Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2021 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln
Internet: http://www.grafit.de
E-Mail: info@grafit.de
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt von der Verlagsagentur Lianne Kolf, München.
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/sharpner (Männer), Clash_Gene (Frau)
Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-89425-785-9
Marcel Huwyler wurde 1968 in Merenschwand / Schweiz geboren. Als Journalist und Autor schreibt er Reportagen über seine Heimat und Geschichten aus der ganzen Welt. Er lebt an einem See in der Zentralschweiz.
www.marcelhuwyler.com
instagram.com/marcel_huwyler_schreibt
facebook.com/marcelhuwyler.schreibt
Für Frau Gygax, die doch gar nicht so heißt
Anfang der 1990er-Jahre entwickelten die US-Streitkräfte ein neuartiges Narkosemedikament für ihre Kriegschirurgen in den Feldlazaretten an der Front. Die Substanz hieß »Proxoten-F« und versetzte verwundete Soldaten auf dem OP-Tisch schneller und tiefer in eine Bewusstlosigkeit als jedes andere Betäubungsmittel. Eine der Nebenwirkungen indes, höllische Halluzinationen im Aufwachstadium, war so massiv, dass Proxoten-F noch in der praktischen Testphase – während der Operation »Desert Storm« im Zweiten Golfkrieg – abgesetzt wurde.
Doch wie so viele exklusive und schützenswerte Erfindungen gelangte die chemische Formel sehr schnell und sehr illegal nach China, wo die Substanz fortan in inoffiziellen Fabriken und vom Staat geduldeten Panscherbuden hektoliterweise produziert wurde. Auf dem Schwarzmarkt war die Arznei nämlich heiß begehrt. War Proxoten-F anfangs ein beliebtes, weil billiges und in geringer Dosis gut verträgliches Rauschmittel, trat das Zeug seinen weltweiten Siegeszug schließlich in einem ganz anderen Anwendungsbereich an – als K.-o.-Tropfen, bevorzugte Betäubungswaffe von Vergewaltigern und Dieben. Die Emulsion war geruch- wie geschmacklos und bereits nach kurzer Zeit im Körper nicht mehr nachweisbar. Und sie war weiß.
Weiß wie Kuhmilch.
***
Die Zielperson ließ sich im Wohnraum ihres Apartments auf das büffellederne Sofa plumpsen und trank, wie stets nach Feierabend, einen ganzen Liter eisschrankkühler Milch direkt aus der Kartonpackung. Nach fünf gierigen Schlucken hielt die Person inne, schnalzte mit der Zunge und tat einen halb unterdrückten Rülpser, ehe sie weitertrank. Unversehens rutschte ihr der Karton aus der Hand und pflatschte auf den Parkettboden, wo sich ein mehrarmiger Milchfjord ausbreitete. Die Zielperson glotzte an die gegenüberliegende Wohnzimmerwand, ihr Blick kuhäugig wie eine Mangafigur, der Kopf in unregelmäßigen kleinen Achten kreiselnd. Dann klappten ihr der Mund auf und die Augen zu. Und die ausgeknipste Zielperson kippte mit dem Oberkörper ruckartig wie ein Sekundenzeiger auf die Sitzfläche des Sofas.
Kurze Zeit später klickerte erst und knackte dann das Sicherheitsschloss der Wohnungstür auf befremdliche Weise und drei Männer betraten das Apartment. Dank ihrer krokuslila Einwegnitrilhandschuhe und den weißen Schuh- und Haarüberzügen aus Polyurethan würden sie nach ihrem Auftritt spurlos verschwinden. Sie sprachen kein Wort, verständigten sich mit Gesten und bewegten sich so zielstrebig, wie nur Eindringlinge es tun, die sich minutiös auf ihr Einsatzobjekt vorbereitet haben.
Mann Nummer eins sammelte drei drahtlose Funkvideokameras in Streichholzschachtelgröße ein, die er vier Tage zuvor in der Deckenlampe des Wohnzimmers, im Blumentopf eines Ficus-Gerippes im Schlafraum und zwischen den Lamellen der Badezimmerlüftung angebracht hatte.
Mann Nummer zwei entsorgte in einer mitgebrachten Mülltüte die drei verbliebenen Milchpackungen aus dem Kühlschrank, in die er heute Morgen, nachdem die Zielperson zur Arbeit gefahren war, Proxoten-F injiziert hatte. Die kontaminierte Ware tauschte er jetzt gegen frische Milch selber Marke aus. Die Tatsache, dass er darauf geachtet hatte, dass die ausgewechselten Packungen das gleiche Mindesthaltbarkeitsdatum aufwiesen wie die Originale, machte deutlich, warum er und seine Teammitglieder ihre Spitzenhonorare wert waren.
Die umgekippte Packung auf dem Parkettboden vor dem Sofa landete ebenfalls in der Mülltüte. Die Milchpfütze wischte Nummer zwei mit einem Mikrofasertuch auf und besprühte die Stelle anschließend mit einem Spray, den er aus der Beintasche seiner schwarzen Cargohose gezogen hatte. Zuletzt drapierte er eine neue, halb leere Milchpackung auf dem Beistelltisch neben dem Sofa. So würde sich der Zielperson beim Aufwachen eine völlig schlüssige Szenerie darbieten.
Oh Mann, muss ich gestern kaputt gewesen sein. Bin hier eingepennt. Habe es nicht mal geschafft, die angebrochene Packung in den Kühlschrank zurückzustellen.
Der dritte Mann schließlich hockte sich mit einer Gesäßbacke auf die Sofakante neben die bewusstlose Person. Einem Metallkästchen entnahm er eine Einwegspritze, ein Stück Mull und einen Desinfektionsspray. Damit machte er sich an der linken Armbeuge der Zielperson zu schaffen.
Siebzehn Minuten nach ihrem Einbruch verließen die drei Besucher die Wohnung wieder. Der gesamte Einsatz hatte weniger Zeit beansprucht, als sie geplant hatten. Nicht dass sie sich hätten beeilen müssen. Das Proxoten-F hatte dem neuronalen Netzwerk im Gehirn der Zielperson so was von den Stecker gezogen.
Miguel Schlunegger würde frühestens in drei Stunden erwachen.
Der Mann Gottes fuhr, als wäre der Teufel hinter ihm her.
War der ja auch.
Der Mann Gottes war morgens um halb vier, nach der dritten schlaflosen Nacht voller Endzeitgedanken und Panikattacken, aufgestanden, hatte zivile Kleidung angezogen, eine Reisetasche gepackt und sein Laptop sowie einen dicken Packen Papier in einen kleinen Rollkoffer gesteckt. Das Apartmentgebäude an der Casa Santa Rita Numero 66, in dem sich seine Dienstwohnung befand, verließ er durch einen Nebenausgang, vor dem um diese Zeit kein Gardist wachte. Während des kurzen Fußmarschs zum unterirdischen Parkhaus am Ende der Via San Bartolomeo klemmte er sein Rollköfferchen unter den linken Arm, damit die Räder auf dem Kopfsteinpflaster keinen Lärm verursachten. Als ranghoher Geistlicher in seiner Position stand ihm eine Limousine samt Chauffeur zur Verfügung, die er für seine Geschäftsfahrten täglich nutzte. In seiner Freizeit hingegen steuerte er gern auch einmal selbst eines der kleineren, schnittigeren Autos, die zum Fuhrpark gehörten.
