Über das Buch
Einer der größten Künstler unserer Zeit erzählt sein Leben vor dem Hintergrund der Geschichte Chinas
Es ist, als ballten sich tausend Jahre Freud und Leid in hundert Jahren: Eindrucksvoll schildert Ai Weiwei die Geschichte seiner Familie und seine eigene außerordentliche künstlerische Entwicklung unter den Bedingungen eines autoritären Regimes. Als Junge erlebte er die Verbannung und Demütigung seines Vaters Ai Qing, einst ein Vertrauter Maos und Chinas einflussreichster Dichter, der im Zuge der Kulturrevolution als »Rechtsabweichler« gebrandmarkt wurde. Diese Erfahrungen prägten Ai Weiweis Schaffen und seine politischen Überzeugungen, und er selbst geriet in Konflikt mit den chinesischen Behörden. Die sehr persönlichen und vom Künstler selbst reich illustrierten Erinnerungen geben nicht nur einen fesselnden Einblick in Ai Weiweis Leben und Arbeiten, sie sind zugleich Mahnung, die Meinungsfreiheit immer wieder neu zu verteidigen.
Zeitgleich erscheint eine deutsche Ausgabe von Gedichten seines Vaters Ai Qing, »Schnee fällt auf Chinas Erde«, ISBN 978-3-328-60242-2.
Ai Weiwei, geboren 1957 in Peking, gehört zu den bekanntesten und bedeutendsten Künstlern der Gegenwart. Seinen internationalen Durchbruch erlebte er 2007 mit seiner Teilnahme an der Documenta 12. Der Menschenrechtsaktivist und Regimekritiker nahm 2015 nach der Aufhebung eines Reiseverborts eine Gastprofessur an der Berliner Akademie der Künste an, wo er seither auch lebte. 2019 zog er mit seiner Familie nach Cambridge in England.
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DIE RUINENSTADT
JIAOHE
Mir ist, als zögen Karawanen durch die Stadt,
Kamelglöckchen im Stimmenlärm der Menge,
wie einst belebt ein Markt die Straßen,
Wagen wie strömendes Wasser, Pferde wie Drachen.
Doch nein, der prächtige Palast
ist längst in Trümmern;
von tausend Jahren Freud und Leid
blieb keine Spur zurück.
Ihr, die ihr lebt, lebt in der Fülle,
hofft nicht, dass die Erde Erinnerung bewahrt.
Ai Qing, 1980
AI WEIWEI
1000 JAHRE
FREUD
UND LEID
ERINNERUNGEN
Aus dem Englischen von
Norbert Juraschitz und Elke Link
Übertragung der Gedichte aus dem Chinesischen
von Susanne Hornfeck
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel 1000 Years of Joys and Sorrows: A Memoir bei Crown, einem Imprint von Random House, einem Teil von Penguin Random House LLC, New York.
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Copyright © der Originalausgabe 2021 by Ai Weiwei
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Wu Hung-Yu
Bildbearbeitung: Helio Repro GmbH, München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München, auf der Grundlage des Entwurfs von Christopher Brand
Umschlagabbildung: Ai Weiwei
Autorenfoto: © Ai Weiwei Studio
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-16735-6
V001
www.penguin-verlag.de
Dieses Buch ist
meinen Eltern und
meinem Sohn
gewidmet.
Inhalt
kapitel 1: Durchsichtige Nacht
kapitel 2: Die Herzen brennen
kapitel 3: Schnee fällt auf Chinas Erde
kapitel 4: Der Sonne entgegen
kapitel 5: Die neue Epoche
kapitel 6: Der Traum des Blumenzüchters
kapitel 7: Von Fern-Nordost nach Fern-Nordwest
kapitel 8: Die Welt ist euer
kapitel 9: Freier als der Wind
kapitel 10: Demokratie oder Diktatur?
kapitel 11: »New York, New York«
kapitel 12: Perspektive
kapitel 13: FAKE Design
kapitel 14: Fairytale
kapitel 15: Die Bürgerermittlung
kapitel 16: Disturbing the Peace
kapitel 17: Das Krabbenessen
kapitel 18: Einundachtzig Tage
kapitel 19: Lebt in der Fülle
Nachwort
Dank
Anhang
Zur Übertragung der Gedichte
Zitatnachweis
Bildnachweis
Über den Autor
Bildteil
kapitel 1
Durchsichtige Nacht
Gelächter steigt auf aus den Feldern.
