand.

«Sie erzählen mir nichts Neues», sagte der Mann und richtete seine Augen auf Meier. Eines war von milchigem Glanz. «Es muss der Kachelofen im Turmzimmer sein. Die hätten besser mich zum Renovieren genommen als diese Gvätterli-Firma aus Italien.»

Kachelofen? Turmzimmer? Der Alte wusste mehr als die Polizei.

Meier zückte sein Notizbuch. «Wieso? Sind Sie ein Fachmann?»

«Kundert Ruedi. Altstadt-Kaminfegermeister. Ich habe meine Tour gemacht wie jeden Abend vor dem Schlafengehen.»

«Im Auftrag der Stadt?»

Dass der Alte der Frage auswich, war Meier Antwort genug. Er stellte sich ebenfalls vor und notierte den Namen. «Sagen Sie … Ist Ihnen etwas aufgefallen?»

«Endlich fragt mich jemand. Als ich mit der Polizistin sprechen wollte, hat sie mich abgewiesen.» Empörung zitterte in seiner Stimme.

«Was hätten Sie denn zu erzählen gehabt?»

Kundert hob eine Hand vor den Mund, wirkte wie ein konspirativer Wegelagerer. «Jemand hat mir Feuer gegeben. Mit einem Zippo-Feuerzeug. Es roch nach Benzin. Herrlich.»

«Ein Mann?»

«Da muss ich erst einmal drüber schlafen. Es war neblig, wissen Sie.»

Meier blieb hartnäckig. «Wo haben Sie ihn getroffen?»

«Hier in der Nähe.»

«Geht das auch präziser?»

Kundert kniff die Augen zusammen. «Sie kennen sich aus?»

«Stadtzürcher.»

Das entlockte Kundert ein anerkennendes Pfeifen. «Es war in der Strehlgasse, kurz vor dem Hotel Widder. Da bin ich vorbeigegangen, weil es etwas zu reparieren gibt.»

«Am Montagabend?»

«Ich arbeite rund um die Uhr.»

«Und wofür haben Sie den Zirkel gebraucht?»

Kundert sah auf das Instrument in seiner Hand, ein antiquiertes Modell, das Metall angelaufen.

«In so einer Altstadt muss man zu unkonventionellen Methoden greifen.» In einer jähen Bewegung richtete er die Spitze auf Meier. «Damit knacke ich jedes Schloss. Und alles andere auch.»

Meier schob seine Hand in die Tasche. Suchte etwas zur Verteidigung, fand nur den vergessenen Holzbesen des Hasen. Schtärnesiech.

«Schönen Abend, Herr Polizist.»

Kundert huschte durch ein eisernes Gartentor in ein winziges Häuschen, eingequetscht zwischen den Nachbarliegenschaften.

Meier atmete aus, merkte erst jetzt, wie verkrampft er gewesen war. Einen Moment lang hatte er sich echt erschreckt über diesen selbst ernannten Quartier-Kaminfeger, der in der gleichnamigen Gasse wohnte. Er holte das Handy raus, um Beanie Barras anzurufen, seine ehemalige Assistentin, jüngste Ermittlerin der Kriminalpolizei Zürich.

«Sind Sie noch auf, Barras?» Er setzte sie über den Brand ins Bild. «Sie sollten herkommen. Der Brandermittlungsdienst ist bereits informiert. Ich schätze das Ganze als äusserst brisant ein: ein Haufen Diplomaten- und Politprominenz bei einem privaten Fest. Es stellt sich die Frage: Wer hat diesen Ofen angezündet und, falls es Absicht war, warum?»

***

Er stach sich, kaum zu Hause, aus Versehen mit dem Zirkel in die weiche Haut unterhalb des Daumens. Als er die Spitze herauszog, quoll Blut. Er leckte es ab. Dachte an Helly Keller, das Weib des Botschafters, dieses Rippengestell. Seine schlimmsten Befürchtungen waren eingetroffen: Kaum war sie fertig mit der Renovierung der Lindenpfalz, ging es los mit dem Lärm. Kein Auge würde er mehr zutun, weder das sehende noch das blinde. Aber er hatte es ihr gezeigt. Sollte sie verrotten, auf immer und ewig.

2

Zita Schnyder stieg an der Station Belsize Park aus dem doppelstöckigen Bus, ging ein paar Schritte zu dem schmalen Reihenhaus, schloss die Tür auf und machte Licht. Wie schön es hier ist, dachte sie jedes Mal, wenn sie den überraschend geräumigen Eingang betrat, der sich vor allem durch Leere auszeichnete. Keine Legosteine, keine Laufräder, keine Turnschuhe. Das Haus war zu Zitas zweiter Heimat geworden, seit ihr ihre Chefin vom Institut für Gender Studies angeboten hatte, bei ihren London-Besuchen dauerhaft bei ihr zu wohnen. Sie schlüpfte aus den Lederstiefeln, stieg die vier Stockwerke bis zum ehemaligen Dienstbotenzimmer hoch, liess Tasche und Rucksack fallen. Zitas Reich war eine ausgebaute Mansarde mit der grandiosesten Aussicht, die man sich vorstellen konnte.

Sie reiste stets mit Handgepäck, alles war zum Platzen gefüllt. Beim stundenlangen Warten auf den verspäteten Flug, in der Luft und selbst im Bus hatte sie gearbeitet, später würde sie die Notizen noch in Form bringen. Ihr Postdoc-Projekt im Fachbereich Gender Studies des King’s College London war bewilligt worden. Im Zentrum von Zitas Forschung, einer Langzeitstudie, finanziert vom Schweizer und vom britischen Nationalfonds, stand die Notwendigkeit von Schutzprojekten als unmittelbare Hilfsmassnahme für gefährdete Personen und die Möglichkeit eines länderübergreifenden Austausches. Für die Datenerhebung – Interviews mit Betroffenen und Fachpersonen – war London zentral. Zitas Glücksort.

Auf dem Tisch stand eine Flasche Wein, daran angelehnt ein Zettel. «Welcome Zita. Talk to you wednesday. The house is yours.» Also war ihre Chefin gar nicht da. Bis Mittwoch wäre Zita ganz allein, wie luxuriös.

