Inhaltsverzeichnis
Rollback
Joey
Go West!
Spin
Hesitate
Change of direction
Spooky
Horse and dog trail
Roundpen
Kopf in den Wolken
Back up
Löwenherz
Showdown
Run down
Sliding stop
Homeoffice
Werners Testament
Navajo Pad
Western pleasure
Danksagung
Die Autorin
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
© 2021 Heide-Marie Lauterer · www.heide-marie-lauterer.de
Verlag: spiritbooks · www.spiritbooks.de · 70771 Leinfelden-Echterdingen
Satz & Layout: Gabi Schmid · www.buechermacherei.de
Covergestaltung: OOOGRAFIK · www.ooografik.de
Illustrationen/Grafiken: vectors seamartini; #171255882, #397629519 AdobeStock
Druck und Vertrieb: tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg · www.tredition.de
978-3-946435-97-6 (Paperback)
978-3-946435-10-5 (e-Book)
Everything is connected in some way or another.
(David Lynch)
Es gibt keine Zufälle.
(David Lynch, Lost Highway)
Rollback
„Mehr Tempo, Vera! Lass ihn galoppieren!“
Wir galoppierten und atmeten mit dem Wind. Ich musste nichts tun, ließ mich von meinem Pferd tragen, breitete die Arme aus und begann zu fliegen. Mich ergriff eine unbekannte Leichtigkeit. Alles war möglich, ewig so weiterreiten, bis in den Himmel und darüber hinaus.
„Whoa! Stopp!“ Ich streckte die Beine aus, oder dachte ich es nur? Meine Trainerin Iris brach in Begeisterungsstürme aus: „Genial! Das hättest du sehen sollen, Vera, einfach genial!“
Was hätte ich denn sehen sollen? In diesem Windsgalopp?
„Ein toller Stopp! Nächstes Jahr geht ihr zusammen auf die DM!“
Die Deutsche Meisterschaft? Alles Paletti und ich? Hatte ich richtig gehört? Iris übertrieb doch wieder einmal maßlos! Sie wollte mich motivieren, mein Selbstbewusstsein aufbauen, gegen mein kritisches inneres Gemeckere ankämpfen: Für die Deutsche Meisterschaft fehlt uns noch einiges – der Stopp ist nicht alles. Da gibt es noch den Slide, den Rollback, den Spin und was-weiß-ich-noch-alles. Und in meinem Alter? Ich gehe so langsam auf die 40 zu. Es war ja nicht zu überhören.
Iris riss mich aus meinen Gedanken. „Galoppiere noch mal an, aus dem Schritt“, sagte sie. Und ich hatte angenommen, wir seien für heute fertig! Ich straffte mich, fragte Alles Paletti nach Galopp, und er sprang an. „Und jetzt durchparieren zum Schritt und dann Back up.“ Rückwärtsrichten, einfach nur denken, oder lieber nicht denken, einfach nur zurück. Auch das gelang wie am Schnürchen.
„Lass die Zügel ganz lang, genug für heute“, sagte Iris. „Das nächste Mal kommt der Rollback dran. Du kannst dir die Übung schon mal einprägen – mentales Training, gleich morgens nach dem Aufwachen! Ich erklär’s dir. Alles Paletti kann ja alles, oder fast alles. Er lernt schnell.“
Als ich den Sattelgurt lockerte und den langen Lederriemen zu einer Krawatte schlang, klangen Iris` Worte in mir nach. Galoppieren, Beine ausstrecken, stoppen und aus der Stoppbewegung heraus eine 180°-Drehung um die Hinterhand. Dann auf der anderen Hand weiter. Rollback. Schnell und flüssig, dass kaum Übergänge zu sehen sind, und das Pferd in seiner eigenen Spur zurückgaloppiert. Ich sah alles genau vor mir. Ging doch, oder? Für den Bruchteil einer Sekunde durchflutete mich ein prickelndes Glücksgefühl, das mich immer packte, wenn uns eine Übung gelungen war. „Wir schaffen es“, flüsterte ich Alles Paletti ins Ohr und strich ihm über die Mähne. Gleich morgen würde ich anfangen: Augen aufschlagen und anfangen. Und dann schnell noch eine Tasse Kaffee und ab in den Stall. Satteln und richtig anfangen.