Mit der Schlüsselkarte öffnete er die Lifttür zum Parkhaus und fuhr vier Stockwerke in die Tiefe, wo er sich an einem Bildschirmterminal per Code einen Fiat Abarth buchte. Eine italienische gelbe Rennkugel mit wenig Platz, angenehmen Extras und zu vielen PS. Das Navigationsgerät ließ er ausgeschaltet, den Weg kannte er auswendig. Zweimal im Jahr reiste er von Rom ins Klosterdorf St. Michael in den Schweizer Bergen, im Januar für einen zehntägigen Skiurlaub und dann für drei Wochen Ende Juli, wenn ihn die Hitze in Rom schier umbrachte. Und ans Fegefeuer erinnerte.
Normalerweise benötigte er für die Strecke achteinhalb Stunden. Jetzt, bei Nacht, wenig Verkehr und zunehmendem Verfolgungswahn, würde er es in sieben schaffen. Oder in noch kürzerer Zeit, denn er fuhr schnell, viel zu schnell, als trieben ihn seine rasenden Gedanken vor sich her. Er musste rasch handeln, musste binnen weniger Tage erschaffen, was er sich ausgedacht hatte. Sein Plan war so genial wie verzweifelt. Aber nur so konnte er sie aufhalten – und seinen eigenen Tod abwenden.
Kurz vor Parma hielt er an einer Raststätte, tankte Benzin und zwei doppelte Espresso und kaufte eine Sechserpackung Energydrinks, die ihn auf dem letzten Streckenabschnitt vor dem Sekundenschlaf bewahren sollten. Die drei schlaflosen Nächte in Folge machten sich bemerkbar. Ein nadelnder Schmerz im Hinterkopf, grollende Eingeweide und juckende Augen, als würden Sandkörner zwischen Pupillen und Lidern zerrieben. Und er sah alles giftgelb. Ja, die Welt hatte eine giftgelbe Tönung.
Wahnsinn war giftgelb.
Einen Moment lang war er versucht, auf der Raststätte ein Nickerchen zu halten, ganz kurz nur, doch Angst und Auftrag trieben ihn weiter. Sein Verschwinden musste bald bemerkt werden. Tauchte er um acht nicht im Büro auf, würde sein Erster Sekretär Ignazio ihn auf dem Festnetz anrufen, feststellen, dass er nicht in der Wohnung war, in keiner Konferenz, in keiner Audienz und auch nicht an sein privates Handy ging. Also würde Ignazio, wie es das Notfallprotokoll verlangte, den internen Servizi Segreti verständigen und der wiederum ein paar wichtige Akteure in hohen Positionen. Und von dort würde die Information bald auch seine Organisation erreichen. Meine eigenen Leute, dachte er und musste gegen seinen Willen grinsen. Dann ginge es schnell. Sie würden die Log-ins seiner Schlüsselkarte auswerten, die Buchung des Fiat entdecken, seine Biografie checken und mit dem Bewegungsmuster seines Normjahrs abgleichen, eins und eins zusammenzählen – und unverzüglich ein Team losschicken. Richtung Schweiz.
Im Schritttempo passierte er die Grenze bei Chiasso. Der italienische Zöllner stutzte, salutierte und winkte ihn mit feierlicher Geste durch. Dessen Schweizer Kollege auf der anderen Seite des Schlagbaums erstarrte ebenso und betrachtete ehrfürchtig das Nummernschild, das mit den Buchstaben SCV begann. Ein päpstliches Dienstfahrzeug außerhalb von Vatikanstadt sah man nicht alle Tage.
Kurz vor Mittag erreichte er den Ort St. Michael und das Benediktinerkloster. Es war ein hellblauer Tag. Er inhalierte tief, genoss Würze, Frische, Reinheit. Warum, fragte er sich, riecht Bergluft immer unschuldig?
Hier war er als Junge elf Jahre zur Schule gegangen und hatte im Internat gewohnt. Seither war er mit Haus und Ordensleuten freundschaftlich verbunden und betrachtete St. Michael als seine zweite Heimat.
Pater Magnus versah an diesem Tag den Pfortendienst. Als er den unangemeldeten Besucher erblickte, schoss er vom Bürostuhl auf. »Eure Eminenz, niemand hat uns Ihr Kommen angekündigt, sonst hätten wir Vorbereitungen getroffen.«
»Ein spontaner Besuch, lieber Magnus. Mir war plötzlich danach.« Er versuchte ein Lächeln und hoffte, dass ihm sein Gegenüber nicht anmerkte, wie es in ihm drin aussah. Dass sein Verstand kurz vor der Kernschmelze stand. Und der Teufel hinter ihm her war. Die Teufel.
Er war ja auch einer von ihnen.
***
»Hallo, Mama, ich bin’s, Violetta.«
Sie kauerte sich vor den Ohrensessel mit dem roten Samtbezug und umfasste Mutters Hände, die einst zierlich waren und jetzt verdorrt und gefaltet in deren Schoß lagen, als würde sie beten.
»Was hattest du denn zum Frühstück?«, fragte Violetta Morgenstern, wohl wissend, dass man der Einundneunzigjährigen, die mittlerweile gar vergessen hatte, wie man schluckte, eine Nährlösung zugeführt hatte. »Weißt du noch, wie du mir und Papa früher an Sonntagen deine fluffigen Pancakes gebacken hast? Und wir so viel Ahornsirup darüber gossen, bis du schimpftest, wir würden das Zeug ja ertränken?« Sie strich ihr langes silbernes Haar zurück und lachte auf jene überbordende Art, wie Menschen es tun, denen nicht zum Lachen zumute ist.
Elisabeth Morgenstern saß da wie eine brüchig gewordene Wachsfigur und schaute mit zugefrorenen Augen weltvergessen ins Nirgendwo.
»Es ist schön, Mama, dass du da bist.«
Nichts ist so schwer zu ertragen wie ein geliebter Mensch mit verloschener Persönlichkeit und leer geräumtem Gedächtnis.
Vierunddreißig Jahre lang hatte Violetta Morgenstern ihre Eltern für tot gehalten, verunglückt und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt bei einem Autounfall. Dann – das war erst ein Dreivierteljahr her – hatte sie erfahren, dass ihre Mama und ihr Papa seinerzeit Teil einer Geheimoperation des Schweizer Nachrichtendienstes waren, aus Sicherheitsgründen »sterben« mussten, darum untertauchten und mit neuer Identität versehen weiterlebten. Ohne dass ihre Tochter davon wusste, es hätte sie in Todesgefahr gebracht. Während Josef Morgenstern ein paar Jahre später bei einem Bergunfall tatsächlich ums Leben kam, lebte seine Frau all die Jahre weiter. Ende letzten Sommers traf Violetta ihre Mama zum ersten Mal wieder. Ein pensionierter Bundesagent, damals für die Operation verantwortlich, hatte Mutter und Tochter zusammengeführt. Hier, im Haus Flurpark, einem Pflegeheim für Menschen mit schwerer Demenz.
Vierunddreißig Jahre … Violetta hatte ihrer Mama so viel zu erzählen, hatte so viele Fragen. Es würde keine Antworten mehr geben. Was zählte, war nur noch der Moment, das unmittelbare Hier und Jetzt, und Violetta war klar, dass es auch sehr bald kein Morgen mehr geben würde.