Sie goss sich ein Glas Wein ein. Gleich würde sie zu Hause anrufen, die Kinder waren hoffentlich in ihren Betten und der Commissario noch nicht im Tiefschlaf. Sie waren beide erschöpft. Nachdem sich die Wohnungssuche über ein Jahr lang hingezogen hatte, abwechselnd geprägt von Euphorie und Verzweiflung, war der Kauf des alten Arbeiterhäuschens im Zürcher Sonnenbergquartier eine tolle Gelegenheit gewesen, ein Sechser im Lotto. Mit dem kleinen Wermutstropfen, dass es renoviert werden musste, um bewohnbar zu sein. Datum der Wohnungskündigung und Kaufdatum waren identisch gewesen, und seither herrschte das Chaos bei Schnyder & Meier. Hätte sich Meier nicht als Handwerker entpuppt, sie hätten keine Chance gehabt. So aber waren zu Weihnachten die Holzheizung instand gestellt, Küche, Bad und einige Zimmer bereit gewesen. Die beiden Jungs Finn und Theo schliefen zusammen, Nesthäkchen Lily teilte ihr Zimmer mit Zitas Mutter, und im seitlichen Anbau, früher eine Werkstatt, wohnte Jessie, ihre Pflegetochter, herausfordernde fünfzehn Jahre alt. Sie lebte bei ihnen, seit ihre Mama unter brutalen Umständen gestorben war. Zita und Meier waren in den Fall involviert gewesen.

Während Zita das Glas austrank, sah sie die familiären Textnachrichten durch. Alle hatten geschrieben, sogar Lily. Drei Herzen, eine Rose und ein Buch – Lily hatte die Emojis entdeckt. In rascher Folge tippte Zita ihre Antworten und nahm den letzten Schluck, bevor sie barfuss auf die kleine Terrasse trat. Vor ihr tat sich eine Dachlandschaft auf, typisch für London. Sie sah bis zur Themse, glaubte, das Observatorium Greenwich zu erkennen, die Docklands. Ich bin hier. Hier und jetzt. Wie wunderbar.

Ihr Handy summte, eine Twitter-Nachricht. Zita war beruflich auf dem Portal und hatte verschiedene Hashtags abonniert.

Sie erkannte die Tweeterin am Profilbild. @Djamila war Djamila Murani, eine junge Kollegin in Ausbildung zur Diplomatin, die das obligatorische Auslandsemester an der Schweizer Botschaft in London absolviert hatte. Djamila war ambitioniert, tough und blitzgescheit, dazu wunderschön, nahbar und nett. Eine Art Weltwunder.

Als Zita den Tweet las, traf sie fast der Schlag.

«Schlupfhouse London. Für mehr Details check CPS, Centre for People’s Safety. Oder follow #ProtectionOne.»

Zita fühlte, wie ihr Herz zu rasen begann. «Schlupfhouse» war eines der Schutzprojekte, das sie für ihre Forschung untersuchte. Das Schlupfhouse London war ein Rückzugsort für Frauen, die häusliche oder berufliche Gewalt erfuhren. Im Gegensatz zu üblichen Frauenhäusern richtete es sich besonders an Frauen aus akademischen Berufen, die ihre Probleme jahrelang erfolgreich versteckt und eine übermächtige Hemmschwelle hatten, nach Hilfe zu suchen. Die Adresse wurde geheim gehalten. So geheim, dass Zita noch nie die Möglichkeit gehabt hatte, es zu besichtigen. Wieso twitterte nun Djamila Murani darüber? Und was genau bedeutete der Hashtag ProtectionOne?

Das Foto zeigte Djamila, die im petrolblauen Businessmantel mit offenem schwarzen Haar und einem bunten Handy vor einem Reihenhaus für ein Foto posierte.

Was macht sie da, ist sie verrückt geworden?, dachte Zita. Als sie auf die Hausnummer zoomte, war der Tweet weg. Einfach verschwunden. Auch nach mehrfachem Aktualisieren wurde er nicht mehr geladen. War es ein Versehen, und Djamila hatte es gemerkt? Vergeblich suchte Zita in ihren Kontakten nach ihrer Nummer, bislang hatten sie nur gemailt.

Dafür meldete sich die Schlupfhouse-Verantwortliche Mischa Hare nach dem ersten Klingeln.

«Du erwischst mich beim Warten am Flughafen Zürich.»

Zita wusste, wovon sie sprach. «Das habe ich bereits hinter mir, ich hatte sechs Stunden Verspätung. Heute ist was los in der Luft. Es ist schon ziemlich spät, nicht?»

«Das stört mich nicht. Solange ich noch nach London komme …»

Zita sah Mischa vor sich, klein, rundlich, mit Pagenkopf, immer in Schwarztöne gekleidet. Sehr entschieden. Sie hörte sich Zitas Geschichte an und kontrollierte gleichzeitig Social Media.

«Auf Twitter ist nichts. Kein Post von @Djamila.»

«Er wurde gleich wieder gelöscht.»

«Hast du einen Screenshot gemacht?»

«Sorry, ich war nicht darauf gefasst. Es muss das Londoner Schlupfhouse gewesen sein. Man hat die Strasse deutlich gesehen.»

«Ich überprüfe das.»

Beim Warten auf Mischas Rückruf ging Zita hin und her, schenkte sich ein neues Glas ein, trank immer wieder einen Schluck. Der Kontakt zu Mischa Hare war über Eli Apfelbaum gelaufen. War ihr Mischa Hares Engagement für verschiedene Gremien und Organisationen am Anfang komplex vorgekommen, hatte sie mit der Zeit einen Durchblick gewonnen. Mischa Hares Zentrum für Sicherheit, das CPS, führte eine zweistellige Anzahl Frauenhäuser im gesamten Vereinigten Königreich und eben, seit Neustem und ganz im Verborgenen, das Schlupfhouse. Dieses wiederum stand zusätzlich unter dem Patronat der Schweizer Botschaft, denn Sicherheit war ein Thema, das sich beide Länder in der Post-Brexit-Ära auf die Fahne geschrieben hatten.