So hätte es weitergehen können, doch das wäre eine andere Geschichte geworden. Eine ganz andere. Ich musste eine andere Bedeutung von Rollback kennenlernen und feststellen, dass sie ziemlich wenig mit Glück zu tun hatte.
Vor der Sattelkammer wartete Tom auf mich, der Pächter des Leierhofs. „Kennst du den Mann?“, fragte er und deutete mit dem Kopf in Richtung Hoftor.
„Welchen Mann?“ Meistens konnte ich mir einen Reim auf Toms übergangslos gestellte Fragen machen, aber in diesem Augenblick wusste ich wirklich nicht, wen er meinte. Aber da fiel es mir wieder ein. Der Typ am Hallentor, der gerade, als wir unseren Stopp hingelegt hatten, wie ein Schatten vorbeigehuscht war? Jemand, der mich beobachtet und sich dann schnell weggeduckt hatte?
„Da hat vorhin einer nach dir gefragt. Keine Ahnung, vielleicht will er dein Showpferd kaufen?“
„Mein Showpferd kaufen?“ Alles Paletti? Nines erstes Fohlen, meinen quirligen kleinen Hengst, den wir kurz AP riefen? Schon wahr, Iris wollte ihn zum Westernpferd ausbilden, aber von Verkaufen war nie die Rede gewesen und von ‚Show‘ schon gar nicht, und wenn, dann hätte ich mich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt.
„Wie kommst du auf so eine Idee?“ Es kam mir wie Verrat an AP vor und ich hoffte, dass er nicht zugehört hatte. Sicher war ich mir nicht, denn er bekam immer irgendwie alles mit, wenn es um ihn ging.
„Hast ja recht, never change a winning team, stimmt’s?”, sagte Tom augenzwinkernd. „Vielleicht wollte der Typ auch nur beim Training zusehen und ist wieder gegangen, als ihr fertig wart.“
„Dann muss er halt bis zum nächsten Mal warten, Iris fährt heute wieder ins Jura zurück.“
Es sollte kein nächstes Mal geben. Bevor wir den Rollback üben konnten, dauerte es noch eine ganze Weile. Vorher erwischte er mich im wirklichen Leben. Es war, als hätte mich eine unsichtbare Hand irgendwo hart abgesetzt und in eine andere Richtung getrieben. Bei meiner abrupten Wendung ging einiges zu Bruch, ich konnte nichts tun, als die Scherben aufzusammeln und die Erzählsplitter zu einer Geschichte mit Anfang und Ende zu ordnen.
Mit dem Job fing es an. Mein Vertrag wurde wieder einmal nicht verlängert, diesmal war es endgültig. Mit dem Arbeitslosengeld konnte ich die Box für Alles Paletti und für Nine auf dem teuren Leierhof nicht mehr stemmen. Nine stand glücklicherweise noch bei Iris im Schweizer Jura, ihr drittes Fohlen würde im Herbst zur Welt kommen, dann wollte ich sie wieder zurückholen. Bis dahin musste ich natürlich die Miete für ihre leere Box auf dem Leierhof bezahlen und das war ein ganz netter Batzen. Meine Pferde, meinen Job, das regelmäßige Gehalt, all das hatte ich für feste, unverbrüchliche Bestandteile meines Lebens gehalten. Doch plötzlich war es nichts als ein schöner Traum, der wie eine Seifenblase zerplatzte.
Leider war das noch nicht alles und nicht einmal das Schlimmste. Aller guten Dinge sind drei, unkte mein Kollege Helmut, und genauso kam es. Das dritte ‚Ding‘ war alles andere als gut, denn es betraf Gerson.
Gerson, mein Lebenspartner und bester Freund, der zu mir stand in guten und in schlechten Tagen bis zu diesem Zeitpunkt zumindest. Er war der einzige, für den ich im Restaurant ohne zu fragen etwas von der Speisekarte hätte auswählen können und es hätte ihm geschmeckt. Auch damit war es jetzt vorbei.
Sein Geständnis traf mich wie ein Blitz in schwarzer Nacht, obwohl ich mir eingestehen musste, dass sich die Katastrophe schon länger angekündigt hatte. Ich hatte die Zeichen einfach nicht erkannt. Die Neue hieß Cora, sie wollte ein Kind von ihm, Pferde ließen sie kalt, das änderte alles.
