Für Caroline
Die Bekanntschaft des Menschen mit Tieren ist so alt wie die mit seinesgleichen. Nach so langer Zeit sollte man meinen, wir hätten eine klare Vorstellung von der Natur anderer Tierarten und unserer Beziehung zu ihnen. Doch es herrscht große Verwirrung.
Wenn wir über die Einstellungen von Homo sapiens gegenüber anderen Arten nachdenken, verlieren wir uns in einem Knäuel von logischen und moralischen Widersprüchen. Wie kann es sein, dass ansonsten humane und fürsorgliche Menschen, die sich als «tierlieb» verstehen, die Augen vor den ständigen Grausamkeiten verschließen, die an Tieren verübt werden? Wie kann es sein, dass eine Gesellschaft, die Hunden große Wertschätzung entgegenbringt – oder es zumindest glaubt –, andere, ebenso empfindungsfähige Geschöpfe zu industriellen Rohstoffen degradiert oder das populationsstärkste Nutztier, das Huhn, in ein besseres Gemüse verwandelt? Wer wäre in früheren Zeiten auf den Gedanken gekommen, dass Tierhaltung ein Gewerbe sei, das man am besten in geschlossenen Räumen betreibt? Was für Menschen beten Paviane an, stellen Kuscheltiere in Form von Menschenfressern her, statten ihre menschlichen Persönlichkeiten mit vermeintlich tierischen Eigenschaften aus, ersetzen Menschen durch Frösche und Meerschweinchen, machen fiktive Helden aus den verschiedensten Tieren – von Elefanten bis Igeln –, während sie gleichzeitig die Existenz der realen Tiere bedrohen? Warum glauben so viele Menschen, ein seltenes und schönes Tier lasse sich am besten durch das Zielfernrohr einer Flinte betrachten?
Alle diese Verhaltensweisen, und viele mehr, lassen sich schlüssig und einleuchtend erklären, wenn wir ihren Ursprüngen bis tief in die Ur- und Vorgeschichte folgen und ihre Entwicklung über Tausende von Jahren beobachten. Genau das habe ich mir vorgenommen: die ganze Geschichte von Liebe und Hass zwischen Mensch und Tier seit der ersten Bekanntschaft bis heute zu erzählen.
Am Anfang waren die Menschen verzweifelt bemüht, sich eine Nische zu schaffen in einer Wildnis, die Wölfe und Mammute begünstigte. Am Ende werden wildlebende Tiere aus unbewohnbaren, menschengemachten Landschaften vertrieben und dazu gezwungen, sich in Dörfern und Städten neue Identitäten zu suchen. Das ist der Höhepunkt eines Prozesses, der vor zwei- oder dreihundert Millionen Jahren begann, als ein Ast, der vom phylogenetischen Baum abzweigte, zum ersten Mal eine Trennung zwischen Menschen und Affen vornahm. Wie es zu dieser Abzweigung kam und welcher Natur die spezielle Art ist, die daraus entstand, sind kontrovers diskutierte Fragen, die viele gesellschaftliche Streitthemen berühren: Sexismus, Rassismus, religiöse, politische und wirtschaftliche Dogmen, Tierrechte und den Hang des Menschen zu Gewalttätigkeit.
Über weite Strecken der historischen Zeit – von der Vorgeschichte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs – ist dieses Buch nicht aus der Rückschau, nicht aus der heutigen Perspektive, geschrieben. Der Erzähler weiß nur, was jedem einigermaßen gebildeten Menschen zum jeweiligen Zeitpunkt bekannt gewesen sein musste. Seine Meinungen und Einstellungen sind für die jeweils betrachtete Epoche charakteristisch. So können wir erkennen, wie und wann Widersprüche aufgetreten sind und wie sie seither unter dem Einfluss von Schriftstellern, Künstlern, Bauern, Jägern, Kriegern, Reichsgründern, Philosophen, Ärzten, Lehrern, Schaustellern beibehalten, verzerrt und vergrößert wurden. Wie die Evolution selbst ist es ein nie endender Prozess. Der Blick nach vorn zeigt uns die Möglichkeit einer veränderten Welt, in der lebende Organismen durch Technologien, die fürchterlicher sind als die mythischen Kräfte antiker Götter, in ihrem innersten Wesen verwandelt werden.
Richard Girling
Norfolk, England, 2021
Von den frühen Hochkulturen bis zum Mittelalter
Anfänge einer langen Beziehung
Wir werden eine schrecklich lange Wegstrecke gemeinsam zurücklegen. Mensch und Tier. Beste Freunde, schlimmste Feinde. Der Jäger und der Gejagte.
Am Anfang waren wir unzertrennlich. Wir waren sie, sie waren wir, alle Schleim aus dem gleichen Sumpf. Hunderte von Millionen Jahre werden vergehen, bis jemand versteht, was jetzt geschieht: Organismen teilen sich, formieren sich zu verschiedenen Arten, krabbeln dem zufälligen Augenblick entgegen, den wir Schöpfung nennen werden. Unterschiedliche Beziehungen entwickeln sich – symbiotische, parasitäre, mörderische. Nichts bleibt, wie es war. Alles verwandelt sich in etwas anderes, legt sich Flossen, Flügel, Schuppen und Fell zu, um sich auf seine jeweilige Nische vorzubereiten. Beine erscheinen. Kleine wieselartige Tiere wachsen und strecken sich, strecken sich so lange, bis sie die Bäume hinaufklettern können. Sie leben im Wald, wo ihre langen Arme und kurzen Beine ideal sind, um sich von Ast zu Ast zu schwingen und Früchte zu pflücken. Wir sind immer noch bei ihnen, in ihnen, lebendig, aber ungeboren. Wir wandern mit ihnen, als sie sich aus dem Wald auf die Ebene begeben, und bleiben bei ihnen, als sie Haltung und Gestalt verändern. Die Arme werden kürzer, die Beine länger, der Hals gestreckter. Aufrecht, auf zwei Füßen gehen wir, bis wir nicht mehr sie sind.
Eine Zeitlang führen wir parallele Leben, wir und all die anderen. Wir erhalten unsere Nahrung von den gleichen Ebenen und Wäldern, essen die gleichen Früchte, fliehen vor den gleichen Raubtieren. Zeit vergeht, viel Zeit, vielleicht ein Jahrtausend oder zwei. Dann haben wir gelernt, Werkzeuge aus Stein herzustellen. Das heißt, wir können jetzt töten und Fleisch essen. Wir werden stärker, intelligenter und werten unsere Intelligenz als Kennzeichen unserer Überlegenheit gegenüber allen anderen Lebewesen. So sind wir. So sollen wir sein. Allmächtig.