Sie sah ihre Mama jeden zweiten Tag, meist schaute sie in der Frühe vorbei, auf ihrem Weg zur Arbeit. Die Besuche stimmten sie traurig und glücklich zugleich. Sie war nun wenigstens nicht mehr die einzige Morgenstern auf dieser einsamen Welt.
»Guten Morgen, Violetta. Der Frühling kommt. Schönes Kleid heute, gefällt mir. Wie fandest du den ›Tatort‹ gestern im Fernsehen? Deine Mutter hatte eine ruhige Nacht.« Violetta kannte niemanden, der Sätze und Themen so naht- und atemlos aneinanderreihen konnte wie Erika Pfrunder. Sie war die für Mutter Morgenstern hauptverantwortliche Schwester. Streng genommen stand »Pflegefachfrau« in ihrem Arbeitsvertrag, im Haus Flurpark war jedoch der gute alte Titel »Schwester« noch immer beliebt. Womöglich weil das familiärer klang.
Schwester Erika tunkte einen kleinen Frotteelappen in eine Tasse und betupfte damit die Lippen der Patientin. »Eisenkrauttee. Ich habe herausgefunden, dass deine Mama den besonders mag.«
»Herausgefunden? Wie denn? Ich meine, sie zeigt doch überhaupt keine Reaktion.«
»Aber hallo, so was spürt man.« Schwester Erika hatte oft diesen halb belustigten, halb gespielt entrüsteten Blick drauf. Ihre Art, mit der bitteren Situation der Patienten umzugehen.
Violetta war keine, die vorschnell Bekanntschaft schloss, Freundschaft schon gar nicht. Mit Schwester Erika hatte sie sich dagegen von Anfang an gut verstanden, was primär daran lag, dass niemand ihrer Mama näherstand als die eigentlich wildfremde Frau.
Erika Pfrunder war Anfang dreißig, nicht besonders groß, füllige Figur, blasser Hautton, das karamellblonde Haar keck kurz geschnitten. Und sie hatte das teigige Gesicht eines verwunderten Kindes. Mit ihrem Aussehen und der pludrig geschnittenen Dienstkleidung in Pastellpistazie erinnerte sie Violetta ein wenig an eines dieser »Pac Man«-Geistchen aus dem Videospiel der 1980er-Jahre.
»Na, Erika, wie ist das Wetter heute im Staate Illinois?«
»Bewölkt bei fünfzehn Grad.«
»Missouri?«
»Sonnige einundzwanzig Grad.«
»Und wo ist es am schönsten?«
»In Arizona, ganz klar. Herrliche dreißig Grad.«
»Du schaust dir tatsächlich jeden Morgen Route und Wetter im Internet an?«
»Hab neuerdings eine amerikanische Meteo-App auf meinem Handy. Träumen darf man ja.«
Erika und ihr Mann besaßen ein schweres Motorrad und sparten seit Jahren darauf, einmal mit einer Harley-Davidson die Route 66 von der US-Ostküste bis zur Westküste zu fahren. Das Wetterspielchen zwischen Violetta und ihr war mittlerweile ein Running Gag.
»Wie viel fehlt noch?« Violetta rieb ihren Daumen an Zeige- und Mittelfingerspitzen.
Erika verdrehte die Augen. »Frag nicht. Ist ein schweineteures Abenteuer. Wenn es denn überhaupt mal so weit ist, werden unsere flatternden Haare im Fahrtwind bereits sehr, sehr grau sein. Apropos …« Sie zückte einen Kamm aus ihrer Blusentasche und frisierte Elisabeths Haar. »Oder möchtest du das übernehmen?«
»Würde ich gern, Erika, aber ich muss zur Arbeit. Viel zu tun heute.«
»Ja, ihr Versicherungsleute habt es auch nicht leicht. Immer noch in derselben Abteilung? Lebensversicherungen, oder?«
»Hm, so ähnlich. Also, ich sollte dann mal.«
»Kein Problem, geh nur. Wir beide schaffen das auch allein, ist doch so, Frau Morgenstern?«
Die alte Frau tat nach wie vor keinen Mucks, ja sie zwinkerte nicht einmal. Erika fuhr mit dem Kamm behutsam durch deren dünnes, langes Haar, lupfte es an den Schläfen und ließ es dann fallen, als wär’s ein Fallschirm aus Tüll. Dabei rutschte der rechte Ärmel ihrer Arbeitsbluse zurück und Violetta sah für einen Moment Erikas entblößten Unterarm. Ihre sonst so blasse Haut war über und über mit faustgroßen Flecken bedeckt. Hämatome. In den schönsten Regenbogenfarben.
***
Violetta fluchte. Deftig, aber lautlos. Sie kam nicht rein.
Bislang hatte man eine Schlüsselkarte und einen siebenstelligen Zugangscode benötigt, um in das Hauptquartier von Tell zu gelangen. Neuerdings verlangte das Schließsystem am Eingang zusätzlich, dass sich die Mitarbeiter via App auf ihren Handys identifizierten. Dauerte alles doppelt so lange und war zehnmal so kompliziert.
Nach dem vierten Anlauf und ebenso vielen Fluchtiraden öffnete sich die Tür endlich. Violetta murrte und trat ein.
In dem Bürogebäude mit sechsunddreißig Stockwerken belegte Tell die gesamte zweiundzwanzigste Etage. Über vierzig Firmen und Dienstleister hatten im Hochhaus ihre Büros. Vorwiegend Anwälte, Zahnärzte und Finanzmenschen, aber auch der Hauptsitz einer Sterbebegleitungsorganisation war im selben Gebäude und im Erdgeschoss gab es eine Kindertagesstätte. Tell trat nach außen hin offiziell als Tell Versicherungsgesellschaft auf. In Wirklichkeit handelte es sich hierbei um das geheime Schweizer Killerministerium. Staatlich verordnete Tötung, behördlich autorisierte Termination von Schädlingen – das war Tells Geschäft.
Seit gut drei Jahren war Violetta Morgenstern im Ministerium als Vollstreckerin angestellt. Erst halbtags, dann Vollzeit. Sie mochte ihre Arbeit, nein, sie liebte sie. Schon vor Jahren, damals noch als frühpensionierte Lehrerin und blutiger Laie, hatte sie ihren Hang zur Selbstjustiz ausgelebt und üble Subjekte nach ihrem Gutdünken und Gerechtigkeitssinn gerichtet. Mehrere hatte sie gar um die Ecke gebracht. Von Tell dann mit neunundfünfzig Jahren als Auftragsmörderin angeheuert und professionell ausgebildet, hatte sie in kurzer Zeit großes Talent gezeigt und viel Fleiß bewiesen. Ihre Eliminierungsquote lag über dem Durchschnitt und sie hatte im Betrieb den Ruf, blitzschnell improvisieren zu können und besonders kreative Killereien auszuhecken.
Violetta durchquerte das Großraumbüro und nickte da und dort Kollegen zu. Seit Kurzem teilten sich jeweils zwei oder vier Tell-Leute, je nach Rang und Titel, eine Arbeitsbox mit Glastrennwänden. »Maximale Transparenz fördert die interne Kommunikation« war die neue Maxime bei Tell. Musste sich auch innenarchitektonisch manifestieren. Vision der Geschäftsleitung. Cheffurzidee, nannte es Violetta.