Sie war Gersons Assistentin, zehn Jahre jünger als ich, klein und pummelig, aber unglaublich schlagfertig und witzig. Ein Kind, hämmerte es hinter meinen Schläfen. Gerson und ich hatten uns nie ernsthaft Gedanken über eigene Kinder gemacht, und wenn er das Thema ein- oder zweimal angeschnitten hatte, dann hatte er es schnell wieder fallen lassen. Doch jetzt musste ich mir eingestehen, dass ich ihn nie nach seinen Wünschen gefragt hatte. Ich hatte ganz selbstverständlich angenommen, dass er meine Pferdeleidenschaft verstand, weil ihm klar war, dass die Pferde bei mir an erster Stelle standen.
Auf einmal fügte sich eins zum anderen: Seine langen Fotosafaris in der Camargue, die Anrufe zu allen möglichen und unmöglichen Tages-und Nachtzeiten, seine plötzlichen Aufbrüche, wenn wir gerade die vorletzte Flasche Ulisses Lima öffnen wollten. Zugegeben, was unsere Verabredungen anging, war ich auch nicht gerade zuverlässig gewesen; Nine hatte nur zu oft unsere gemütlichen Abende durcheinandergebracht, weil sie eine Kolik oder Husten hatte und ich im Stall auf den Tierarzt warten musste. Wenn ich weg musste, kümmerte er sich um Maxi. Nicht nur, weil er sich verpflichtet fühlte, sondern weil er es gerne tat und die beiden sich mochten.
Sie war elf, als sie zu uns kam. Eigentlich hieß sie Jaqueline, ein Name, den sie hasste, weil sie alle Leute auf dem Leierhof und in der Schule ‚Schackeline‘ riefen. Sie nannte sich Maxi, eine kleine, stämmige Person, mit dunklen, mandelförmigen Augen, die ihr in manchen Situationen einen schlangenartigen Ausdruck verliehen. Wenn sie jemand mit ihrem richtigen Namen ansprach, antwortete sie nicht, bis die Leute sie Maxi nannten und Schackeline für immer vergaßen.
Ihre Mutter war Alkoholikerin, sie schickte ihre Tochter zur ‚Tafel‘ zum Einkaufen, ließ sie stundenlang den Hausflur schrubben oder sperrte sie wegen des kleinsten Vergehens in den Keller. Das ließ sich Maxi nicht gefallen, sie entwischte durch das Kellerfenster und flüchtete zu uns in den Stall. Dort fand ich Nine und sie eines Abends aneinandergeschmiegt im Stroh liegen. Von da an kam Maxi regelmäßig, striegelte Nines Fell, kratzte ihre Hufe aus, putzte sogar freiwillig das Sattelzeug. So lange, bis ich ihr Reitstunden gab. Von da an gehörten wir drei zusammen.
Eines Tages stand sie mit ihrem Rucksack vor unserer Wohnungstür. „Kann ich heute Nacht bei euch schlafen?“ Ihre Mutter hatte in einem Wutanfall die ganze Wohnungseinrichtung zertrümmert; die Nachbarn hatten die Polizei gerufen; sie wurde in die Psychiatrie eingeliefert und später zur Entziehungskur geschickt. Maxi hatte erst am nächsten Tag von dem Zusammenbruch ihrer Mutter erfahren, weil sie bei Nine, die einen schlimmen Husten hatte, im Stall übernachtete. Das war ihr Glück, denn wenn sie zuhause gewesen wäre, wäre sie vermutlich gleich im Heim gelandet. Aus einer Nacht wurden zwei, dann drei – sie blieb eine ganze Woche und dann war klar, dass ihre Mutter so bald nicht wieder zurückkäme.
Maxi wurde unsere Pflegetochter. Wir richteten für sie unser kleines Gästezimmer her, das den Anforderungen des Jugendamtes entsprach. Es war ihr erstes eigenes Zimmer, das sie sich so gestalten durfte, wie es ihr gefiel. Gerson schenkte ihr eine kleine Kamera und brachte ihr das Fotografieren bei, sie tapezierte die Wände mit selbstgeschossenen Fotos von Nine und später auch von Alles Paletti. Sie sog alles gierig auf, was wir ihr boten – abends nach der Arbeit spielten wir zu dritt Federball auf der Neckarwiese oder machten Fahrradtouren am Neckarufer entlang. Manchmal packten wir ein Picknick ein und wanderten auf den Heiligenberg zur Michaelsbasilika. Wenn wir zusammen Nines Box ausmisteten oder Jakobskreuzkraut auf der Koppel ausrissen, erzählte ich ihr Geschichten aus meiner Kindheit; so wuchsen wir mehr und mehr zusammen und jeder, der uns sah, hielt uns für eine richtige Familie.