Weitere Jahrhunderte vergehen; jetzt sind wir im Norden und kämpfen gegen die Kälte in Mitteleuropa. Jagen und Sammeln haben hier einen anderen Rhythmus. Wir entscheiden nicht, was wir essen wollen: Wir nehmen einfach, was sich bietet. Denn es gilt nicht nur, das Eis zu ertragen. Auch der Hunger ist ein unersättlicher Vernichter des Lebens. Hier müssen Sammler lange nach etwas Essbarem suchen. Selbst Rentiere haben Mühe, am Leben zu bleiben, wenn winzige Grasbüschel und Flechten alles sind, was ihnen der Winter lässt. Unsere Rettung ist unser Gehirn. Sein wachsendes Gewicht hat die Ausmaße unserer Köpfe vergrößert, und wir haben gelernt, sie gut zu nutzen. Wir denken. Wir schlussfolgern. Wir verstehen, dass Handlungen Folgen haben. Wenn wir jemanden bestehlen, wissen wir, dass er im Gegenzug uns bestehlen und uns sogar töten wird, wenn es sein muss. Aber wenn wir ihn beschenken, so wissen wir auch, dass er uns dann seinerseits beschenken wird. Mehr noch, wir wissen, dass wir, wenn wir gemeinsam jagen, mehr zu essen bekommen, als wenn wir allein jagen. Unsere Werkzeuge und Waffen sind jetzt schärfer, was uns zu besseren Jägern macht, und das Fleisch lässt unsere Knochen und Gehirne noch mehr erstarken. Wir ergeben uns nicht in unser Schicksal. Wenn das Eis unser Land verschlingt, dann wandern wir wie die Rentiere der Sonne entgegen.
Wir sind immer auf der Jagd. Unsere Reviere teilen wir mit den Wölfen, und wir können sehen, wie ähnlich wir ihnen sind. Wie wir folgen sie dem Leittier und schließen sich zu Rudeln zusammen, um Tiere zu töten, die größer sind als sie. Wie wir töten sie nur, wenn es nötig ist, teilen die Beute untereinander auf und füttern ihre Jungen. Aber unser Gehirn ist größer als das ihre. Wir verstehen sie weit besser, als sie uns verstehen. Wir wissen, wie wichtig es ist, nichts zu vergeuden. Wenn wir ein Tier erlegt haben, nutzen wir nicht nur sein Fleisch, sondern auch das Fell, die Hörner und die Sehnen. Weil wir so leben, weil wir Schlussfolgerungen gezogen haben, wissen wir, dass wir immer genug Wild zum Jagen haben werden und dass sein Fell uns warm halten wird.
Und wir besitzen Zauberkräfte. Indem wir Tiere an die Wände unserer Höhlen malen, indem wir sie aus dem Nichts erschaffen, können wir neues Leben hervorbringen. Indem wir den Kopf eines Löwen auf den Körper eines Mannes zeichnen, übertragen wir die Macht des Löwen auf uns. Wir wissen, dass es eine Welt von Geistern gibt, die wir nicht sehen können.
Dann verändert sich die Welt. Die Eisschmelze hat ihre Vor- und Nachteile. Das Land ist jetzt anders. Wälder bedecken die einstigen Grasebenen, über die große Herden zogen. Tiere sind viel seltener geworden, schwieriger aufzuspüren, und jedes, das man tötet, ist für immer verloren.
Noch mehr Zeit verstreicht – Zeit, die unsere Gehirne nutzen, um sich weiter zu vergrößern. Anders als Jungtiere, die rasch aufwachsen und für sich selber sorgen müssen, können sich unsere Kinder langsam entwickeln und sich Zeit nehmen, um die Fertigkeiten ihrer Eltern zu lernen. Das Lernen wird leichter und besser, weil wir viel mehr Wörter haben, um unsere Gedanken und Vorstellungen auszudrücken. Wir können Erinnerungen teilen und Hoffnungen verwirklichen. Und wir haben Instinkte, die die Vernunft nicht immer erklären kann. So geschieht es eines Tages, dass ein Mann oder eine Frau ein mutterloses Wolfsjunges findet und aufzieht. Warum machen sie das? Einfach, weil es klein und hilflos ist, große Augen hat und an ein Baby erinnert. Der junge Wolf gewöhnt sich mühelos an das menschliche Leben, respektiert die Hierarchie seines neuen Rudels und folgt seinem Herrn treu und bedingungslos.
Jetzt verstreicht die Zeit rascher. Veränderungen brauchen nur noch Jahrtausende, keine Jahrmillionen mehr. Vielleicht vergehen noch einmal zwei- oder dreitausend Jahre, bis der Vorstellungskraft unseres Gehirns ein Sprung gelingt, der die Welt und alles, was sie in sich trägt, verändert. Wir betrachten den treuen Hund, und uns dämmert: Was wir mit dem Wolf getan haben, ist auch mit anderen möglich. Selbst mit der Hilfe von Hunden wird die Jagd immer schwieriger. Warum machen wir es uns nicht leichter, indem wir die Tiere zusammentreiben und sie am Leben lassen, bis wir sie brauchen? Wir können Beute in Vieh verwandeln. Lebendes Fleisch bleibt immer frisch und stinkt nicht wie die Jagdbeute der letzten Woche.
Aber welches Tier sollen wir auswählen? Unser Auge fällt zunächst auf das Naheliegende: Rotwild oder Gazelle. Beide liefern gutes Fleisch, Hörner beziehungsweise Geweihe und Felle. Beide gibt es in Hülle und Fülle. Beide grasen auf dem gleichen Tiefland, auf dem auch die Menschen leben. Aber sie sind nervös, temperamentvoll und zu dumm, um zu verstehen, was von ihnen erwartet wird. Sie leben nicht wie wir oder die Wölfe. Sie wachen eifersüchtig über ihr Land, aber ihre Gesellschaft ist ohne Struktur, ohne Anführer, denen sie folgen. Das heißt, sie können nicht, wie der Wolf, Mitglied der menschlichen Herde werden.
Also klettern wir die Berge etwas hinauf und schauen uns stattdessen die Schafe an. Auch sie sind dumm, aber auf die richtige Weise. Sie rotten sich gern zusammen und folgen blindlings ihrem Anführer, egal, ob Bock oder Mensch. Noch besser, da sie es gewohnt sind, sich ihr Futter auf kargem Boden zu suchen, leben sie genügsam. Ein weiterer Vorteil von Schafen gegenüber Rotwild: Sie neigen nicht zu rascher Flucht.