Nun, diese Sicherheit war gerade für einen Post via Social Media aufs Spiel gesetzt worden.

Endlich rief Mischa zurück. «Der Tweet kann nicht sehr lange online gewesen sein. Möglicherweise hast du dich geirrt. Bist du vielleicht übermüdet?»

Ertappt stellte Zita ihr Weinglas weg. «Hast du Djamila gefragt? Was sagt sie dazu?»

«Nichts, auf dem Zürcher Empfang hat’s gebrannt. Die Polizei befragt alle, ich bin nur mit Sondererlaubnis entlassen worden. Ich werde morgen mit ihr sprechen, sie kommt nach London.»

Zita war irritiert. Der Commissario hatte ihr eben auch von einem Brand in der Altstadt berichtet. Das musste derselbe sein. «Eine Einladung für euch beide, dann der Brand, nun der Tweet. Eigenartig, nicht?»

«Du könntest dich geirrt haben. Djamila hat irgendein Selfie gepostet, das macht sie öfter. Sie ist eine sehr aktive junge Diplomatin.» Der Zweifel in Mischas Stimme war nur für ganz feine Ohren hörbar. «Kannst du dich an den Strassennamen erinnern?»

«Der war nicht auf dem Bild.» Zita überlegte, sah das Foto vor sich. «Mischa, wie lautet die Hausnummer des Londoner Schlupfhouse? 157?»

Als Mischa bestätigte, entwich Zita ein triumphierender Laut. «Da hast du es. Niemand hat sie mir gesagt. Woher sollte ich sie also kennen, wenn nicht vom Foto?»

«Das, muss ich zugeben, klingt plausibel.»

«Was, wenn jemand das Haus erkannt hat? Wenn jemand es verbreitet? Heute ist so was schnell passiert. Was, wenn der Partner einer deiner Frauen so hinter die Adresse kommt?»

Im Hörer erklang ein Tuten, die Verbindung war unterbrochen. Oder Mischa hatte aufgelegt.

***

Der Colamann fühlte sich siegreich. Endlich, nach Monaten des Wartens hatte er einen Hinweis. Er schnippte mit den Fingern, um das Taxi anzuhalten, aber es ignorierte ihn, fuhr ihn fast über den Haufen. Bollocks. Nachdem er sich dem nächsten Fahrer in den Weg stellte, erwischte er gerade noch den Dreiundzwanzig-Uhr-Zug, der ihn in einer knappen Stunde nach London zum Paddington-Bahnhof bringen würde. Noch einmal sah er sich den Screenshot mit der Schlupfhouse-Adresse an. Der Oxforder Detektiv hatte sie ihm geliefert und damit seinen Job gemacht, Tausende von Pfund, die er in ihn investiert hatte, amortisiert. Er würde dahin fahren. Und sie holen. Wie konnte sie es wagen, einfach abzuhauen? Sie gehörte ihm. Sie und Henri.

3

«Mama?» Henri lag in seinem Harry-Potter-Kostüm auf dem Bauch, das Gesichtchen zur Seite gewandt, einen Schnuller im Mund, Speichel auf den runden Backen, er murmelte im Schlaf. Seine ganz eigene Henri-Sprache.

Pola Lensky wischte ihm den Schweiss weg und zog vorsichtig ihre Hand unter seiner hervor. Zentimeter für Zentimeter drehte sie sich zur Seite, bis sie aufstehen konnte und die Kindermatratze mit dem Fuss wegschob. Henri benutzte sie nie. Er wollte an sie gekuschelt schlafen.

Pola zog ihren beigen Trainingsanzug zurecht, tappte auf leisen Sohlen zum Schreibtisch, kontrollierte ihr Laptop. Das tat sie hunderttausendmal pro Tag. Auch diesmal war alles in Ordnung, es steckte in der Hülle, voll aufgeladen, bereit zur Weiterarbeit. Pola kniff sich in den Arm: Du lebst, du bist allein, du bist in Sicherheit. Durch den dunklen Flur ging sie zur Toilette, um sich das Haar zu kämmen. Es hing dünn und fettig bis auf die Schulter, sie müsste es dringend schneiden. Sie hatte es vernachlässigt, wie fast alles an sich.

Das Haus schlief, totenstill war es. Neben ihrem gab es auf diesem Stockwerk noch drei weitere Zimmer, nur eines davon war besetzt, die Frau war vorgestern eingezogen. Mit einem Müllsack voller Kleider, Spielsachen, einem Kleinkind-Sohn und einer Säuglingstochter. Und einem Laptop genau wie Pola. Henri hatte sich über die Kinder gefreut.

«Ihr seid unsere Akademikerinnen-Fraktion», hatte Golda, die Hausmutter, gesagt, als sie ihr den Neuzugang vorgestellt hatte. Pola und die Neue hatten sich daraufhin ausgetauscht, sie hatte Pola freimütig ihren Hintergrund erklärt, unüblich, normalerweise erfuhren sie wenig voneinander. Aus Scham, dachte Pola. Keine von uns brüstet sich mit ihrem Versagen. Die Neue war studierte Philosophin und die Frau eines CEO. Er schlug sie. Sie hatte es während Jahren ertragen, war mit ihm von Land zu Land gezogen, bis sie es nicht mehr aushielt. Schlupfhouse 157 bot ihr Schutz, juristische Hilfe, psychologische Begleitung und vor allem: eine neue Identität.

«Wir bauen ein Programm auf», hatte Golda erklärt, «für Frauen wie euch, für die es nicht reicht, einfach nur die Stadt zu wechseln.»

«Was unterscheidet uns von den anderen?», hatte Pola gefragt.

«Euer Gehalt. Achtzig Prozent der Frauen kommen aus den ärmsten Schichten.»

Es knackte. Ein Ast schlug gegen den Fensterrahmen, ein Spaltbreit war offen, es zog. Das Haus war in keinem guten Zustand, ein besseres konnte sich die Schlupfhouse-Organisation nicht leisten. Wir kämpfen leider immer mit den Finanzen, hatte Mischa Hare, die Leiterin, in ihrem Willkommensbrief geschrieben. Persönlich getroffen hatte Pola sie noch nie.