Vielleicht hatte es damals schon angefangen, ganz sicher sogar, aber das hatte ich einfach nicht bemerkt.
Ich wünschte Cora zur Hölle, nannte sie insgeheim eine dicke, dumme Pute und reihte ein Klischee ans andere. Sie war nicht einmal Reiterin! Aber was hätte das geändert? Bestimmt nichts. Gerson zog Hals über Kopf aus unserer gemeinsamen Wohnung aus, weil er für Cora und sich eine neue Wohnung gemietet hatte. Fahrten zu Ikea, Kinderzimmer zusammenbauen, Schwangerschaftsyoga, mir wurde schlecht bei dem Gedanken. Als er seine Habseligkeiten ausgeräumt und seine Bücher, Fotos und Kameras von den Regalen genommen und mir seinen Schlüssel ausgehändigt hatte, sagte er: „Wir bleiben in Verbindung, Vera.“ Ich schluckte meine Tränen hinunter und schwieg. Er schaute mich kurz an, ich bekam Herzklopfen, es war mir, als ob er mich umarmen wollte, doch er sagte: „Du hast doch Nine und Alles Paletti“, drehte sich um, kam noch einmal zurück und fügte hinzu: „Und Maxi.“
Er hatte es so dahingesagt, um mich zu trösten, und er hatte recht. Ich hatte Maxi. In der Zeit nach der Trennung wuchsen wir noch mehr zusammen. Wir fanden eine kleinere, günstige Wohnung in einem idyllisch gelegenen Gartenhäuschen am Rande des Odenwalds. Wir durften den verwunschenen Garten mit seinen alten Holunder- und Fliederbüschen pflegen und im Herbst Äpfel und Quitten ernten und den Rasen mähen. Maxi war begeistert. „Wir ziehen unser eigenes Gemüse“, sagte sie. Sie ernährte sich hauptsächlich von Grünzeug und Gemüse und arbeitete sich allmählich in vegane Sphären vor. Sie musste jetzt jeden Morgen um 6 Uhr aufstehen, fuhr mit dem Bus zur Schule nach Weinheim und war eine Stunde unterwegs. Freitags nahm sie an den ‚Future Demonstrationen für den Klimaschutz teil, was ihr ermöglichte, länger im Bett zu bleiben. Sie kam jetzt nur noch einmal in der Woche zu Alles Paletti, weil der Leierhof zu weit von unserer neuen Wohnung entfernt lag.
Wenn wir beide abends zu Hause waren, machten wir es uns auf dem Sofa gemütlich. Maxi kuschelte sich in eine Decke, ich setzte mich zu ihr, sie hielt mir ‚Die Abenteuer des Tom Sawyer‘ unter die Nase, die sie beim Auspacken meiner Bücherkiste entdeckt hatte. „Lies mir was vor!“
„Tom – keine Antwort. Tom! – Tiefes Schweigen. Möchte wissen, wo der Bengel wieder steckt! To–om!“ Die Stelle wurde bei uns zum geflügelten Wort; wenn ich Maxi im Stall oder sonst wo suchte oder sie mich, riefen wir zum Spaß ‚Tom!‘ Und wenn sie oder ich nicht gleich auftauchten, fügten wir hinzu: ‚Tiefes Schweigen’, was uns regelmäßig zum Lachen brachte. An diesen Abenden verwandelte sich Maxi in das kleine Mädchen, das sie bei ihrer Mutter nie hatte sein dürfen.
Dass sie nicht wirklich zufrieden war und ihr der tägliche Umgang mit Alles Paletti fehlte, konnte ich gut verstehen. Immer öfter erzählte sie mir, was sie nach ihrem 16. Geburtstag alles machen wollte. Erst einmal fieberte sie ihrem 14. Geburtstag entgegen. Dann wären es nur noch zwei Jahre bis 16 und dann finge das an, was sie das ‚richtige Leben‘ nannte. Sie hatte sich über ihre neuen Rechte informiert und wollte spätestens einen Tag nach ihrem Geburtstag nach Amerika fliegen um auf einer Working Ranch zu arbeiten, den ganzen Tag im Sattel sitzen und den Cowboys helfen. Abgesehen davon kam sie jede Woche mit neuen Ideen, die immer abenteuerlicher wurden. Das letzte Mal hatte sie auf einem Rettungsschiff im Mittelmeer anheuern und Ertrinkende aus dem Meer fischen wollen. Und davor hatte sie sich auf einer Alm in den Schweizer Bergen zusammen mit den Tieren einschneien lassen wollen. Oder sie wollte sich einer radikalen Tierschutzgruppe anschließen, die eingepferchte Schweine befreite. Maxi liebte Geschichten, da waren wir uns ähnlich.