»Frau Morgenstern und die Verspätung. Wo warst du so lange? Wir haben hier zu tun.«
Miguel Schlunegger und sie teilten sich ein Zweierbüro, Tisch an Tisch. Violetta ließ die Glastür los, die sich von selbst zuzog, ein Geräusch, als söge jemand geräuschvoll Luft ein. Miguel warf ihr einen tadelnden Blick zu, goss eine Tasse Kaffee ein und schob sie ihr über den Bürotisch zu. Heiß, schwarz, stark. Wie sie ihn beide am liebsten tranken. Literweise. Nervenberuhigend. Herzschlagfördernd. Hirnanregend.
»Entschuldige, Miguel. Meine Mutter …«
»Meine Güte, seit du über Nacht unversehens etwas Familie bekommen hast, vernachlässigst du deine Arbeit.«
»Stimmt doch gar nicht.« Sie blies in den Kaffee und setzte die Oberlippe vorsichtig an den Tassenrand.
»Von der Voll- zur Halbwaisen. Familienzuwachs rückwirkend, über Nacht wieder Tochter geworden. Gibt’s auch nicht alle Tage.«
»Höre ich da den Neid eines Findelkinds heraus?«
»Hey, ich habe Eltern.«
»Adoptiveltern.«
»Aber die sind gültig, vollständig da, zwei Stück. Und am Leben. Während bei dir …«
»Miguel, jetzt wird’s blöd. Und verletzend. Lass uns aufhören.«
»So empfindlich heute?«
Sie starrte ihn an und überlegte, ob sie angreifen oder aufgeben sollte. Schließlich huschte ein Lächeln der unartigen Art über ihr Gesicht. »Sag mal, gibt es Neuigkeiten von Felicitas Saminada?«
Miguel schaute, als hätte sie ihn gewürgt.
Es entstand eine bleischwere Pause, in der sich jeder über die Maßen für seine halb leere Tasse interessierte und dem Kaffee beim Kaltwerden zuschaute.
»Ja, ähm, nun …« Violetta fischte aus der Handtasche ihre Lesebrille, ein edles, handgefertigtes Teil aus Pflaumenholz, und setzte sie auf.
»Tja, also dann …« Miguel trank den letzten Schluck Kaffee, schüttelte sich und zog ein Hühnergesicht, ehe er mit einem Daumenschlag auf die Tastatur seinen Computer aus dem Ruhemodus aufweckte.
Sie steckten mitten in einem Auftrag. Und heute war Finale.
Diego-Hugo Zimek sollte trotz seiner erst neunundzwanzig Jahre bereits wieder von dieser Welt abtreten. Gewaltsam auf natürliche Weise. Tod ohne nachweisbare Fremdeinwirkung war die Spezialität von Tell. Team Morgenstern und Schlunegger hatten während ihrer gemeinsamen Zusammenarbeit schon einige ungewöhnliche Dossiers gewälzt, doch das hier war besonders delikat.
Diego-Hugo Zimek, in der Schweiz geboren, die Mutter Spanierin, der Vater Österreicher – was die sperrige Vornamenkombination ihres Sohns erklärte, aber nicht verzieh –, war, was man ein Wunderkind nannte. Bereits mit dreizehn Jahren besuchte er an der ETH Zürich Vorlesungen in Mathematik, mit sechzehn erhielt Zimek ein Stipendium am MIT in Massachusetts, wo er nur anderthalb Jahre später seinen Doktor machte mit der Dissertation über »Transneutronisch kalibrierte Prozesse in der Authentifizierungstopologie eines Beyond-Edge2-Zielsystems«. Nicht einmal seine Professoren verstanden so ganz genau, was ihr Student da eigentlich trieb und schrieb. Nach Praktika in drei Weltmetropolen und einem elfmonatigen Abstecher nach Sankt Petersburg, wo er mal einfach eben so das Konzertdiplom als Pianist erlangte – »weil ich es kann und weil ich Lust dazu hatte«, wie er der Kulturjournalistin von »Russian Week« diktierte –, kam Zimek zurück in die Schweiz und heuerte bei einem bislang unbekannten Fintech-Start-up an, das eine Kryptolizenz besaß und den schnoddrigen Firmennamen »So what!«. Anderthalb Jahre später ging die Firma an die Börse, ihr Kurs durch die Decke und bescherte dem jungen Genius einen unanständig zweistelligen Millionenbonus.
Doch wie so viele Menschen, denen im Leben alles mühelos gelingt, hatte Diego-Hugo Zimek nie Demut erfahren und war unfähig und auch nicht willens, anderen Hilfe anzubieten. Er wusste, dass er ein Genie war, und benahm sich darum wie ein Gott. In seiner Firma galt er als narzisstischer Autist. Er hatte keine Kollegen, keine Freunde und keinerlei hetero-, homo- oder bisexuelle Interessen, geschweige denn Kontakte. Er genügte sich selbst vollkommen. Diego-Hugo Zimek war ein sagenhaft kluger Kopf, ein arroganter Schöngeist und ein asozialer Mistkerl.
Und von Geburt an blind.
***
Nach Zuteilung des Killauftrags vor zwei Wochen und einer ersten Durchsicht des Dossiers hatte sich Miguel unerwartet kritisch gezeigt. »Unsere Zielperson ist ja blind.«
»Ja und? Er wird dem Tod trotzdem ins Auge blicken.«
»Nein, jetzt mal ohne dumme Sprüche, Morgenstern. Der Mann ist behindert.«
»Und darf deswegen nicht eliminiert werden, oder was?«
»Behinderte sind besonders verletzlich, können sich nicht wehren und genießen unseren speziellen Schutz.«
Violetta war irritiert, dass ihr sonst so abgebrühter Partner emotional vibrierte. Das war nicht mehr der Ex-Irak-Söldner von einst. Seit der Herzenssache mit Felicitas Saminada letztes Jahr reagierte Miguel bei manchen Themen dünnhäutiger.
»Meine Güte, du salbaderst daher wie meine Kollegen früher im Lehrerzimmer. Miguel! Hallo! Auch Behinderte sind vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft und haben ein Anrecht darauf, böse zu sein und von uns umgebracht zu werden.«
»Ich finde es trotzdem seltsam.«
»Was du da machst, ist positiver Rassismus.«
»Positiver was?«
»Rassismus. Indem du einem Blinden das Recht aberkennst, genauso umgebracht zu werden wie ein Sehender, grenzt du ihn aus. Das ist Diskriminierung. Find ich jetzt nicht besonders schön von dir.« Violetta legte bewusst etwas zu viel Sarkasmus in ihre Stimme.
Miguel schaute sie sehr lange sehr seltsam an und schwieg danach noch länger.
Wie meistens bei Tell-Auftragsmorden kannten die Ausführenden den Grund der Tötung nicht. Irgendwo sehr weit oben in Regierungskreisen war man zu dem Schluss gekommen, dass Diego-Hugo Zimek für das Land so gefährlich oder ein derart großes Sicherheitsrisiko war, dass man ihn wegspedieren musste.
Für einen erst Neunundzwanzigjährigen eine reife Leistung.