Sie trat ans Fenster. Trotz des Schimmels im Badezimmer, trotz des losen Geländers im Treppenhaus, das war ihr momentanes Zuhause. Ihr Nest. Sie brauchte eines, sonst fiel sie ins Bodenlose. Auf ihrer Augenhöhe donnerte ein Zug über die Brücke. Unterhalb des Brückenbogens brannte Licht. Es war der Obdachlose, der oft da übernachtete. Henri hatte ihm zu essen bringen wollen, aber Golda hatte es verboten.

Neben dem Obdachlosen hielt ein Taxi. Sofort wurde Polas Mund trocken. Die Angst, er könnte sie heimsuchen, war immer noch da. Auch wenn die Psychologin es ihr ausreden wollte.

«Hier kann Ihnen nichts passieren. Sie sind sicher.»

Die Taxitür öffnete sich, und Pola trat automatisch einen Schritt zurück. War er es? Hilflos sah sie zu, wie er sich umschaute und mit grossen Schritten die Strasse überquerte. Oh Gott. Sie fasste sich an die Brust, wo das Täschchen an einer Kette hing.

«Zieh es nie aus. Nicht mal zum Schlafen. Sollte etwas sein, solltet ihr fliehen müssen, hast du die Papiere dabei.» Aber ich will nicht fliehen, ich will hierbleiben, für immer und ewig.

Pola öffnete die Augen, der Typ war weg. Sie zwickte sich. Alles nur geträumt, geh schlafen, du bist übernächtigt. Trotzdem beugte sie sich vor. Er stand an die Hausmauer gelehnt, einen glühenden Punkt im Mund, und sah nach oben, direkt in ihre Augen.

Sie rannte ins Zimmer zurück, holte die gepackte Tasche aus dem Schrank, Schuhe, Mantel, Halstuch, Mütze und schliesslich den Harry-Potter-Rucksack.

Schlaftrunken liess Henri sich anziehen, erwachte auch nicht, als sie ihn aufrichtete.

«Komm, mein Schatz, ein Abenteuer, Mama trägt dich.»

Er wog eine Tonne.

«Bitte, Henri, mach dich leichter. Hilf Mama ein bisschen.»

Er wehrte sich, strampelte mit den Beinen, erwischte schmerzhaft ihre Oberschenkel.

«Du bekommst auch ein Colafläschchen.» Happy Colafläschchen, weiche Fruchtgummis mit Colageschmack, waren Henris Leidenschaft, er war süchtig danach. Sie stellte ihn auf seine Füsschen und zog ihn hinter sich her, ging die Treppe hinunter, die knarrenden Stufen vermeidend. Als sie die Türklingel hörte, begann ihr Herz zu stolpern. Und nun? Keller? Wohnzimmer? Sie entschied sich für die Küche.

Erneut klingelte es. Die Beine versagten ihr, sie klammerte sich an eine Stuhllehne. Schritte, ein Murmeln, Goldas Stimme aus dem Flur. «Hello?»

Und dann die seine, unverkennbar. Etwas zu hoch.

«Good evening. Entschuldigen Sie die Störung. Der Obdachlose vor Ihrem Haus bewegt sich nicht. Kann ich bei Ihnen telefonieren?»

Nein, wollte Pola schreien. Es ist eine Finte.

Golda blieb höflich. «Einen Moment.»

Pola hörte, wie sie das Wohnzimmer betrat, ein Rascheln, wie sie zur Tür zurückging, Murmeln, zwei Menschen im Gespräch. Sie macht einen Fehler, dachte Pola. Gleich holt er mich hier raus. Ihr hämmerndes Herz drohte zu explodieren.

Goldas Stimme. «Ich habe die Ambulanz gerufen, können Sie bitte zum Verletzten gehen und bei ihm warten?»

Sein Schmeicheln. «Nein, lassen Sie mich rein. Ich glaube, es ist ein Verbrechen passiert.»

Pola holte das Prepaidhandy aus der Brusttasche, Teil der Grundausstattung, die sie am ersten Tag bekommen hatte.

Und wieder Golda. «Dann komm ich zu Ihnen raus, einen Moment, Sir. Ich muss mich anziehen.»

Da ertönte von der Strasse her eine Sirene. Als Pola mit Henri durch die Küche in den kleinen vorderen Garten rannte, prallte sie mit einem Mann zusammen. Es war ein Unbekannter. Sie hatte sich geirrt. Das Schlupfhouse war sicher.

***

Golda, die Hausmutter von Schlupfhouse 157, rief Mischa Hare an.

«Sie glaubt, in einem Passanten ihren Professor erkannt zu haben. Es ist untragbar, Mischa. Wir brauchen eine andere Lösung, sie gefährdet alle anderen, das ganze Haus.»

Im Hörer blieb es still.

«Mischa, bist du noch da?»

«Es ist etwas passiert, Golda. Möglicherweise hat sie sich diesmal nicht geirrt. Die Identität von Schlupfhouse 157 ist aufgeflogen. Wir müssen sehr, sehr vorsichtig sein.»

4

Beanie Barras von der Kriminalpolizei Zürich bremste so jäh, dass ihr Freund Sahel Huwyler fast in sie hineindonnerte.

«Hei, willst du mich testen?» Sein Lachen gab ihr ein warmes Gefühl. Auch noch nach einem Jahr.

«Sorry.» Dichter Nebel umhüllte sie. «Ich sehe kein Feuer. Du?»

Sie machten ihre Räder in der Nähe der Regionalwache City an einem Zaun fest und rannten nach oben zum Lindenhofplatz, wo sich ihre Hände lösten, als sie sich der Absperrung näherten. Sahel würde ins Brandhaus gehen, sobald sie das Okay hatten, dass es sicher war. Er war nicht für die Spurensicherung, seiner eigentlichen Tätigkeit, im Einsatz, sondern als Brandermittler. Bei schwierigen Fällen wurde er manchmal aufgeboten. Weil er top war, manche Kollegen nannten ihn den Feuerflüsterer. Das Feuer und Sahel, die beiden waren irgendwie ein Team. Kein Wochenende verging, da er nicht ihre Grillstelle im Wehrenbachtobel befeuerte. Während er in die Feuerwehrstiefel schlüpfte, trat Beanie zu ihrer Teamkollegin Sofia Schmidt, wie immer in formlosem Oberteil und schwarzen Hosen, darüber trug sie eine Daunenjacke. Früher erbitterte Gegnerinnen, hatten sie sich heute zusammengerauft.