Mir blieb nichts anderes übrig, als mich mit meiner traurigen Lage abzufinden. Und das bedeutete zuerst einmal Arbeit und noch einmal Arbeit, was mich immerhin davon abhielt, mich in meinem Elend einzurichten.
Ich nahm alle möglichen Aufträge als Ghostwriterin an, schrieb Bachelor-Arbeiten für alleinerziehende Studentinnen oder die Lebensgeschichten reicher alter Leute, die vor Eitelkeit platzten und nicht wussten, wohin mit ihrem Geld. Nach Feierabend schrieb ich manchmal auch kleine Geschichten, in denen ich meiner Phantasie freien Raum ließ. Sie handelten meistens von Reiterinnen, die sich durch irgendwelche Zufälle und Schicksalsschläge in ihren kühnsten Träumen wiederfanden. Eine von ihnen wurde von einer Nomadenfamilie in Kasachstan adoptiert und ritt mit ihnen durch die Steppe von einem Weidegrund zum anderen. In einer anderen erbte die Protagonistin sehr viel Geld von einem entfernten Verwandten, der auf einer Kreuzfahrt im Swimmingpool ertrank. Mit dem Geld erfüllte sie sich einen Lebenstraum: Sie baute ein Reitzentrum auf und heiratete ihren 20 Jahre jüngeren Reitlehrer. Zugegeben, die Geschichten waren nicht besonders originell, doch sie boten mir kleine Fluchten, die mich für die Zeit des Schreibens meine ausweglose Lage vergessen ließen. Ich schickte die Geschichten an alle möglichen Wettbewerbe, und hoffte jedes Mal aufs Neue auf einen kleinen Geldpreis, ich erhielt jedoch nie eine Antwort, nicht einmal eine Eingangsbestätigung.
Nebenbei machte ich eine Online-Ausbildung zur Privatdetektivin. Die Idee, mit dem Schnüffel-Job Geld zu verdienen, ließ ich bald wieder fallen. Ich hatte keine Lust den Rest meines Lebens in Kaufhäusern hinter Vorhängen von Umkleidekabinen herum zu stehen und Mädels in Maxis Alter beim Klauen zu erwischen. Der Basiskurs ‚Grundbegriffe‘ war trotzdem hilfreich. Ich lernte neue Recherchemethoden kennen und bewegte mich problemlos im Darknet, was meinen Geschichten Pfiff gab. Manchmal konnte ich sogar eine Geschichte an die Tageszeitung verkaufen.
Ohne meinen ‚nine to five‘-Bürojob konnte ich mir immerhin meine Arbeitszeit frei einteilen. Für eine Pferdefrau wie mich war das ein entscheidender Vorteil. Im Grunde hätte ich jetzt viel Zeit für meine Pferde gehabt, doch nun fehlte mir das nötige Kleingeld für mein teures Hobby. Ich musste an Gerson denken, der immer, wenn er wütend auf mich war, sagte: ‚Reiten ist entweder ein Sport für Aristokraten mit Dienerschaft oder für Millionärinnen‘. Dass darin ein Fünkchen Wahrheit lag, musste ich inzwischen zugeben. Ich gewöhnte mir an, meine Teebeutel zweimal aufzubrühen, aber das stopfte die Löcher in meinen Taschen auch nicht.
Iris goss Öl auf meine Wunden. „Maxi ist begabt, ein Naturtalent, wir sollten sie unbedingt fördern. Ich würde sie gern auf meinen Hof mitnehmen. Ich fange bald ein Sozialprojekt mit Jugendlichen an, da könnte sie Reitstunden geben.“
„Iris!“ Ich versuchte ja alles um unsere miese Situation zu ändern, hatte sogar angefangen im Lotto zu spielen, doch Iris’ Vorschlag half uns bestimmt nicht weiter. „Das verrate ich ihr lieber nicht“, sagte ich. „Sie ist imstande und schmeißt hier alles hin. Sie muss zumindest die Mittlere Reife machen.“
Maxi traf Gerson regelmäßig in der Stadt in einem Café, oder bei den Fridays-for-future-Demos, die er als Fotojournalist begleitete. Ich wusste, wie wichtig diese Treffen für sie waren; wenn sie zurückkam, sprühte sie vor guter Laune, doch ich verbot ihr, mir etwas davon zu erzählen.