Ihr Überleben wird nicht durch Fressfeinde gefährdet, vor denen sie sich in Sicherheit bringen müssen, sondern durch die Lebensfeindlichkeit ihrer Umwelt. Dieses Wissen können wir uns zunutze machen. Haben wir auch schon früher getan. Wie den mutterlosen Wolf können wir kleine Lämmer mit nach Hause nehmen und ihnen beibringen, sich menschlich zu verhalten. Doch dazu braucht es Zeit und Geduld. Stattdessen entscheiden sich einige Menschen, ganze Herden aus den Bergen herabzutreiben und sie hinter Zäunen zu halten. Egal, wie wir uns entscheiden, früher oder später werden wir unseren Erfolg in Fleisch und Wolle messen können. Doch damit ist noch lange nicht genug. Wir wissen, dass unsere Kinder, wenn sie aufwachsen, ihren Eltern ähneln. Warum soll das nicht auch auf Lämmer zutreffen? Wir stellen fest, dass wir Größe und Gestalt jeder neuen Generation beeinflussen können, indem wir uns überlegen, welches Mutterschaf wir von welchem Bock decken lassen. Mit der Zeit verlieren die Mutterschafe ihre Hörner, bekommen eine weichere und flauschigere Wolle und stoßen das Fell nicht mehr verschwenderisch ab.
Das veranlasst uns dazu, anders von uns selbst und unserer Stellung in der Welt zu denken. Unsere Überlegenheit gegenüber anderen Arten fühlt sich jetzt wie Allmacht an. Als Jäger hatten wir die absolute Macht über ein Tier nur im Augenblick seines Todes. Jetzt liegt das Schicksal ganzer Leben in unseren Händen. Zwar fürchten wir, dass wir uns damit göttliche Vorrechte anmaßen, aber wir trauen unseren heiligen Männern zu, die Geister der Tiere besänftigen zu können. Die Verantwortung, unsere Tiere zu verteidigen und für sie zu sorgen, nehmen wir zwar ernst, aber wir erfüllen sie, weil die Tiere unser Besitz sind, unsere Investition in die Zukunft unserer Kinder, unser Reichtum. Jetzt ist ein Mann, der ein Schaf tötet, kein Jäger mehr, sondern ein Dieb.
Unser Erfolg befriedigt uns nicht. Weder mindert er unsere Entschlossenheit noch verlangsamt er unseren Fortschritt. Er sagt uns, dass wir die Macht haben, die erforderlich ist, um die Welt anders zu gestalten. Also schauen wir uns weiter um. Über den wilden Schafen, an den Steilhängen des Gebirges, klettern die Ziegen. Warum nicht auch die? Wir sehen, dass sie noch genügsamer sind als die Schafe, so genügsam, dass sie nicht einmal Gras zum Fressen benötigen. Alles, was sie brauchen, sind Blätter, die sie sich von den Bäumen holen, indem sie sich auf die Hinterbeine stellen. Sie liefern nicht nur ebenso gutes Fleisch und Fell wie die Schafe, sondern sie fressen auch das Land kahl und erleichtern so das Anlegen neuer Felder, die sie mit ihrem Kot düngen. Rund um die Felder entstehen Siedlungen, und es herrscht Eintracht unter den Nachbarn.
Wenn wir den Boden bestellen, heißt das nicht, dass wir uns von den Tieren abwenden. Das nächste Mitglied der Herde wird das Schwein. Mit einem ausgewachsenen Eber sollte sich ein Mann, der mit zwei heilen Beinen davongehen möchte, lieber nicht anlegen. Aber auch hier haben uns Wolf und Schaf gezeigt, wie wir vorgehen müssen. Ferkel sind so schwach wie Babys. Sobald sie sich an ihre menschlichen Eltern gewöhnt haben, machen sie nicht mehr Schwierigkeiten als unsere eigenen Kinder. Sie streifen unter Bäumen umher und finden ihre Nahrung auf dem Waldboden; ganze Herden können selbst von Kindern gehütet werden. Wo das Land nichts hergibt, werden sie in Gehegen gehalten. Sie drängen sich gerne zusammen, Leib an Leib, daher brauchen sie weniger Platz als Schafe oder Ziegen. Aber sie sind nicht jedermanns Sache. Zwar liefern sie eine Menge Fleisch, doch viele Menschen finden, dass es weniger Geschmack hat als Schaf- oder Ziegenfleisch. Außerdem riechen sie anders.
Unser Ehrgeiz nimmt rascher zu als ein gut gefüttertes Ferkel. Jetzt fassen wir das mächtige Rind ins Auge. Ein Bulle ist stärker als die Männer einer ganzen Familie und schneller auf seinen Hufen als ein Mann auf seinen Füßen. Es kann einen Menschen bis in die Wipfel von Bäumen katapultieren und seine Gedärme in den Himmel schleudern. Die Kuh ist zwar etwas kleiner, aber keineswegs von sanfterer Wesensart oder gefügiger im Umgang. Die Menschen, die diese gewaltigen Tiere zähmen, sind entweder besonders klug oder haben mehr Glück als andere. Wie machen sie das? Warum machen sie das? Schafe, Ziegen und Schweine liefern uns so viel Fleisch, wie wir brauchen, daher sind wir nicht vom Hunger getrieben. Trotzdem müssen wir sie besitzen, sie unserem Willen unterwerfen. Denn wie können wir unsere Macht als Menschen besser unter Beweis stellen als durch die Zähmung dieser wilden, mörderischen Monster? Wie besser unseren Verstand bekunden? Rinder werden dem Beispiel von Ziegen und Schafen nicht folgen. Sie lassen sich nicht treiben. Aber wir kennen und verstehen ihre Bedürfnisse und ihre Wesensart. Sie sind unsere Nachbarn, und wir jagen sie seit ewigen Zeiten. Wir wissen, dass man sie mit Wasser und Salz anlocken kann, und wir wissen genau, wie man ihnen einen Speer in die Seite jagt.