Ein Trupp von Trinkern verlässt
das schlafende Dorf, hinein
in die verschlafene Steppe
gehen sie lärmend.
Nacht, durchsichtige Nacht!
Aus: »Durchsichtige Nacht«,
geschrieben von meinem Vater 1932
in einem Shanghaier Gefängnis
Ich wurde im Jahr 1957 geboren, acht Jahre nach der Gründung des »neuen Chinas«. Mein Vater war damals siebenundvierzig. Als ich noch klein war, sprach mein Vater selten über die Vergangenheit, weil alles in den dichten Nebel der vorherrschenden, politischen Darstellung gehüllt war und jede Erkundigung nach den Fakten das Risiko barg, einen so furchtbaren Rückschlag auszulösen, wie man ihn sich gar nicht ausmalen wollte. Um den Anforderungen der neuen Ordnung nachzukommen, erlitt das chinesische Volk ein Austrocknen des geistigen Lebens und den Verlust der Fähigkeit, Ereignisse so zu erzählen, wie sie wirklich geschehen waren.
Ein halbes Jahrhundert sollte vergehen, ehe ich anfing, darüber nachzudenken. Am 3. April 2011, als ich im Begriff war, vom Flughafen Beijing-Hauptstadt abzufliegen, fiel ein Schwarm Polizisten in Zivil über mich her, und für die nächsten einundachtzig Tage verschwand ich in einem schwarzen Loch. Während meiner Inhaftierung fing ich an, über die Vergangenheit nachzudenken: Ich dachte insbesondere an meinen Vater und versuchte mir vorzustellen, wie achtzig Jahre zuvor das Leben für ihn hinter den Gittern eines Gefängnisses der Nationalisten wohl gewesen sein mochte. Mir wurde klar, dass ich kaum etwas über seine Strapazen wusste, und ich hatte mich nie aktiv für seine Erlebnisse interessiert. In der Ära, in der ich aufwuchs, setzte uns die ideologische Indoktrinierung einem intensiven, alles durchdringenden Licht aus, das unsere Erinnerungen wie Schatten verschwinden ließ. Erinnerungen waren eine Last, und es war am besten, sich ihrer zu entledigen; schon bald verloren die Menschen nicht nur den Willen, sondern auch die Kraft, sich zu erinnern. Wenn gestern, heute und morgen zu einem ununterscheidbaren, trüben Fleck verschwimmen, dann ist Erinnerung – abgesehen davon, dass sie potenziell gefährlich ist – so gut wie bedeutungslos.
Viele meiner ersten Erinnerungen sind bruchstückhaft. Als ich ein kleiner Junge war, glich die Welt in meinen Augen einem geteilten Bildschirm. Auf der einen Hälfte stolzierten US-Imperialisten mit Smoking und Zylinder umher, liefen mit dem Stock in der Hand, gefolgt von ihren Jagdhunden: den Briten, Franzosen, Deutschen, Italienern und Japanern, zusammen mit den Reaktionären der Kuomintang, die sich auf Taiwan verschanzt hatten. Auf der anderen Hälfte standen Mao Zedong und die Sonnenblumen an seiner Seite – das heißt: die Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, die sich nach Unabhängigkeit und Befreiung von Kolonialismus und Imperialismus sehnten; wir waren diejenigen, die für Licht und Zukunft standen. Auf Propagandafotos wurde der vietnamesische Führer »Großvater« Ho Chi Minh von furchtlosen jungen Vietnamesen mit Bambushüten begleitet – ihre Gewehre waren auf US-Kriegsflugzeuge am Himmel gerichtet. Tag für Tag wurden uns die heldenhaften Geschichten ihrer Siege über die Yankee-Schurken eingebläut. Zwischen den beiden Hälften lag eine unüberbrückbare Kluft.