Bald musste ich feststellen, dass alle meine Sparmaßnahmen nichts brachten, ich vergaß die Teebeutel und brühte meinen Tee wieder nur noch ein Mal auf. Meine Schreibarbeiten brachten kaum etwas ein, und die Boxenmiete für AP und Nine auf dem Leierhof verschlang meine Ersparnisse; es half alles nichts, ich musste mich an den Gedanken gewöhnen, AP zu verkaufen und mir eine kostengünstige Lösung für Nine zu überlegen.
Ich wartete eine Weile, bevor ich mit Maxi darüber sprach, obwohl ich den Eindruck hatte, dass sie meine Absicht schon längst erraten hatte. Sie machte einen bedrückten Eindruck und war einsilbig, ganz im Gegensatz zu ihrer natürlichen Erzählfreude; wenn wir zusammen im Stall waren, brauchte sie ewig, bis sie sich von AP verabschiedet hatte, schlang die Arme um seinen Hals und flüsterte ihm Versprechungen ins Ohr: ‚Ich will dich nie vergessen, wir bleiben zusammen, versprochen‘ oder so ähnlich. Sie färbte sich die Haare blau, am nächsten Tag grün und bekam dicke Pickel auf der Stirn. Als ich mich endlich aufraffte, um mit ihr über meine Entscheidung zu reden, standen Tränen in ihren Augen. „Warum müssen wir uns von allen trennen? Nine, Gerson und jetzt auch noch AP?“, brachte sie heraus. Ich konnte sie gut verstehen, doch was hätte ich anderes tun sollen? Und dann sagte sie noch etwas, das mich erschütterte: „Glaub bloß nicht, dass ich mich von dir adoptieren lasse, jetzt wo du AP verkaufen willst.“ Sie ahnte bestimmt nicht, wie sehr mich diese Drohung traf. Gerson und ich hatten noch vor kurzem mit dem Gedanken gespielt; doch jetzt hatte er uns verlassen und die schöne Vorstellung von einer richtigen Familie war wie eine Seifenblase in der Luft zerplatzt.
Joey
Wenn ich Joey nicht kennengelernt hätte, hätte ich nicht gewusst, was tun.
Als er das erste Mal bei uns auftauchte, zauberte Maxi gerade ihre Lieblingsspaghetti mit selbstgemachter Tomatensoße und Basilikum. Sie wusste nicht, dass ich mit Joey über den Verkauf von AP reden wollte, und lud ihn kurzerhand zum Essen ein. Er schaute in den Kochtopf und sagte: „Das nächste Mal bringe ich ein Pfund Hackfleisch mit.“ Das hätte ins Auge gehen können, doch Maxi schien seine Bemerkung überhört zu haben. Oder war es deshalb, weil sie mit Käpt’n Nemo flirtete, der schwanzwedelnd zu ihr aufsah? Der grau-braune Rüde mit dem treuem Boxerblick und den lustigen Fledermausohren kam mit Joey im Doppelpack. Der eine war ohne den anderen nicht zu haben.
„Netter Kerl“, sagte Maxi später beim Geschirrspülen. „Obwohl er Fleisch isst! Leichenteile von toten Tieren! Aber seinem American Staffordshire gibt er nur Gemüse! Wie cool ist das denn!“
„Was?“ Ich konnte es nicht glauben. „Bist du sicher? Der sanft blickende Nemo soll ein bissiger Kampfhund sein?“ Erst gestern hatte ich in der Zeitung gelesen. dass so ein Hund ein Kind schwer verletzt hatte.
„Es kommt auf die Erziehung an“, sagte Maxi altklug. „Wenn du Kampfmaschinen aus ihnen machst, dann beißen sogar die liebsten Boxer. Nemo ist da ganz anders erzogen!“
Keine Ahnung, woher sie das so genau wusste, doch ich hütete mich, ein falsches Wort zu sagen und konzentrierte mich aufs Abtrocknen.