Observierungsspezialisten von Tell hatten Zimek zwei Wochen lang rund um die Uhr beschattet. Dabei war schnell klar geworden, dass der Mann nicht so leicht umzubringen sein würde. Violetta und Miguel waren anfangs noch davon ausgegangen, dass Zimek aufgrund seiner Blindheit ein einfaches Ziel abgeben würde.
»Er wird blind ins Verderben rennen«, frotzelte Violetta.
»Wobei heutzutage auch die Sehenden nicht mehr vorausschauen«, fügte Miguel an. »Tell-Team vier hat vor zwei Monaten einen Manager auf denkbar einfachste Art eliminiert. Der Kerl starrte nonstop auf sein Handy und nahm seine Umgebung gar nicht mehr wahr. Unser Team hat ihm dann per Hack im Wartungssystem seines Firmengebäudes bloß die Lifttür geöffnet – obwohl die Kabine noch gar nicht da war. In diesem Fall nutzte dem Manager auch sein vertraglich zugesicherter goldener Fallschirm nichts mehr.«
Bei Diego-Hugo Zimek war die Sache verzwickter. Das Problem war, dass man nicht an ihn herankam. Seine Firma war besser gesichert als die Nationalbank, der Arbeitsplatz als Tatort schied daher aus. Aber auch privat schien Zimek unantastbar. Aufgrund der Behinderung und seines Gottheitsstatus in der Firma stellte man ihm eine Limousine mit Chauffeur zur Verfügung. Keine Möglichkeit also, ihn per Verkehrsunfall auszuschalten, ganz abgesehen davon, dass es gegen Tells Berufsethos verstieß, jedwede Kollateralschäden, wie etwa den Tod von Zimeks Chauffeur, in Kauf zu nehmen.
Blieb also nur sein Privatleben. Das dem eines freiwilligen Häftlings glich. Feierabende und Wochenenden verbrachte Zimek zu Hause, das er nie auch nur für eine Minute verließ. Er ging niemals spazieren oder einkaufen, machte keine Besuche und verabscheute Sport. Er blieb in seinem Bunker, wie Violetta Zimeks Eigenheim nannte. Dank seines Reichtums hatte er sich ein modernes Terrassenhaus kaufen können, in Hanglage mit Sicht auf Alpen und See. Alles mit Beton, Stahl und Vierfachsicherheitsglas gebaut und von Securityanlagen der neuesten Generation gesichert. Null Chance, an Zimek heranzukommen.
»Nicht einmal einen Blindenhund besitzt der Kerl«, jammerte Miguel. »Sonst könnten wir dem Köter einen Blaspfeil mit Hyänenagressiva in den Hintern jagen, damit er sein Herrchen zerfleischt.«
Tatsächlich verzichtete Zimek auf sämtliche blindentypischen Krücken. Kein Hund, kein weißer Stock, er hatte auch nie Brailleschrift gelernt. Seinen Alltag bewältigte er mithilfe eines speziell von ihm modifizierten Smartphones mit ebenfalls von ihm programmierter Software. Das Wunderhandy leitete ihn durchs Leben, war ihm Sekretär, Navigator, Coach und Butler. Die Erfindung wäre auch für alle anderen Blinden dieser Welt ein Segen gewesen, doch einer wie Diego-Hugo Zimek interessierte sich nicht für andere.
Wie konnte man den Kerl eliminieren?
Die einzige Chance, darin waren sich Violetta und Miguel einig, bot sich in Zimeks Zuhause. Sie mussten beispielsweise seine Mahlzeit vergiften, die Zahnpasta oder die Klaviertastatur und so einen Herzstillstand provozieren. Auch der unter Strom gesetzte stählerne Handgriff im Treppenhaus würde den gleichen natürlichen Tod verursachen. Aber wie ins Haus gelangen? Zimeks Bunker war eine Festung.
Es war schließlich IT-Gerry, der eine Lösung fand, die genauso beispiellos wie aberwitzig war.
Tells Leiter der Computerabteilung checkte Zimeks Heim-WLAN und die damit verbundenen Geräte. PC, Tablet, Handy, Fernseher, Stereoanlage, Heizung, Chemiemischung des kleinen Hallenbads, Jalousien, Kaffeemaschine, Kühlschrank, Multicooker, ja sogar seine elektrische Zahnbürste steuerte Zimek via Smartphone. Aber wie zu erwarten, war sein WLAN perfekt verschlüsselt, selbst Gerry konnte es nicht hacken. Immerhin gelang es ihm, eine Liste all jener Geräte sichtbar zu machen, die an das WLAN-Netz gekoppelt waren. Diese Geräte hatte Zimek ebenfalls penibel genau gesichert.
Außer einem.
Er musste es bewusst ignoriert haben, weil zu banal, zu popelig, zu uncool. Letzter Platz auf der Rangliste all seiner exklusiven Gadgets. Für den arroganten Schöngeist war dieses Gerät unter seiner Würde, da es in seinen blinden Augen die niedrigste aller Hausarbeiten verrichtete. Buchstäblich ganz unten – am Boden. Besagtes Haushaltsteil verfügte über einen eigenen WLAN-Kanal, den es in die Umgebung strahlte. Im Grunde völlig unnütz und ganz klar ein Regiefehler des Produktherstellers – für Tell indes das Eintrittsticket in Zimeks Bunker.
Und, bei bewusst unsachgemäßer Verwendung, eine tödliche Waffe.
Zusammen mit IT-Gerry arbeiteten Violetta und Miguel einen minutiösen Terminationsplan aus und legten ihn Tell-Chef Meier zur Genehmigung vor.
Der hatte erst geglaubt, sein Team wollte ihn verarschen. »Nicht euer Ernst, Leute. Ihr wollt den Kerl damit killen?«
Heute nun sollte Diego-Hugo Zimek sterben. Er würde, wie jeden Arbeitstag, auf die Minute genau um siebzehn Uhr dreißig vom Chauffeur nach Hause gebracht werden. Einmal im Haus, hätte er noch zweieinhalb Minuten zu leben, ehe er umgebracht werden würde.
Von seinem eigenen Staubsauger.
***
»Gabriele, was für eine Überraschung. Um diese Jahreszeit hast du uns noch nie besucht. Gut siehst du aus, gesund und munter. Komm, lass dich umarmen.« Trotz seiner bald achtzig Jahre drückte Pater Bernhard den Besucher aus Rom mit kräftigen Armbewegungen an sich.
»Ich freue mich auch, mein lieber Abt Bernhard. Es ist immer schön, nach St. Michael zurückzukommen.«
»Pater Bernhard bitte, ich bin gewöhnlicher Pater, das Amt des Abts habe ich vor über zwanzig Jahren niedergelegt. Oder soll ich dich mit ›Eure Eminenz‹ ansprechen?«
»Herr im Himmel, nein. Ich bin nicht in offizieller Mission hier, sondern als Gabriele, dein ehemaliger Internatsschüler und Schützling.«
Pater Bernhard hob die weit geschnittenen Ärmel seines schwarzen Habits zu einer ausladenden Gebärde. »Du kommst genau richtig zum Mittagessen. Danach können wir einen Verdauungsspaziergang machen und uns unterhalten.«
»Mittagessen klingt wunderbar, ich verhungere fast. Aber der Spaziergang danach muss leider warten. Ich stecke mitten in einer sehr wichtigen Arbeit, die keinen Aufschub duldet. Das ist auch der Grund, warum ich aus Rom hergereist bin. Nur hier finde ich die nötige Ruhe und Zeit, mein Projekt abzuschließen. Gleich nach dem Essen möchte ich weiterarbeiten. Den Spaziergang holen wir nach, versprochen. Bekomme ich dasselbe Gästezimmer wie immer?«
»Ja, natürlich, Zelle A13, mit Blick auf den Garten, wie du es magst. Klingt nach einer sehr wichtigen Arbeit. Du wirkst auch etwas gestresst. All die oberheiligen Teufel in Rom setzen dir wohl ziemlich zu, was?« Pater Bernhard zwinkerte verschwörerisch.