Allerdings finden wir, dass es nicht klug ist, sie so nahe an unsere Heimstätten zu holen. Für die Bauern, die ehrgeizigen Erzeuger von Weizen, sind streunende Rinder schlimmer als Rotwild. Sie trüben die Wasserläufe und verunreinigen sie mit Dung und Urin. Sie zertrampeln die Feldfrüchte. Die Vernunft sagt, sie müssten fortgetrieben werden, oder wir müssten sie irgendwie dazu bringen, dass sie tun, was wir möchten. Uns fällt viel dazu ein, aber alles kostet viel Mühe und Arbeit. Am einfachsten lassen sich Wasser und Getreide schützen, indem man die Tiere von den Feldern fernhält. Doch selbst der einfachste Weg ist nicht leicht. Die Rinder können bei Nacht in Krale getrieben werden, aber dabei werden viele von ihnen verlorengehen. Daher denken einige Bauern, es sei am besten, sie in der Nähe der Siedlungen zu halten und Zäune um die Äcker und Felder zu bauen. Doch sollte auch nur ein einziges Tier den Zaun durchbrechen, ist eine ganze Ernte vernichtet. Und die Tiere zahlen selbst einen hohen Preis, denn in offenem Gelände sind sie eine leichte Beute für Bären und Wölfe. Auch das Problem der Wasserläufe bleibt ungeklärt. Deshalb bauen manche die Zäune um die Tiere selbst. Das birgt eine gewisse Gefahr. Ein Rind innerhalb einer Umzäunung ist nicht anders als eines außerhalb. Es hat die gleichen Hufe, die gleichen Hörner und das gleiche Temperament.
Angesichts dieser Umstände brauchen wir gute Gründe und einen festen Willen, um etwas fortzusetzen, was einige von uns für eine gefährliche Torheit halten. Doch ein Rind ist eben mehr als nur ein Fleischberg. Mehr als irgendeine Anzahl von Ziegen oder Schweinen. Es zeigt, welche Stellung ein Mann in der Welt bekleidet. Es bezeugt seinen Reichtum und hat einen hohen Tauschwert. Wenn er sich mit seinen Göttern gut stellen will, kann er ihnen mit einem Rind die höchste Form des Opfers darbringen. Einige der Götter tragen selber Stierköpfe. Damit kommen wir zum Höhepunkt unserer Zeit. Die Zähmung des Rinds ist ein Prüfstein für unseren Mut, unsere Willenskraft und unsere Phantasie. Wenn die Bauern ein Rind anschauen, sehen sie nicht Fleisch oder Stiergötter, sondern Muskeln. Wie viel rascher könnten sie ihr Land bestellen, wenn sie größere Pflüge hätten? Wie viel rascher könnten sie ihre Ernte einbringen, wenn sie sie auf Karren stapelten? Und wie ließen sich Pflüge und Karren besser ziehen als mit einem Paar Ochsen, so stark wie 40 Männer?
Es bleibt jedoch die Frage, wie wir uns solche Monster gefügig machen können. Eine Menge haben wir von unseren Schafen, Ziegen und Schweinen gelernt. Wir wissen, dass ein Bock oder ein Eber viele Junge mit vielen verschiedenen Müttern zeugen kann. Das ist das Maß unseres Wissens. Die Menschen entscheiden früh, welche Tiere sich am besten zur Zucht eignen, bei allen anderen werden die Hoden entfernt. Das hat viele Vorzüge. Sie verlieren nicht nur die Lust an weiblichen Tieren, sondern auch ihre Rauflust, und die abgeschnittenen Hoden sind äußerst schmackhaft. Ochsen unterscheiden sich von anderen Tieren nur durch ihre Größe. Das Messer verrichtet die gleiche Arbeit, aber die Zielsetzung ist eine andere. Bei Schweinen und Schafen paaren wir die größten Säue und Mutterschafe mit den größten Ebern und Böcken, um möglichst große Ferkel und Lämmer zu erhalten, damit jede Generation fetter als die nächste wird. Bei Stieren und Kühen wählen wir nur die kleinsten aus. Es gilt, sie so klein zu züchten, dass sie sich zähmen lassen, aber immer noch groß genug, dass sie ihre Arbeit verrichten können.
Doch damit geben wir uns nicht zufrieden. Unser Ehrgeiz ist noch nicht gestillt. Was ist mit Pferden? Diese wilden, tänzelnden, leichtfüßigen Geschöpfe sind offenbar schwer zu fangen und unmöglich zu zähmen. Und dennoch denken einige Menschen nach ihrem Triumph über das Rind, dass es keine Aufgabe gebe, der sie nicht gewachsen seien. Sie versuchen es beharrlich weiter, und der Erfolg gibt ihnen recht. Nach einiger Zeit grast auch das Pferd friedlich auf unseren Feldern. Sie haben gute Arbeit geleistet. Das nahrhafte dunkle Fleisch eines jungen Pferdes schmeckt weit besser als das sehnige Fleisch eines Ochsen, der an Erschöpfung gestorben ist. Außerdem sorgen Pferde auch für Unterhaltung. Häufig machen sich junge Männer einen Spaß daraus, auf Pferderücken zu klettern und sich dort festzuklammern, während die Tiere versuchen, sie abzuwerfen. In entbehrungsreichen Zeiten haben wir dann etwas zum Lachen.
Mehr Tiere zu besitzen und mehr Getreide zu pflanzen steigert unseren Hunger nach Land. Einige Menschen wollen nicht nur die Schafe und den Weizen ihr Eigen nennen, sondern auch das Land unter ihren Füßen. Andere, umsichtigere halten das für gefährlich. Sie weisen warnend darauf hin, dass solches Verhalten Konsequenzen haben werde; dass unsere Gier heftig mit der Gier anderer in Konflikt geraten werde. Wenn man beanspruche, was von den Göttern geschaffen worden sei, wie könne man dann entscheiden, welcher Mann welches Land haben solle? Es werde darauf hinauslaufen, dass man darum kämpfe. Es werde darauf hinauslaufen, dass die Schwachen von den Starken vertrieben würden.