„Sag mal Vera, wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt? Du und Joey? Irgendwie passt er doch gar nicht zu dir?“
„Wieso? Er ist Reitlehrer und vermittelt Pferde. Er hat vielleicht eine Käuferin für AP gefunden.“ Jetzt war es heraus, eigentlich hatte ich es ihr schonender beibringen wollen, und ich bereute meine Unachtsamkeit sofort, als ich ihren Gesichtsausdruck sah.
„Ach, ist er nur deshalb gekommen?“, sagte sie. Ich sah ihr die Enttäuschung an der Nasenspitze an, doch ich konnte ihr nicht helfen, es war die Wahrheit.
„Heißt er wirklich Joey?“
„Ich glaube schon.“
„Ob es nicht vielleicht ein Cowboy-Pseudonym ist?“, hakte Maxi nach. „Es gibt doch diese Clubs, wo sich die Leute anziehen wie im Wilden Westen und sich andere Namen geben.“
Mir gefiel ‚Joey‘, der Name erinnerte mich an eine Fernsehserie in meiner Kindheit. Vielleicht hatte ich deshalb nicht nachgefragt. Es hätte mich stark mitgenommen, wenn er Klaus Dieter oder Otto geheißen hätte.
„Soll ich dir erzählen, wie wir uns kennengelernt haben?“, sagte ich.
Sie tauchte einen Teller ins Wasser und sagte: „Fang an!“
„Also gut, pass auf.“ Ich griff in meine Hosentasche und zog einen kleinen silbernen Anhänger heraus. Eine winzige Kröte, wie man sie auf Indianermärkten in den USA bekam. „Das hat er mir geschenkt.“ Sie nahm sie mir aus der Hand und sagte: „Wow! Ein Krafttier!“
„Ja und?“
„Warte mal“, sagte sie, verschwand und kam mit einem Heftordner zurück. Sie schlug die erste Seite auf: „Hier steht es: ‚Die Kröte hat ihren ganz eigenen Zugang zu Schätzen, Weisheiten und Wesenheiten, die mit der Erde in Verbindung stehen. Das Krafttier Kröte macht auf Magie und Naturverbundenheit aufmerksam‘.“ Sie schlug das Heft zu und sagte stolz: „Meine neue Schule! Sowas kommt bei uns jetzt in Geographie und Englisch dran. Macht richtig Spaß!“
Maxi beeindruckte mich. „Warum meinst du, hat er sie mir geschenkt?“
„Die Kröte soll dir helfen. Aber nur, wenn du sie wirklich brauchst, man darf sie nicht ausnutzen, das nimmt sie übel. Erzähl jetzt endlich von Joey!“
„Aller guten Dinge sind drei“, sagte ich.
„Wieder so ein Spruch, Vera, erzähl schon!“
„Das erste Mal habe ich ihn bei Aldi getroffen. Ich wollte mir eine Flasche Prosecco leisten, weil ich für meine Bachelorarbeit eine eins bekommen hatte – naja, nicht ich, sondern die alleinerziehende Studentin, für die ich die Arbeit geschrieben hatte. Hinter mir stand dieser Typ mit seinen schulterlangen Haaren und einer türkisblauen Halskette; die Verkäuferin scannte die Flasche ein und sagte: 5,45 €. Ich hatte aber nur 5,40 € in der Tasche, mehr nicht. Wollte die Flasche schon wieder zurückstellen, da zog er 5 Cent aus der Hosentasche und gab sie mir.“
„Fünf Cent! Echt toll!“, sagte Maxi mit gespielter Bewunderung. „Und wie ging’s dann weiter?“
„Auch wieder so ähnlich – ich war unterwegs zu einem kleinen Schnüffeljob, Hausaufgabe für den VHS Kurs, du weißt schon: ‚Undercover für Anfänger‘, plötzlich merke ich, wie mein Volvo so verdächtig hoppelt. Ich fahre rechts ran, komme gerade noch bis zu einer Hofeinfahrt, halte an, steige aus und sehe: Der Reifen ist platt.“
„Halt, stopp“, rief Maxi. „Lass mich mal! Da hält ein verstaubter Pickup, der so aussieht, als ob er gerade den Grand Canyon durchquert hätte, es steigt ein Typ aus – schulterlanges Haar, diesmal zum Pferdeschwanz gebunden und ein nicht angeleinter moppeliger Amstaff, ein Kampfhund, der nur vegane Kekse anrührt.“
„Und der Typ hat megalange Sporen an den Cowboystiefeln“, nahm ich ihr das Wort aus dem Mund. „Und eine türkisblaue Halskette. ‚Darf ich dir den Reifen wechseln‘, sagte er.“
„Hat er wirklich ‚darf‘ gesagt?“
„Hm, festlegen will ich mich da nicht.“
„Und wie geht’s weiter?“
„Im Selbstverteidigungskurs in der VHS ist er als Trainer eingesprungen und hat mich zwei Mal aufs Kreuz gelegt. Beim dritten Mal hat mein Körper reagiert, quasi ohne mein Zutun. Angezogenes Knie, ein Tritt ins Zentrum wie ein Pfeil, alles in einer einzigen fließenden Bewegung. Und ich bin aufrecht stehengeblieben ohne zu zittern. Das hat ihm gefallen und mir noch mehr. Ich habe ihn zum Bier eingeladen.“
Maxi sah mich ungläubig an.