In jener Ära, die man der Information beraubt hatte, kamen persönliche Entscheidungen treibenden Wasserlinsen gleich, wurzellos und substanzlos. Die Erinnerung, die man zum Trocknen ausgewrungen hatte, bekam Risse und zerbrach, weil ihr die Nahrung individueller Interessen und Bindungen verweigert wurde: »Das Proletariat muss zuerst die ganze Menschheit befreien, bevor es sich selbst befreien kann«, hieß es. Nach den Erschütterungen, die China durchgemacht hatte, waren echte Emotionen und persönliche Erinnerungen auf winzige Scherben reduziert worden und konnten ohne Weiteres durch den Diskurs des Kampfes und der endlosen Revolution ersetzt werden.
Das Gute ist, dass mein Vater Schriftsteller war. In Gedichten hielt er Gefühle fest, die tief in seinem Herzen geschlummert hatten, auch wenn diese kleinen Ströme der Ehrlichkeit und der Aufrichtigkeit kein natürliches Ventil bei diesen unzähligen Veranstaltungen fanden, als politische Wellen alles mit sich rissen, was ihnen in die Quere kam. Heute vermag ich lediglich, die verstreuten Bruchstücke nach dem Sturm aufzusammeln und zu versuchen, ein Bild daraus zusammenzustellen, so unvollständig es auch sein mag.
In dem Jahr, in dem ich zur Welt kam, entfesselte Mao Zedong einen politischen Sturm: die Kampagne gegen Rechtsabweichler, die zum Ziel hatte, »rechte« Intellektuelle auszumerzen, die die Regierung kritisiert hatten. Der Strudel, der meinen Vater mit sich verschlang, stellte auch mein Leben auf den Kopf, indem er einen Makel auf mir zurückließ, den ich bis heute mit mir herumtrage. Als führender »Rechtsabweichler« unter den chinesischen Schriftstellern wurde mein Vater verbannt und gezwungen, sich der »Besserung durch Arbeit« zu unterziehen. Das vergleichsweise angenehme Leben, das er nach der Gründung des neuen Regimes 1949 genossen hatte, nahm damit ein jähes Ende. Anfangs in die eisige Wildnis im fernen Nordosten vertrieben, wurden wir später in die Stadt Shihezi am Fuß des Tian-Shan-Gebirges in der Provinz Xinjiang verlegt. Wie ein kleines Boot, das in einem Taifun Zuflucht sucht, fanden wir dort einen Unterschlupf, bis sich die politischen Winde erneut drehten.
Im Jahr 1967 trat dann Maos »Kulturrevolution« in eine neue Phase ein, und mein Vater, der inzwischen als Urheber bourgeoiser Literatur und Kunst galt, wurde erneut auf die schwarze Liste ideologischer Zielobjekte gesetzt, zusammen mit den Trotzkisten, Abtrünnigen und Anti-Partei-Elementen. Das war kurz vor meinem zehnten Geburtstag, und die darauffolgenden Ereignisse werde ich nie vergessen.
Im Mai dieses Jahres besuchte uns ein führender radikaler Revolutionär aus Shihezi in unserem Haus. Mein Vater habe ein viel zu angenehmes Leben geführt, sagte er, und jetzt würden sie ihn zur »Umerziehung« an eine abgelegene, paramilitärische Produktionseinheit schicken.
Mein Vater gab keine Antwort.
»Erwartest du etwa von uns, dass wir für dich eine Abschiedsfeier veranstalten?«, höhnte der Mann.
Nicht lange danach fuhr ein »Befreiungs«-Lastwagen vor der Eingangstür unseres Hauses vor. Wir beluden ihn mit ein paar schlichten Möbelstücken und etwas Kohlen und warfen unser Bettzeug zusammengerollt obendrauf – viel mehr hatten wir nicht zum Mitnehmen. Es fing an zu nieseln, als Vater sich in die Fahrerkabine setzte; mein Stiefbruder Gao Jian und ich kletterten auf die Ladefläche des Lastwagens und kauerten uns unter die Plane. Der Ort, an den wir fuhren, lag am Rand der Wüste Gurbantünggüt; unter den Einheimischen hieß er nur »Klein-Sibirien«.