Das sind nicht die einzigen Kämpfe, denen wir uns stellen müssen. Unter den Tieren haben wir einen engen und zuverlässigen Freund, den treuen Hund, der uns dient, uns beschützt und das Leben so selbstverständlich mit uns teilt wie unsere eigenen Kinder. Wir haben unsere Schafe und Ziegen, die wir nicht lieben, wie wir den Hund lieben, doch wir tun gut daran, sie vor Schaden zu bewahren. Alle anderen bringen nur Zähne, Hörner und Klauen. Das Rotwild, das die Jäger einst gerne in ihrer Nachbarschaft sahen, ist jetzt ein verhasster Feind, der von den Feldern vertrieben wird. Der Bär, dessen Geist sie einst ehrfurchtsvoll anriefen, und der Wolf sind fortan ebenfalls schlimme Feinde, die mit allen Mitteln von den Schafen ferngehalten werden müssen. Während wir heute den Stier zum Gott erheben, erklären wir den Wolf zum Dämon. Wie rasch wir doch vergessen! Einst jagten wir als Partner auf den weiten Ebenen. Die Männer stürzten sich auf den Hirsch, den die Wölfe müde gehetzt hatten; und die Wölfe machten sich über die Reste unserer Jagdbeute her. Wir vergessen, wie sehr der Wolf uns ähnelt; dass ihm seine Jungen ebenso am Herzen liegen wie uns die Kinder. Wir vergessen, dass Wölfe die Väter und Mütter des Hundes sind. Heute sehen wir den Wolf als ein unbezähmbares wildes Tier, das unsere Kinder frisst. Zwar kennen wir niemanden, der es bezeugen könnte, aber wir sind uns sicher, dass es stimmt.
Nun beginnen sich die Menschen mehr denn je in verschiedene Gruppen aufzuteilen, höhere und niedere, wie die Tiere. Da gibt es die Eigentümer von Vieh und Land. Die Denker, Ausgestoßenen und Sklaven. Diejenigen, denen man misstraut, weil sie nicht aussehen oder sprechen wie man selbst, und diejenigen, die man verachtet, weil sie einen bestehlen. Die Weisen, die über das gesamte Wissen verfügen, und die Geschichtenerzähler. Diese Männer reisen in ferne Gegenden und berichten nach ihrer Rückkehr von Tieren, die seltsamer sind als alles, was man sich je ausgemalt hat. Sie beschreiben Rinder, die unter Wasser gehen, riesige Tiere mit Speeren im Maul und mit Schwänzen an beiden Enden ihres Leibes, merkwürdige bucklige Pferde, die Sand fressen. Sie bringen auch andere Geschichten mit, die sie Fabeln nennen. Darin lassen sie Tiere sprechen, deren Verhalten im Schlechten wie im Guten dem des Menschen gleicht. Aus diesen Geschichten lernen wir, dass der Löwe tapfer ist, der Schakal feige, der Fuchs listig, die Schlange die Feindin aller Lebewesen und dass gewisse Vögel weise sind.
Wir haben auch selbst einige Entdeckungen gemacht: dass man dem Pferd beibringen kann, das Gewicht eines Menschen auf seinem Rücken zu dulden, Karren und Pflüge zu ziehen und schwere Lasten mit großer Geschwindigkeit über lange Strecken zu tragen. Außerdem haben wir herausgefunden, dass das Pferd alle diese Dinge besser kann als der Ochse. Es ist, als hätten Ochse und Pferd die Rollen getauscht. Nur Menschen, die in Gebieten ohne Pferde leben oder die wenig Hirn haben, pflügen noch mit Ochsen. Für alle anderen gilt, dass das Pferd die Welt in Bewegung hält. Das Rind dient als Fleischlieferant und Opfertier, und es liefert die Milch, die wir den Kühen zu stehlen gelernt haben. Das ist die neue Ordnung der Welt: Dem Rind verdanken wir Bequemlichkeit, aber das Pferd verleiht uns Kraft.
Götter in Tiergestalt
Weit voneinander entfernt lebende Menschen, die nichts voneinander wissen, denken die gleichen Gedanken. Sie säen das gleiche Getreide, jagen die gleichen Tiere, halten das gleiche Vieh, betreiben die gleichen Handwerke. Einige haben schneller gelernt als andere, doch überall wurden die Menschen einander immer ähnlicher, erwarben mehr Wissen und waren stärker aufeinander angewiesen. Das entwickelte sich über lange Zeiträume. Kleine Ansiedlungen wuchsen und verschluckten ihre Nachbarn, woraufhin die stärksten Anführer zu mächtigen Stammesführern wurden und die stärksten Stammesführer zu Königen. Durch Bündnisse und Kriege gliederten sie ihren Herrschaftsgebieten immer mehr Land ein, und mit dem Land auch Menschen.
Das mächtigste dieser Länder liegt in der glühenden Hitze eines Sandmeers. Ein gesunder Mann braucht hundert Tage, um vom Meer bis zu dem Wasserfall zu wandern, der das Ende des Landes markiert. Es wurde von so vielen Göttern geschaffen und wird von so vielen geschätzt, dass kein Priester sie zählen könnte. Ein breiter Fluss durchschneidet den Sand bis zum Meer, wo er sich ausbreitet wie die Finger einer Hand. An den Ufern, die von Überschwemmungen bewässert werden, haben sich breite grüne Streifen gebildet, in denen sich die Menschen ansiedelten. Dem Fluss folgend, kamen sie von weit her. Hier bauten sie ihre Lehmhütten, säten Weizen und Gerste, hielten Schafe, Schweine und Rinder. Anfangs tranken sie das Blut der Rinder, dann lernten sie, zu melken und Käse zu machen. Sie fällten Bäume, um Boote zu bauen und mit ihnen Wasservögel und Fische zu fangen.
Alle Menschen träumten davon, in diesem Land zu leben. Aus ihren Herkunftsorten brachten sie eigene Lebensweisen, Götter und Herrscher mit. Könige trieben Handel mit anderen Königen und wurden immer reicher. Aus fernen Regionen Afrikas kamen Esel, die mit begehrten Schätzen beladen waren: Gold aus der Erde, Ebenholz aus den Wäldern und Felle von Elefanten und Katzen. Um den Frieden zu sichern, schickten Nachbarländer Tribute in Form von Pantherfellen, Stoßzähnen und lebenden Elefanten. In Hierakonpolis wurden die Elefanten in einem überfüllten Zoo ausgestellt, zusammen mit Flusspferden und Pavianen. Den Männern und Frauen in diesem Land bedeuteten die Tiere alles. Sie waren Nahrung, Reichtum, Gefährten, Götter.