„Naja, oder so ähnlich“, gab ich zu. „Er trinkt keinen Alkohol.“
„Und er heißt wirklich Joey?“, fragte sie das dritte Mal.
„Ich glaube schon, wie in ‚Fury‘. Der Junge und sein Pferd – die beiden gingen miteinander durch dick und dünn.“ Sie waren Freunde fürs Leben, dachte ich und für einen Augenblick wurde mir ganz sentimental ums Herz, ein Freund wie Fury, das war es, was mir gerade am meisten fehlte.
„Die Kröte hat er dir dann nach dem Bier gegeben?“
Ich grinste ohne zu antworten. Aber genauso war es.
Am Wochenende sahen wir Joey beim Reitunterricht auf der Go-West-Ranch zu. So nannte er den kleinen Bauernhof am Ende des Tals, wo er der Künstlerin Lydia Krall Reitunterricht auf seinem alten Paintwallach Cloud gab. Er half ihr beim Satteln und zeigte ihr mit Eselsgeduld, wie sie den langen ledernen Sattelgurt dreimal durch die Öse schlingen musste, ohne ihn zu verknoten, wie sie die Steigbügel in die richtige Länge bringen konnte, ohne die komplizierte Riemenkonstruktion auseinanderfallen zu lassen und wie sie dem Wallach die martialisch aussehende Kandare hinter seine drei übriggebliebenen Zähne schieben sollte. Während des Leichttrabens gab er eine lustige Geschichte nach der anderen zum Besten, lobte seine Reitschülerin überschwänglich, wenn es ihr nach drei vergeblichen Versuchen gelungen war, Cloud nach Galopp zu fragen. „Nice!“, sagte Joey nach jeder Schrittpause in einem Ton, der keinen Zweifel zuließ; aber Maxi sagte, er sei nicht nur ein guter Reitlehrer, sondern auch ein richtiger Mann und Lydia habe sich in ihn verguckt. Was Maxi unter einem ‚richtigen Mann‘ verstand, wusste ich nicht, aber ganz falsch lag sie nicht damit. Er war ganz anders als die schnieken Dressurreiter in ihren blankgewichsten Lederstiefeln, die ich kennengelernt hatte: Er lief meistens in Arbeitsschuhen mit den Metallkappen herum, die er zum Reiten mit seinen staubigen Cowboystiefeln vertauschte, an denen dicke Rädchensporen prangten. Er war nicht viel größer als ich, aber muskulös und kräftig, konnte seinen früheren Job als Bodybuilder nicht verleugnen. Joey machte auf jedem Pferd eine gute Figur, geschmeidig und stark zugleich. Für das Turnier – ich sagte immer noch Turnier, konnte mich an ‚die Show‘ einfach nicht gewöhnen –, wienerte er seine guten, spitzen Cowboystiefel, bis sie glänzten, zwängte sich in seine schwarzen Jeans, die beim Waschen immer ein bisschen mehr eingingen und legte den breiten Gürtel mit der silbernen Gürtelschnalle an, die so groß war, dass sie seinen leichten Bauchansatz vorteilhaft verbarg. Er setzte seinen Stetson auf und machte das verwegenste Gesicht, das er zur Verfügung hatte. So gewann er die meisten Prüfungen.
„Ein Reiter eben“, sagte Maxi, „und garantiert nicht schwul.“