«Du hier?» Schmidt feixte. «Hast du nichts anderes zu tun am Montagabend? Haare schneiden oder so?»

Beanies Frisur gab immer wieder Anlass zu Diskussionen im Ermittlerteam, zurzeit trug sie ihre kurze Afrokrause ergänzt um lange Zöpfchen, sogenannte Braids.

«Nö, die lasse ich wachsen. Als Nussbaum anrief, war ich grad mit dem Ruderboot unterwegs, da fliegen sie so schön im Wind.»

Schmidt grinste. «Einmal um den ganzen Zürichsee, so wie ich dich kenne.»

Rudern war Beanies neue Leidenschaft. Es beruhigte sie. Sahel fand’s cute. Er fand alles an ihr cute. Niemand wusste von ihnen, dass sie ein Paar waren. Sie hielten es geheim, und das war gut so. Beanie hatte schon mal eine Beziehung am Arbeitsplatz gehabt. Zu viele Sticheleien, zu viel Stress.

«War es Brandstiftung?», fragte Beanie und schaute auf das Haus, scheinwerferbeleuchtet, mit russgeschwärzter Fassade und dem zerborstenen Fenster im dritten Stock.

Schmidt zuckte die Achseln. «Ist ein historisches Gebäude, es steht unter Denkmalschutz. Da drin ist alles aus Holz.» Sie zeigte Beanie ein Bild des explodierten Kachelofens auf ihrem Handy. «Das haben sie im Turmzimmer oben vorgefunden. Krass, nicht?»

Beanie vergrösserte das Foto, bemerkte die Verwüstung, die Trümmer und ein angekohltes Buch. «Drei Leben», entzifferte sie. Sie sah erneut zum Haus. «Wohnen da wirklich Menschen drin?»

«Ein Paar. Stephen und Helly Keller.»

«Stephen Keller? Das ist doch der Schweizer Botschafter in London.»

Schmidt gab sich erstaunt. «Du kennst dich aus auf dem diplomatischen Parkett?»

«Da tanz ich Tango. – Nö, hab nur einen Artikel gelesen. Ging um die deutsch-englischen Handelsbeziehungen. Post Brexit.»

«Seit wann bist du politisch?»

«Schmidt, halt die Klappe. Klär mich auf.»

Beanie machte sich Notizen, während Schmidt die Fakten runterratterte.

«Brandmeldung um einundzwanzig Uhr zehn durch Werner Meier, die Löschwagen waren zehn Minuten später da. Brandangriff erfolgte durch Nassbekämpfung von unten und über den Kran. Im Turmzimmer oben stand das Fenster offen und hat das Feuer angefacht, die Brandlast war enorm.»

«Wer hat es geöffnet?»

«Unklar. Das Feuer hat sich nicht ausgebreitet.» Schmidt deutete auf die anderen Häuser, die aussahen wie ausgeschnittene Kartonkulissen für ein Theaterstück, Thornton Wilder: «Unsere kleine Stadt». «Ein Horrorszenario, Brand in der Altstadt.»

«War jemand im Haus?»

Schmidt nickte. «Eine informelle Sause, international, knapp fünfzig Leute, alles sofort evakuiert, ein top Sicherheitsdispositiv. Die Gästeschar ist vollzählig, niemand wird vermisst. Es lief sehr diszipliniert ab, manche haben den Brand gar nicht bemerkt.»

«Und die Explosion?»

«Die war weitherum zu hören. – Wir haben von allen die Personalien aufgenommen.»

«Wo warten sie? Unten bei der Stadtpolizei?»

Das Gebäude lag vielleicht dreihundert Meter entfernt. Besser ging’s nicht.

«Mittlerweile sind alle heimgegangen.»

Beanie war irritiert. «Nur die Personalien? Ohne Befragung vor Ort?»

Schmidt hielt ihr das Handy hin. «Anordnung von Nussbaum.»

Roland Nussbaum war ihr Chef. Ein hitziger Bündner.

«Warum hat er dann den Staatsanwalt involviert? Falls es Brandstiftung war, könnte es jeder von denen gewesen sein.»

«Da sind einige Diplomaten aus dem Ausland dabei, die muss man mit Samthandschuhen anfassen», sagte Schmidt. «Ausserdem könnte die Brandursache schnell geklärt werden. Menschliches Fehlverhalten. Unsachgemässe Feuerung. Das Turmzimmer war in der Renovierungsphase, da lag tonnenweise brennbares Material herum.»

«Aber –»

«Barras. Nussbaum war auch auf dem Fest. Zusammen mit dem Staatsanwalt und dem Statthalter.»

Das war ein dickes Ding. Beanie pfiff durch die Zähne.

Schmidt grinste. «Superpraktisch, fand ich auch.»

Der Statthalter war die offizielle Amtsperson, die bei einem Brand herbeigerufen wurde und die Ermittlungen in Gang setzte.

«Hast du mit dem Besitzerpaar gesprochen?»

Schmidt schüttelte den Kopf. «Nussbaum hat sie gerade ins Hotel gebracht.»

Auf Beanies Blick hin wurde sie konkreter. «In den ‹Widder›, der ist in Gehdistanz.»

Eine SMS von Sahel kam an. «Wir gehen jetzt rein. Der Spürhund ist dabei. Und die Rechtsmedizinerin. Anna Quetes.»

«Was macht die da?», schrieb Beanie zurück.

«Wieso, hast du ein Problem mit ihr?»

Beanie kannte die Quetes von ihrem früheren Job und mochte sie nicht besonders. Sie war von Uster ans Institut für Rechtsmedizin in Zürich gewechselt, hatte kastanienrotes Haar, grüne Augen, alle Männer standen auf sie. Ein wandelndes Klischee.