Statt mit uns zu fahren, beschloss meine Mutter, meinen kleinen Bruder Ai Dan nach Beijing zurückzubringen. Nach zehn Jahren in der Verbannung war sie nicht mehr jung und konnte die Aussicht, unter noch primitiveren Bedingungen zu leben, nicht ertragen. Shihezi war der am weitesten abgelegene Ort gewesen, an den sie noch mitgehen wollte. Es gab keine Möglichkeit, die Familie zusammenzuhalten. Ich bat meine Mutter nicht, mit uns zu fahren, noch flehte ich sie an, meinen kleinen Bruder zurückzulassen. Ich blieb stumm, weder verabschiedete ich mich, noch fragte ich, ob sie zurückkehren würde. Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, bis sie aus dem Blick verschwanden, als wir aufbrachen. Für mich war bleiben nicht anders als gehen; wie auch immer, es war nicht an uns, das zu entscheiden.
Der Lastwagen ruckelte heftig, während er über eine scheinbar endlose, schmutzige Straße voller Schlaglöcher und Rinnen kroch, und ich musste mich am Rahmen festhalten, damit ich nicht in die Luft geschleudert wurde. Eine Matte neben uns wurde von einem Windstoß erfasst und wirbelte binnen weniger Sekunden davon, sie verschwand in der Staubwolke hinter uns.
Nach etlichen, schmerzhaften Stunden blieb der Lastwagen endlich am Rand der Wüste stehen. Wir waren an unserem Ziel angelangt: dem Produktions- und Baukorps des Militärbezirks Xinjiang, Agrardivision 8, Regiment 23, Zweig 3, Kompanie 2. Es war eine von vielen Einheiten dieser Art, die in den 1950er-Jahren in den Grenzregionen Chinas mit zwei Zielen gegründet worden waren. In Friedenszeiten würden die Arbeiter des Produktions- und Baukorps das Land für die Bebauung erschließen und Ackerbau betreiben, um die Volkswirtschaft des Landes zu fördern. Sollte mit einem Nachbarstaat Chinas ein Krieg ausbrechen oder sollte es zu Unruhen unter der Bevölkerung der ethnischen Minderheit kommen, würden die Arbeiter ihre militärische Funktion erfüllen und die nationalen Verteidigungsanstrengungen unterstützen. Wie wir am eigenen Leib erfahren sollten, hatten solche Einheiten bisweilen eine zusätzliche Funktion: die Unterbringung von Straftätern, die man aus ihrer Heimat anderswo in China verbannt hatte.
Die Dämmerung war angebrochen, und der Klang einer Flöte drang von einer Reihe niedriger Hütten an unser Ohr; mehrere junge Arbeiter standen draußen und beobachteten uns neugierig. Uns wurde ein Raum zugeteilt, in dem nur ein Doppelbett stand, sonst nichts. Mein Vater und ich trugen den kleinen Tisch und vier Stühle hinein, die wir aus Shihezi mitgebracht hatten. Der Fußboden war aus gestampfter Erde und die Wände waren Lehmziegel, aus denen Strohhalme herausragten. Ich stellte eine simple Öllampe her, indem ich Petroleum in eine leere Arzneiflasche goss, in den Verschluss ein Loch stach und ein Stück Schnürsenkel hindurchfädelte.
Mein Vater brauchte im Leben wenig, abgesehen von der Zeit zum Lesen und Schreiben. Und er hatte kaum Aufgaben gehabt. Stets hatte sich meine Mutter um die Hausarbeit gekümmert, und sie hatte nie von uns erwartet, dass wir ihr zur Hand gingen. Aber jetzt waren nur noch mein Vater, Gao Jian und ich da, und unsere Lebensumstände erregten die Neugier der anderen Arbeiter, ungehobelter »Krieger der Militärfarm«, die bei ihren Erkundigungen keine Scheu kannten. »Ist das dein Opa?«, fragten sie mich, oder: »Vermisst du deine Mama?« Mit der Zeit lernte ich, mich selbst um alles zu kümmern.
Ich versuchte, uns einen Ofen zu bauen, damit wir uns Wärme verschaffen und Wasser kochen konnten. Aber aus dem Ofen trat überall Rauch aus, außer aus dem Schornstein, und wenn ich das Feuer schürte, brannten mir die Augen, und ich musste husten, bis ich erkannte, dass die Luft ungehindert in die Kammer strömen musste. Und dann gab es noch die anderen Hausarbeiten wie Wasser holen aus dem Brunnen, die Mahlzeiten aus der Kantine abholen, den Ofen mit Brennholz füttern und die Asche zusammenfegen. Jemand musste diese Arbeiten erledigen, und meistens war ich derjenige.