Einen Moment lang schaute Gabriele den ehemaligen Abt entgeistert an. Dann fasste er sich und lachte etwas zu laut.
Pater Bernhard lief voraus, Gabriele mit Reisetasche und Rollköfferchen hinterher.
»Und noch eine Bitte«, sagte er. »Sollte sich jemand aus Rom melden, der sich nach mir erkundigt …«
»Ja?«
»Dann bitte ich dich und die Brüder im Sekretariat, das achte Gebot großzügig auszulegen. Ich bin nicht hier.«
Pater Bernhard nickte. So etwas Ähnliches hatte er sich offenbar schon gedacht. Und gegen das achte Gebot des Herrn hatte er selbst bereits verstoßen, bei der Begrüßung vorhin, aus lauter Höflichkeit. Als er seinem ehemaligen Schützling gesagt hatte, er sehe gesund und munter aus.
***
Um sechzehn Uhr dreißig, exakt eine Stunde bevor Diego-Hugo Zimek eliminiert werden sollte, übernahm IT-Gerry die Kontrolle über die Tatwaffe und fuhr sie in Mordposition.
Der Staubsaugerroboter der Marke »Itoshi-Powersuck X3« war das Teuerste und Ausgeklügeltste, was es derzeit auf dem Trockenreinigungsmarkt gab. Zimek besaß zwei Stück davon, auf jedem Stockwerk war eines dieser Helferchen unterwegs. Und zwar ausschließlich tagsüber, während der Herr in seiner Firma arbeitete. Den Lärm der Roboter – das Schnarren, Saugen und Statuspiepsen – hätten die empfindlichen Ohren des Blinden nicht ertragen.
Als Gerry vor einigen Tagen die zwei ungesicherten »Itoshi-Powersuck X3« mit geräteeigenem WLAN-Signal entdeckt hatte, hatte er sie zuerst lediglich als Spion missbraucht. Nutzte eine Schwachstelle in deren Software. Die Staubsaugerroboter verfügten über Lasersensoren und eine integrierte Kamera, um sich sicher und effizient durch die Räume zu bewegen, ohne versehentlich einen Bereich doppelt zu reinigen. Gerry schickte ein klitzekleines Update an die Roboter und kaperte sie so. Dank der Lasersensoren erhielt das Tell-Team einen kompletten Grundriss der Wohnung, die Weitwinkelkameras lieferten außerdem eine Besichtigungstour durch Zimeks Heim.
Staubsaugersightseeing.
Zimeks Terrassenhaus hatte zwei Stockwerke. Betrat man das Gebäude durch den Haupteingang, befand man sich in der oberen Etage. Ein Büro war hier, eine Toilette samt Dusche und ein Hauswirtschaftsraum. Der Wohn-, Ess- und Schlafbereich, dazu ein Büro-Atelier lagen im unteren Stockwerk, zu dem man über eine offene Treppe aus Sichtbeton gelangte.
Sie konnten Zimek zuschauen, wie er abends nach Hause kam. Die zwei Staubsaugerroboter ruhten zwar in ihren Ladestationen, die Kameras indes waren an und lieferten Eins-a-Livebilder. Alles ohne Ton. Wie Stummfilmkino.
Nachdem sie ihn drei Abende lang auf diese Weise beobachtet hatten, wussten sie, dass Zimek ein Mann war, der einen exakt getakteten Tagesablauf pflegte. Er tat die immer gleichen Dinge auf die gleiche Weise zur immer gleichen Zeit. Zimek war ein Pedant. Eine Macke, wie sie vielen Hochintelligenten eigen war. Die berühmte Gratwanderung zwischen Wahnsinn und Genie. Diese präzisen Wiederholungen in seinem Alltag hatte das Tell-Team schließlich auf die Idee gebracht, den Staubsaugerroboter nicht nur als Spion zu nutzen.
Sondern auch als Mörder.
***
»In zwei Minuten müsste er da sein.«
Zum tausendsten Mal kontrollierte Violetta Morgenstern ihre Armbanduhr. Sie war nervös. Wie bei jeder Eliminierung. Zu Beginn ihrer Karriere bei Tell hatte sie noch gedacht, mit der Zeit und der damit einhergehenden Routine würde sie die Nervosität verlieren. Das war nicht der Fall. Und mittlerweile war Violetta davon überzeugt, dass sie diesen Kribbelkick brauchte, um sich voll auf ihren Auftrag zu fokussieren. Der Stresslevel manifestierte sich immer anders. Mal rauschte das Blut in ihren Ohren, mal füllte sich die Bauchhöhle mit flüssigem Magma, das Herz galoppierte oder die Kopfhaut kribbelte. Heute waren es ihre Fingerkuppen, die ameiselten. Als hätte Violetta Erfrierungen. Den Kuhnagel, wie man hierzulande sagte.
Zusammen mit Miguel befand sie sich in der IT-Abteilung von Tell, einem großen, fensterlosen Raum, vollgestellt mit Bildschirmen, summenden Servern, stöhnenden Laufwerken und blinkenden Modulen, alles garniert mit kilometerlangen Kabelsträngen. Es roch schwach nach Silikon, Lötzinn und Maschinenöl. Gerrys Reich war etwas zwischen Hightechlabor und Elektromüllhalde. Er selbst saß in seinem Bürosessel, einem ehemaligen Hubschrauberpilotensitz.
Ein Herrscher auf seinem Lederthron.
Mit PC-Tastatur und Maus pilotierte er die Staubsaugerkameras. Violetta und Miguel hatten sich links und rechts seines Schreibtischs postiert und beobachteten die beiden Bildschirme, die die Kamerasicht der Staubsaugerroboter übertrugen.
Etwas lenkte Violetta ab.
Ein ungewohnter Duft. Sie schnupperte flach, um die anderen nicht auf ihre Irritation aufmerksam zu machen. Ein Mix. Ein bisschen Schwere, ein bisschen Schwindel, ein Hauch von Übermut und ein klitzeklein wenig Lust. Einer der Männer benutzte ein Parfüm. Sie witterte in Miguels Richtung, dann in Gerrys. Tatsächlich, Gerry parfümierte sich. Das hatte er nie zuvor getan. Noch vor gar nicht allzu langer Zeit hatte ihm Violetta das Wort »Deodorant« buchstabieren müssen und jetzt duftete der Kerl wie ein Jüngling auf Brautschau. Was war denn bloß mit ihm …
»Los geht’s!« Gerrys Stimme klang hoch und heiser.
Diego-Hugo Zimek. Da war er.