«Sie war zufällig in der Gegend», schrieb er. «Superkompetent.»

Na toll. Schon hatte sie ihn an der Angel.

Beanie sah zu Schmidt. «Komm. Los geht’s!»

Sie betraten den gepflegten Hof auf der Rückseite des Hauses. Beanie bemerkte die Mauer, den kleinen Weg, die Treppe. Es gab zwei Eingänge, einen kleineren für die Dienstboten, einen prächtigen für die Gäste. Direkt beim Hauseingang war an der Seite ein Wandpaneel mit einem Display angebracht.

«Es ist ein Smarthome», erklärte Schmidt. «Alle Geräte, das Licht, die Heizung werden darüber gesteuert.»

Der Geruch war beissend, Beanie war froh um ihre Maske.

«Ich steige ins Turmzimmer», sagte Schmidt.

«Bis gleich», sagte Beanie. «Will mir erst einen Überblick verschaffen.»

Im ersten Stock ging sie in Richtung Festsaal. Riesig, mit beeindruckender Fensterfront und Aussicht auf den Lindenhofplatz. Eine Art Bühne, in einer Ecke eine Gitarre. Hatte ein Musiker die vergessen? Dann kam die Küche. Eine schimmernde Angelegenheit aus Edelstahl und Holz, gemacht für grandiose Festessen. Beanie lehnte sich an die edelgrau bemalte Wand, versuchte ein Gefühl für den Raum zu bekommen, wie Meier ihr das beigebracht hatte. Als einzigen Schmuck bemerkte sie ein altes Waschbecken aus Porzellan, gefüllt mit Blumen. Ein Tisch in der Mitte, darauf Champagner in Kübeln und silberne Essensbehälter. Beanie zog Handschuhe über und hob einen Deckel. Es duftete überwältigend: Koriander, Curry. Reis. Mangosauce. Mehrere Desserttabletts mit kleinen Kuchenstücken, ein angebissenes Himbeertörtchen. Vegan, ein veganes Dinner? Sie hätte Zürcher Geschnetzeltes erwartet.

Die Spülmaschine war ein Industriemodell. Beanie öffnete den Müllkübel. Selbst die Abfälle waren ordentlich. Im Flur entdeckte sie dann das erste Fischauge, ein zweites hing in der Nähe des Eingangs, das Haus war überwacht. Sie wusste, dass eine Security-Firma engagiert worden war, aber niemand hatte etwas von Überwachungskameras gesagt. Beanie machte sich eine Notiz. Irgendwo mussten die Informationen zusammenlaufen.

Eine Wendeltreppe führte über zwei Stockwerke direkt ins Turmzimmer. Von da oben hörte sie Schmidts hohe Stimme, die Spezialistinnen waren im Einsatz.

Beanie besah sich zuerst den zweiten Stock, den sie über eine andere Treppe erreichte. Schlafzimmer, Bad und eine kleine Küche. Das Wohnzimmer war gigantisch, der Tisch lang wie eine Rennbahn. Mit Blick auf den Lindenhofplatz. Ein paar verloren wirkende Gegenstände. Das Laptop interessierte Beanie. Sie klappte es auf, es war passwortgeschützt. Daneben Kleingeld, ein Marsriegel und zwei Pässe in Rot-Weiss, «Diplomatenpass», stand da. Beanie erinnerte sich an den Moment, als sie den ihren in den Händen gehalten hatte, ohne Diplomaten, aber mit demselben Schweizerkreuz. Das Ticket zur Polizeischule. Es war einige Jahre her.

Mit dem Zeigefinger hob sie den Deckel etwas an. Vom Foto lächelte ihr ein junger Stephen Keller entgegen, selbstsicher, mit lockerer Frisur, schmales Gesicht, gebogene Nase, sauber rasiert. Einer, der Menschen anzog.

Dann sah sie sich den zweiten Pass an. Helly Keller. Die Frau des Botschafters. Eine Föhnfrisur, etwas steif, riesige Augen. Traurig irgendwie, dachte Beanie. Sie legte die Pässe zurück. Musterte den Füllfederhalter, den Schreibblock daneben. Einige Worte standen da: «Schere», «PC», «24. Jan. Ionon.» Ionon? Was das wohl bedeutete? Sie machte ein Foto.

Dann eine Kiste voller Bücher. Alles dieselben. «Stephen Keller. Drei Leben», stand auf dem Cover und auf einer herausgerissenen Seite: «Für Helly, meine Partnerin, meine Stütze, mein guter Geist».

Das Foto auf der Rückseite war fast identisch mit dem Passfoto. Keller hatte eine Biografie geschrieben, seine Memoiren. Eitel, das Ganze. Und pathetisch. Und angekokelt, wenn sie an Schmidts Foto des explodierten Ofens dachte.

Als Beanie Stephen Keller googelte, ploppte als Erstes der Wikipedia-Eintrag auf. Ellenlang. Der Mann hatte nicht nur viel erlebt, er war auch dafür ausgezeichnet worden. Krass. Er war auf allen Social-Media-Kanälen vertreten. Etwas steif allerdings. Wer das wohl für ihn besorgte, ein Marketingteam?

Beanie trat ans Fenster und besah sich die Terrasse, die auf den Hinterhof hinausging. Die müssen unermesslich reich sein, dachte sie. Gab ein Diplomatengehalt das her? Sie ging ins Intranet, fand das Grundbuchamt und einen Eintrag über die Lindenpfalz. Er lautete auf Helly Keller. Also gehörte das historische Haus der Ehefrau. Wer war sie? Im Netz fand sich wenig. Aufgewachsen war sie in Maur am Greifensee, Meiers Hoheitsgebiet. Auch da war eine Liegenschaft auf sie eingetragen.

Beanie schrieb an Meier. «Kannst du morgen dorthin gehen?»

«Wieso? Ermittelt ihr gegen die beiden?», schrieb Meier zurück.

«Nein. Es ist mehr …»

«Intuition? Braves Mädchen, könnte von mir sein.»