Lange bevor all dies geschah, gab es nichts, keine Götter, keine Menschen, keine Tiere, nichts. Mehr als eine Geschichte erzählt, wie die Leere gefüllt wurde. In Heliopolis, der Sonnenstadt, dankten die Menschen Atum, einem Gott, der so mächtig war, dass seine erste Tat darin bestand, sich selbst hervorzubringen. Anschließend ließ er sich auf einem Schlammhügel inmitten der Wasser des Chaos nieder und fing an, das Universum zu erschaffen. Doch sogar Atum vermochte eine solche Arbeit nicht allein zu verrichten. Er brauchte Hilfe, die er ebenfalls aus sich selbst erzeugte. Einige sagen, der Gott Schu und dessen Schwestergemahlin Tefnut seien beim Masturbieren seinem Samen entsprungen. Andere glauben, er habe sie durch Niesen oder Spucken nach außen befördert. Schu, der Gott der Luft, und Tefnut, die Göttin des Feuers, zeugten den Erdgott Geb und die Himmelsgöttin Nut. Diese brachten ihrerseits die Gottheiten Isis, Osiris, Nephthys und Seth hervor. Die Sonne selbst sei, so heißt es, aus einem goldenen Ei geschlüpft, das der Große Schnatterer gelegt habe. Aus dessen Schnabel sei der allererste Laut gedrungen, der im Universum zu hören war. Damit war alles bereit für den Beginn des Lebens.
Als die Menschen kamen, fanden sie ein Land vor, in dem es von Leben wimmelte. Im Wasser schwammen Fische, in der Luft flogen Vögel, und auf der Erde tummelten sich Geschöpfe jeder Art: Antilopen, Gazellen und Hirsche; Strauße und Esel; Elefanten und Giraffen; Nashörner, Flusspferde, Ziegen und Rinder. An den Ufern des Flusses hielten Krokodile blutige Ernte. Gleiches taten Löwen und Hyänen in dürren Gebieten. Das Leben war nicht nur für die Tiere unsicher und hart, sondern auch für die Menschen. Wie in jedem anderen Land bestritten sie ihr Leben mit der Jagd und dem Sammeln von Pflanzen und Getier, bis sie lernten, Getreide anzubauen und Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine zu halten. Auch Wildesel zähmten sie und verwandelten sie in Hausesel. Allmählich wurden aus den Jägern Hirten, Fischer und Bauern.
Doch kein Land kann alle versorgen. Als die Menschen immer mehr Boden für ihre Bauernhöfe brauchten, blieb für die anderen Lebewesen entsprechend weniger. Jahr für Jahr wurden die wildlebenden Tiere ein Stück weiter verdrängt. Zunächst sah man immer seltener Elefanten, Giraffen, Strauße, Antilopen und Gazellen, bis sie schließlich nur noch im Gedächtnis der Menschen weiterlebten. Allein die Krokodile, Flusspferde und die anderen Bewohner von Sumpf und Fluss gediehen so prächtig wie zuvor. Es war kein Krieg mit gleichen Waffen. Kein Mensch allein hätte einen Elefanten oder Löwen töten können, aber gegen die gebündelten Kräfte der Menschheit war kein Kraut gewachsen. Die Tiere wurden von dem Land vertrieben wie geschlagene Feinde.
Im Himmel wimmelt es jetzt von Göttern und Göttinnen, genauso, wie es auf der Erde einst von Gazellen wimmelte. Viele dieser Gottheiten nehmen die Gestalt von Tieren an, sodass die Menschen am Ende vor den gleichen Geschöpfen knien, die sie mittags gegessen haben. Selbst die mächtigsten Götter können in Tiergestalt auftreten. Die Menschen finden diese übernatürlichen Erscheinungen so natürlich wie die Macht der Könige. Wen könnte es verwundern, dass die diesseitige Welt und die jenseitige so verschieden sind? Ein Mensch mag zu einem Tier beten, doch wenn er seinen Feind wie ein Tier behandelt, heißt das nicht, dass er ihn wie einen Gott verehrt. Selbst die Götter stören sich nicht an der Grausamkeit. Ein Mensch kann ein Rind abschlachten, ohne die Fruchtbarkeitsgöttin Hathor zu erzürnen, die in Gestalt einer Kuh erscheint. Eine Schlange zu töten gilt nicht als Missachtung der Renenutet, der kobraköpfigen Göttin der Ernte, noch fassen es die löwenköpfigen Gottheiten Tefnut oder Schu als Beleidigung auf, wenn jemand einen Löwen mit einem Speer erlegt.
Nichts auf Erden bleibt von diesen Gottheiten unberührt. Sie bestimmen den Lauf der Sonne, den Rhythmus der Jahreszeiten, die Strömungen des Flusses, alles, was einen Anfang und ein Ende hat. Das Leben selbst beginnt unter den Augen von Gottheiten. Ein Frosch und ein Flusspferd, beide göttlicher Natur, wachen Tag und Nacht über die Schwangerschaft einer Frau und die Geburt des Kindes. Die froschköpfige Göttin Heket sorgt für die Fruchtbarkeit der Frau, und das Flusspferd Taweret bewahrt Mutter und Kind vor Unheil. Und so geht es fort, durch das Leben bis in die Ewigkeit. Es gibt keinen Atemzug, keinen Krümel Essen, nicht einen Strahl der Sonne oder des Mondes, weder eine Geburt noch einen Tod, nichts, was nicht von einem Gott veranlasst wäre. Von all ihren Gaben ist die Sonne die größte, und der erhabenste der Götter ist Ra, der sie über den Himmel lenkt. Dieser Lebensspender wird am häufigsten mit dem Kopf eines Falken abgebildet, aber bei Tagesanbruch verwandelt er sich auch für einen Moment in einen schlichten Mistkäfer. Chepre, wie Ra zu dieser Stunde heißt, hat die Aufgabe, die Sonne aus der Unterwelt zu hieven, so wie ein Mistkäfer seine Dungkugel aus seinem Bau zieht, um sie über den Himmel zu stoßen. Wenn die Larven schlüpfen und die Kugel in glitzernden Wolken verlassen, fühlen sich die Menschen an Ras Schöpfungs- und Erneuerungskraft erinnert.