Sicher zwei Meter groß, sehr dünn, sehr schlaksig. Er hatte etwas von einer Alu-Ausziehleiter. Und er war eindeutig untergewichtig. Kulinarik war reine Zeitverschwendung, Essen eine unzumutbare Notwendigkeit für einen Intelligenzler wie ihn. Sein lakritzschwarzes, langes Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden und sein bleistiftdünner Oberlippenbart ließ ihn aussehen wie den edlen Rächer aus einem Mantel-und-Degen-Film. Unschön hohe Wangenknochen, vorspringendes Kinn, unreine Haut, im Kontrast dazu ein geradezu grotesk prinzessinnenhaftes Stupsnäschen. Kein gutes Gesicht. Er trug eine schwarze Hose und einen schwarzen Rollkragenpullover, darüber einen Ledermantel. In Schwarz natürlich.
Zimek trat ins Entree. Bewegte sich traumwandlerisch sicher in seiner Umgebung. Nichts deutete darauf hin, dass er blind war. Er trug auch keine dunkle Brille, seine Augen waren trübblau wie verwaschene Jeans und er hatte diesen Tausend-Meter-Blick, als ödete ihn die ganze Welt an. Er tat, was er jeden Feierabend tat. Streifte seine schwarzen, wildledernen Peter-Pan-Stiefel ab und stellte sie neben den Schirmständer. Lief zur Garderobe und legte seinen Mantel über den einzigen Kleiderbügel, der da hing. Öffnete die Badezimmertür und stand vor dem Waschbecken. An der Wand über der Armatur fehlte, was in Millionen anderer Badezimmer wie selbstverständlich an dieser Stelle hing – ein Spiegel. Sinnlos für Zimek, überflüssig für Gäste, weil er nie welche empfing. Aus einer Kartusche pumpte er grüne Flüssigseife und wusch sich damit die Hände. Schrubbte penibel eine ganze Minute lang. Mit kochend heißem Wasser. Der aufsteigende Dampf war klar zu erkennen. Am Schluss trocknete er die Hände an einem dieser Gebläseautomaten, wie man sie in Waschräumen von Restaurants benutzte.
Zweieinhalb Minuten bis hierher. Wie jeden Tag. Sie waren exakt im Zeitplan.
Zimek trat wieder ins Entree, machte sich auf den Weg hinunter ins Wohnzimmer, ging zur Treppe, streckte nicht einmal die Hand aus – ein Orientierungsgenie wie er hatte die Hilfe des Handlaufs doch nicht nötig –, hob den rechten Fuß zum ersten Tritt. Und stolperte über den Staubsaugerroboter Marke »Itoshi-Powersuck X3«, der da mitten auf dem Treppenvorplatz ruhte, was er sonst nie tat und wo er sich um diese Zeit nie und nimmer hätte befinden dürfen.
Die Treppe hatte achtzehn Stufen, gegossen aus Sichtbeton, rau, unversiegelt, scharfrandig. Achtzehn Chancen, dass eine der Absatzkanten Zimeks Genick brechen könnte. Er fiel, ja segelte beinahe, hoch und ausgestreckt.
Sie sahen seinen Gesichtsausdruck und waren überrascht, dass auch ein Blinder schreckensweite Augen kriegen konnte.
Mit dem Schädel voran krachte er auf eine Stufe im oberen Treppendrittel, überschlug sich, wieder und wieder und noch einmal.
Langer, zerbrechlicher Körper in Sturzgeschwindigkeit auf Beton prallend, ergab eine brutale Hebelwirkung. Scharfrichterphysik.
Zimek kam am Treppenende auf dem gewachsten Naturholzparkett des Wohnbereichs zu liegen. Bäuchlings, reglos, alle viere verrenkt von sich gestreckt.
IT-Gerry startete den im unteren Stockwerk stationierten Staubsaugerroboter. Der rollte mit stöhnendem Motörchen zum Opfer und zoomte auf dessen Gesicht. Spielzeugeisenbahnperspektive. Zimeks Kopf war in einem grotesken Winkel zum Rumpf verdreht, die blinden Augen offen und erstarrt, aus Nase und dem einen Ohr sickerte seltsam wässriges Blut. Und der Mund klaffte offen, als staunte Zimek über den Geniestreich der Tell-Leute.
Dann plötzlich eine fremde Bewegung in der Szenerie. Die Weitwinkeloptik des zweiten Roboters erfasste am äußersten linken Rand einen Schatten, der sich langsam näherte.
»Mist, da kommt jemand«, sagte Violetta.
»Negativ, das kann nicht sein. Das hätte ich registriert«, sagte Gerry.
»Aber da ist etwas«, sagte Violetta.
»Ganz ruhig, Leute«, sagte Miguel.
Dann sahen sie es. Ihn. Über den Boden rollend, auf die tote Zielperson zufahrend, größer und breiter als seine beiden Kumpels, käferähnlich – ein weiterer Roboter.
»Was ist das denn?«, fragte Violetta.
Ganz eindeutig ein dritter Roboter. Allerdings keiner zum Staubsaugen.
»Oh, alles klar«, sagte Gerry. »Seine Sensoren haben größere Mengen Flüssigkeit auf dem Boden erkannt, darum beginnt er jetzt automatisch mit seiner Arbeit.« Er lenkte seinen Staubsauger etwas vom Opfer weg, damit der Neuankömmling besser herankam. Wie zwei Hunde, die um ihr totes Herrchen schwänzelten.
»Klartext, Gerry«, befahl Miguel. »Was will das Ding?«
»Sauber machen. Nur ruhig Blut, Leute.«
Dann sahen sie zu, wie der Nasswischroboter um Zimeks Kopf kurvte und die Blutlache aufwischte.
Obwohl die Ärzte Violetta erklärt hatten, dass sie nie mehr zu ihrer Mutter durchdringen würde, versuchte sie es immer wieder.
»Mama? Du kennst mich doch? Schau, wer bin ich?«
Wieder kauerte sie vor dem roten Ohrensessel, hielt die pergamentenen Hände ihrer Mutter und versuchte, ihren Blick einzufangen. Elisabeth Morgenstern schaute in das Gesicht ihrer Tochter – und durch dieses hindurch. Als existierte ihr Mädchen nicht. Die Seidentapete dahinter, der Kronleuchter an der Decke, die Buntglaseinlagen in den Fenstern, ihre Tochter – alles da, aber nicht hier. Sie zeigte den immer gleichen entrückten Gesichtsausdruck. Da war etwas Mildes in ihren Zügen, als hätte sie sich mit ihrem Schicksal versöhnt und genösse nun den Zustand, da zu sein, ohne ihres Körper-Selbsts und Geistes-Ichs gewahr zu werden. Professor Hablützel, der Chefarzt im Demenzheim Flurpark, hatte es Violetta so erklärt: »Ihre Mutter ist wie die Katze, die im warmen Sonnenlicht döst. Sie hat es schön – sie weiß allerdings nicht, dass sie es schön hat.«
»Schau. Das hier mit dem roten Rucksack bist du und der neben dir mit der Tabakpfeife im Mund, das ist Papa.« Violetta hatte ein Fotoalbum in den Schoß ihrer Mama gelegt und blätterte es für sie durch.