Für uns war die Vergangenheit etwas, das von unserem neuen Dasein getrennt war – die beiden hatten nichts miteinander gemeinsam, abgesehen davon, dass die Sonne morgens auf- und abends unterging. Unser Leben glich jetzt einem endlosen Überlebenstraining in der Wildnis, sofern wir das Glück hatten zu überleben. Die Militärfarm blickte nach Norden, auf eine Wüste so groß wie die Schweiz. Als ich sie das erste Mal sah, war ich so aufgeregt, dass ich über den nackten Sand rannte, bis ich außer Atem war. Dann lag ich flach auf dem Boden und starrte in den endlosen blauen Himmel. Doch die Aufregung verpuffte schon bald. Unter dem grellen Licht der Sonne gab es keinen Schatten auf dem Wüstenboden, eine Salzebene so weiß, dass es aussah, als wäre sie von einem dicken Schneeteppich bedeckt. Jedes Mal wenn eine Bö des heißen Windes vorbeiwehte, rollten Kameldornbüsche in unsere Richtung und diese sowie die Sandkörner trafen mein Gesicht, stachen mich wie Nadeln in die Haut.
Die Arbeiter kamen aus völlig verschiedenen Hintergründen, mit ominösen, unsäglichen Vergangenheiten, die sie mithilfe dieser Grenzregion hinter sich lassen konnten. Von den Gemeinschaften, denen sie einst angehört hatten, vergessen, lebten sie nur im Hier und Jetzt. Viele waren Mitglieder der stigmatisierten »fünf schwarzen Kategorien«: Grundbesitzer, reiche Bauern, Konterrevolutionäre, schlechte Elemente und Rechtsabweichler. Oder sie waren, wie ich, Kinder von Mitgliedern der schwarzen Kategorien. Einige waren ehemalige Soldaten, und andere waren junge Menschen, die in ihren Heimatstädten unerwünscht waren, oder Flüchtlinge aus verarmten Regionen im Hinterland Chinas. Hier mussten sie zumindest nicht Hunger leiden, indem sie Ödland bebauten und genügend Produkte ernteten, um sich zu ernähren.
Anfangs wurde mein Vater dem Team der Forstverwaltung zugeteilt. Um ihn zu isolieren und seinen schädlichen Einfluss zu begrenzen, befahlen sie ihm, allein Bäume zu beschneiden, und schickten ihn mit einer Schere und einer kleinen Säge los. Die Ulmen und russischen Olivenbäume der Farm waren, seit man sie gepflanzt hatte, nie beschnitten worden; und inzwischen wuchsen sie so willkürlich, dass sie eher Büschen als Bäumen glichen. Ihre Stämme waren von Schafen verbissen und angenagt worden, und überall sprossen Seitenäste. Aber Vater fand schon bald Gefallen an seinem neuen Job, weil er Bäume mochte und froh war, einen gewissen Abstand zur Menge zu halten.
Unterdessen ging ich morgens zum Unterricht, den der einzige Lehrer der Schule im einzigen Klassenzimmer zusammen mit sechs oder sieben anderen Zweit- und Drittklässlern hielt. Die Militärfarm bot keinen Unterricht für ältere Kinder an, also musste mein Bruder Gao Jian, der fünf Jahre älter als ich war, die weiterführende Schule an einer anderen Produktionseinheit besuchen, wo er als Internatsschüler lebte.
Wenn die Schule aus war, nahm ich eine Thermosflasche und ging den langen, langen Weg zu meinem Vater. Aus der Ferne beobachtete ich, wie er einen Baum umkreiste, hier und da Zweige beschnitt, dann ein paar Schritte zurücktrat, um zu prüfen, ob die beiden Seiten im Gleichgewicht waren. Als er schließlich mein Kommen bemerkte, brauchte er ein paar Sekunden, um sich zu entspannen. Einmal, ich erinnere mich gut, wischte er die Stirn ab, als er gierig das Wasser trank, das ich gebracht hatte, dann reichte er mir einen Zweig Ulmenholz, den er abgesägt hatte. Sorgfältig rieb er die Knoten und Flecken ab, und dann war der Zweig so glatt und glänzend wie ein altes Zepter.