Nach der Sonne ist der Fluss der größte Lebensspender. Sein Geschenk ist die Fruchtbarkeit des Bodens; sein Preis, dass er bei Überschwemmungen die Hütten der Menschen wieder in Schlamm verwandelt. Am Ende des Tages, wenn Ra die Sonne wieder in die Unterwelt fallen lässt, wird er Chnum, der widderköpfige Gott des Flusses. Doch die Menschen verdanken Chnum mehr als nur die schäumenden Fluten. Er nimmt den Lehm auf, den der Fluss mit sich führt, und formt daraus auf seiner Töpferscheibe die Körper von Kindern. Diese legt er den Frauen in den Schoß und vertraut sie der Obhut von Flusspferd und Frosch an. Aus denselben Fluten werden noch andere Götter geboren, die den Menschen Heil und Unheil bringen. Der weiseste ist Thoth, Schöpfer der Schrift und Schreiber der Götter, Gesetzgeber, Gott der Weisheit, der Magie und des Verstandes, Herr des Himmels. Er trägt den Kopf eines Ibisses, des edelsten Vogels des Flusses. Zu seinen Ehren werden Millionen dieser schönen Tiere ausgebrütet, geopfert und einbalsamiert – die Vorbereitung auf ihren Flug ins Jenseits. Im Fluss wohnt auch Sobek, ein schlechtgelaunter Krokodilgott, der aus Gründen, die nur er selbst kennt, die Schwachen manchmal schützt und manchmal zwischen seinen Kiefern zermalmt. Auch Fische werden gelegentlich vom Göttlichen berührt. Der Buntbarsch schützt seine Jungen, indem er sie bei Gefahr verschluckt, um sie hinterher wieder auszuspucken. Hathor, die Göttin der Liebe, hat den Fisch daher zum Symbol der Wiedergeburt gemacht. Auch der Fischgott Oxyrhynchus verschlingt gerne das eine oder andere, spuckt aber das Verschlungene nicht wieder aus. In seinen Magen gelangte der abgetrennte Penis des Gottes Osiris – gezeugt von den Löwenzwillingen Tefnut und Schu –, der die Fluten hinabtrieb, nachdem Osiris von seinem eifersüchtigen Bruder Seth getötet und zerstückelt worden war. Osiris’ Frau und Schwester Isis fand all die zerstreuten Teile, bis auf einen, und setzte sie wieder zusammen. So kommt es, dass der große Gott auf ewig verdammt ist, in der Unterwelt ohne Penis zu herrschen.
Einige Leute ziehen daraus die Lehre, dass der Himmel kein Ort für Penisse sei und dass man sich von tierischer Lust befreien sollte, um sich der Reinheit der Götter zu nähern. Andere halten sich lieber an das Beispiel des großen Onanisten Amun und des Widdergottes Chnum, die ihre Phallusse als Machtinstrumente zur Schau stellen. Die Sexualität des Himmels, in der sich die Rollen von Mutter, Ehefrau und Schwester in einer einzigen Frau vereinigen können, regte Brüder und Schwestern auf der Erde dazu an, dem göttlichen Beispiel zu folgen und miteinander Kinder zu bekommen. Hirten und Bauern hatten im Laufe der Zeit gelernt, dass ihren Tieren diese Partnerwahl nicht immer guttat.
Kaum etwas, das lebt und atmet, ist nicht in irgendeiner Weise mit einem Gott verbunden. Anubis, Herr des Todes, der Mumifizierung und der Trauer, ist ein Schakal, der nachts auf Friedhöfen umhergeistert. Der Apis-Stier von Memphis ist das meistverehrte lebende Tier, er kann mit seinem Atem Krankheiten heilen und wird nach seinem Tod wiedergeboren. Andere Götter nehmen die Gestalt von Pavianen, Gänsen, Flusspferden, Krokodilen, Reihern, Straußen, Schweinen, Widdern, Katzen oder Skorpionen an. Dabei spielt es keine Rolle, dass Tiere aus Fleisch und Blut die Tugenden der Götter vermissen lassen. In den höheren Sphären wird kein Tier durch seine irdische Natur eingeschränkt.
Das ist nicht immer von Vorteil für das betreffende Tier. Der böse Seth wird als Schwein dargestellt, ein Tier, das einst seines Fleisches wegen hochgeschätzt war, jetzt aber vielfach als unrein verschrien ist. Einige meinen, schuld sei Seth, der sich in ein schwarzes Schwein verwandelt hatte, um den Himmelsgott Horus anzugreifen, woraufhin Ra das Schwein als ein Gräuel verfluchte. In seinem Geschichtswerk erklärt der Grieche Herodot, dass jeder Mensch, der versehentlich mit einem Schwein in Berührung gekommen sei, sich mit sämtlichen Kleidern in den Fluss werfen müsse. Schweinehüter dürfen keine Tempel betreten, und kein ehrenhafter Mann wird seiner Tochter erlauben, einen von ihnen zu heiraten. Aus all diesen Gründen glauben kluge Männer, das Schwein werde seinen Platz auf den Tischen der Reichen oder Rechtschaffenen nie wieder zurückgewinnen. Schlecht zu essen heißt, schlecht zu leben. Fremde, die nach Ägypten kommen und nicht leben wie die Ägypter, sind ebenso unberührbar wie die Schweine, die sie essen. Der Verzehr von Schweinefleisch ist weder ihr einziger Fehler noch der schlimmste. So schreiben sie auch falsch herum, von links nach rechts, statt von rechts nach links, wie Thoth, Gott der Weisheit, es gelehrt hat. Am abscheulichsten ist es aber, dass sie die Köpfe geopferter Rinder essen. Kein Ägypter wird einen Griechen küssen oder ein Messer und einen Kochtopf benutzen, mit dem ein Grieche sein Essen zubereitet hat, aus Angst, sie könnten mit dieser Schändlichkeit vergiftet sein. Nur auf den Schultern von Hathor ist der Kopf einer Kuh heilig.
Die Priester bieten den Göttern weit mehr als nur Rinder dar. Viele Esel sind erforderlich, um all die Opfergaben in die Tempel zu tragen – Geflügel, Milch, Honig, Obst, Gemüse, Brot und Bier. Sie sollen mit den Göttern geteilt werden, weil die Menschen sie von ihnen empfingen. Die Götter verzehren den Geist der Speisen, die Priester und das Volk den Rest. Man kann sehen, wie die Bäuche der Priester entsprechend der Größe der Opfer an Umfang zunehmen und wie auch die anderen Menschen dicker werden. Rinder werden von reichen Bürgern in die Tempel gebracht, die damit ihre Steuern bezahlen, und unter Anleitung von Priestern geschlachtet. Es geschieht immer auf die gleiche Weise. Der Schlachter knotet ein Seil um ein Bein des Tiers, dann zieht er das Seil stramm über seinen Rücken, bis das Tier fällt. Dort auf dem Boden, vor einem weintriefenden Altar, wird ihm die Kehle durchgeschnitten. Die Schlachter machen sich mit ihren Messern ans Werk, bis der Kopf herunterrollt, während die Priester den Segen der Götter erflehen. Sie bitten darum, dass jedes Unheil, das sie oder das Volk der Ägypter befalle, stattdessen die Köpfe der geschlachteten Tiere treffe. Die derart verfluchten Objekte erleiden eines von zwei möglichen Schicksalen. Entweder werden sie wie Aasfleisch in den Fluss geworfen oder aber an die Griechen verkauft. Nachdem der Kopf abgetrennt ist, häuten die Schlachter den Kadaver, zerteilen das Fleisch und die Organe und braten sie auf dem Feuer. Das geschieht nicht nur in den Tempeln. Das ganze Jahr über werden an besonderen Tagen Opferfeste veranstaltet, dabei trägt man Bilder der Götter durch die Straßen oder lässt sie in Kähnen auf dem Fluss treiben. Die Feste dauern viele Tage, und das Volk ehrt jeden Gott mit klaffenden Kiefern und zum Bersten gefüllten Bäuchen. Das Schlemmen ist umsonst und für viele einfache Ägypter die einzige Gelegenheit, einmal Fleisch zu essen.