Beanie verzieh ihrem alten Chef den Gender-Fehltritt. Durch ihn hatte sie gelernt, auf ihr Bauchgefühl zu hören. Nun ging sie zum Schlafzimmer, wo das Bett zerwühlt war, beide Seiten, der Hauch eines Parfums. Sie schlafen zusammen, dachte sie erstaunt, damit hatte sie irgendwie nicht gerechnet. Im begehbaren Schrank war die Verteilung ebenso überraschend, neun Zehntel er, der Rest sie. Zwei, drei Paar Schuhe, einige Hosen, Jacken und Blusen, das war’s auf der weiblichen Seite. Das Arbeitszimmer war makellos. Daneben noch ein Raum, mit einem riesigen Bildschirm, einer Sofalandschaft. Auf einem Teller der Rest eines Sandwiches. Beanie schnupperte. Bündnerfleisch. Ein Snack vor der grossen Party mit veganem Buffet? Etwas Rind vor der Mandelpaste? Und dann fiel Beanie etwas ein. Mit zwei Schritten war sie an der Tür, die Treppe hinunter, in die Küche, zum Abfalleimer. Der Deckel stand offen. Im Vorbeigehen hatte ihr Hirn registriert, was ihr Verstand erst jetzt begriff. Im Müll lag eine zerknitterte Tüte vom «Sternen Grill», dem Wurststand in Zürich. War jemand aus der Reihe getanzt und hatte den veganen Code verletzt? Beanie fischte die Tüte raus, fand darin drei kleine Kartons mit scharfem Senf sowie eine Quittung von ZüriFood, einem Essensauslieferer. Sie wies ein Datum auf und eine Uhrzeit. Zwanzig Uhr fünfzig.

Beanie griff zum Funkgerät.

«Schmidt? Du hast doch alle Personalien der Gäste aufgenommen. War ein Essenskurier von ZüriFood darunter? Er hat offenbar kurz vor der Explosion einen Beleg ausgedruckt.»

«Barras, wo bist du? Wir warten auf dich.»

Konnte sie ihren Lehrerinnenton nicht lassen? «Ist dir so jemand aufgefallen?»

«Nein, da war kein Kurier. Der ist bestimmt längst weg, die haben’s ja immer eilig.» Als Beanie das hörte, spurtete sie in Richtung Wendeltreppe, nahm zwei Stufen aufs Mal.

«Ich habe nur mit dem veganen Caterer gesprochen», erklärte Schmidt weiter. «Die haben Apéro und Dinner geliefert und wollten die Reste morgen früh wieder holen.»

«Ich bin hier.» Beanie nahm das Handy vom Ohr, nahm das Bild der Verwüstung wahr, sah in Schmidts erstauntes Gesicht, der Spürhund bellte, die Kollegen hielten irritiert in der Arbeit inne, nur Sahel lächelte ein wenig.

«Der Essenslieferant von ZüriFood könnte noch irgendwo im Gebäude sein», sagte Beanie. «Das Haus ist sehr verwinkelt.»

«Unmöglich, wir haben alles abgesucht.»

Als Beanie den Beleg mit der Uhrzeit zeigte, breitete sich Unsicherheit aus.

«Was, wenn er durch die Explosion verletzt wurde? Suchen wir nach ihm!» Im Sprechen stieg Beanie die Wendeltreppe wieder hinunter, froh darüber, dem ätzenden Brandgeruch zu entkommen. «Nehmt ihr den Estrich und die drei Stockwerke. Schmidt, wir beginnen mit dem unteren Teil.»

Die Treppe klirrte, wackelte, ein fliegendes Konstrukt aus Metall und Drähten. Sie suchten zuerst das Erdgeschoss ab, dann den Keller, ein riesiger Raum mit niedriger Decke, praktisch leer. Bis auf einige Bildschirme an einem Schreibtisch. Ein ganzes Security-System, der Festsaal wurde aus verschiedenen Perspektiven gezeigt.

Schmidt japste auf. «Das hat der Botschafter nicht kommuniziert.»

«Es ist vermutlich nicht das Einzige. Schon von Berufs wegen müssen Diplomaten verschwiegen sein.» Beanie fühlte sich grimmig. «Falls die Kameras an waren, kämen wir einen grossen Schritt voran. Suchst du hier weiter? Ich gehe in den Garten.»

Wieder hinaus, in den Hinterhof, wo sie in einem Schopf einen Weidling fand, eines der alten Boote, die wie im Mittelalter auf der Limmat fuhren, daneben ein Kanu. Ein Wassersportler, dachte Beanie. Wieso wird er mir trotzdem nicht sympathischer? Fuck. Im Schein der Taschenlampe hatte sie einen Typen bemerkt. Er stand gegenüber in einem winzig kleinen Haus am Fenster und sah auf sie herab. Es erinnerte sie fatal an ihren letzten grossen Fall. Dabei hatte sie eine Kopfverletzung davongetragen. Seither litt sie an Migräne.

Sie riss ihr Funkgerät heraus. Verständigte Schmidt. Als sie den Typen beschreiben wollte, war er weg. Einbildung? Sie lief auf die kleine Gasse hinaus, klingelte an der Tür. Keine Reaktion. Sie musste dem später nachgehen. Alles wieder zurück. Denk nach, Beanie, wo könnte sich noch jemand aufhalten? Vor dem Patrizierhaus waren kaum mehr Leute, auch hinter der Absperrung nicht. Ein weiterer Holzschopf fiel ihr auf. Er war an die Mauer gebaut und in mehrere Abteile unterteilt, alle mit einem Schloss versperrt. Gehörte der zur Lindenpfalz? Ein Telefonat brachte Antwort. Das erste der Abteile war dem Botschafterpaar zugeteilt. Die Latten standen so weit auseinander, dass Beanie mit der Lampe hineinleuchten konnte. Lag da jemand?