Im Zentrum des Hauptquartiers befand sich eine Aula, die Fassade verziert mit einem fünfzackigen Stern, dessen leuchtendes Rot zu einer fahlen Rostfarbe verblasst war. Hier im Baukorps nahm die Aula den gleichen Status wie früher ein Ahnenschrein ein. Solche Säle traf man mittlerweile in ganz China an, in Fabriken und Kommunen, in Regierungsorganisationen, Schulen und Armeeeinheiten. Über der Bühne hing ein Porträt Maos, mit Marx und Engels zur Linken und Lenin und Stalin zur Rechten, alle gegenüber der Saalmitte, den Blick in die Ferne gerichtet.
Egal wie anstrengend der Arbeitstag auch gewesen sein mochte, der Betrieb veranstaltete jeden Abend eine Versammlung. Unter dem grellen Licht einer Quecksilberdampflampe stellten 240 Arbeiter und deren Familien ihre Stühle auf dem Fußboden auf und hörten zu, während der politische Ausbilder einen ideologischen Bericht vortrug, in dem er die politischen Ereignisse auf nationaler Ebene analysierte. In jener Zeit, als »Politik« alle Aspekte des Lebens durchdrang, musste man jeden Tag bei Morgengrauen um die Anweisungen des Vorsitzenden Mao bitten, ehe man seine Arbeit oder Studien antrat, und am Ende des Tages wurde ein vergleichbares Ritual vollzogen: Man berichtete dem Vorsitzenden über den Fortschritt der eigenen Arbeit oder Studien an diesem Tag. Der politische Ausbilder musste Anleitung für die Umsetzung der Parteilinie, die Durchführung der Maßnahmen der Partei und die Ausübung der Entscheidungen und Direktiven höherer Behörden sowie für das Studium des Marxismus-Leninismus und der Mao-Zedong-Gedanken, sprich: des Maoismus geben. Danach bewertete der Kommandant die Tagesarbeit und listete die Aufgaben für den folgenden Tag auf.
In der Regel wurden diejenigen, die den fünf schwarzen Kategorien angehörten, nach vorn auf die Bühne gerufen, wo sie reuevoll den Kopf vor dem Publikum unter ihnen senken mussten. Auch wenn mein Vater eindeutig anwesend war, schrie der Beamte mit dem Vorsitz immer: »Ist der große Rechtsabweichler Ai Qing hier?« Es war Standard, das Adjektiv »groß« vor »Rechtsabweichler« einzuschieben, wenn von meinem Vater die Rede war, in Anbetracht seines Ansehens und Einflusses als Schriftsteller. Einmal wurde er sogar als »bürgerlicher Romanschreiber« verunglimpft – eine merkwürdige Bezeichnung, weil ihn seine Gedichte berühmt gemacht hatten. Doch das Publikum hatte eigentlich gar kein Interesse daran, wer er war oder was er in seinem Leben getan hatte. Alles, was auf der Versammlung gesagt wurde, wurde als Standardverfahren und absolut vernünftig angesehen, denn die Revolution brauchte Feinde – ohne sie würden die Menschen ein tiefes Unbehagen empfinden.
Wenn mein Vater aufgerufen wurde, erhob er sich von seinem Stuhl, bahnte sich einen Weg durch die Menge und nahm seinen Platz auf der Bühne ein; sein Haar fiel ihm immer über die Stirn, wenn er den Kopf zur Anerkennung seiner Verbrechen senkte. Einen Moment lang verstummte das Publikum, ehe es wieder in die übliche Sorglosigkeit verfiel, die Kinder wild umherrannten, während die Männer derbe Witze rissen und die Frauen ihre Babys stillten oder strickten oder beim Plaudern Sonnenblumenkörner zwischen den Zähnen knackten.
Wenn der Machthaber auf der Bühne sagte: »Jetzt lassen wir den großen rechten Ai Qing gehen«, verließ mein Vater sofort den Saal. Er wusste nie im Voraus, ob er überhaupt entlassen wurde. Das hing stets davon ab, ob es eine »neueste Weisung« des Vorsitzenden Mao gab oder nicht, die man dem Publikum mitzuteilen hatte. Wenn das der Fall war, durften Leute wie mein Vater nicht anwesend sein.