Herodot weiß auch vieles über Katzen zu berichten, Geschöpfe, die die Ägypter aus der freien Natur in ihre Häuser brachten. Gezähmt wurden sie allerdings nicht. Mit Bastet haben Katzen eine eigene Göttin, die auch Schützerin der Pharaonen, Hüterin schwangerer Frauen und grimmige Verteidigerin ihres Vaters Ra ist. Katzen sind nicht wie Hunde, Schafe oder sonst irgendein Tier, das in der Welt der Menschen lebt. Katzen verschmähen die Gesellschaft anderer, folgen niemandem und leben allein in einem Revier, das sie selbst markieren. Wenn sie gefüttert werden, suchen sie möglicherweise die Nähe von Menschen, gehen aber trotzdem in der Dunkelheit allein auf die Jagd. Wenn sie nichts mehr bekommen, werden sie weder verhungern noch sich irgendeinem Herrn unterwerfen. Mit einer Katze zu leben heißt für einen Ägypter, Bastet selbst nahe zu sein. Jeder, der eine Katze tötet, muss das Verbrechen mit seinem Leben bezahlen. Berufen die Götter selbst eine Katze ab, muss sich jede Person im Haushalt als Zeichen der Trauer die Augenbrauen abrasieren. Die tote Katze wird nach Bubastis gebracht, einbalsamiert und neben Millionen ihrer Artgenossen feierlich beigesetzt. Wenn ein Hund stirbt, reichen die Augenbrauen nicht. Jeder Teil des Kopfes und des Körpers muss rasiert werden, während der Hund selbst jedoch unter den Menschen seiner Heimatstadt begraben werden darf.
Pferde wurden zu spät nach Ägypten gebracht, um noch in den Stand von Gottheiten erhoben zu werden. Ihr Platz ist auf der Erde, vor Karren gespannt. Doch die Götter lassen sie nicht links liegen. Das Pferd ist ein Kriegstier, kein Ackergaul, und genießt daher den Schutz des Kriegsgottes Reschef und der Kriegsgöttin Astarte. Den Streitwagen führten die Hyksos in Ägypten ein, rabiate Eindringlinge, die ein Stück Land im Flussdelta eroberten. Dort blieben sie mehr als hundert Jahre, bis sie von den thebanischen Königen Sekenenre Taa, Kamose und Ahmose vertrieben wurden. Die Ägypter erkannten allerdings die Vorteile des Streitwagens und nutzten ihn, um ihren Einfluss auf die Welt zu festigen. Die Beherrschung des Streitwagens zeichnet junge Männer noch mehr aus als Jagdgeschick. Im Krieg galoppieren die Pferde mit einem Mann an den Zügeln und hinter ihm einem Bogenschützen über das Schlachtfeld. Keine Kunst steht höher im Kurs als die Fertigkeit, die Feinde von einem Streitwagen aus niederzustrecken, weshalb der Pharao Amenophis II. auch ewig im Gedächtnis seines Volkes fortlebt. Bereits früh übte er in den Stallungen seines Vaters Thutmosis III., sodass er schon als junger Mann für seine meisterlichen Fähigkeiten gerühmt wurde. Man staunte darüber, wie er Pfeile durch Kupferziele schoss, während er seinen Streitwagen mit der Taille lenkte, um die er sich die Zügel gebunden hatte. Streitwagen sind hochgeschätzte Kriegstrophäen. Thutmosis III. erbeutete mehr als 894 von ihnen und mehr als 2000 Pferde. Von seinem ersten Feldzug in Syrien brachte Amenophis II. 300 Streitwagen mit, dazu viele Gefangene, die er an den Tempelwänden erhängte. Für umgebrachte Menschen rasierte sich niemand die Augenbrauen ab.
Die Ägypter sehen den Tod nicht als endgültig an. Er ist der Augenblick des Übergangs von einem Zustand in den nächsten, ein Einschiffungshafen für die Fahrt in den Himmel. Dennoch ist ihnen geraten, sich auf die Reise vorzubereiten, denn sie beginnt in der Unterwelt. Bevor sie aufbrechen, müssen sie den Totengott Osiris davon überzeugen, dass sie alle Voraussetzungen erfüllen. Er muss sich ihrer Tugend sicher sein, bevor er ihnen erlauben kann, als Geister weiterzureisen. In einer Unschuldserklärung muss die Seele des Verstorbenen beschwören, dass dieser zu Lebzeiten keine der 42 aufgeführten Sünden begangen hat – darunter Unehrlichkeit, Gewalt, sexuelle Verfehlungen, Unaufrichtigkeit, Übellaunigkeit, Blasphemie und Misshandlung von Tieren, die einem Gott geweiht sind. Die Wahrheit des Bekenntnisses wird von dem Schakal Anubis überprüft, der das Herz des Bittstellers in die eine Waagschale legt und eine Straußenfeder in die andere. Halten sich die Schalen im Gleichgewicht, darf der Kandidat als Geist weiterleben. Diejenigen, deren Herzen schwerer sind, erwarten die unsäglichen Schrecken der dämonischen Fresserin Ammit. Diese vereinigt die drei meistgefürchteten Tiere Ägyptens in ihrer Gestalt. Sie hat den Kopf eines Krokodils, den Körper eines Löwen und die Beine eines Flusspferds, so geht die Grausamkeit aller drei auf sie über. Durch ihre gottgegebene Aufgabe, die Herzen der Sünder zu verschlingen, verbannt sie deren Seelen zu ewiger Ruhelosigkeit – die ultimative Rache der Tiere.