«Hallo?» Aus dem Augenwinkel nahm Beanie eine Bewegung wahr. Eine Katze, eine Ratte? Sie rüttelte an der Tür, das Holz war alt, aber stabil. Das Schloss sah gewöhnlich aus, ein klassisches Vorhängeschloss. Sie gab den erstbesten Code ein, der ihr einfiel. Null, null, null. Sie hatte Glück. Der Bügel hob sich. Sie trat ein. Als Erstes fiel ihr auch hier der Brandgeruch auf. Dann stolperte sie fast über einen Körper am Boden. Oh Gott. Sie rief Schmidt an, bat um Hilfe und eine Ambulanz. Dann kniete sie sich hin. Ein junger Typ, das Gesicht bleich, die Züge verzerrt, die Augen zu, keine sichtbaren Verletzungen. Keine Atmung, kein Puls, zumindest spürte Beanie keinen. Ohne zu überlegen, traf sie die nötigen Vorkehrungen, presste die Hände auf seine Brust, begann mit der Herzdruckmassage. Staying alive, staying alive, staying alive. So oft geübt, noch nie für einen Ernstfall gebraucht. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen die Sanitäter herein, gefolgt von Sahel und Quetes.

«Er atmet nicht», keuchte Beanie.

Quetes kniete sich neben sie, griff nach seinem Handgelenk, beugte sich zu seinem Mund. Ein Sanitäter übernahm die Massage, Beanie war abgespielt. Sie stand auf, stellte sich auf die Seite, verdrängte das Pochen an den Schläfen. Dachte an den Verletzten am Boden und konzentrierte sich nur auf ihn. Komm durch, bitte, komm durch. Schliesslich trat Quetes mit steinerner Miene zu ihr.

«Es tut mir leid, er ist tot. NACA 7.»

«Wer ist er?»

Quetes zeigte Beanie den Ausweis, den sie in seiner Tasche sichergestellt hatte. «Ein Essensausliefer-Velokurier von ZüriFood, wie du vermutet hast. Er trägt eine medizinische Plakette, er ist Asthmatiker.»

Der Geruch, dachte Beanie. Hier drin stinkt es mehr als im Haus, mehr als auf der Gasse. Das war nicht normal. Mit zwei Schritten war sie bei den Zeitungsbündeln in der Ecke. Als sie das oberste hob, erblickte sie ein Nest. Ein Nest voll zuckender, brennender Glut.

***

Das Gewimmel in der Fortunagasse hatte sich beruhigt. Die Ambulanz war weggefahren, die Polizisten machten sich auf den Heimweg. Der St. Peter schlug drei Uhr. Seine Stunde. Meist ging er früh zu Bett und stand um die Zeit wieder auf. Dass er diesmal den Schlaf ausgelassen hatte, machte ihm nichts aus. Er schwang den Rucksack mit den Sägespänen auf den Rücken, trat auf die Gasse hinaus, sog den Geruch ein. Asche und Schnee. Bald würde es schneien. Er schmunzelte. Eisiges Feuer. Wie es leuchten würde.

5

Dienstag

Joel Brunner schreckte hoch. Wo war Djamila? Er tastete übers Kopfkissen, zur anderen Seite des Betts. Leer. Stöhnend liess er sich zurücksinken. Seine Zunge war dick, der Hals staubtrocken. Er fühlte sich immer noch betrunken, zu viel von dem Champagner gestern auf dem Botschaftsempfang. Und anschliessend der Whisky in der Bar, der hatte ihn endgültig gekillt. Er konnte sich nicht mal mehr erinnern, wie er in die Wohnung gelangt war. Taxi? Oder hatte ihn einer von Djamilas Bekannten mitgenommen? Wo war seine Gitarre? Er schlurfte ins Wohnzimmer. Das Instrument war nicht da, er hatte es in der Lindenpfalz vergessen, nun fiel es ihm wieder ein. Wie konnte er nur? Seine Gitarre bedeutete ihm alles.

Er ging in die Küche, trank Wasser aus dem Hahn.

«Baby?»

Keine Antwort, Djamila war nicht hier.

Das Apartment war klein und steril, eine Dependance des EDA, des Departements für auswärtige Angelegenheiten, das in Bern stationiert war und in Zürich diese kleine Gästewohnung unterhielt. Alles sehr pompös, nicht Joels Stil, aber Djamila hatte ihn darum gebeten.

«Es macht den besseren Eindruck, schliesslich bin ich in offizieller Mission unterwegs.» Ihre Ausbildung zur Diplomatin war in zwei Wochen vorbei, die Berner Wohnung hatte sie bereits gekündigt, zurzeit lebte sie aus dem Koffer, bis sie wüssten, wohin sie versetzt würde.

«Stell dir vor, ich bin dann diplomierte Diplomatin, besser geht’s nicht», hatte sie gesagt und gegrinst, bevor sie ihm erklärte, warum sie so kurz vor dem Abschluss alles richtig machen wollte. Eine Übernachtung in der WG ihres Freundes wäre ein Fauxpas, wie sie es nannte, in dieser Art, ab und zu französische Ausdrücke in ihr Sprachgemisch aus Englisch und Deutsch einzuflechten. Früher hatte Joel das attraktiv gefunden. Heute nervte es ihn. Fauxpas bedeutete Fehler. War er das?

«Baby, wo bist du?», schrieb er.

Er wusste, dass er keine Antwort bekommen würde, Djamila antwortete nie direkt. Er liess es zehnmal klingeln. Das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war, intensivierte sich. Der Streit war schlimmer gewesen als üblich. Er schloss die Augen, versetzte sich zurück an den Vorabend, an die Party, das Fest, den Empfang für Stephen Keller, Djamilas Mentor seit bald zwei Jahren.

Stephen hatte Djamila an der Genfer Uni entdeckt, ihr zu der Ausbildung geraten, seither arbeitete sie wie ein Tier. Sie wollte die beste Diplomatin der Welt werden, Konfliktparteien an einen Tisch bringen, Grenzen überwinden. Und sie war gut darin. Hetzte von Erfolg zu Erfolg. Ihr Privatleben kam kaum mehr vor. Ausser wenn sie Joel vom nächsten Projekt berichtete. Der Streit hatte sich denn auch um ihren Job gedreht, das tat er immer. Oder hatte Djamila mit Stephen geflirtet und er, Joel, hatte es nicht ertragen?