In den Jahren der Kulturrevolution gab es so gut wie jeden Tag – oder jede Nacht – Weisungen des Vorsitzenden Mao, die weitergegeben werden mussten. Der Schreiber der Militärfarm schrieb sie immer Wort für Wort und Zeile für Zeile mit, während sie am Telefon vorgelesen wurden, bevor sie auf den abendlichen Versammlungen öffentlich bekannt gegeben wurden. Diese Botschaften hatten eine ähnliche Funktion wie Donald Trumps spätabendliche Tweets, als er noch im Amt war. Sie waren die direkte Vermittlung der Gedanken eines Führers an seine ergebenen Anhänger und förderten so die Heiligkeit seiner Autorität. Im Fall der Chinesen gingen diese Äußerungen noch weiter, da sie absoluten Gehorsam einforderten. Kaum waren sie verkündet, da feierte eine Kakophonie aus Becken- und Trommelschlägen die Vermittlung der Weisheit Maos, und die Zuhörer wurden mit neuer Energie erfüllt. Hier und im ganzen Land wurden solche Szenen Tag für Tag aufgeführt, und es sollte Jahre dauern, ehe die Bekanntgabe der »neuesten Weisungen« aufgegeben wurde.
Die Kulturrevolution sei, wurde uns mitgeteilt, »eine tiefere, allgemeinere neue Phase im Aufbau der sozialistischen Revolution«, die eine Revolution sei, »welche die Menschen im Innern ihrer Seele berührt«. Das Ziel sei es, »die Machthaber abzusetzen, die den kapitalistischen Weg einschlugen, die bürgerlichen, akademischen ›Autoritäten‹ zu kritisieren, die Ideologie der Bourgeoisie und aller ausbeuterischen Klassen zu kritisieren, und Bildung, Kultur und alles im Überbau zu reformieren, das nicht der sozialistischen ökonomischen Basis entspricht, um das sozialistische System zu konsolidieren und auszubauen«. Als ich aufwuchs, war das Alltagsleben durchdrungen von dieser aufgeblähten Sprache, und auch wenn es schwerfiel, den Sinn zu erfassen, schien sie geradezu hypnotische oder narkotische Eigenschaften zu haben. Alle waren von ihr ganz eingenommen.
Die Aula fungierte auch als Speisesaal. Bei den Mahlzeiten musste mein Vater immer am Eingang stehen, auf eine alte Waschschüssel aus Emaille schlagen und allen verkünden, dass er ein Rechter und Krimineller sei. Er wurde schon bald ein vertrauter Anblick, und die Arbeiter gingen, ohne ihn sonderlich zu beachten, an ihm vorüber und bildeten eine lange Schlange vor der Essensausgabe. Dort mussten sie ihr Geschirr und die Essenscoupons abgeben und ein Zitat des Vorsitzenden Mao aufsagen, ehe der Koch eine Portion austeilte. Gleichzeitig würde der Koch ebenfalls ein Zitat aufsagen und damit seinen Eifer für die Revolution bekräftigen. Unser Leben war eine Bühne, auf der alle automatisch die ihnen zugewiesenen Rollen spielten: Tauchte Vater einmal nicht an seinem üblichen Platz am Saaleingang auf, so könnte das heißen, dass sich ein größeres Unheil anbahnte, und die Leute wurden nervös.
In dieser Ära der öden Routine und des materiellen Mangels diente die Küche als Brennpunkt für die Vorstellungskraft der Menschen, auch wenn sich von einem Tag zum anderen kaum etwas veränderte. Jeden Morgen vermischte der Koch Maismehl mit warmem Wasser und legte den Teig in eine Art Schublade aus Blech von einem Quadratmeter Größe, dann stapelte er fünf solche Schubladen in einer eisernen Dampfkammer und dämpfte sie dreißig Minuten lang. Wenn der Deckel abgenommen wurde, füllte sich die ganze Küche mit Dampf, und der Koch schnitt das Maisbrot senkrecht und waagrecht in Stücke, wobei jedes Quadrat zweihundert Gramm wog. Um seine Unparteilichkeit zu beweisen, wog er die Quadrate öffentlich. Dieses Maisbrot gab es vom ersten bis zum letzten Tag des Jahres, außer am 1. Mai (Internationaler Tag der Arbeit) und am 1. Oktober (Nationalfeiertag), wenn das Maisbrot eine dünne rote Beschichtung aus Zucker und vielleicht chinesischen Datteln bekam. Wenn jemand das Glück hatte, eine Dattel in seinem Maisbrot zu finden, sorgte das immer für großes Aufsehen. Der Betrieb besaß weite Maisfelder, aber wir bekamen kein einziges Mal frisches Maismehl zu essen, nur »Getreide zur Kriegsversorgung«, das man Gott weiß wie lang bereits aufbewahrt hatte: Es kratzte rau an der Kehle, wenn man es schluckte, und roch nach Schimmel und Benzin.