Im Patientenzimmer ihrer Mutter, in einem Regal voller Romane und Bildbände, hatte Violetta ein halbes Dutzend Fotoalben entdeckt, alle aus der Zeit, als ihre Eltern offiziell schon als tot galten. Fotos aus deren neuem Dasein mit anderer Identität. Ohne Violetta. Nach und nach hatte sie so ein Bild davon bekommen, wie das zweite Leben ihrer Familie ausgesehen hatte. Alle anderen Fragen hatte ihr Schwerzmann, der ehemalige Nachrichtendienstler, beantwortet. Sie trafen sich noch immer regelmäßig, mindestens einmal im Monat, meistens zum Znacht, und redeten die halbe Nacht.
Schwester Erika rauschte an, die großzügig geschnittene Pflegeuniform war offenbar frisch gewaschen, der Stoff darum noch gstabig, er raschelte bei jedem Schritt wie welkes Laub. Schwester Erika trug zwei dampfende Tassen, von denen sie eine Violetta hinstreckte. »Guuuuten Moooorgen. Kaffee?«
»So früh immer gern. Bist ein Engel.«
Schwester Erika deutete mit dem Kinn zum roten Sessel. »Sie reagiert auf gar nichts, deine Mama.«
»Und trotzdem ist es schön, bei ihr zu sein. Mir tut’s gut. Und ihre Fotoalben sind eine Offenbarung.«
»Ja, es geht deiner Mama gut. Ich meine damit, sie leidet nicht und hat keine Schmerzen. Das weißt du.«
»Hm, das ist das Wichtigste.«
Dann schwiegen sie beide, blickten einfach nur die gläserne Greisin an, die sich und die Welt vergessen hatte. Sie mochten diesen andächtigen Moment nicht durch Geplapper zerstören und überbrückten mit Kaffeetrinken die Stille.
Nach dem letzten Schluck wischte sich Violetta mit einer entschlossenen Geste den Mund ab, hob eine Braue und stellte die obligaten Fragen. »Santa Fe?«
»Schleiergewölk bei achtundzwanzig Grad.«
»Und die Mojave-Wüste heute?«
»Nicht zu heiß, denn wie immer weht ein seidener Wind. Heinz und ich werden die Mojave ganz sicher mit offenen Helmvisieren durchfahren.«
Die Erwähnung des Ehemanns ließ Violetta unweigerlich an Erikas Blutergüsse an ihren Unterarmen denken. Sie hatte sich vorgenommen, die Pflegerin darauf anzusprechen. Wenn nichts war, war gut. Wenn hingegen … Sie nahm Erika die leere Tasse aus der Hand und deponierte sie zusammen mit ihrer eigenen auf einem Servierwagen ein paar Schritte entfernt, auf dem bereits gebrauchtes Frühstücksgeschirr stand. Beim Zurückkommen zwängte sie sich extra umständlich zwischen Erika und Mutters Ohrensessel vorbei, umfasste dabei wie zufällig die Unterarme der Pflegerin und drückte mehr zu, als nötig und anständig gewesen wäre.
Erika sog geräuschvoll die Luft ein und verzog das Gesicht.
»Himmel, hab ich dir wehgetan? Das wollte ich nicht. Zeig her!« Violetta rupfte den rechten Ärmel der Dienstbluse nach oben. Blaue und violette Flecke im Dutzend, die meisten gelb und grün umrandet. Bläuele.
Erika reagierte erschrocken. »Oh, das. Das ist nichts. Also, ich habe bloß …«
Violetta schob blitzschnell auch den linken Ärmel nach hinten. Das gleiche wüste Muster.
Erika starrte auf ihre Arme, als gehörten sie nicht zu ihrem Körper. »Ich kann das erklären. Du weißt ja, ich bin übergewichtig, muss abspecken und da hat mir eine Kollegin verraten, beim Volleyballspiel würden die Pfunde purzeln. Also habe ich das ausprobiert. Aber ich bin wohl nicht besonders talentiert bei der Ballannahme. Sieht man ja.« Sie lachte wie eine untalentierte Laienschauspielerin und zeigte in pantomimischer Übertreibung, wie ein Volleyball von ihren Unterarmen abprallte.
Violetta fasste Erika erneut an den Handgelenken, diesmal zarter, freundschaftlicher. »Erika. Du kannst mit mir über alles reden.«
»Ja klar, weiß ich. Du bist die Beste. Ich kann mich glücklich schätzen, dich als gute Bekannte zu haben. Oh, die Zeit, wie die Zeit vergeht, ich sollte vorwärtsmachen, meine Patienten warten. Hey, wollen wir jetzt deiner Mama etwas Tee geben?« Sie redete und redete – weil ihr Schweigen sonst alles gesagt hätte.
Jetzt griff Violetta wieder kräftiger zu. Und änderte den Ton. »Erika. Sprich mit mir, was immer es ist.«
»Nichts ist, hab ich dir doch eben erklärt. Volleyball macht weh, Scheißsport. War’s das jetzt? Ist noch was?« Erika war laut geworden, der Ton unwirsch, ihr oberes Zahnfleisch war zu sehen. Sie wand sich aus Violettas Umklammerung und streckte ihr demonstrativ offensiv das Gesicht entgegen. Mit weit aufgerissenen Können-wir-jetzt-damit-aufhören-Augen.
»Ich bin für dich da, Erika. Jederzeit. Wir können es gemeinsam durchziehen.« Sie sagte bewusst es, um Erika Raum zu geben, sie nicht in die Enge zu treiben. Es. Meinte aber damit ihn.
Während der vierzigminütigen Autofahrt vom Haus Flurpark zur Tell-Zentrale in der Stadt kreisten Violettas Gedanken um Erikas Zustand.
Normalerweise genoss sie das Alpenpanorama am Horizont, das sich auf dieser Wegstrecke besonders prächtig darbot. Vor allem im kalten Licht der Morgensonne, das jede Bergkante derart schrattig und knackig präsentierte, als wären sie geätzt. So sahen Schweiz-Tourismus-Plakate in den Ankunftshallen von Flughäfen aus. Nur heute … Erika. Violetta bündelte im Geiste die Fakten. Beide Arme waren voller Hämatome, die in dieser Anzahl, Dichte und Größe unmöglich von einer Sportverletzung stammen konnten. Dazu eine Frau, die bei Violettas kleinster Nachfrage auswich, abzulenken versuchte und mit übertriebener Gestik und Mimik Ausreden erfand. Die zuerst manisch-fröhlich herumkasperte und dann urplötzlich fauchte. In Fachpublikationen, Polizeiprotokollen, Gerichtsakten und Broschüren von Selbsthilfegruppen fand man Unmengen exakt solcher Schilderungen. Die Sache war für Violetta eindeutig.
Erikas Ehemann Heinz misshandelte seine Frau.
Der Fluch war – auch davon las man immer wieder –, dass viele Opfer von häuslicher Gewalt ihre Peiniger nicht anzeigten. Ja, sie gar verteidigten.
Ich kann doch meinen eigenen Ehemann nicht …
Ihm ist nur einmal die Hand ausgerutscht, er tut es nie wieder.
Ich bin mit schuld, hätte ihn nicht provozieren sollen.
Und der Oberklassiker: Er ist ein guter Mann, nur wenn er getrunken hat …
Als Violetta die Stadt erreichte, wusste sie zwar noch nicht, was sie in der Sache Erika unternehmen wollte, sie würde jedoch nicht tatenlos zusehen, wie ein lieber Mensch, der ihrer Mama so viel Gutes tat, Gewalt erleiden musste.
Was man liebte, schlug man nicht.
***