Jeder von uns dreien – Vater, Gao Jian und ich – erhielt eine Zuwendung von nur 15 Yuan monatlich, was damals knapp mehr als 5 Dollar waren. Somit betrug unser gemeinsames Einkommen lediglich 45 Yuan im Monat, während ein einfacher Arbeiter 38,92 Yuan als Lohn bekam. Vater rauchte eine billige Zigarettenmarke, die 5 Fen die Schachtel kostete und einen ätzenden Geruch verbreitete, wie verbrannte Wolle. Oft ging eine Zigarette schon nach wenigen Zügen einfach aus. Wegen dieser Zigaretten bekam Vaters wattierte Militärjacke mehrere Löcher. Streichhölzer wurden als »kriegsnotwendiges Material« eingestuft, und jede Familie bekam im Monat nur eine einzige Schachtel zugeteilt. Häufig gingen uns die Streichhölzer aus, und um im Ofen Feuer zu machen, musste ich mir dann von den Nachbarn eine Lampe borgen.
Um Geld zu sparen, wechselte mein Vater zu dem Tabak, den der Betrieb selbst anbaute, und rauchte diesen. Mit alten Quittungen rollten wir kleine Zylinder aus Papier, in die wir die zerkleinerten Tabakblätter leerten, bis sie bis oben vollgestopft waren. Jeden Abend half ich Vater, rund zwanzig Zigaretten zu rollen, und bewahrte sie dann sorgfältig in einem blau-weißen Porzellangefäß auf, das auf unerfindliche Weise während der Überfälle der Roten Garden auf unser ehemaliges Haus nicht zerstört worden war. Der Griff und der Deckel waren reines Silber, und auf den Korpus des Gefäßes waren eine kleine Brücke über einen Strom und ein Page mit einer Zither gemalt, neben einem Felsvorsprung, tief hängenden Trauerweiden und einer strohgedeckten Hütte, das Fenster im Holzrahmen stand halb offen. Das Gefäß erhellte selbst den trübsten Winkel mit dem Glanz des weißen Porzellans und des Kobaltblaus.
Wenn die Nacht anbrach und sich eine undurchdringliche Dunkelheit über die Weizenfelder draußen senkte, ließen die Insekten ein unaufhörliches Surren ertönen. Vater und ich saßen für gewöhnlich gegenüber an unserem kleinen Tisch, die Öllampe warf unsere Schatten – einen großen, einen kleinen – an die Wand hinter uns. Mein Kopf war häufig ebenso leer wie der Raum selbst, bar jeglicher Fantasie und bar jeglicher Erinnerung, und mein Vater und ich glichen Fremden, die sich nichts zu sagen hatten. Häufig starrte ich einfach nur in die flackernde Flamme der Lampe.
Manchmal, wenn ich gerade einnicken wollte, fing Vater jedoch an, in seinem Gedächtnis zu stöbern und in den Erinnerungen an die Vergangenheit zu schwelgen. Nach und nach wurde ich dann an die Orte versetzt, an denen er gewesen war, lernte die Männer und Frauen kennen, die er gekannt hatte, und bekam einen gewissen Eindruck von seinen Liebschaften und Ehen. Wenn er sprach, war es, als wäre ich gar nicht da. Seine Erzählung schien keinen anderen Sinn zu haben, als dafür zu sorgen, dass der Strom an Erinnerungen nicht austrocknete. In »Klein-Sibirien« entstand durch die Abgeschiedenheit eine Nähe zwischen uns, und die materielle Entbehrung brachte eine andere Art von Fülle mit sich, welche die Umrisse meines künftigen Lebens prägen sollte.